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Bob Tilman: Letzter Stopp Brooklyn

Folge 1

von Phil Conrad (Autor:in)
110 Seiten
Reihe: Bob Tilman, Band 1

Zusammenfassung

Ein arabischer Diplomat liegt erschossen und verstümmelt in einem New Yorker Taxi. Bob Tilman, Reporter bei der New York Today, stolpert über die Spur eines Mannes in ein zwielichtiges Umfeld, das Überraschungen bereit hält. Weitere Morde geschehen. Doch der Grund für die Geschehnisse bleibt ein Geheimnis – bis Linda, Bobs aufreizend attraktive Kollegin, ins Visier der Gangster gerät. Bob muss verdammt schnell handeln ... --- Jede Folge enthält ein abgeschlossenes Abenteuer des schlagkräftigen Reporters.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


I

Vor dem International Terminal des John-F.-Kennedy-Airports blinzelte Ibrahim N’daala gegen die tiefstehende Sonne. Trotz seiner gegerbten, in grobe Falten geworfenen braunen Haut, die den Zweiunddreißigjährigen älter aussehen ließ, als er tatsächlich war, spürte er die Nadelstiche der eisigen Kälte im Gesicht. Welch ein Kontrast zu Riad. Wieder einmal empfand er die Multifunktionalität des Kopftuchs sowohl gegen die Hitze der arabischen Sandwüsten als auch gegen die Minusgrade der arktischen Jet-Stream-Ausläufer Nordamerikas als ein Geschenk Allahs. Er hatte es eilig. Die zwei Taxifahrer am Kopf der Autoreihe lamentierten lautstark miteinander und schnaubten sich gegenseitig die kristallisierende Atemluft zu.. Erst als N’daala. die Hand hob, schwang sich einer der beiden in sein Auto und setzte sich unter Protest des Kollegen an die Spitze der Queue. Eine Minute später streckte der Araber die Beine in dem wohlig geheizten Yellow Cab aus und genoss den Blick in die aus den Gullys aufsteigenden Dampfschwaden des mit Schnee und Matsch bedeckten Areals.

»Guten Flug gehabt, Señor?« Der freundliche Latino mit einem weit über die Lippen nach außen gezogenen Schnurrbart grinste ihn an.

»Das will ich meinen. - Zu den Vereinten Nationen, bitte.«

»Wird gemacht, Señor.«

N’daala widerstand dem starken Drang, sein flaches Hartschalenköfferchen, das er auf dem Sitz neben sich abgelegt hatte, zu öffnen. Stattdessen schob er es ein wenig zur Seite. Bei dieser Aktion rutschte sein Umhang am Arm nach oben und gab für eine Sekunde den Blick auf die Handschellenverbindung von seinem Handgelenk zum Koffergriff frei, bevor der Diplomat mit einer hastigen Bewegung den Saum wieder nach unten zog. Er checkte nervös die Situation und beruhigte sich wieder. Der Taxifahrer konnte das nicht gesehen haben, dazu lag die Hand zu weit unterhalb der Sichtlinie durch den Rückspiegel. N’daala kannte den Inhalt des Ordners im Innern des Aktenkoffers mehr als auswendig, nicht zuletzt durch das wiederholte Studieren auf dem Transkontinentalflug  - und doch stellte sich nicht das Gefühl ein, ihn bereits zur Genüge studiert zu haben. Die Nachricht würde einschlagen wie eine Bombe.

»Das Eis hat uns fest im Griff, Señor. Da, wo Sie herkommen, ist es jetzt sicherlich nicht so kalt, oder?«

»Nein.« N’daala würgte mit dieser knappen, schroff ausgestoßenen Antwort ein Gespräch ab. Auf Smalltalks verspürte er keine Lust. Der Generalsekretär wartete auf ihn, und er wollte seine spätere Wortwahl nicht irgendwelchen spontanen Eingebungen überlassen. Jede Formulierung sollte genauestens überlegt sein. Nicht nur das Wohl seiner Heimatregion hing davon ab - auch seine eigene Karriere, was einem mindestens genauso gewichtigen Stellenwert zukam.

»Fahren Sie eine andere Route?«

»Oh, Señor, Flushing Meadows ist nach den Wetterkapriolen dicht. Und der Midtown Tunnel ist sowieso wegen Umbaumaßnahmen noch für zwei Tage gesperrt. Da ist der Weg über Harriet Ross oder die Atlantic Avenue quer durch Brooklyn schneller. Und wir haben dann die Wahl zwischen der Brooklyn Bridge und der Manhattan Bridge.«

»Ah, okay.«

N’daala prüfte die Verriegelung des Köfferchens. Fest abgesperrt, da rührte sich nichts. Das Zahlenschloss war eingerastet. Er lehnte sich entspannt zurück und schloss die Augen. In Gedanken durchflog er wieder den Inhalt seiner Fracht. Die Abbildungen zeigten normale, allgemein bekannte Satellitenansichten der arabischen Region, aber die angefügten Erläuterungen lieferten Hinweise auf bisher unentdeckte Zusammenhänge. Die Verstrickungen einzelner Firmen in die Pläne westlicher und östlicher Supermächte kamen auf den Tisch. Namen bekannter Persönlichkeiten, die man nie in Verbindung mit politischen Aktivitäten gebracht hatte, erschienen in einem neuen Licht. Die Hinweise auf den Papst als mächtige Eminenz im aktiven Hintergrund würden das Fass in die Luft jagen. - Und er, Ibrahim N’daala, war der Überbringer dieses Berichts, der die Welt auf den Kopf stellen sollte. Er hielt die Lunte in der Hand. Die Karten würden neu gemischt werden.

Der Verkehr ließ keine schnelle Fahrt zu. N’daala blickte hinaus. Die braunen Bachsteinbauten offerierten einen starken Kontrast zu den Fassaden, die er aus Manhattan gewohnt war. Das Leben zwischen den Häuserm wirkte hektisch, obwohl in Anbetracht der Wetterlage mit Sicherheit weniger New Yorker als gewöhnlich zu Fuß unterwegs waren. Die Autos verstopften auch in diesem Viertel die Straßen. Stop and go.

Der Fahrer bog ab.

»Schleichweg?«

»Si, Señor.«

Der Latino verstand sein Metier. Die kleinen Nebenstraßen offerierten trotz der Enge ein schnelleres Fortkommen. Die aus den Kanaldeckeln aufsteigenden Dämpfe vernebelten die Luft und mischten sich mit den Schwaden blaugrauer Abgase aus den Endrohren der Autos. Die Trostlosigkeit der heruntergekommenen Hinterhöfe machte N’daala endgültig klar, dass er in diesem Stadtteil niemals würde wohnen wollen.

»Shit!«

Ein rangierender Lastwagen blockierte den Straßenzug.

»Tut mir leid, Señor. Damit konnte ich nicht rechnen.«

Der Fahrer blickte über die Schulter nach hinten. Langsam zog sich sein Mund zu einem breiten Grinsen. N’daala starrte in die Mündung eines Schalldämpfers. Das war das Letzte, was er wahrnehmen konnte. Der Schuss verursachte nur ein dumpfes Plopp.

