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Rosenkuss und Dornenkrone

von Maya Shepherd (Autor:in)
140 Seiten
Reihe: Die Grimm-Chroniken, Band 15

Zusammenfassung

»Denk immer daran, dass Rosen Dornen haben. Sie sind nicht nur schön anzusehen, sondern können Schmerz verursachen.« Die Tage der Kindheit sollten erfüllt sein von Wärme und Licht. Rosalies waren tiefschwarz. Wenn sie an ihre ersten Monate auf dieser Welt zurückdachte, verspürte sie keine Zufriedenheit in ihrem Herzen, sondern hatte einen salzigen Geschmack im Mund. In der Obhut von Vlad Dracul wurde sie von klein auf darauf trainiert, Margery im Krieg der Farben zu töten. Zwei Schwestern, die geboren wurden, um einander zu hassen, bis nur noch eine von ihnen übrig blieb. Ist Rosalie wirklich böse oder trägt sie vielleicht mehr Gutes in sich, als sie selbst glaubt?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Was zuvor geschah

Mittwoch, 24. Oktober 2012

9 Uhr

Ember und Philipp erreichen das Hotel Loreley in Königswinter, nachdem sie in der Nacht vor der bösen Königin und ihren Anhängern durch den Wald geflohen sind. Von der Rezeptionistin erfahren sie, dass Julia am frühen Morgen ausgecheckt hat.

Philipp bucht ihnen ein Zimmer, in dem sie sich von den Strapazen erholen können.

10 Uhr

Sowohl Will und Margery als auch Maggy und Jacob erwachen an unterschiedlichen Orten, aber zur selben Zeit von dem Fluch des Schlafenden Todes. Während Will und Margery in einem Verlies von der bösen Königin gefangen gehalten werden, befinden sich Maggy und Jacob auf der Intensivstation eines Berliner Krankenhauses. Neben ihrem Bett findet Maggy das Hexenbuch von Baba Zima sowie Wills Medaillon. Sie schleicht sich aus ihrem Zimmer und hört ein Gespräch zwischen Jacob und den Ärzten mit an, in dem sie ihn über sein krankes Herz informieren. Sollte er keine Herztransplantation durchführen lassen, bleiben ihm nur noch wenige Wochen zu leben.

10.15 Uhr

Nachdem Philipp mit seinen Eltern telefoniert hat, treffen vier Bodyguards zu seinem Schutz ein. Gemeinsam überlegen Ember und er, wie sie die anderen Mitglieder der Vergessenen Sieben in der heutigen Zeit ausfindig machen könnten. Sie vermuten, dass Simonja bei einem Bestatter arbeiten könnte, und wollen mit der Suche nach ihr beginnen.

13 Uhr

Joe wird in einem Zimmer des Schlosses der bösen Königin gefangen gehalten. Rosalie sucht ihn auf, um von ihm Informationen über die Vergessenen Sieben zu erhalten. Nachdem Joe sich weigert, offenbart sie ihm, dass Maggy aus dem Koma erwacht ist und Rumpelstein sich auf dem Weg zu ihr befindet, um sie in seine Gewalt zu bringen.

15.45 Uhr

Maggy wird von einem Feueralarm geweckt und sieht sich mit Rumpelstein konfrontiert, der sie zu betäuben versucht. Gerade noch rechtzeitig wird er von Jacob daran gehindert. Zusammen fliehen sie aus dem Krankenhaus, dabei vertraut Jacob ihr an, dass die böse Königin nicht Mary ist, sondern diese in einem schwarzen Spiegel gefangen gehalten wird.

16 Uhr

Nachdem auch die böse Königin wieder erwacht ist, sucht sie Joe auf, um ihn zum Reden zu zwingen. Sie versucht, ihn auf ihre Seite zu ziehen, indem sie ihm verspricht, dass sie Maggy am Leben lassen und nur den Teil von Margery aus ihrem Herzen entfernen würde. Sie erkennt jedoch an Joes Reaktion, dass dieser nicht einmal wusste, dass seine Schwester zu den Vergessenen Sieben gehört, und somit auch nicht wissen kann, wer die anderen sind.

Joe versucht, sie mit einem Gedicht, das Jacob Maggy im Koma anvertraut hat, vom Gegenteil zu überzeugen. Als die Königin sich jedoch weigert, ihn im Tausch für sein Wissen seine Schwester sehen zu lassen, ahnt er, dass Maggy die Flucht gelungen sein muss, und hüllt sich erneut in Schweigen. Dadurch wird er für die Königin wertlos und muss um sein Leben fürchten.

17 Uhr

Will und Margery werden von Arian aus ihrer Zelle befreit. Er führt sie durch das Verlies der Schlosskommende Ramersdorf, dabei stoßen sie auf einen Sarg, in dem sich Dorians Leichnam befindet. Durch Wills Blut erwacht Dorian zu neuem Leben und vertraut seiner Tochter an, dass die böse Königin nicht ihre Mutter ist. Das ist auch der Grund, weshalb er sich ihrer Flucht nicht anschließt, sondern zurückbleibt, um die Königin zu töten.

Mittwoch,

24. Oktober 2012

Noch 7 Tage

Ein Dorn im Herzen

Mittwoch, 24. Oktober 2012

18.00 Uhr

Bonn, Schlosskommende Ramersdorf, ein Zimmer im ersten Stock

Joe stand kalter Schweiß auf der Stirn, als er sich vor Schmerzen auf dem Bett krümmte. Sein T-Shirt war rund um seinen Bauch dunkelrot verfärbt und auch die Decke unter ihm hatte bereits einiges abbekommen. Seitdem die Königin ihre Hand in seine Wunde gebohrt hatte, blutete es schlimmer als je zuvor.

Es war nur ein oberflächlicher Schnitt gewesen, der laut Rosalie nicht einmal hatte genäht werden müssen. Es hatte nur noch etwas geziept, wenn er sich ruhig verhielt, was in den letzten zwölf Stunden schwierig gewesen war.

Nun befand sich an der Stelle ein klaffendes Loch, das eine Schmerzwelle nach der anderen durch seinen Körper jagte. Wie durch ein Wunder war es ihm gelungen, vor der Königin den Starken zu mimen, doch jetzt fürchtete er, dass er sich bald keine Sorgen mehr darüber zu machen brauchte, dass er etwas verraten könnte, weil er noch in dieser Nacht verbluten würde.

Als er hörte, wie der Schlüssel gedreht wurde, stemmte er sich dennoch auf seine Beine und biss die Zähne zusammen. Er wollte nicht so hilflos und verzweifelt wirken, wie er sich fühlte.

Tapfer blickte er dem entgegen, was als Nächstes kommen würde.

Die Tür ging auf und Rosalie betrat den Raum – dieses Mal allein.

Er atmete unbewusst auf und sackte etwas in sich zusammen, da er von ihr keine Gefahr erwartete. Ehe er sich jedoch versah, durchschritt sie das Zimmer und knallte ihm ohne jede Vorwarnung ihre Faust mitten ins Gesicht. Er wusste gar nicht, wie ihm geschah, und dachte nicht einmal daran, sich zu wehren. Eine rote Flüssigkeit floss ihm aus der Nase, als er stöhnend rückwärts taumelte. Der Geschmack seines eigenen Blutes drang in seinen Mund und ließ ihn würgen.

Sie ließ ihm keinen Moment zum Verschnaufen, sondern packte ihn am Kragen und schlug ihm erneut ins Gesicht. Dieses Mal verfehlte sie sein Auge nur knapp und traf die Augenbraue darüber. Es fühlte sich an, als hätte man ihm eine Zwanzig-Kilo-Hantel direkt gegen die Stirn geknallt. Ihm wurde schwarz vor Augen und seine Beine sackten weg. Er wäre wie ein Sandsack zu Boden gestürzt, wenn Rosalie ihn nicht aufgefangen hätte. Sie schlang ihre Arme um seinen Oberkörper und zerrte ihn zum Bett.

Kraftlos fiel er auf die Matratze und sehnte sich nach einer Ohnmacht, um zumindest für eine Weile dem Schmerz zu entfliehen. Doch er verschluckte sich an dem Blut in seiner Kehle und rang röchelnd nach Luft.

Rosalie drehte ihn auf die Seite und klopfte ihm auf den Rücken, bis er sich erbrach. Sobald er wieder atmen konnte, sank er keuchend auf das Kissen zurück.

Alles um ihn drehte sich und er konnte nicht mehr sagen, wo es ihm am meisten wehtat. Er schämte sich nicht einmal für das Wimmern, welches seinen Lippen entwich. Vermutlich hätte er sogar geweint, wenn er dafür noch genug Energie gehabt hätte.

Von irgendwoher hörte er ein Plätschern, bevor jemand sachte seinen Kopf anhob und ihm einen kühlen Lappen in den Nacken legte. Ein Eisbeutel wurde auf seine Stirn gedrückt, der sofort für Erleichterung sorgte.

