Lade Inhalt...

Hexenherz

von Maya Shepherd (Autor:in)
158 Seiten
Reihe: Die Grimm-Chroniken, Band 19

Zusammenfassung

Einst brachte Margery die Vergessenen Sieben zusammen, doch nun schienen sie sich gegen sie zu stellen. Jetzt, da sie erkannten, was der Preis des geteilten Herzens war, wandten sie sich von ihr ab. Sie verloren den Glauben an die Prinzessin. Jeder für sich und jeder aus einem anderen Grund, aber dennoch vereint. Vereint gegen sie. Was würde aus ihr werden, wenn noch einer der Sieben starb? Welchen Verlust konnte ihr Herz noch verkraften? Wie sehr würde sie sich verändern?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Was zuvor geschah

Donnerstag, 25. Oktober 2012

20.30 Uhr

Maggy ist es bisher nicht gelungen, sich in einen Menschen zurückzuverwandeln. Auf dem Weg, ihre Freunde wiederzufinden, entdeckt sie zufällig Rumpelstein und heftet sich an ihn. Sein Weg führt ihn zu einem Industriegebiet, in dem sich ein ehemaliger Flakturm aus dem Zweiten Weltkrieg befindet. Er steigt in den einsturzgefährdeten unterirdischen Bereich hinab und öffnet dort einen Bunker, in dem er seine Tochter Eva gefangen hält. Diese kann sich weder an ihren Vater noch an ihre Vergangenheit in Engelland erinnern und hält Rumpelstein für einen Wahnsinnigen, der sie entführt hat.

Obwohl Maggy Eva gern helfen würde, beschließt sie, erst einmal weiter an Rumpelstein dranzubleiben.

21.00 Uhr

Lavena entschließt sich dazu, den Ort zu suchen, der sich unterhalb des Horizonts befindet, um sich dort mit der Sonne zu treffen.

Ihre Schwester, die Mondfrau, führt sie mit ihrem Licht am Flussufer entlang zu einem Ruderboot. Lavena besteigt dieses und lässt sich davon über den Rhein tragen, bis sie an eine kleine Insel gelangt.

23.30 Uhr

Arian erwacht im Raum der Wahrheit. Sein Körper ist betäubt, sodass er sich nicht wehren kann, als die böse Königin ihm eine Nadel in den Teil seines Herzens sticht, der zu Margery gehört. Sie tötet ihn dadurch nicht, sondern verletzt ihn nur, um die Prinzessin wissen zu lassen, dass der Gestaltwandler sich nun in ihrer Gewalt befindet.

Zur gleichen Zeit schreckt Margery in der verfallenen Villa am Rheinufer aus dem Schlaf hoch, da ein entsetzlicher Schmerz durch ihr Herz schießt. Sie gesteht Will, dass Arian sich in großer Gefahr befindet. Als dieser den anderen Bescheid geben will, bittet sie ihn darum, es nicht zu tun und dieses Wissen erst einmal für sich zu behalten. Sie will die anderen durch ihr Schweigen schützen, um sie davon abzuhalten, etwas Unüberlegtes zu tun.

Freitag, 26. Oktober 2012

0.30 Uhr

Lavena ist auf der Insel Nonnenwerth gelandet. Dort gibt es nur ein einziges Gebäude, bei dem es sich um ein Kloster handelt. Das Mondmädchen sucht bei den Nonnen Zuflucht, die es bereits erwartet zu haben scheinen. Die Oberin erwartet sie an der Spitze eines Turms. Oben angekommen, begegnet sie der Erdenmutter.

1.30 Uhr

Nachdem die böse Königin Arian allein im Raum der Wahrheit zurückgelassen hat, entfaltet sich dessen magische Wirkung – die Wände verschwinden plötzlich und Arian findet sich im Finsterwald wieder.

Er beobachtet einen kleinen Jungen, der sich verirrt hat. Er wird Zeuge davon, wie das Kind von Wölfen angegriffen wird, und begreift, dass er einmal dieser Junge gewesen ist. Kurz bevor der Junge stirbt, steigt das Mondmädchen vom Himmel herab und vertreibt die Wölfe. Ihre Hilfe kommt jedoch zu spät.