Eine Viertelstunde später stand das Taxi zwei Häuserblocks weiter am Straßenrand. Eine laute Menschentraube bildete sich um das Taxi. Entsetzte Gesichter gafften in das Innere des Cabs. Die Frontsitze waren verlassen. Das rote Rinnsal aus dem Loch in der Stirn des auf dem Rücksitz zusammengesackten Passagiers war bereits angetrocknet und wies an den Rändern Krustenbildungen auf. Und neben dem Toten auf der ledernen Sitzfläche lag eine abgetrennte Hand.

*

Mit der flüchtig auf einen zerknüllten Zettel gekritzelten Adresse in der Tasche suchte ich den Zugang zu dem Haus in der Halsey Street von der rückwärtigen Seite. Falls die Wohnung nicht zu sehr heruntergekommen und die Miete akzeptabel wäre, würde ich nicht lange zögern, sondern entschlossen zuschlagen. Die Entfernung bis nach Queens lag im noch annehmbaren Bereich, und Brooklyn erschien mir für den Start in New York nicht die schlechteste Alternative zu sein. Als Neuankömmling durfte ich nicht wählerisch sein. Verändern konnte ich mich später immer noch. Besonders lockte mich natürlich die Aussicht auf die offerierte Mitbenutzung eines Schuppens im Hinterhof - das war in dieser Metropole für mich ein wahrer Jackpot.

Die Gegend wirkte trist. Eine Menge Autos rollte vorbei, aber nur wenige Fußgänger bevölkerten die Bürgersteige. Die Kälte trieb jeden so schnell wie möglich in die Wohnungen, Supermärkte oder Büros. Der Straßenverkäufer mit der dicken Fellmütze an der Ecke bot tapfer seine Zeitungen an. Der Nebel seines eigenen Atems tanzte in feinen Schwaden um ihn herum. Seine Arme schlug er immer wieder um seine Oberkörper, als könnte er damit die Kälte vertreiben. Hinter seinem mit Eispartikeln durchsetzten Vollbart machte sich ein Lächeln breit, als ich ihm eines der Newspaper abkaufte. Ich rollte das Journal zusammen und steckte es unter meinen Mantel. Ich käme später im Laufe des Tages noch zum Lesen. Die Wohnung war jetzt dringender.

Die mir zur Verfügung stehende Zeit sollte für eine entspannte Besichtigung des Apartments ausreichen. Erst in knapp zwei Stunden hatte ich mein erstes Meeting mit meinem neuen Chef und das erste Date mit dem alt-ehrwürdigen Gebäude der New York Today.

Die aufgeregte Menschentraube einen Häuserblock weiter warf meinen Zeitplan durcheinander. Wie ein Magnet zog sie mich an. Ich schob mich durch die Reihen der Leute hindurch. Der Anblick im Innern des Taxis ließ auch mir den Atem stocken, doch gewann sofort die Routine des Journalisten die Oberhand. Das roch nach einer absoluten Hammerstory. Araber erschossen im Yellow Cab, grässlich verstümmelt. Terrorattacke? Dem Stimmengewirr entnahm ich, dass niemand einen Schuss gehört hatte. Das Taxi hatte einfach dort geparkt. Wie lange schon? Einer sagte, erst seit wenigen Minuten, höchstens drei.

Ohne zu zögern, hatte ich die ersten Fotos auf die Speicherkarte meines Smartphones gebannt. Sirenen heulten auf. Reifen quietschten trotz des Matsches. Blaulichter erhellten pulsierend die Szene. Uniformierte stürzten auf die Menge zu. Alles passierte blitzschnell.

»Auseinander! Platzt da!« Die Kommandos der Cops schrillten einschüchternd.

Ich steckte das Telefon unauffällig weg und zog mich in langsamer Bewegung ein paar Schritte zurück. In souveräner Manier ließ ich meine Blicke kreisen und observierte die Umgebung. Menschen strömten neugierig auf die Polizeiabsperrung zu - bis auf eine Gestalt. Der zwielichtige Typ an der Ecke stach mir sofort ins Auge: mexikanischer Einschlag mit entsprechend dunklem Teint, schwarzen Haaren und einem Riesenschnäuzer. Dass er nicht entdeckt werden wollte, war offensichtlich. Eng hielt er sich an die Wand gepresst und schielte um die Ecke. Offenbar war ich der Einzige, dem die Gestalt auffiel. Ich ließ mir nichts anmerken, löste mich aber behutsam aus der gaffenden Menge und nahm meinen Weg wie beiläufig hinüber zu der Straßenecke. Die Wohnung musste warten. Schlimmstenfalls müsste ich für einige weitere Tage auf das billige Hotel zurückgreifen.

Ich näherte mich dem Mann. Dabei verließ ich mich ganz auf meine Professionalität und die Kraft der natürlichen Intuition. Warum sollte sich diese in New York als trügerischer erweisen als in meinem bisherigen Bostoner Umfeld? Ich war mir sicher, mich nicht zu täuschen. Auf meinen Instinkt konnte ich mich verlassen. Der große, dunkle Fleck in der Jeans des Mannes konnte durchaus dunkelroter Natur sein. Sicher war ich mir nicht, doch hatte ich schon oft genug gesehen, welche Spuren und vor allem welche Farbintensität Blut auf Denim-Stoff hinterließ. Der Typ drehte ab. Ich heftete mich an seine Fersen. Zwei Häuserblocks weiter verschwand er in einen Hinterhof, der durch ein weites Tor auch für Fahrzeuge befahrbar war und wegen einer hohen Mauer nur durch die geöffnete Zufahrt einzusehen war. Ich peilte die Situation - und folgte dann beherzt. Durch einen rückwärtigen Hauseingang erreichte ich ein Treppenhaus. Die Geräusche der Schritte schallten von oben. Ich stieg hinauf, immer dicht an die Außenwand gepresst, damit ich nicht von oben durch das Treppenhausauge zu entdecken war. Eine Tür schlug zu, eindeutig zwei Etagen über mir. Ich eilte hinauf. Luis Ramos. Ich las das Namensschild, zögerte aber keine Sekunde und sprang in weiten Schritten die nächsten Stufen hoch. Gerade noch rechtzeitig, denn die Tür öffnete sich wieder, als ich gerade um die nächste Treppenbiegung verschwunden war. Vorsichtig reckte ich den Kopf um die Ecke. Ramos trug jetzt ein Attaché-Köfferchen. Gegenstand und Person passten zusammen wie Feuer und Wasser - nämlich gar nicht. Die herunterbaumelnde Handschelle am Griff sprach Bände. Die Blutspuren an der Kette konnten kaum übersehen werden - zumindest nicht bei einem so geschulten Auge wie dem meinen.

Ramos verließ den Hof und ging weiter in östlicher Richtung. Nach zwei Häuserblocks steuerte er einen Müllcontainer an und warf einen schwarzen Gegenstand in Buchgröße hinein. Ich musste mich blitzschnell entscheiden. Sollte ich auf das weggeworfene Objekt konzentrieren und dabei riskieren, dass Ramos mein gesteigertes Interesse bemerkte, falls er sich umsah, oder sollte ich ohne zu zögern in meiner gewohnt unauffälligen Art an dem Mann dranbleiben. Ich entschied mich für die Verfolgung und prägte mir den Standort des Containers ein.