Geschickte Hände begannen, ihm mit einem nassen Tuch das Gemisch aus Blut und Erbrochenem von den Lippen zu waschen. Es waren dieselben Hände, die ihn zuvor geschlagen hatten.

»Es tut mir leid, dass ich dir wehtun musste«, entschuldigte sich Rosalie bei ihm und klang dabei aufrichtig. »Bei deinem ramponierten Gesicht wird niemand auf die Idee kommen, dass ich bei meiner Folter zu nachsichtig gewesen sein könnte.«

Mit niemand meinte sie vermutlich die böse Königin. Allerdings bezweifelte er, dass diese sich noch lange zum Narren halten lassen würde. Sie hatte bereits erkannt, wie wenig er wusste, sodass sie sich seiner bald entledigen würde, wenn er sie nicht mit einer hilfreichen Information vom Gegenteil überzeugte.

Rosalie tätschelte seine Wange. »Keine Sorge, du bist immer noch hübsch anzusehen«, zog sie ihn auf. »Die geschwollene Schläfe verleiht dir etwas Verwegenes. Frauen finden so etwas sehr anziehend.«

Ihm war nicht zum Scherzen zumute, sodass er keine Miene verzog. »Du hättest mir die Nase brechen können«, warf er ihr vor.

»Ich hätte dich töten können«, widersprach sie ihm. »Aber du hast Glück, dass ich genau weiß, was ich tue.«

Mit einem Ruck zerriss sie sein T-Shirt und legte seinen Bauch frei. Er ächzte, als sie seine Wunde berührte.

»Pssst«, machte sie sanft. »Das sind nur ein paar Stiche. Wenn ich dich genäht habe, bekommst du ein Schmerzmittel.«

Sie wartete gar nicht erst auf sein Einverständnis, sondern legte direkt mit der Desinfektion los. Er krallte sich mit beiden Händen in die Decke, als sie die Nadel durch seine Haut zog.

»Wofür?«, krächzte er verständnislos.

»Wenn du unbedingt den starken Mann spielen willst, kannst du natürlich auch auf das Schmerzmittel verzichten«, erwiderte sie und schien sich dabei ungemein witzig vorzukommen.

Joe stöhnte, als sie den zweiten Stich setzte. »Warum nähst du mich zu, wenn die Königin mich ohnehin töten wird?«, brachte er mühsam hervor.

»Du könntest ihr auch einfach sagen, was sie wissen will«, konterte Rosalie, auch wenn es sich nicht so anhörte, als ob sie den Vorschlag ernst meinen würde. Sie wusste bereits, dass Joe nichts verraten würde, und machte sich deshalb nicht die Mühe, ihn zu foltern. Es wäre sinnlos und im Gegensatz zur Königin empfand sie keine Freude dabei, anderen wehzutun.

»Warum lest ihr nicht die ›Grimm-Chroniken‹?«, fragte er sie zerknirscht, nachdem sie mit einem dritten Stich seine Wunde verschlossen hatte. Es war seine Schuld, dass sich dieses mächtige Buch nun in ihren Händen befand. Sie konnten es aber nicht gelesen haben, denn sonst hätten sie bereits gewusst, wie nutzlos er war, und sich gar nicht länger mit ihm abgegeben.

Rosalie verschwand von seiner Seite. »Du weißt doch, dass jeder es nur einmal lesen kann.«

Es überraschte ihn, dass das sogar für die Königin galt.

»Die Königin ist auf der Suche nach jemandem, der Teil der Geschichte ist, aber das Buch noch nie in den Händen hatte«, sagte sie, bevor ihre Schritte auf dem Teppichboden zu hören waren, als sie in das angrenzende Badezimmer lief und sich dort die Hände wusch.

Joe und Maggy fielen somit raus, aber was war mit Will? Wenn die Königin auch ihn in ihrer Gewalt hatte, könnte sie versuchen, ihn dazu zu bringen, ihr daraus vorzulesen? Allerdings könnte sie nie sicher sein, dass er auch wirklich das vorlas, was dort stand, und nicht vielleicht Tatsachen veränderte oder Details ausließ.

»Es gibt allerdings eine Ausnahme«, vertraute Rosalie ihm an, sobald sie wieder an seine Seite zurückgekehrt war. Die Matratze gab unter ihrem Gewicht nach und sie setzte sich erneut neben ihn. »Derjenige, der die Geschichten geschrieben hat, kann sie zu jeder Zeit lesen.«

»Jacob«, murmelte Joe, denn es war kein Geheimnis. Jedes Kind kannte die Brüder Grimm. Ungewiss war nur, wie viel der Verfasser der Geschichte noch über deren Inhalt wusste, zumal sie sich von allein weiterschrieb. Jeder Gedanke fand sich in dem Buch wieder, ebenso wie dieses Gespräch. Es war für Jacob unmöglich, all dies zu wissen.

»Die Königin hat Rumpelstein losgeschickt, um deine Schwester und den Märchenschreiber zu ihr zu bringen …«

»… aber beide sind ihm entkommen«, vollendete Joe ihren Satz. Es war mehr eine Vermutung, doch ihr darauffolgendes Schweigen verriet ihm, dass er richtiglag. Er wollte nicht in der Haut des Zwerges stecken. Sicher tobte die Königin über sein Versagen.

Jacobs Flucht lieferte in gewisser Weise eine Erklärung dafür, weshalb Joe noch am Leben war – die Königin hatte noch keine bessere Informationsquelle als ihn gefunden.

»Hast du die ›Grimm-Chroniken‹ auch gelesen?«, fragte er Rosalie, auch wenn er nach allem, was er bisher von ihr erfahren hatte, davon ausgehen musste. Aber es gab viele Dinge, die er sich nicht erklären konnte. Er kannte längst nicht die ganze Geschichte, doch viele Details standen in absolutem Widerspruch zu der jetzigen Situation – allen voran die Königin. Er hatte von einer jungen Frau namens Mary gelesen, die sich verliebt hatte. Damit begann ihr Unglück und das Schicksal schien ihr einen Stein nach dem anderen in den Weg zu legen. Dennoch hatte er in keinem ihrer Kapitel einen boshaften Wesenszug an ihr feststellen können.

»Nein«, antwortete Rosalie ihm jedoch zu seiner Überraschung.

»Warum liest du sie dann nicht?«, wollte er verständnislos von ihr wissen. »Solange das Buch geöffnet bleibt, könntest du alles mitverfolgen, was geschieht, sogar dieses Gespräch.«

Warum sollte die Königin nach jemand anderem suchen, der das Buch für sie las, wenn Rosalie es genauso tun könnte? Sie standen doch auf einer Seite! Es sei denn, es gab in der Geschichte einige Punkte, die Rosalie vielleicht dazu bringen würden, sich von der Königin abzuwenden.

Er konnte ihr ansehen, dass sie den gleichen Gedanken hegte, aber nicht wagte, ihn auszusprechen. Doch das Misstrauen war bereits gesät.

»Du bist nicht dumm und weißt ganz genau, dass die Königin nur einen einzigen Grund haben kann, um dir die Geschichte vorzuenthalten«, stellte er fest. »Sie will nicht, dass du die Wahrheit kennst, weil du dich dann vielleicht gegen sie stellen würdest.«

»Warum sollte ich das tun?«, widersprach sie ihm. »Selbst wenn sie mir Dinge verheimlicht hat, gibt es doch zumindest eine unumstößliche Tatsache. Meine Eltern haben mich weggegeben, weil ich der böse Zwilling bin. Ich werde ihr Untergang sein.«

Obwohl sie es ihm nicht zeigen wollte, konnte er den Dorn sehen, der sich tief in ihr Herz gegraben hatte. Er wusste ganz genau, wie es war, sich ausgestoßen und ungeliebt zu fühlen. Es war aber offenbar nicht nur seine Lebensgeschichte, sondern auch ihre. Vielleicht war es diese Gemeinsamkeit, die er von Anfang bei ihr wahrgenommen und die ihn deshalb so sehr angezogen hatte.

»Du täuschst dich«, behauptete er nachdrücklich, auch wenn er sich da nicht zu hundert Prozent sicher sein konnte. Aber er brauchte nur in Rosalies Augen zu blicken, um zu wissen, dass sie in den Tiefen ihres Herzens nicht böse sein konnte. Zudem gab ihm ihr Verhalten Rätsel auf. Sie hatte gesagt, dass die Königin nicht ihre Mutter sei. Bedeutete das womöglich, dass die Königin auch nicht die Apfelprinzessin Mary war, über die er gelesen hatte? Er wusste zwar nicht, wie das möglich sein sollte, aber es würde ihren enormen charakterlichen Wandel erklären.