Drei Häuserblocks weiter verschwand der Mexikaner - diese Nationalität hatte er ab jetzt für mich, ob es nun zutraf oder nicht - in einem schäbigen Eingang, über dem in Neon-Lettern leuchtend prangte: Blue Moon - Bar - Cocktails. Zu meinem Erstaunen signalisierte das OPEN-Schild unmissverständlich, dass man hier schon um diese frühe Tageszeit - es war ja schließlich erst kurz nach Mittag - einen Drink nehmen konnte. Ich zögerte. Aber warum nicht?

Das schummerige Licht im Innern passte zur gedämpften Easy-Listening-Musik. Obwohl hier mit Sicherheit genauso wenig gepafft werden durfte wie in jedem anderen Etablissement, stand kalter Rauch in ekeligem Mix mit feuchtem Mief in der Luft. Ein Girl in einem eng geschnittenen, einteiligen, metallisch blau glänzenden Minikleid - oben wie unten unverschämt kurz - kam mit zielstrebigen, staksigen Schritten auf mich zu.

»Na, Kleiner? N’en Drink?«

Es lag wohl an ihren waffenscheinpflichtigen High Heels, dass ich zu ihr aufschauen musste.

»Nichts lieber als das, Süße.«

Meine Blicke suchten den Raum ab. Ich sah den Mexikaner im Dunkel des hinteren Bereichs durch eine Tür verschwinden. Er war also kein zufällig hereingeschneiter Gast. Sein Ziel war zweifelsfrei von vornherein dieses Nebenzimmer gewesen. Ich nippte an dem hingeschobenen Bourbon. Wenigstens verfügte die Lady über Geschmack und eine treffsichere Wahl. Ich konnte mich nicht erinnern, ein bestimmtes Getränk geordert zu haben. Chapeau.

Was aber jetzt? Ich durfte nicht weiter vorpreschen. Ich hatte schon genug gewagt. Was auch immer hier vorging - jeder Schritt in die dunkle Ecke dort hinten konnte der eine Schritt zu viel sein. Es gehörte zu meinem Job, unnötige Risiken jederzeit genauestens einschätzen zu können. Ich kannte jetzt diesen Ort, hatte diese Adresse und jene von Ramos, würde in Zukunft sogar nur unweit von hier leben, wenn alles klappte. Die Geschichte, die von der grässlichen Tat in dem Taxi ausging, stand erst am Anfang, und meine Neugier war über alle Maßen geweckt, mein journalistischer Ehrgeiz sowieso - aber die Investigation war dennoch für den Augenblick erst einmal abgebrochen. Man muss wissen, wann die Risiken zu groß werden. Ich zahlte und wandte mich dem Ausgang zu, nicht ohne der Kleinen noch einen besonderen Schein zuzustecken, wobei ich mir der einnehmenden Wirkung meines angedeuteten Lächelns von vornherein bewusst war. Ihr mit einem »Ich bin Cathy« auf meinen Drei-Tage-Bart gehauchter Kuss entsprach meiner nicht unangemessenen Erwartung. Ich hatte jetzt einen Stein bei ihr im Brett. Der Duft ihres einen Hauch zu kräftig aufgetragenen Parfüms brannte sich in meine Sinne ein. Der Rücken meines Zeigefingers streichelte ihre Wange - dann stand ich wieder auf der Straße. Die Zeit für ein Vergnügen war noch nicht gekommen.

Fünf Minuten später stand ich vor dem Container und suchte das Innere ab. Die feuchten, halbgefrorenen Essensreste irgendeiner Mittagsmahlzeit klebten an meinen Handschuhen. Dann hatte ich das Teil, eine schwarze Lederbrieftasche. Mit einem Stück Papier reinigte ich es grob, ebenso die Handschuhe. Ich zog die Tageszeitung unter dem Mantel hervor und wickelte meinen Fund darin ein. Jetzt endlich durfte ich die Wohnung besichtigen.

*

Boris Sharlamovs Schritte saugten sich durch den Matsch, der hier und da aber schon wieder zu Eisbrocken verklumpte. Auch wenn die Brühe hier in den Schluchten Manhattans nicht so hoch wie in Brooklyn oder Queens stand, so ließ der Kälteeinbruch mit seinen eisigen Winden dennoch keinen Zweifel daran aufkommen, dass jeder Platz im Innern eines Gebäudes die weitaus bessere Option für einen Aufenthalt wäre. Der Luftzug pfiff schneidend zwischen den Glasfronten hindurch.

Sharlamov liebte seinen Job, durch den er die früher nie erhoffte Chance bekommen hatte, hier mitten im Zentrum New Yorks zu leben. Auch wenn viele Russen in den letzten Jahrzehnten zu immensem Reichtum gekommen waren, gehörte eine Bleibe in der Metropole zu den Gütern, die nur wenigen Auserwählten vorbehalten blieben. Sharlamovs Dienst im Diplomatischen Corps bei den Vereinten Nationen machte es möglich.

Er stutzte. Das Gesicht des auf dem Bürgersteig der Fifth Avenue entgegenkommenden, finster dreinblickenden Passanten mit dem markigen, schon brutal wirkenden Kinn kam ihm bekannt vor. Dennoch konnte er das Bild augenblicklich nirgends zuordnen. Er hing noch in diesem Gedanken verfangen, als der Mann auf ihn zuschnellte, ihn überraschenderweise anlächelte und etwas unter seinen Arm rammte. Boris spürte den Nadelstich, dann drehte sich auch schon die Welt um ihn herum. Er sackte in sich zusammen. Der andere fing das Gewicht des erschlaffenden Körpers auf und geleitete den Torkelnden stützend in den nächsten Hauseingang. Keinem der vorbeieilenden Passanten fiel die Aktion auf. Die Menschen hasteten in der Kälte irgendwelchen Zielen entgegen.

Als Sharlamov aus seiner Benommenheit erwachte, blickte er in ein grelles, die Augen schon schmerzlich blendendes Licht.

»Überrascht, Mister Sharlamov?«

Der Russe erkannte die Stimme, auch wenn er aus den bisherigen Kontakten kein Bild mit ihr verbinden konnte. Er hatte den Gesprächspartner nie zu Gesicht bekommen.

»Ja, Mister ... äh ... Hackman.«

»Ich sehe, Ihre Sinne funktionieren wieder. - Sie haben ein Problem.«

»Ich? Ein Problem? Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

»Ach, kommen Sie! Sie haben uns gelinkt.«

»Ich? Gelinkt?«

Dem Russen wurde heiß. Er hatte nicht den Hauch einer Ahnung, worauf Hackman anspielte.

»Mister Sharlamov, die letzte Transaktion ist geplatzt. Warum?«

»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Die Aktion läuft doch noch.«

»Die letzte Lieferung kommt nicht an. Das steht jetzt schon fest. Jemand hat sich eingeklinkt und die Ware umgeleitet. Und es gibt nur einen einzigen Anknüpfpunkt, der dafür in Frage kommt. - Sie.«

»Ich ... ich versichere, ich habe keine Ahnung. Ich wusste ja nicht einmal, dass ...«

»Ja klar, Sie wussten nicht. Ums abzukürzen: Bringen Sie es in Ordnung. Ich erwarte Ihre Info innerhalb von zwei Tagen. Wo ist die Ware? Und wer steckt dahinter?«

»Zwei Tage? Ausgerechnet ich?« Sharlamov hatte nicht den Hauch einer Idee, was geschehen war. Die Transaktion hatte nicht geklappt - das hatte er verstanden. Aber warum? Woher sollte er das wissen?

»Wer auch immer das war - er muss die Informationen von Ihnen haben. Das steht für mich zweifelsfrei fest. Finden Sie heraus, wer dahinter steckt. - Falls Sie nicht selbst die Finger im Spiel haben, was ich Ihnen natürlich nicht raten würde. Ihr Problem. Lösen Sie es. - Oder ich löse es - auf meine Art. Und die wird Ihnen nicht gefallen.«

Das Licht erlosch. Sharlamov fand sich in absoluter Dunkelheit wieder. Erst fünf Sekunden später schaltete sich eine normale Deckenbeleuchtung ein. Er saß in einem kahlen Raum, einer Art Keller. Sharlamov konnte sich frei bewegen. Nichts und niemand hinderte ihn. Der Weg hinaus war einfach zu finden. Eine Minute später stand er wieder in der Fifth Avenue. Seine Knie schlotterten - nicht nur vor Kälte.

*

Bis auf einen saudi-arabischen Reisepass auf den Namen N’daala und eine Mitgliedskarte, für den Triple-A auf dieselbe Person ausgestellt, war die Brieftasche leer. Keine Kreditkarte, kein Bargeld. Da war jemand nur auf Wertgegenstände scharf gewesen. Nach einem politischen Mord sah das nicht aus - gäbe es nicht die bizarren Tatumstände. Ich wollte mich später weiter darum kümmern und deponierte das Stück in meinem Hotelzimmer. Zu Fuß machte ich mich auf den Weg zur New York Today.

Ich hatte Henry Gater bisher nur via Skype gesehen und wusste von daher natürlich, wie er aussah. Dennoch überraschte mich seine Körpergröße, als er leibhaftig vor mir stand. So klein hatte ich mir den Grauhaarigen wahrlich nicht vorgestellt.

»Herzlich willkommen in unserem Zeitungshaus, Mister Tilman.«

»Danke, Mister Gater, die Freude ist ganz auf meiner Seite, wie Sie sich ausmalen können«, erwiderte ich höflich.

Das Ambiente in den nüchtern eingerichteten Räumlichkeiten des Verlagshauses deckte sich mit dem Eindruck, welchen die Backsteinfassade des alten New York Today Buildings dem Außenstehenden vermittelte: nicht mehr ganz zeitgemäß. Wobei ich diesem Flair einen gewissen Reiz nicht absprechen konnte. Ich hatte schon immer einen Hang zur Nostalgie, insbesondere im Bezug auf den Job. Technik, Vernetzung und High-Tech-Computer sind nicht immer das Nonplusultra. In unserem Business kommt es oft genug auf ganz andere Hilfsmittel an. Und das wichtigste Ausrüstungsteil steckte sowieso zwischen meinen beiden Ohren.

Wir wechselten die üblichen Floskeln, die man zu einem Jobantritt von allen Beteiligten fallen lässt. Dann ging Gater ohne weitere Umschweife zum Tagesgeschäft über.

»Ihre Kollegin Linda Shaw.«

Ich erwiderte das freundliche »Hallo!« der ungefähr Dreißigjährigen und schätzte mich glücklich, einen solchen Feger an die Seite zu bekommen. Ja, ein Feger - genau das war sie mit ihrem langen, rotbraunen Haar, das in tanzenden Locken auf Brusthöhe ausschwang. Das tiefe Schwarz der Lidstriche katapultierte das Braun der überdimensional wirkenden Augen in das Zentrum jedes Männerblickes. Die beiden spitz hervortretenden Rundungen in ihrem eng sitzenden Mohair-Pulli harmonierten aufreizend mit der rückseitigen Wölbung unterhalb ihrer Taille, übrigens die einzige Körperform, die die weit geschnittene Hose offenbarte. Die Perfektion ihrer Beine durfte ich nur erahnen.

»Ihr habt auch gleich einen gemeinsamen Auftrag. Kümmert euch um den Mord hier.«

Gater drückte Linda einen Computerausdruck in die Hand.

»Echt, Chef?« Linda starrte den Chef zweifelnd an. »Ein Mord in Brooklyn? Seit wann picken wir uns einzelne Morde für einen intensiven Bericht heraus, und dann auch noch einen außerhalb von Queens? Da hätten wir ja jeden Tag alle Hände voll zu tun und kämen zu nichts anderem mehr.«

»Stimmt schon, Linda-Schätzchen. Aber der hier ist von besonderer Art. Kam eben über die Ticker. Ein Araber erschossen - vermutlich ein Diplomat, aber auch das gilt es noch, bestätigt zu werden. Auf offener Straße verstümmelt. Ich will mehr über die Begleitumstände wissen. Terroristen? Familienfehde? Und seht zu, dass ihr an irgendwelche Fotos kommt. Unsere Zeitung kann’s gebrauchen.«

Ich hatte schon den Mund geöffnet, um meine Erlebnisse des Vormittags zu verkünden, als mich meine innere Stimme zurückpfiff. Verschleuder nicht deine Pfunde! Das Schicksal offerierte mir einen exzellenten Einstand in den neuen Reporter-Job. Die Chance sollte ich nutzen. Jede Karte wollte gut ausgespielt sein.

»Kriegen wir hin, Chef. Oder - was meinst du, Linda?«

Sie lächelte mich vielsagend an und nickte. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass hier ein großartiges Dream-Team entstand. Wir beide rafften unsere Sachen zusammen und machten uns auf.

Sie bot an, in ihrem Wagen zu fahren, was ich dankbar akzeptierte, denn noch befand ich mich ohne eigenes Fahrzeug in meiner neuen Umgebung. Gut, dass die Angelegenheit mit der Wohnung in der Mittagszeit tatsächlich geklappt hatte und zum Abschluss gekommen war. Die mitofferierte Halle erwies sich als perfekt für meine Zwecke. Ich hatte bereits auf dem Weg in die Redaktion telefonisch den Transport meines erweiterten Hausstands von Boston nach New York terminiert. Schon in ein paar Tagen könnte ich mich bei Linda revanchieren - ob sie allerdings die Vorliebe für mein Auto teilen würde, wagte ich jetzt doch zu bezweifeln, denn der Stolz auf ihren silbergrauen Mini Clubman konnte nicht übersehen werden.

»Chic!« Mehr sagte ich nicht, als ich eingestiegen war. Ich gebe zu, mein Verhältnis zu britischen Autos ist eher angespannter Natur.