»Weißt du etwas?« Unsicher blickte Rosalie auf ihn herab. Eine gewisse Neugier lag in ihrer Stimme. »Du hast die ›Grimm-Chroniken‹ doch gelesen. Steht dort etwas über meine Mutter?«

»Ganze Kapitel sind aus ihrer Sicht geschrieben«, gestand Joe und konnte dabei beobachten, wie der schwache Funke der Neugier aufloderte. Es musste für das Mädchen verlockend erscheinen, dass eine Möglichkeit existierte, mit der es sich selbst von der Wahrheit überzeugen könnte. Irgendetwas in ihr sträubte sich jedoch dagegen, denn mit einem Wimpernschlag war das Interesse durch Bitterkeit ersetzt worden.

»Und trotzdem wusstest du nicht einmal, dass ich existiere.«

Vielleicht war es die Angst davor, dass alles sich wirklich so zugetragen hatte, wie man es ihr von klein auf erzählt hatte. Sicher hatte sie als Kind oft davon geträumt, dass alles nur ein Missverständnis war. Auch Joe hatte sich vorgestellt, dass seine und Maggys Eltern irgendwo verzweifelt nach ihnen suchten, weil sie Opfer einer Entführung geworden waren. Es war ein schönerer Gedanke, als sich der traurigen Wahrheit stellen zu müssen, dass man nicht erwünscht gewesen war. Durch die ›Grimm-Chroniken‹ wusste er nun, dass ihre Eltern sich nie freiwillig von ihnen getrennt hatten.

»Ich bin nicht bis zu dem Punkt deiner Geburt gekommen«, erklärte er ihr. »Aber ich habe gelesen, wie sehr sich deine Mutter gefreut hat, als sie von ihrer Schwangerschaft erfahren hat. Sie hat dich vom ersten Augenblick an geliebt und geschworen, ihr Kind zu beschützen. Ich kann mir nicht vorstellen …«

Sie unterbrach ihn und spie nur ein einziges wütendes Wort aus: »Schneewittchen!« Ihre Hände ballten sich zu Fäusten und ihr Gesicht erstarrte zu einer hasserfüllten Fratze. »Damit meinte sie Schneewittchen – nicht mich!«

Das war die Wunde, in welcher der Dorn steckte und sich seit Jahren immer tiefer in ihre Seele grub. Wenn man ihn zog, würde es fürchterlich bluten, aber irgendwann würde sich eine Narbe bilden und der Schmerz könnte nach und nach verblassen, auch wenn er nie ganz verschwinden würde.

»Ihr Name ist Margery«, entgegnete Joe, aber es lag ihm fern, die schwarzhaarige Prinzessin zu verteidigen. Er glaubte jedoch, dass Rosalie ein falsches Bild von ihrer Schwester hatte. »Sie ist nicht so gut und rein, wie man dich vermutlich hat glauben lassen.«

Sie zog ihre linke Augenbraue hoch, denn es erstaunte sie, dass er nicht dem Schneewittchen-Fanclub angehörte, wo doch seine eigene Schwester einen Splitter von deren Herz in sich trug. »Natürlich nicht«, zischte sie. »Sie ist ein Vampir.«

»Bist du keiner?«

Sie schüttelte den Kopf. Auch das war ein weiterer Punkt, warum sie glaubte, dass ihre Schwester es immer besser im Leben getroffen hatte. »Deshalb musste ich umso härter trainieren, um es mit ihr aufnehmen zu können. Menschen sind die schwächere Rasse und dennoch wird sie keine Chance gegen mich haben.« Argwöhnisch musterte sie ihn und kam auf seine Aussage zurück. »So blutrünstig Margery auch sein mag, ist sie dennoch die Gute. Was hat sie dir angetan, dass du daran zweifelst?« Ein spöttischer Ton schlich sich in ihre Stimme. »Hat sie etwa an dir geknabbert?«

Offenbar konnte sie sich nicht vorstellen, dass ihre Schwester in der Lage wäre, jemandem ernsthaft Schaden zuzufügen.

»Nein«, entgegnete Joe ernst. »Sie hat meine Mutter getötet.«

Völlig überrumpelt riss Rosalie die Augen auf und starrte ihn fassungslos an. Niemals hätte sie mit so etwas gerechnet. So ähnlich hatte sich auch Joe gefühlt, als er durch die ›Grimm-Chroniken‹ hinter die Wahrheit gekommen war. Seine Mutter, Marie Hassenpflug, war in Engelland die einzige Freundin von Königin Mary gewesen. Nachdem der Vater von Hänsel und Gretel im Krieg an der Dornenhecke gefallen war, hatte Mary sich für ihre Freundin und deren zwei Kinder verantwortlich gefühlt, vielleicht auch schuldig, denn immerhin wurde der Krieg nur wegen ihrer Tochter geführt. Sie bat Marie, zu sich ins Schloss zu ziehen, um als Kindermädchen für Margery zu arbeiten. Marie hatte erst Zweifel, da sie wusste, dass Margery ein Vampir war, ließ sich dann aber doch überreden. Es war ein großer Fehler, denn Margery biss ihr beim Spiel im Schnee in den Hals und ließ nicht mehr von ihr ab, bis Marie tot war. Hänsel und Gretel mussten den Tod ihrer Mutter mit ansehen.

Joe hatte zwar keine Erinnerung an sein früheres Leben, aber als er die betreffende Stelle gelesen hatte, hatte er den Schmerz gespürt, als wäre seine Mutter erst gestern gestorben. Nein, ermordet worden! Margery hatte sie ihm genommen.

Diese Neuigkeit verschlug Rosalie die Sprache und sie versuchte, sie mit dem in Einklang zu bringen, was sie wusste. Langsam wandelte sich der erste Schock in Zuneigung, denn sie erkannte, dass auch Joe einen Grund hatte, ihre Schwester zu hassen – vielleicht sogar noch mehr als sie. Es war ihr unmöglich erschienen, dass er jemals die Seiten wechseln könnte, doch plötzlich gab es Hoffnung. Sie hatten einen gemeinsamen Feind und das machte sie in gewisser Weise zu Verbündeten.

Die Frage war nur, ob Joes Hass auf Margery größer war als die Liebe, die er für seine Schwester hegte.

Rosenkuss

Irgendwo zwischen Engelland und Transsilvanien, irgendwann zwischen 1796 – 2003

Die frühesten Erinnerungen eines Kindes sind nicht konkret, sondern eher von Sinneseindrücken bestimmt: die sanfte Stimme der Mutter, das kitzelnde Gefühl eines Lachens, der süße Plätzchenduft und die Geborgenheit von Armen, die einen in den Schlaf wiegen. Die Tage der Kindheit sollten erfüllt sein von Wärme und Licht.

Rosalies waren tiefschwarz.

Wenn sie an ihre ersten Monate auf dieser Welt zurückdachte, verspürte sie keine Zufriedenheit in ihrem Herzen, sondern hatte einen salzigen Geschmack im Mund.

Tränen sind die einzige Möglichkeit von Babys, um den Menschen in ihrem Umfeld ihre Bedürfnisse mitzuteilen. Sie weinen nicht nur, wenn sie Hunger haben, sondern auch wenn sie sich nach Nähe sehnen.

Rosalie machte von Anfang an die Erfahrung, dass Tränen unerwünscht waren und nur zu Einsamkeit führten. Immer wenn sie weinte, sperrte man sie in eine dunkle Kiste, die erst geöffnet wurde, wenn sie wieder still war.

Ihre erste Zeit verbrachte sie fast ausschließlich in der Dunkelheit, bis sie in der Lage war, zu begreifen, was von ihr erwartet wurde. Danach weinte sie nie mehr.

Für ein Kind gibt es zu Beginn keinen größeren Helden als Mutter oder Vater. Sie bilden die Achse des Universums und alles scheint sich um sie zu drehen. Jede Handlung ist mit einer Erwartung auf eine Reaktion verknüpft. Sei es, um den Eltern zu gefallen oder die eigenen Grenzen auszutesten. Dabei ist es völlig gleichgültig, wie die Eltern sich verhalten, die uneingeschränkte Liebe ihres Kindes ist ihnen gewiss. Kinder urteilen nicht, denn sie können noch nicht zwischen Richtig und Falsch unterscheiden.

Rosalie hatte weder eine Mutter noch einen Vater. Ihr Universum bestand aus Männern mit bleicher Haut und schwarzer Kleidung, die ihr Essen und Trinken brachten, sie wuschen und anzogen, aber sie niemals in den Arm nahmen oder mit ihr spielten. Sie konnte die Männer nicht auseinanderhalten, sodass sie für eine Weile gar nicht merkte, dass es verschiedene waren. Für sie war es immer derselbe Mann, der nur jeden Tag ein anderes Gesicht trug.

Die meisten Kinder lernen das Sprechen, indem ihre Eltern sich mit ihnen unterhalten, ihnen Geschichten erzählen oder etwas vorsingen.

Rosalie war in Engelland im Jahr 1796 geboren worden. Sobald Vlad Dracul sie als Neugeborenes jedoch mit sich nach Transsilvanien nahm, lag eine Zeitspanne von zweihundert Jahren zwischen ihrer Herkunft und ihrer neuen Heimat.

Zweihundert Jahre, die nicht mehr als ein paar Tage auf einem Schiff bedeuteten, jedoch den Fortschritt der modernen Technik mit sich brachten. Das ermöglichte, dass ihre Sprachentwicklung weitestgehend von einem Fernsehapparat übernommen wurde, der an der Wand angebracht war und mehrere Stunden täglich lief. Zuerst faszinierten die bunten Bilder das Mädchen, die wie ein Fenster in eine andere Welt wirkten. Doch sie verlor das Interesse an ihnen, sobald sie erkannte, dass sie keinen Einfluss auf die Figuren und Menschen hatte, die sie in dem kleinen Kasten zu sehen bekam. Sie redeten nicht mit ihr, sondern waren immer nur mit sich selbst beschäftigt, als wäre Rosalie unsichtbar. Das Flackern des Bildschirms wurde zu einem brummenden Hintergrundgeräusch.

Einmal in der Woche überprüften die dunklen Männer ihren sprachlichen Fortschritt, indem sie ihr Fragen stellten. Wenn sie keine Antwort oder die falsche gab, wurde sie bestraft. Dies erwies sich jedoch als schwierig, da das dreijährige Mädchen sich weder vor der Dunkelheit noch vor der Einsamkeit fürchtete, selbst das Ausschalten des Fernsehers war ihm gleichgültig. Sie sollte körperlich nicht geschwächt werden, deshalb kam auch ein Nahrungs- oder Wasserentzug nicht infrage.

Die dunklen Männer änderten ihre Taktik und begannen, sie mit kleinen Geschenken zu belohnen. Mal brachten sie ihr ein Kuscheltier, ein anderes Mal ein Bilderbuch. Der einzige Sinn in diesen Dingen bestand darin, sie ihr wieder wegnehmen zu können, wenn Rosalie ihr Missfallen erregte.

Für eine gewisse Zeit funktionierte diese Methode, doch sie verstand schnell, dass, wenn sie sich nicht für etwas begeisterte, sie es auch nicht verlieren konnte. Nach ein paar Monaten ließ sie deshalb die Spielsachen, die man ihr brachte, unangerührt in einer Zimmerecke liegen. Lieber zog sie sich in ihre eigene Fantasie zurück, denn diese gehörte ihr allein und niemand konnte sie ihr nehmen.

*2000 – 4 Jahre*

In ihren ersten Jahren wusste sie nicht, dass ihre Welt aus mehr als einem einzigen Raum bestand. Seitdem sie denken konnte, lebte sie umschlossen von diesen vier Wänden. Es gab darin keine Möbel, nicht einmal eine Bettdecke, nur eine Glühbirne und den Fernseher, dessen Bilder jedoch keine Verbindung zu ihrem eigenen Dasein zu haben schienen.

Manchmal hatte sie sich schon gefragt, wo die dunklen Männer hingingen, wenn sie den Raum verließen, aber sie hatte nicht erwartet, dass sie darauf jemals eine Antwort bekommen würde.

Es war ihr vierter Geburtstag, als sie zum ersten Mal ihrem Großvater begegnete, ohne zu wissen, wer er war. Doch sobald er ihr Zimmer betrat, erkannte sie, dass er nicht wie die anderen Männer war, obwohl seine Haut genauso blass und seine Kleidung genauso dunkel wie die der anderen war.

Es war seine Ausstrahlung. Er trug sein Kinn etwas höher, ging etwas aufrechter und seine Schritte waren etwas lauter. In seinen Augen stand Furchtlosigkeit. Rosalie war sich sicher, dass dieser Mann sich von niemandem etwas wegnehmen lassen würde.

»Hallo, Kind«, begrüßte er sie mit ausdrucksloser Miene.

So nannten sie auch die anderen Männer: Kind.

Aus dem Fernsehen wusste sie, dass Kinder dort Namen trugen, aber es war ein ferner, unerreichbarer Ort für sie. In ihrer Welt existierten nur die dunklen Männer und sie. Diese waren groß und stark, während sie klein und schwach war. Deshalb musste sie tun, was diese ihr sagten. Es war ein Gesetz, das sie bis dahin nicht infrage gestellt hatte.

Doch das Erscheinen dieses fremden Mannes irritierte sie und sorgte dafür, dass sie sich hilflos fühlte, weil sie nicht sagen konnte, was von ihr erwartet wurde.

Sie musste ihren Kopf in den Nacken legen, um zu ihm aufschauen zu können.

»Hallo, Mann«, antwortete sie ihm, da man ihr beigebracht hatte, dass sie nicht schweigen durfte.

»Nenn mich Vlad«, entgegnete er ihr und öffnete die Tür so weit, dass sie zum ersten Mal den Gang sehen konnte, der sich dahinter erstreckte. »Komm!«

Obwohl sie Angst vor dem Ungewissen hatte, zögerte sie nicht, seiner Anweisung zu folgen. Die Befehle der Männer mussten befolgt werden.

Hinter ihm verließ sie den Raum, der ihre Welt gewesen war, und lief mit großen Augen durch den Korridor, der von dem grellen Licht von Leuchtstoffröhren erhellt wurde. Es war ein bedrückender Ort mit vielen verschlossenen Türen.

Vlad bewegte sich schnell, sodass ihr kaum Zeit blieb, ihre Umgebung in Augenschein zu nehmen. Sie hastete hinter ihm her, wobei sie auch an einigen der dunklen Männer vorbeikamen, die beiseitetraten, um ihnen Platz zu machen.

Dieses Verhalten war für Rosalie völlig neu. Plötzlich wirkten sie nicht mehr ganz so groß und stark auf sie, denn nun gab es jemanden, dem sie auswichen. Manche der Männer überragten Vlad sogar und trotzdem neigten sie den Kopf vor ihm. Es war etwas, das Rosalie noch nicht verstehen konnte, aber sie faszinierte.

Der Gang führte zu einer Steintreppe, die vor einer weiteren Tür endete. Ohne Vorwarnung stieß Vlad diese auf und blendendes Licht schlug dem Mädchen entgegen. Erschrocken kniff sie die Augen vor der ungewohnten Helligkeit zusammen und taumelte sogar einen Schritt zurück.

Vlad gewährte ihr keinen Moment, um sich an diese Veränderung zu gewöhnen, sondern verlangte, dass sie weitergehen solle. Als sie blinzelnd in sein Gesicht blickte, erkannte sie, dass ihre Reaktion ihn verärgert hatte. Missbilligend schaute er mit zusammengekniffenen Lippen auf sie herab. Sie befürchtete, dass er ihr die Tür vor der Nase zuschlagen würde, und holte eilig zu ihm auf.

Das Herz in ihrer Brust schlug so schnell wie nie zuvor, als sie aus dem Gemäuer trat und sich vor ihr eine ungeahnte Welt erstreckte. Dort gab es so viel zu sehen, dass sie gar nicht wusste, wohin sie als Erstes schauen sollte. Sie kannte bisher nur den grauen Stein der Wände, aber dort draußen wurde sie von einer wahren Farbenpracht überwältigt, die selbst die bunten Bilder des Fernsehens bei Weitem übertraf. Grüne Wiese zog sich über die Erde, aus der sich meterhohe Bäume erhoben. Dazwischen wuchsen Sträucher, die rosafarbene Blüten trugen. Niemand hatte ihr je gesagt, wie überwältigend die Vielzahl an Gerüchen war. Ihr fehlten die Worte, um sie zu beschreiben. Es waren so viele und sie stürmten von allen Seiten auf sie ein. Sie waren wie eine Explosion sämtlicher Sinne.

Zwischen der Wiese zog sich ein Pfad aus winzigen beigefarbenen Kieseln entlang. Staunend folgte sie diesem und bewunderte mit großen Augen den Springbrunnen, der unerlässlich Wasser in die Luft spritzte. Wenn sie nah genug herantrat, konnte sie winzige Tropfen auf ihrer Haut spüren. Die Sonnenstrahlen verfingen sich in dem Wasserdunst und erzeugten ein farbenprächtiges Schauspiel.

Links und rechts von dem Brunnen erhoben sich zwei gewaltige goldene Statuen, die Drachen mit weit ausgebreiteten Flügeln darstellten. Hinter ihnen befand sich das Gebäude, aus dem sie gekommen sein musste. Es war größer als alles, was sie sich vorstellen konnte – ein Schloss aus blutrotem Stein. Türme ragten in den Himmel empor und wenn jedes der unzähligen Fenster zu einem Zimmer gehörte, waren es mehr, als Rosalie zählen konnte. Für sie war es unvorstellbar, dass ein einzelner Raum mehrere Fenster haben könnte.

»Gefällt dir, was du siehst?«, erkundigte sich Vlad. Es lag etwas Bedrohliches in seiner Stimme, das sie an die Fragen der dunklen Männer erinnerte, die sie nicht hatte beantworten können. Auf solch einen Tonfall folgte meist eine Bestrafung.