»Und er geht ab wie eine Granate, Bob. Oh, ich darf doch Bob sagen?«

»Klar«, antwortete ich und war dankbar, dass sie erst gar nicht mit dem förmlichen »Robert« losgelegt hatte. Alle nenne mich nur Bob. »Und - ähm - Misses Shaw oder Miss?«

Sie grinste. »Wenn du es unbedingt wissen willst: Miss. Spielt aber bei Linda sowieso keine Rolle, oder?«

Sie startete den Motor noch nicht, sondern führte zunächst ein Telefonat mit einem oder einer Chris. Aus den Gesprächsfetzen konnte ich entnehmen, dass Linda den Namen eines ermittelnden Polizeioffiziers in Erfahrung brachte. Keine Frage - sie war Profi. Das sollte mir beim Aufbau eines passenden Netzwerkes hier in New York sehr helfen können.

»Wir fahren jetzt zum Tatort?«

Sie schüttelte den Kopf und grinste mich von der Seite an. »Nein, der kann warten. Ich habe ein Date im Neunzigsten. Der Gesprächspartner weiß es nur noch nicht.«

Das Neunzigste - mir war klar, was sie meinte, auch wenn ich neu in dieser Stadt war: das neunzigste Revier des New York Police Departments. Zwanzig Minuten später hielten wir vor dem Haus mit dem NYPD-Schriftzug.

Ich hatte bereits den Autotürgriff in der Hand, doch ihr Handzeichen stoppte mich.

»Das mache ich besser allein, Bob.«

Sie zwinkerte mir zu und war auch schon auf dem Weg zum Eingang. Ich blickte ihr durch die Windschutzscheibe hinterher. Welch ein Gang! Der weiche Hüftschwung und die stakkatoartige Bewegung der Beine harmonierten in einem wohltuenden Kontrast - trotz der Hose.

Es dauerte keine Viertelstunde, bis sie wieder erschien.

»Das war zwar ein Treffer - der Officer schien von dem Gespräch durchaus angetan -, er ließ aber trotzdem kaum etwas raus.«

»Und?«

»Auch wenn er es nicht direkt bestätigte: Das Opfer war ein arabischer Diplomat von den Vereinten Nationen.«

»Na ja, sowas Ähnliches stand doch schon in der Meldung.«

»Yep, aber nur als Vermutung. Ich bin mir jetzt aber ziemlich sicher. So gut konnte ich die Reaktionen des Cops schon einordnen.«

»Gut. Und was noch?«

»Man hatte ihm eine Hand abgetrennt. Aber auch das wussten wir schon aus den umlaufenden Gerüchten. Das Taxi war nahezu gleichzeitig zu der Tat in der Nähe des JFK-Airports als gestohlen gemeldet worden. Echtes Carjacking. Der eigentliche Fahrer hatte einige Zeit benötigt, um sich seiner Fesseln und des Knebels zu entledigen und führte zur Tatzeit des Arabermordes ein Gespräch mit einer Streife.«

»Hm. Da klaut jemand ein Yellow Cab, um dann den nächstbesten Fahrgast mitten in der Stadt abzuknallen und ihm eine Hand abzutrennen? Das schreit doch nach einer durchgeknallten Theorie.«

»Yep. Durchgeknallt gefällt mir.«

»Fotos vom Tatort?« Auf die Antwort war ich besonders gespannt.

»Nope. Keine Chance. Von den Cops bekommen wir sicherlich nicht den Hauch eines Bildes. Und der Officer schien mir absolut überzeugt zu sein, dass auch keiner der Passanten eines gemacht hatte. Das ließ er durchaus genüsslich durchblicken. ›Das wäre uns nicht entgangen.‹ Zitat. Deckt sich natürlich auch damit, dass noch kein einziges Foto in den sozialen Netzwerken aufgetaucht ist.«

»Mist.« Innerlich triumphierte ich jedoch. Die Story könnte sich zu einem guten Einstand in New York entwickeln.

»Dafür weiß ich, wo das Taxi jetzt steht.«

»Das hat er so freizügig preisgegeben?«

»Nope. Aber ich kenne den Ort eben, an welchen solche Autos oder Tatwerkzeuge grundsätzlich zur weiteren Untersuchung gebracht werden.«

Sie grinste. Hätte ich mir ja denken können. Das hier war ihr Revier - was weiß ich, seit wie langer Zeit schon.

»Der Bereich wird ja wohl kaum für uns zugänglich sein, oder?«

»Wir werden sehen«, grinste sie, steckte den Schlüssel in das Zündschloss und startete durch.

Während der Fahrt berichtete sie noch über andere Einzelheiten ihres Interviews, doch konnte man die brauchbaren weitergehenden Fakten mit der Lupe suchen. Den mir bereits bekannten Namen des Opfers hatte der Officer noch mitgeteilt. Die Offenheit bezüglich dieses Punktes war nicht sonderlich überraschend, denn die Identität würde sowieso in einer Pressemeldung des NYPD auftauchen. Mich erstaunte eher, woher die Stellen den Namen bereits kannten.

»Ausweise?«, fragte ich scheinheilig.

»Nein. Aber ein Flugticket von Riad nach New York in der Jacke des Toten gab den entscheidenden Fingerzeig. Rückfragen bei den UN bestätigten die Personalien sehr schnell.«

Es gab keinerlei Hinweis auf die Ermittlungsrichtung der Cops. Genau genommen wusste ich jetzt nicht einen Deut mehr über den Fall als vor Lindas Interview, außer woher das Opfer angereist war. Dafür hatte ich die eine oder andere Kleinigkeit über die Kollegin kennengelernt.

»Welche Straße ist das hier?«

»Die Achte Nord, Bob. Warum?«

»Ich habe gerade eine Martial Arts School gesehen. Werde ich mir bei nächster Gelegenheit ansehen.«

»Oh, Kampfsportler?«

»Yep.«

Ich blickte sie an und versuchte zu ergründen, ob das bei ihr besonderen Eindruck hinterließ. Doch sie reagierte nicht weiter. Das konnte mir allerdings auch egal sein. Ich betrieb das Training der Selbstverteidigung ja nicht, um bei irgendeiner Frau Eindruck zu schinden - auch wenn die Bewunderung mancher Schönen dann und wann nicht zu verachten war und mir schon den einen oder anderen abwechslungsreichen Abend beschert hatte.

»Wir sind da.«

Sie stoppte den Mini vor einem Zaun, hinter dem sich ein gutes Dutzend Fahrzeuge befanden. »Zutritt verboten.« Die Schilder am Drahtgeflecht und der Wachposten zwanzig Schritte weiter sprachen eine eindeutige Sprache.

»Da willst du jetzt hineinspazieren?« Ich machte keine Anstalten, meine Skepsis zu verschleiern.

»Wart’s ab.«

Sie ging hinüber zum Securitymann, wechselte ein paar Worte - und verschwand auf das Gelände, ohne mir auch nur den Hauch eines Zeichens zu geben. Zehn Minuten später kam sie zurück.

»Perfekt.«

»Was heißt perfekt? Willst du mich jetzt aus allem raushalten?«

»Ach was, Schätzchen. Aber mit dir zusammen wäre ich nicht hineingekommen.«

»Was soll das heißen?«

»Er hätte mir meine Story nicht abgenommen.«

»Welche Story?«

»Betriebsgeheimnis, Schätzchen.« Sie grinste. Hier lief einiges mächtig schief. »Aber kannst beruhigt sein. Ich habe Fotos von dem Cab. Man kann sogar die Blutspuren auf dem Rücksitz erkennen.«

»Na toll.«

Ein Mann fiel mir auf, ungefähr fünfzig Schritte entfernt. Er ließ uns nicht aus den Augen. Die abgenutzte Kleidung, das lange, filzige Haar und der ungepflegt wirkende Vollbart ließen mich einen Mann der Straße vermuten, von denen es im Stadtgebiet Hunderte gab. Doch ich irrte. Als Linda wieder anfuhr, sprang der Mann in einen alten, blauen Toyota und heftete sich an unsere Fersen. Ich blicke mich mehrmals um, konnte aber bald aufgrund der eingeschalteten Scheinwerfer vieler Fahrzeuge und des einsetzenden Schneefalls den Wagen nicht mehr eindeutig erkennen.

»Ist was, Schätzchen? Siehst du Verfolger?«

Ich versuchte, den Sarkasmus in ihrer Stimme zu überhören, und antworte ruhig: »Nein. Nichts. Nur so. Ist noch eine fremde Gegend für mich.«

»Hm.«

Etwas mehr als eine Viertelstunde später betraten wir wieder die Redaktionsräume.

»Und, Linda, was haben wir jetzt erreicht? Eigentlich nichts.«

»Ach. Lass mich mal machen.«

Sie hämmerte intensiv auf ihrer Computertastatur. Als zehn Minuten später Mister Gater zufällig vorbeirauschte, rief sie ihn herüber.

»Hier, Chef. Fotos und ein erster Bericht mit Namen und Einschätzungen der Polizei.«

»Wow! Perfekt, Linda! Was sind die Highlights?«

»In den Fotos können wir noch die Blutspuren sehen. Wir haben den Namen des Opfers. Die Polizei lässt offiziell nichts weiter verlauten, aber der Officer ließ einen krankhaft veranlagten Raubmörder durchblicken. Eher kein Terroristenanschlag, auch wenn dem Opfer allem Anschein und den ersten Ermittlungsergebnissen nach geheime Papiere gestohlen wurden.«

Mir fiel die Kinnlade herunter. Linda hatte mehr erfahren, als sie mir weißgemach hatte. Diese Schlange!

»Und, wie klappte die Zusammenarbeit mit dem neuen Kollegen?«

»Er macht sich ganz gut. Ist natürlich noch nicht die große Hilfe, aber das wird noch. Ich glaube, wir können gut miteinander.«

Sie lächelte mich aufreizend an. Mir verschlug es für einen Augenblick den Atem, dann schnappte ich aber doch nach Luft.

»Nun ja, die Fotos sind sicher nicht der Burner, Folks.« Gater zog die Mundwinkel leicht nach unten. »Aber besser als nichts. Auf dich ist halt immer Verlass, Linda. Und - gut gemacht, Bob.«

Sollte ich mich über dieses Lob Gaters freuen? Ich atmete noch einmal tief durch und fand meine Sprache wieder.

»Ach, stopp, Mister Gater. Eine Kleinigkeit habe ich da noch.«

Ich zog mein Smartphone hervor, blickte dabei in Lindas vor Neugier erstarrendes Gesicht und konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Gater glotzte mit offenem Mund auf das erste Foto, auf den Toten und die amputierte Hand.

»Exklusiv, Mister Gater. Direkt nach der Tat entstanden.«

Könnten Blicke töten, wäre ich vor Lindas Gift speienden Augen leblos zusammengesackt.

*

Sharlamov hatte zumindest gerüchteweise erfahren, was an dem Tag in Brooklyn passiert war. Er zog sich in seine für Normalsterbliche unbezahlbare Wohnung in Manhattan zurück und ging anhand einer kleinen handschriftlichen Liste seine maßgeblichen Kontakte durch. Die Anzahl der möglichen undichten Stellen war gering - an einer Hand abzuzählen.

Für Kim Soo-Ji würde er selbige ins Feuer legen. Er schätzte die Koreanerin als absolut vertrauenswürdig ein. Mit geschlossenen Augen lehnte er sich im Sessel zurück und versuchte, die Situation emotionsfrei einzuschätzen, was ihm in erheblichem Maße schwerfiel. Sobald ihr Bild in seinen Gedanken auftauchte, erhöhte sich sein Herzschlag. Er würde niemals frei von Gefühlen an sie denken können. Jede gemeinsame Minute mit ihr hatte er in den letzten Monaten genossen. Ihr Liebesspiel traf seine Erwartungen immer auf den Punkt. Trieb sie ein böses Spiel mit ihm? Er zwang sich, nur auf die Fakten zu schauen. Er fand nichts Belastendes. Soo-Ji kannte nicht mehr als die Konstruktionspläne der Koffer sowie die Lieferadressen im Nahen Osten. Wie die Kette weiterlief, konnte sie nicht wissen. Und erst recht nicht, wie und womit die Koffer befüllt wurden. Tatsächlich wusste er selbst es ja nicht einmal.

Er beugte sich wieder vor, blickte auf seine Liste. Ben Ariba? Möglich. Der Jemenit hatte neben Boris selbst die besten Einblicke in die Lieferkette. Er verteilte die Koffer an die jeweiligen Kuriere. Zwar hatte er zu diesen niemals den direkten Kontakt, dennoch könnte er mit einiger Logik auf die Transportzeitpunkte schließen. Ben Ariba war nicht dumm - ganz im Gegenteil. Seine Schlitzohrigkeit suchte ihresgleichen. Und er war hier in New York bestens vernetzt, kannte mehr Leute, insbesondere Mitglieder der halbseidenen Gesellschaft, als Sharlamov selbst jemals kennen würde. Ben Ariba stand somit ganz oben auf der Liste.

Auch jeder der sogenannten Ausstatter am jeweiligen Abflugort kam in Frage, bezogen auf den geplatzten Transport also der Mann in Riad. Wobei es tatsächlich nicht nur um diese eine Person ging, sondern - wie in jedem einzelnen Fall - um zwei: Sharlamovs jeweiliger Kontakt hier bei der UN, in diesem Fall Harud Ibn Warava, sowie dem Mann in Riad, der Sharlamov jedoch unbekannt war und als Einziger einen direkten Kontakt zum Kurier vor dem Abflug hatte. Einer dieser beiden? Möglich.