Es fiel ihr schwer, sich von dem atemberaubenden Anblick loszureißen und ihm ins Gesicht zu blicken. »Ja, es gefällt mir«, gab sie offen zu.

Er nickte unbeeindruckt. »Das ist Schloss Drachenburg, dein Zuhause.«

Rosalie wusste nicht, was ein Zuhause war. Da er ihr keine Frage gestellt hatte, schwieg sie.

»Wir befinden uns gerade im Garten«, fuhr er fort. »Möchtest du noch mehr sehen?«

»Ja, das würde ich sehr gern«, antwortete sie ihm höflich, so wie man es ihr beigebracht hatte.

Ein kaltes Lächeln legte sich auf das Gesicht des Mannes. »Du musst es dir verdienen.«

Er winkte in Richtung des Schlosses und eine Tür wurde geöffnet, aus der ein Junge in Rosalies Alter trat. Seine Gegenwart versetzte das Mädchen in noch größeres Staunen, als es die Pflanzen, der Springbrunnen, die Statuen oder das Schloss getan hatten. Er war ein Kind wie sie. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie geglaubt, dass es andere Kinder nur in der Fernsehwelt gäbe und sie in dieser Welt als Einzige so klein und verletzlich wäre.

»Das ist Sascha«, stellte Vlad ihn ihr vor.

Der Junge hatte ungekämmte braune Haare, ein schmutziges Gesicht und stand mit nackten Füßen vor ihr. Er wirkte nicht überrascht von der Existenz eines anderen Kindes, sondern musterte Rosalie mit kühler Entschlossenheit.

»Wenn du erfahren möchtest, was sich in dem Schloss befindet, musst du Sascha so lange schlagen, bis er nicht mehr vom Boden aufsteht«, wies Vlad sie an.

Rosalie wollte dem Jungen nicht wehtun. Die Leute im Fernsehen sagten, dass man anderen nichts zuleide tun dürfe, aber was wussten sie schon von dem Ort, an dem Rosalie sich befand? Sie stellten nicht die Regeln auf, sondern die dunklen Männer, und wenn Vlad etwas von ihr verlangte, musste sie es tun, auch wenn sich ihr Innerstes dagegen sträubte.

Vlad bemerkte ihren Widerwillen und klatschte in seine Hände. Ehe Rosalie sich versah, schlug Sascha ihr heftig ins Gesicht. Ihr Kopf flog zur Seite, da spürte sie bereits einen scharfen Schmerz in ihrem Knie, der sie einknicken ließ. Sascha musste sie getreten haben. Nun ragte er vor ihr auf und holte erneut mit seinen nackten Füßen aus. Der nächste Treffer landete in ihrem Magen.

Zitternd krümmte Rosalie sich zusammen, in der Hoffnung, dass der Junge von ihr ablassen würde, wenn sie sich nicht mehr rührte. Sie verstand überhaupt nicht, was vor sich ging.

»Weiter«, befahl Vlad jedoch unnachgiebig und schaute dabei zu, wie Sascha auf seine Enkelin eintrat, die wehrlos am Boden kauerte.

Sie wusste nicht, wie viel Zeit verging, bis er endlich aufhörte. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, aber vermutlich waren es nur wenige Sekunden gewesen.

Vlad schloss grob seine Hand um ihren Oberarm und zerrte sie wieder auf die Beine. Er legte seine kalten Finger um ihr Kinn und zwang sie, ihm ins Gesicht zu blicken. Prüfend betrachtete er ihre schmutzigen Wangen und suchte in ihren Augen nach einem feuchten Glanz, aber so schockierend das Erlebnis auch gewesen war, Rosalie hatte nicht eine Träne vergossen. Zumindest das schien Vlad mit Zuversicht zu erfüllen.

»Morgen werde ich dich wieder in den Garten kommen lassen«, zischte er ihr zu. »Sascha wird auch da sein und er wird dir wieder wehtun, wenn du dich nicht gegen ihn wehrst. Hast du das verstanden?«

Zu Tode verängstigt nickte Rosalie und presste ihre Lippen fest aufeinander, um kein Geräusch von sich zu geben.

»Sollte ich noch einmal sehen, dass du dich wie ein erbärmlicher Feigling am Boden zusammenkauerst, werde ich dich nie wieder aus deinem Zimmer lassen«, drohte er ihr.

Nun erkannte Rosalie die Ähnlichkeit zwischen ihm und den furchteinflößenden Drachenstatuen.

Selbst das Atmen schmerzte, als Rosalie wieder in der Dunkelheit auf dem kalten Steinboden lag. Ihre Wange glühte dort, wo Sascha sie geschlagen hatte, und ihr Knie pochte von seinem Tritt. Ihr ganzer Bauch fühlte sich wund und geschwollen an. Sie wollte den Jungen morgen nicht wiedersehen, zugleich sehnte sie sich verzweifelt nach dem Rauschen des Windes in den Blättern, dem Duft der Blumen und den vielen bunten Farben. Es war nicht wie mit den Spielsachen, die sie einfach ignorieren konnte, um einer Bestrafung zu entgehen.

Sie würde nicht vergessen, dass dieser magische Ort existierte. Und sie wollte es auch nicht. Ganz im Gegenteil, sie wollte noch viel mehr von dieser Welt sehen, die man ihr bisher vorenthalten hatte.

Als die Tür geöffnet wurde, drehte sie sich nicht zu ihr um, sondern lauschte nur auf das Geräusch des Tabletts, das auf dem Boden abgestellt wurde. Erst als es ausblieb, schaute sie verwirrt in die Richtung und erblickte zum ersten Mal eine lebendige Frau aus Fleisch und Blut. Sie hatte dunkles Haar, das in sanften Wellen ihr Gesicht umschloss. Ihre Haut war so hell wie die der dunklen Männer, aber ihr Körper steckte in einem langen Kleid, das die Farbe eines wolkenlosen Himmels hatte. In ihren Händen hielt sie das Tablett mit Rosalies Abendessen.

»Darf ich mich neben dich setzen?«, fragte sie behutsam.

Obwohl die Glühbirne dasselbe Dämmerlicht wie immer spendete, schien es Rosalie, als wäre es in ihrem Zimmer etwas heller geworden, seitdem die Frau es betreten hatte. Alles an ihr wirkte weich. Ihr Haar, ihr Kleid und ihre Stimme.

Selbst ihre Bewegungen, als Rosalie schüchtern nickte und die Frau auf sie zukam. Elegant stellte sie erst das Tablett auf dem Boden ab und ließ sich dann selbst nieder. Dabei nahm Rosalie schwach den Duft der Blumen aus dem Garten wahr.

War die Frau dort vielleicht spazieren gegangen, bevor sie zu ihr gekommen war? Warum war sie überhaupt hier?

Auf dem Tablett standen ein Becher mit Milch und ein Teller, auf dem eine Scheibe Brot und eine Tomate lagen.

»Lass dich nicht von mir stören«, bat die Fremde und deutete auf das Essen. »Sicher bist du nach solch einem aufregenden Tag hungrig.«

Rosalies Magen knurrte tatsächlich, allerdings war sie sich nicht sicher gewesen, ob das Gefühl vielleicht von den Prügeln herrührte, die sie bezogen hatte. Mit aufeinandergebissenen Zähnen richtete sie sich auf und nahm der Frau gegenüber Platz. Sie fühlte sich seltsam beobachtet, als sie ihre Hand nach dem Becher ausstreckte und einen großen Schluck trank.

Zögerlich riss sie ein Stück von dem Brot ab und schob es sich in den Mund. Kauend wagte sie es, die Frau anzusehen, die ihren Blick erwiderte. Hastig schluckte sie herunter.

»Möchtet Ihr auch etwas?«, bot sie ihr an, worüber die Frau lächelte. Es war nicht so ein kaltes Lächeln, wie sie es heute bei Vlad gesehen hatte, sondern ein sanftes. Winzige Fältchen bildeten sich dabei um ihre braunen Augen und ließen sie noch schöner aussehen. Sie war wie eine der Gestalten aus dem Fernsehen, nur dass sie nun vor ihr saß und sie wirklich ansah.

»Das ist sehr lieb von dir«, lobte die Frau sie. »Aber das ist dein Essen und ich habe schon gegessen.«

Rosalie hätte sie gern gefragt, warum sie hier war, aber sie traute sich nicht. Die dunklen Männer mochten es nicht, wenn man ihnen Fragen stellte, sodass sie diese auch nur selten beantworteten.

Die Fremde spürte jedoch, wie unbehaglich das Mädchen sich in ihrer Gegenwart fühlte. »Ich bin deine Großmutter«, sagte sie zu ihr. »Mein Name ist Oana.«

Verwirrt schaute Rosalie zu ihr auf. Sie hatte gelernt, was eine Großmutter war, aber sie hatte nicht gewusst, dass sie auch eine hatte.