Und er musste noch den unbekannten Lieferanten der eigentlichen Ware ins Kalkül ziehen. Sharlamov war weder in die Produktion noch die Befüllung der Koffer eingeweiht. Nur Hackman hatte tiefergehende Einblicke. Sollte die undichte Stelle doch eher in Hackmans eigenem Umfeld zu suchen sein? Dann hätte Sharlamov jetzt verdammt schlechte Karten. Er lehnte sich wieder zurück, schloss die Augen, dachte nach. Hackman wird diese Variante schon bedacht haben. So hoffte er zumindest. Sharlamov musste diese Alternative aus seinen zu verfolgenden Verdächtigungen ausschließen - egal, welches Risiko noch darin stecken mochte.

Blieb noch einer seiner eigenen Leute, welche die Koffer in New York wieder einsammelten. Aber von den beiden, einer Frau und einem Mann, beide Russen wie er, würde sich keiner trauen, da war Sharlamov sich so sicher wie bei Soo-Ji. Sie waren ja nicht lebensmüde. Außerdem sprach der Ablauf der heutigen Tat dagegen. Für die beiden wäre ein Abgreifen nach dem Einsammeln viel einfacher und risikoloser gewesen als so ein publikumsträchtiger Mord.

Er müsste sich auf Ben Ariba und den saudischen Attaché konzentrieren. Einer von beiden trieb ein falsches Spiel. Er öffnete eine Dose Bier und dachte für einige Minuten weiter nach. Dann verließ er seine Wohnung. Er musste einfach nochmal raus.

*

Ich hätte Gater würgen können. Für die Teilnahme an einer frühabendlichen Preisverleihung beförderte er Linda und mich zum Paar, welches bei einem solchen Festival einen hervorragenden Einstand geben könnte. Paare agieren besser, befand er. Außerdem dürften wir bei der Gelegenheit unseren Erfolg des Tages ein wenig feiern und gleichzeitig die Kultur-Seite für den nächsten Tag füllen.

Natürlich hatte ich keine Lust. Ich wäre lieber für den Rest des Tages an der Taxi-Story drangeblieben. Für mich stand die Geschichte erst am Anfang - ganz am Anfang. Aber so fand ich mich schon am späten Nachmittag in meinem einzigen Anzug im Foyer der Town Hall in Queens wieder. Keine Frage - Linda stach mich selbstverständlich aus, und zwar um Längen. Ich gebe allerdings zu, ihr Outfit beeindruckte auch mich und stachelte meine Männlichkeit trotz aller Gegenwehr an. Die Einfachheit ihres Kleides traf perfekt und unwiderstehlich: ein schwarzes, eng anliegendes Kleid, das bereits weit mehr als eine Handbreit oberhalb des Knies endete und so den von mir tatsächlich erhofften Blick auf ihre Gestelle freigab. Wow! Ich konnte nicht umhin ... Ich atmete tief durch. Gekonnt verbarg der Stoff dagegen von der Gürtellinie aufwärts jeden ersehnten Blick auf die Haut. Ein Rollkragen schloss eng am Hals ab. Doch die Arme lagen in voller Länge frei, und auch die Schulterblätter ließen in freier Sicht an ihrem Spiel teilhaben - soweit ihre langen Haare nicht dazwischenfunkten und so man Linda von hinten sah. Was für eine Kreation!

Ihr flüchtiger, abschätziger Blick ließ mich erahnen, was sie von meinem Zweiteiler hielt. Dennoch lächelte sie schnell wieder breit und charmant, als sie mir zur Begrüßung einen flüchtigen Kuss auf die Wange drückte.

»Wir schaukeln das?«

»Yep, Linda, schaukeln wir. Und - alle Achtung, auf dich kann jeder Mann stolz sein.« Mehr an Komplimenten wollte ich an dem Abend aber nicht verteilen. Dazu war ich fest entschlossen.

»Na ja - dich werde ich im Laufe der Zeit auch noch hinbekommen. Deine Figur ist ja sehr passabel. Da werden wir noch passendes Outfit finden.«

Sie grinste mich frech an.

Glücklich stellte ich fest, dass Linda mich nur minimal überragte. Ich konnte meinen Blick kaum von ihren in den grazilen High Heels endenden Beinen abwenden - es sei denn, sie wandte mir einmal kurzzeitig den Rücken zu.

Der Abend rauschte dahin. Die Preisverleihung ebenso. Ein lokaler Künstler wurde geehrt, eine Sängerin aus Connecticut, ein Filmemacher aus Kanada, der einen nach allgemeiner Aussage sehr eindrucksvollen Film über Queens gedreht hatte. Ich protokollierte Meinungen, vermied aber meine eigene. Irgendwie war alles ein langweiliges Blabla. Interessanter erschienen die Gespräche beim anschließenden Meet & Greet. Linda wickelte die Männerschar reihenweise um den Finger. Unglaublich, wie manche der eingesessenen Lokalgrößen gar Selfies mit ihr machten. Wer waren hier die Stars? Der Bürgermeister lächelte mit ihr in Kameras, die mannlichen Preisträger drängten sich um ein Interview mit ihr, Ron Damp, Immoblien-Zar und Finanzmogul, einer der aufstrebendsten Republikaner in New Jersey, zog sie für ein trautes Gespräch auf die Seite, Mario Montana, ein Fernsehmoderator, dem man gute Verbindungen zur Mafia-Welt nachsagte, belagerte sie für ein längeres Privatgespräch, David Banister, Hitparadenstürmer Nummer eins, reckte mit ihr im Arm sein Victory-Zeichen in die Teleobjektive. Ich begriff, dass mir mein Geschlecht bei meiner Reporterkarriere vielleicht im Weg stehen könnte.

Die Welle schwappte vorüber. Ruhe kehrte ein. Linda und ich suchten eine Bar um die Ecke auf und hämmerten bei zwei Kaffee unsere Reportage in ihr Notebook. Ein letzter Knopfdruck - fertig. Der Text war damit in die Redaktion übertragen.

Ich überlegte einige Minuten lang, ob ich jetzt endlich mit der Kollegin auf einen Absacker verschwinden könnte. Sie lächelte mich an. Mir schnürte es die Kehle zu. - Mit einem Kuss auf ihre Wange verabschiedete ich mich.

»Es war ein toller Abend mit dir, Linda. Echt. War ein guter Job. Hatte ich nicht erwarte. Aber - verzeih mir, ich brauche meine ruhige Abendstunde - zumindest heute.«

Ich zahlte und verließ die Bar, ohne mich umzusehen. Mir war nach Ruhe. In mir brodelte etwas, dem ich nicht auf den Grund gehen wollte. Ich kochte innerlich. Es war noch durchaus früh in der Nacht. Mit einem Handzeichen stoppte ich das nächstbeste Yellow Cab.

»Ins Blue Moon«, sagte ich, ohne lange nachzudenken. Ich hoffte, Cathy könnte mich ablenken.

*

Die Lokation hatte jetzt deutlich mehr Zulauf als um die Mittagszeit. Cathy war nicht zu sehen. Ich setzte mich an die Bar und orderte ein Bier. Wirklichen Durst hatte ich nicht, erst recht nicht auf Bourbon. Ich müsste meinen Konsum sowieso reiflich überdenken. Bourbon in Bars oder mehrere Taxifahrten am Tag überstiegen bei weitem meine finanziellen Möglichkeiten. Und was ich als Spesen bei Gater geltend machen könnte, stand noch in den Sternen.

»Ist Cathy da?« Meine Worte richteten sich an die Dame hinter der Bar.

»Oh, der Herr haben spezielle Wünsche?« Sie grinste. »Cathy hat diese Woche den Tagesdienst. Im Augenblick schwebt sie sicherlich durchs Land der Träume.«

»Verstehe.«

»Aber ich bin ja da. Darfst Cheryl zu mir sagen.«

»Mach ich, Cheryl.«

Ich versuchte ein Lächeln, was mir nur schwerlich gelang. Nachdenklich nippte ich an meinem Glas. Was machte ich eigentlich hier? Seit dem Auffinden des Toten waren mehrere Stunden vergangen. Die Spur in diesem Schuppen war garantiert nicht mehr heiß. Ich besaß Wissen, das ich der Polizei zur Verfügung stellen musste. Mit meinem Reporterstatus konnte ich mein Schweigen kaum noch rechtfertigen. Die Papiere des Opfers lagen in meinem Hotelzimmer. Ich kannte sogar den Mörder, wenn ich nicht komplett irrte. Dummerweise hatte mein Wissen aber einen gravierenden Schönheitsfehler - ich könnte nichts davon beweisen. Die Lederbrieftasche wies wahrscheinlich keinerlei Fingerabdrücke außer denen des Toten auf, denn Ramos hatte, soweit von mir beobachtet, jederzeit Handschuhe getragen - ob nun wegen der Kälte, wie ich selbst, oder aus anderen Gründen, war dahingestellt. Die Brieftasche war damit ermittlungstechnisch wertlos. Wohin die Beute zunächst verschwunden war, könnte ich zwar mitteilen, nämlich an diesen Ort hier, doch ob sie tatsächlich noch in diesem Gebäude war, stand in den Sternen. Alles war zu vage. Sollte ich austrinken und gehen?

Eine Frage schwirrte mir durch den Kopf und forderte eine Antwort. Die Indizien sprachen für einen simplen Raubmord. Wieso amputierte der Mörder dann die Hand? Ein Durchtrennen der Handschellenkette mit einem Bolzenschneider, mit roher Gewalt oder einem gut angesetzten Schuss hätte einfacher und schneller zum Erfolg geführt. Was ging im Kopf des Täters vor?

Mir stockte der Atem. Ramos kam hereingeschneit und steuerte auf die Theke zu. Auch wenn ich mir sicher war, dass er mich bei der Verfolgung am Vormittag nicht bemerkt hatte, checkte ich doch meine Sitzposition und achtete darauf, mein Gesicht außerhalb jeglicher direkten Beleuchtung zu halten. Er wechselte einige Worte mit einem grauhaarigen Mann und setzte dann seinen Weg durch den Raum fort. Genauso wie bei meinem ersten Besuch in der Bar verließ er den Gastraum durch die Tür im Hintergrund. Der Grauhaarige winkte einen jüngeren, kräftig gebauten Schwarzhaarigen heran und flüsterte ihm etwas zu. Mein Blick verfolgte ihre Handlungen. Sie gingen an mir vorbei. Ich erkannte Einzelheiten im Gesicht des Älteren. Eine Narbe reichte in der linken Hälfte von der Nasenwurzel bis hinunter zu dem Unterkiefer. Sie verschwanden an einen Tisch hinter einer mannshohen Trennwand. Ohne zu zögern, nahm ich mein Glas und signalisierte Cheryl meinen Platzwechsel, bevor ich mich an den Tisch direkt vor der Trennwand begab. Ich setzte mich und spitzte die Ohren. Es funktionierte, ich konnte ich das Meiste von jenseits des Raumteilers aufschnappen.

»Der Kofffer beinhaltete tatsächlich nur die Papiere. Der sagenhafte Wert besteht also aus blöden Informationen, mit denen wir selbst nichts anfangen können.«

»Und jetzt, Chef?«

»Wir müssen herausfinden, wer dafür einige Hunderttausend hinblättern würde.«

»Wie soll das gehen?«

»Wir strecken ein paar Fühler aus. Vielleicht schaffen wir es, Informationen in Politiker- oder Diplomatenkreisen zu streuen. Es geht um irgendetwas Militärisches. Eine andere Zielgruppe sehe ich noch nicht, auch wenn es bestimmt noch andere Interessierte geben kann.«

»Oh, hast du Kontakte?«

»Nein, woher sollte ich. Das war noch nie unser Metier. Aber lass uns mal machen. Pass auf, Korngey! Ich möchte, dass du Berger damit beauftragst. Er ist bei solchen Sachen manchmal ganz findig. Er hat die Beute ja sowieso schon gut verstaut.«

»Okay, Chef.«

»Der Koffer war übrigens sprengstofffrei.«

»Also hätte sich Ramos seinen Aufwand sparen können?«

»Na ja, so sehe ich das nicht. Vorsicht ist immer gut. Aber sollte es ein nächstes Mal im selben Umfeld geben ...«

»Verstehe, Chef.«

Oh Mann! Deswegen die brutale Amputation. Schiss vor einer Sprengstofffalle. Cheryl rauschte vorbei und gab den beiden Zeichen, ohne ein Wort zu verlieren. Der Grauhaarige schaute um die Ecke. Ich verfolgte seinen Blick. Ein Mann, jünger als ich, dunkelblond, war hereingekommen und gab offensichtlich den Anlass für die Unruhe nebenan.

»Was soll ich machen, Chef?«, fragte Cheryl.

»Bedien ihn ganz normal. Reitet er irgendwie auf der letzten Woche rum, gibst du mir ein Signal. Ich kümmere mich dann.«

Meine Aufmerksamkeit war angestachelt. Ich leerte mein Glas und begab mich zur Theke.

»Cheryl, noch eins.« Mit diesen Worten ließ ich mich wie selbstverständlich wieder an der Bar nieder, dicht neben dem Neuankömmling. Ich vermied es, ihn direkt zu beobachten, doch entging mir im Winkel meines Gesichtsfeldes keine seiner Regungen. Er schaute sich um, schüttelte mal den Kopf, schaute sich weiter um.

»Sie waren doch auch da, als ich hier war, oder?«, sprach er Cheryl an.

»Ich? Wann soll das gewesen sein? Ich kann mich nicht an Sie erinnern.«

»Am Mittwochabend.« Der russische oder slawische Einschlag seiner Aussprache war nicht zu überhören.

»Sicher nicht.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739387802
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Juni)
Schlagworte
Mord Zeitung Diplomat New York Thriller Reporter Abenteuer Krimi Spannung Roman

Autor

  • Phil Conrad (Autor:in)

Phil Conrad, ein Kind der Fünfzigerjahre, hat sich den griffigen Heftromanen verschrieben. Seine Abenteuergeschichten greifen die Facetten der klassischen Exemplare dieses Genres auf. Seine Werke sind geschaffen für die Form zweispaltiger Story-Layouts im Comic-Heftfomat, sind aber auch als Taschenbuch und eBook verfügbar.
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Titel: Bob Tilman: Letzter Stopp Brooklyn