»Du hast ebenfalls einen Namen, soll ich ihn dir verraten?«, fuhr Oana fort.

Rosalie konnte vor Aufregung gar nicht mehr schlucken. »Muss ich dafür jemanden schlagen?«

Oanas Mundwinkel sackten herab und in ihre Augen trat ein trauriger Ausdruck. »Nein, ein Name ist ein Geschenk. Man bekommt ihn, ohne etwas dafür tun zu müssen. Dein Name ist Rosalie.«

»Rosalie«, wiederholte das Mädchen unsicher, ohne sich mit den Buchstaben in irgendeiner Weise verbunden zu fühlen. Oana war anders als die dunklen Männer und deshalb wagte sie, eine weitere Frage zu stellen. »Warum habt Ihr mir diesen und nicht einen anderen Namen geschenkt?«

»Ich habe dir diesen Namen nicht geschenkt«, stellte sie richtig. »Das waren deine Eltern.«

Rosalie wusste nicht, ob sie ihr glauben sollte. In ihrem Leben hatte es bisher weder Eltern noch Großmütter gegeben. »Sind sie auch hier?«

»Nein«, erwiderte Oana. »Sie sind weit weg.«

»Warum bin ich nicht bei ihnen?«

Auch wenn Rosalie nicht gewusst hatte, dass sie Eltern besaß, hatte sie zumindest gelernt, dass Kinder bei ihren Eltern sein sollten.

Oana sah sie eine Weile an und schien darüber nachzudenken, was sie darauf antworten sollte. »Du hast eine Schwester«, antwortete sie ihr schließlich. »Ihr seid in derselben Nacht geboren worden und deine Eltern konnten nur eine von euch behalten. Sie haben sich für deine Schwester entschieden.«

Rosalie stellte nicht infrage, warum ihre Eltern nur ein Kind hatten behalten können, sondern nahm es als Tatsache hin. Aber sie verstand auch mit ihren vier Jahren, dass ihre Eltern jemanden mehr gemocht hatten als sie – ihre Schwester. Dieser Gedanke schmerzte sie, denn er führte ihr vor Augen, dass sie an ihrer Stelle sein könnte, wenn ihre Eltern sich für sie entschieden hätten. Ob ihre Schwester wohl in den Garten gehen durfte, ohne dafür jemanden schlagen zu müssen?

Oana spürte, dass die Offenbarung das Mädchen beschäftigte. »Iss bitte dein Essen auf«, wies sie ihre Enkelin an. Bedauern schwang in ihrer Stimme mit, als täte es ihr leid, dem Kind die Wahrheit anvertraut zu haben.

Rosalie schlief in dieser Nacht nicht gut. Ihr Unterbewusstsein quälte sie mit Albträumen, in denen Sascha sie schlug und nach ihr trat. Der Junge verwandelte sich dabei in jemand anderen. Jemand, dessen Gesicht Rosalie nicht sehen konnte, aber dennoch wusste, wer es war – ihre Schwester, deren Namen sie nicht einmal kannte. Ihre unbekannten Eltern standen im Garten und sagten ihrer Schwester, dass sie weitermachen solle, so wie Vlad es bei Sascha getan hatte.

Als sie am Morgen von den ersten Sonnenstrahlen geweckt wurde, konnte sie sich vor Schmerz kaum rühren. Ihr Knie war angeschwollen und ihr Bauch mit dunklen Flecken übersät. Sie fürchtete sich so sehr davor, dem Jungen wieder gegenübertreten zu müssen, dass sie vor Angst keinen Bissen herunterbekam.

Kalter Schweiß ließ sie zittern, während sie den dunklen Männern hinterherhumpelte, die sie durch den Korridor in den Garten führten. Dort erwartete sie bereits Vlad, der sie mit einem geringschätzigen Blick musterte. Er ließ ihr nicht einmal etwas Zeit, um die Schönheit des Gartens bewundern zu können, sondern winkte direkt Sascha herbei.

Rosalie konnte ihm ansehen, dass er sich ihr überlegen fühlte. Er fürchtete sich nicht vor ihr, sondern schien es kaum erwarten zu können, sie erneut zu schlagen. Mit geballten Fäusten kam er auf sie zugerannt und holte direkt aus.

Sie schaffte es, ihm knapp auszuweichen, und schlug nun selbst nach ihm. Allerdings war sie nicht geübt darin, anderen wehzutun, sodass der Junge sie bald erneut überwältigt hatte. Sie landete wie am Vortag auf dem Boden und fühlte sich seinen Tritten wehrlos ausgeliefert.

Zornig beugte Vlad sich über sie. »Das ist der Grund, warum deine Eltern dich nicht wollten«, spie er ihr angewidert entgegen. »Du bist nur ein nutzloser schwacher Mensch!«

Oana kam auch an diesem Abend wieder zu ihr und brachte ihre eine dampfende Suppe. Rosalie konnte vor Schmerz kaum sitzen, deshalb nahm ihre Großmutter ihr den Löffel aus der Hand und fütterte sie damit.

»Ich weiß, dass du den Jungen schon bald besiegen wirst«, redete sie ihr gut zu.

Dem Mädchen fiel es schwer, daran zu glauben, wenn es nicht einmal mehr einen Löffel allein an seinen Mund führen konnte.

»Woher willst du das wissen?« Sie war dazu übergegangen, ihre Großmutter zu duzen. Es war ein Zeichen ihres gegenseitigen Vertrauens.

Oana betrachtete sie mit ernster Miene. Auch wenn Rosalie noch ein Kind war, konnte sie sehen, dass ihre Großmutter etwas belastete.

»Du erinnerst mich an deinen Vater«, gestand sie ihr schließlich, wobei ihre Hand zitterte und etwas von der Suppe verschüttete. »Er hat auch gezögert, anderen wehzutun. Vlad hielt es für eine Schwäche, aber ich wusste immer, dass er sich irrt. Als es darauf ankam, hat Dorian nicht gezögert. Es ist nur eine Frage der Motivation. Wir kämpfen für das, was wir am meisten lieben.« Ihr Blick war nicht mehr auf Rosalie gerichtet, sondern in die Vergangenheit.

Das Mädchen zog seine eigenen Schlüsse. »Hat mein Vater mich weggegeben, weil er meine Schwester mehr liebt als mich?«

Oana zog bestürzt Luft ein. »Nein«, sagte sie entschieden. »Ganz im Gegenteil. Er hat gesehen, dass du die Stärkere bist. Alles, was er für seine Töchter tun konnte, war, ihnen die gleichen Chancen einzuräumen. Deshalb musste er dich gehen lassen.«

Rosalie runzelte verständnislos die Stirn. »Die gleichen Chancen wofür?«

»Es wird der Tag kommen, an dem du und deine Schwester einander gegenübertreten werdet. Damit wird der Krieg der Farben beginnen und nur eine von euch kann ihn überleben. Ihr steht auf zwei verschiedenen Seiten. Während sie für das Licht kämpft, vertrittst du die Dunkelheit. Sie wird dich töten, wenn du sie nicht zuerst umbringst.«

»Warum sollte sie mich töten wollen, wo sie es doch ist, die alles hat?«

Sie wusste so gut wie nichts von ihrer Schwester und empfand dennoch Verachtung für sie.

»Jemand, der alles besitzt, hat viel zu verlieren«, meinte Oana bedauernd.

Rosalie verstand, was sie meinte. Aus diesem Grund hatte sie das Spielzeug nicht mehr angerührt. Unbewusst hatte sie sich vor einem Verlust geschützt. Jemand, der nichts besaß, konnte auch nichts verlieren, sondern nur etwas dazugewinnen.

»Außerdem geht es nicht nur um euch, sondern viele Leben hängen von dem Ausgang ab«, fuhr ihre Großmutter fort. »Du kämpfst für jeden Bewohner dieses Schlosses und noch viele mehr. Deshalb ist Vlad so hart zu dir, weil er dich auf bestmögliche Weise auf diesen Tag vorbereiten will.«

»Was ist mit dir?«, wollte Rosalie wissen. »Wirst auch du sterben, wenn ich verliere?«

»Ja«, bestätigte Oana ihr. »Wir verlassen uns alle auf dich.«

Nachdem der Teller geleert war, trug Oana eine kühlende Salbe auf ihren Bauch und das geschwollene Knie auf. Ihre Berührungen waren zärtlich, so leicht wie ein Windhauch. Zum ersten Mal erfuhr Rosalie eine körperliche Nähe, wie sie es sonst nur neidvoll im Fernsehen hatte beobachten können. Oana streichelte ihr durch das blonde Haar und blieb bei ihr, bis sie eingeschlafen war. Ihre wärmende Präsenz vertrieb in dieser Nacht sämtliche Albträume, selbst dann noch, als sie längst gegangen war.

Am nächsten Tag gelang es Rosalie, Sascha zu Boden zu werfen. Allerdings hinderte es ihn nicht daran, sich auf sie zu stürzen und nur umso fester auf sie einzuschlagen. Sie versuchte nach Leibeskräften, ihn abzuwehren, bis sie seinen Hieben nicht mehr standhalten konnte.

Bis Vlad sie endlich erlöste, konnte sie nicht einmal mehr auf ihren eigenen Beinen stehen und musste von einem der dunklen Männer in ihr Zimmer getragen werden.

Voller Sehnsucht erwartete sie den Abend und spürte einen dicken Kloß in ihrem Hals, als Oana zu ihr kam. Das liebevolle Lächeln ihrer Großmutter ließ sie für einen kurzen Augenblick den Schmerz vergessen.

Oana hatte dieses Mal nicht nur Essen mitgebracht, sondern auch eine einzelne rosafarbene Blüte von einem der Sträucher aus dem Garten. »Das ist eine Rose«, erklärte sie ihr. »Sie erinnert mich an dich.«

»Darf ich sie halten?«, bat Rosalie und musste ihre ganze Kraft aufbringen, um ihre Hand heben zu können.

Vorsichtig griff Oana nach der Blüte und reichte sie ihr, aber sobald sich Rosalies Hände um den Stiel schlossen, stach sie etwas in den Finger und sie ließ die Blume erschrocken fallen. Ein winziger Dorn steckte in ihrer Haut.

Ihre Großmutter nahm ihre Hand zwischen ihre Hände und zog behutsam den Dorn heraus. Ein kleiner Blutstropfen quoll aus der Wunde. »Jetzt weißt du, dass Rosen nicht nur schön anzusehen sind, sondern auch Schmerz verursachen können. Denk daran, wenn du das nächste Mal einem Gegner gegenüberstehst. Täusche sie mit deiner Schönheit, lass sie glauben, du wärst schwach, aber besiege sie mit deinen Dornen.«

Als Rosalie Sascha zum vierten Mal gegenüberstand, schlug sie ihm auf die Nase. Das Blut, welches daraus hervorschoss, versetzte sie jedoch mehr in Schock als ihn. Er stürzte sich auf sie und rang sie zu Boden. Sie versuchte zugleich, ihn abzuwehren und ihn mit ihren Fäusten zu treffen, als ihr Blick die Fassade des Schlosses streifte. Hinter einem der Fenster entdeckte sie Oana, die zu ihr in den Garten hinabschaute.

Ihre Großmutter war die Einzige, die an sie glaubte. Sie sah in ihr den Dorn, der anderen Schmerzen bereiten konnte. Anstatt erschrocken vor dem Blut des Jungen zurückzuweichen, hätte sie direkt noch mal auf seine Nase schlagen sollen.

Diese Erkenntnis erfüllte Rosalie mit neuem Mut und sie hielt Saschas Hand fest, als er erneut nach ihr schlagen wollte, und biss ihm, so fest sie konnte, in seinen Arm. Er schrie vor Schmerz, doch Rosalie ließ nicht locker, auch nicht, als er mit der Faust auf ihren Kopf einhämmerte.

Erst als sie Blut schmeckte, gab sie ihn frei und nutzte seine Benommenheit, um sich aufzurichten. Nun war sie es, die gnadenlos nach ihm trat und ihn spüren ließ, was sie die letzten Tage hatte erleiden müssen.

Schon bald gab er jede Gegenwehr auf und rollte sich wimmernd zusammen. Rosalie hielt inne und schaute sich fragend nach Vlad um, während Sascha verzweifelt schluchzte.

Ein Teil von ihr hoffte, Anerkennung in den Augen des mächtigen Mannes zu finden, doch er betrachtete sie mit kalter Gleichgültigkeit. »Worauf wartest du?«, wollte er ungeduldig von ihr wissen.

»Er liegt am Boden«, antwortete Rosalie verunsichert. »Ich habe ihn besiegt!«

»Habe ich dir befohlen, aufzuhören?«, konterte ihr Großvater geringschätzig. »Tritt ihn weiter.«

Rosalie blickte auf den weinenden Jungen hinab. Sie hatte nie eine Träne vergossen und auch sonst keinen Laut von sich gegeben, wenn er auf sie eingeprügelt hatte. Es ärgerte sie, dass er zu glauben schien, sie mit seinen Tränen erweichen zu können – warum sollte er sonst weinen?

Wütend versetzte sie ihm einen weiteren Stoß, aber empfand dabei nicht die Genugtuung, die sie zuvor erfüllt hatte. Sie war stolz auf sich gewesen, als es noch eine Herausforderung gewesen war, gegen Sascha zu kämpfen. Jetzt, wo er sich nicht mehr wehrte, war es zu leicht.

»Fester«, drängte Vlad sie ungeduldig, als er merkte, dass sie sich keine Mühe mehr gab.

Eigentlich hätte Rosalie an diesem Punkt bereits gelernt haben müssen, dass sie dunklen Männern keine Fragen zu stellen hatte, aber das Adrenalin machte sie übermütig. »Warum?«, stieß sie unzufrieden aus. »Sascha musste auch immer aufhören, wenn ich am Boden lag. Warum muss ich weitermachen?« Es erschien ihr nicht wie eine Bestrafung für den Jungen, sondern für sich selbst.

Der Zorn kehrte in Vlads beinahe schwarze Augen zurück. »Glaubst du etwa, Sascha hätte aufgehört, dich zu schlagen, wenn ich ihm befohlen hätte, weiterzumachen?«

Für Rosalie ergab diese Frage keinen Sinn, denn Vlad hatte ihm nie dergleichen befohlen. »Warum habt Ihr ihm befohlen, aufzuhören?«, erwiderte sie herausfordernd.

Ein eisiges Lächeln legte sich auf die Gesichtszüge des Mannes. »Ist es das, was du willst? Ein Kampf um Leben oder Tod?«

Hastig schüttelte das Mädchen den Kopf. »Nein«, brachte sie schnell hervor, doch Vlad hatte bereits eine Entscheidung getroffen.

»Wir sehen uns morgen wieder«, ließ er sie wissen, ehe er sie von einem dunklen Mann zurück in ihr Zimmer bringen ließ.

An diesem Abend kam Oana nicht zu ihr, obwohl sie gewonnen hatte. Es musste daran liegen, dass sie Vlads Befehl nicht gehorcht hatte. Vermutlich war ihre Großmutter wütend auf sie oder gar enttäuscht von ihr.

Oanas Abwesenheit traf sie mehr als Vlads Zorn oder seine Androhungen.

Sie hatte versucht, sich dagegen zu wappnen, und dennoch gab es nun etwas in ihrem Leben, das ihr wichtig war – Oana. Ihre Großmutter war zu ihrer Schwachstelle geworden, durch die Vlad sie nun gefügig machen konnte. Für den Genuss ihrer Nähe würde Rosalie alles tun.

Am nächsten Tag wurde sie im Garten von einem Riesen erwartet. Später lernte sie, dass es nicht wirklich ein Riese wie im Märchen war, sondern nur ein sehr großer und muskulöser Mann. Er überragte jeden, den das Mädchen je in seinem Leben kennengelernt hatte. Ein Arm von ihm war beinahe so lang wie ihr ganzer Körper.

Sein Kopf war kahl, sodass die Sonne sich darauf spiegelte, wenn sie durch die Wolken brach. Seine dunklen Augen hatten einen ernsten Ausdruck, während sein Mund hinter seinem dichten Bart verborgen war.

Voller Schrecken fürchtete Rosalie, dass sie gegen ihn antreten sollte, und sah sich verzweifelt nach Vlad um, doch er war nicht anwesend. Vermutlich wusste er genauso gut wie sie, dass sie diesen Kampf niemals gewinnen konnte, und hatte sie bereits aufgegeben.

Der Mann musterte sie mit kalter Miene, ehe plötzlich ein lautes Lachen aus seiner Kehle hervorbrach. Der Boden schien davon zu vibrieren und das Kind verstand gar nicht, was los war. Ängstlich musste Rosalie den Kopf in den Nacken legen, um zu dem Riesen aufblicken zu können. Dieser machte sich jedoch auf einmal ganz klein und ging vor ihr in die Hocke.

»Prinzessin, es ist mir eine Ehre, Eure Bekanntschaft zu machen«, sprach er sie so respektvoll an, wie noch nie zuvor jemand mit ihr geredet hatte. Seine Stimme war wie ein unheilvolles Donnern. Auch wenn seine Worte freundlich waren, lehrten sie sie zugleich das Fürchten. »Mein Name ist Sagon«, stellte er sich ihr vor. »Ich werde dir beibringen, dass kein Gegner zu groß oder zu stark für dich ist. Meine Aufgabe ist es, dich zu lehren, vor nichts und niemandem Angst zu haben. Wenn wir mit deinem Training fertig sind, wirst du selbst einen Riesen wie mich besiegen können.«

Rosalie musste sich anstrengen, um seine beeindruckende Statur und seine dröhnende Stimme auszublenden und nur auf die Bedeutung seiner Worte zu achten.

»Danke, Sagon«, erwiderte sie zittrig und konnte sich nicht vorstellen, dass sie sich jemals nicht mehr vor diesem gewaltigen Riesen fürchten würde.

Er erhob sich vom Boden und begann die Ausbildung damit, dass er sie immer wieder um den Brunnen rennen ließ, bis sie keine Kraft mehr hatte. Als sie aufgeben wollte, jagte er sie und zeigte ihr dadurch, dass sie längst noch nicht so erschöpft war, wie sie geglaubt hatte.

Am Abend bebte jeder Muskel ihres Körpers und sie schlief in ihrer Zelle ein, noch bevor das Essen serviert wurde.

Die nächsten Wochen verbrachte sie jeden Tag mit Sagon. Gemeinsam trainierten sie im Schlossgarten, gleichgültig, ob die Sonne schien, es regnete oder stürmte. Die Schmerzen ließen nach einer Weile nach. Stattdessen erfüllte es Rosalie mit Zufriedenheit, die Muskeln zu spüren, die sich bildeten. Sie entwickelte ein Gefühl für ihren Körper, sodass es ihr leichter fiel, ihn zu kontrollieren.

Sagon zeigte ihr, wie sie Angriffen ausweichen konnte und wohin sie schlagen musste, um einer Person Schmerz zuzufügen. Er war ein strenger Lehrer, aber er lobte sie auch, wenn sie etwas richtig machte. Mit der Zeit verwandelte sich ihre Angst in Anerkennung.

Sie dachte gar nicht mehr an die Zimmer des Schlosses, die sie unbedingt hatte erkunden wollen, sondern erfreute sich jeden Tag an den gemeinsamen Stunden mit ihrem Lehrer. Dabei merkte sie gar nicht, wie sehr sie sich weiterentwickelte.

Erst als Vlad sie nach einer Weile wieder aufsuchte und direkt zwei ältere Jungen dabeihatte, die gegen sie kämpfen sollten, verstand sie, dass ihr Training mit Sagon nicht bloßer Zeitvertreib gewesen war, sondern eine Vorbereitung auf einen weiteren Kampf.

»Nun zeig mir mal, ob du etwas dazugelernt hast«, forderte Vlad das Mädchen auf und gab den Befehl zum Angriff.

Wie bereits zuvor schüchterten ihre Gegner sie ein. Sie waren größer als sie und dazu auch noch zu zweit. Es erschien Rosalie unmöglich, sie besiegen zu können. Doch als die beiden auf sie losgingen, erkannte sie schnell, dass die Jungen überhaupt keine Ahnung hatten, was sie taten. Sie ballten zwar ihre Fäuste, aber wussten gar nicht, wohin sie schlagen mussten. Es fiel Rosalie leicht, ihnen auszuweichen und sie gegeneinander auszuspielen. Sie duckte sich, sodass der eine dem anderen ins Gesicht schlug, ehe er sich bremsen konnte. Ein gezielter Tritt, und beide landeten nacheinander auf dem Boden. Ein Schlag an die richtige Stelle, und sie krümmten sich vor Schmerz, unfähig, sie anzugreifen.

Das war der Punkt, an dem sie beim letzten Mal aufgehört und den Fehler gemacht hatte, zu glauben, dass der Kampf vorbei wäre. Dieses Mal zögerte sie nicht, sondern trat weiter zu.

Erst erfüllten noch die qualvollen Schreie der Jungen den Garten, doch schnell wurde daraus ein Wimmern und bald gaben sie keinen Ton mehr von sich. Rosalie sah in ihnen nicht länger unschuldige Kinder, sondern nur noch Gegner, die sie besiegen musste.

»Du kannst aufhören«, entschied Vlad.

Das Mädchen drehte sich keuchend zu ihm herum. Spritzer von fremdem Blut bedeckten ihren Körper. Ihre Fingerknöchel schmerzten von den Schlägen, die sie ausgeteilt hatte. Voller Erwartung schaute sie zu ihrem Großvater auf.

Er trat auf sie zu und fing mit seinem Zeigefinger einen Blutstropfen auf, der ihr über die Wange lief. Bewundernd betrachtete er den Tropfen, bevor er den Finger in seinen Mund steckte und genießerisch die Augen schloss.

Auch Rosalie schmeckte den metallischen Geschmack von Blut auf ihrer Zunge. Dieser erfüllte sie allerdings mit Ekel.

Ihr Großvater sah sie zufrieden an. »Das hast du gut gemacht, Rosalie«, lobte er sie.

Es war das erste Mal, dass sie ihn ihren Namen sagen hörte, und das bedeutete ihr noch mehr als sein Lob, denn es zeigte ihr, dass er sie nun als Person anerkannte.

»Sagon ist mir ein guter Trainer«, erwiderte sie glücklich und drehte sich zu dem Riesen um, in dessen Augen Stolz lag. Sie wusste, dass hinter seinem Bart ein Schmunzeln verborgen war.

An diesem Abend musste Rosalie nicht in ihre Zelle zurückkehren, sondern Vlad nahm sie mit sich in das Schloss. Kronleuchter mit elektrischem Licht erhellten dort die Räume und Stuck zog sich über die meterhohen Decken. Es war die perfekte Kombination des Zaubers vergangener Zeiten mit den Wundern der modernen Technik.

Buntes Glas erstrahlte in den Fenstern und der Boden war so sauber, dass sie sich darin spiegeln konnte. Sie kam aus dem Staunen gar nicht mehr raus, dabei geleitete Vlad sie nur durch die Korridore zu ihrer neuen Unterkunft.

Es war ein Zimmer im ersten Stock. Darin erwartete sie ein weiches Bett, ein Kleiderschrank sowie ein kleiner Schreibtisch samt Stuhl. Natürlich gab es auch einen Fernseher, der gerade irgendeine Tierdokumentation abspielte.

Aber das alles war für Rosalie bedeutungslos. Für sie zählte nur, dass Oana dort war und ihre Arme ausbreitete, als ihre Enkelin eintrat. Ihre Wärme vermochte die Bilder der beiden blutüberströmten Jungen aus dem Kopf des Mädchens zu vertreiben.

Verlassene Orte

Mittwoch, 24. Oktober 2012

19.00 Uhr

Berlin, Hauptbahnhof

Maggy hatte erwartet, dass Jacob und sie direkt nach Königswinter aufbrechen würden, um Kontakt zu Will und den anderen aufzunehmen. Umso mehr überraschte es sie, als er am Hauptbahnhof nicht auf einen der Ticketschalter zusteuerte, sondern in Richtung der Regionalbahnen lief.

»Was suchst du?«, wollte sie von ihm wissen, während sich andere Reisende an ihnen vorbeidrängten. Es herrschte ein Getümmel wie in einem Bienenstock.

»Ich habe jahrelang nach der Wahrheit gesucht, aber jetzt sehe ich klarer als je zuvor«, antwortete er ihr und inspizierte die Schilder, welche die Abfahrtzeiten der verschiedenen Bahnen auswiesen.

Das war für Maggy zwar beruhigend zu wissen, aber nicht das, was sie gemeint hatte.

»Die Fernzüge fahren hier nicht ab«, sagte sie höflich zu ihm. Vielleicht hatte er sich nur vertan, immerhin hatte Jacob die letzten sechzehn Jahre seines Lebens beinahe ausnahmslos in der Charité verbracht. »Es wäre sicher auch gut, wenn wir uns eine Fahrkarte kaufen würden, bevor wir in einen Zug steigen.«

Sie selbst hatte allerdings keinen Cent in der Tasche. Hoffentlich hatte Jacob daran gedacht, sonst würden sie wohl die mehrstündige Fahrt auf der Zugtoilette verbringen müssen, um nicht beim Schwarzfahren erwischt zu werden.

Jacob schnaubte. »Wir nehmen nicht den Zug. Das würde viel zu lange dauern.«

»Hast du ein Auto?«, wunderte Maggy sich. Sie bezweifelte, dass er überhaupt einen Führerschein hatte.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739482774
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (April)
Schlagworte
Grimm Dornröschen Hexe Märchenadaption Gebrüder Grimm Schneewittchen Vampire Fantasy düster dark Romance Urban Fantasy Historisch

Autor

  • Maya Shepherd (Autor:in)

Maya Shepherd wurde 1988 in Stuttgart geboren. Zusammen mit Mann, Kindern und Hund lebt sie mittlerweile im Rheinland und träumt von einem eigenen Schreibzimmer mit Wänden voller Bücher. Seit 2014 lebt sie ihren ganz persönlichen Traum und widmet sich hauptberuflich dem Erfinden von fremden Welten und Charakteren. 2019 gewann Maya Shepherd mit den Grimm-Chroniken den Skoutz-Award in der Kategorie "Fantasy".
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Titel: Rosenkuss und Dornenkrone