Arian hatte bisher keine Erinnerung an diese Nacht und erlebt nun, wie Lavena den Tod anfleht, sein jüngeres Ich zu verschonen. Eine weitere Person kommt hinzu, die sich als der Teufel zu erkennen gibt. Dieser bietet Lavena an, dem Jungen ein zweites Leben zu schenken, warnt sie allerdings davor, dass Magie immer ihren Preis hat und sie bereit sein muss, die Konsequenzen zu akzeptieren. Das Mondmädchen willigt zu Arians Entsetzen dennoch ein. Nun weiß er, dass Lavena für sein Dasein als Gestaltwandler verantwortlich ist, und trägt indirekt auch eine Mitschuld an dem Tod seiner Eltern, die er nur eine Nacht später als Wolf umbrachte.

Er kehrt in den Raum der Wahrheit zurück und wird dort von den Geistern seiner Eltern erwartet. Diese versichern ihm, dass sie ihm vergeben haben, aber bitten ihn, sich ihnen anzuschließen. Er soll sich selbst töten, um wieder mit der Familie vereint zu sein. Er kann der Illusion nur entkommen, indem er seine Eltern zum zweiten Mal umbringt.

7.50 Uhr

Die Sonne tritt dem Mondmädchen und der Erdenmutter gegenüber. Sie verlangt von Lavena, sich mit ihr zu verbünden und sie zu heiraten. Nur dann ist sie bereit, von der Erde zurückzuweichen und diese nicht länger zu verbrennen.

Dem Mondmädchen bleibt Zeit, seine Entscheidung zu überdenken, bis die Sonne ihren höchsten Stand am Himmel erreicht hat.

8.00 Uhr

Arian befindet sich noch immer im Raum der Wahrheit, als Simonja sich Zutritt verschafft und ihm vermeintlich zur Flucht verhilft. Gemeinsam streifen sie durch den Finsterwald und schwelgen in Erinnerungen an ihre Vergangenheit, bis sie Simonjas Haus erreichen. Dort schlägt die Stimmung plötzlich um, als Simonja zugibt, dass sie mehr für Arian empfindet.

Er ist von ihrem Geständnis überrumpelt und weiß nicht, wie er damit umgehen soll. Als er von ihr wissen will, warum sie ihm erst jetzt von ihren Gefühlen erzählt, gibt sie an, dass der Baum des Lebens ihr seinen Namen genannt hätte und dies der Tag wäre, an dem er sterben müsse. Aber erst als Simonja ihn auch noch bittet, sich selbst zu töten, erkennt er, dass nichts von dieser Begegnung real ist und es sich nur um eine weitere Illusion des Raums der Wahrheit handelt. Um diese zu beenden, muss er Simonja töten.

10.00 Uhr

Jacob, Simonja, Margery und Rosalie befinden sich auf dem Weg zu Schloss Drachenburg, um dem Bündnis mit Vlad Dracul zuzustimmen. Die steigende Hitze zwingt sie zu einer Pause, in der Rosalie das Gespräch mit ihrer Schwester sucht. Sie gesteht ihr, dass sie sich im Alter von acht Jahren schon einmal begegnet sind.

Rosalie vertraut Margery an, dass sie es war, die ihre gemeinsame Mutter in den Spiegel gestoßen hat. Obwohl Margery davon schockiert ist, schafft sie es, Verständnis für ihre Schwester aufzubringen, die durch ihre Kindheit bei Vlad Dracul geglaubt haben muss, das Richtige zu tun.

11.00 Uhr

Rumpelstein sucht Philipp in seiner Zelle auf und will von ihm wissen, wie weit er der Königin bereits aus den ›Grimm-Chroniken‹ vorgelesen hat. Philipp erscheint dessen Neugier seltsam und er kommt dahinter, dass Rumpelstein einige Geheimnisse hat, die er vor der Königin geheim halten will, unter anderem, dass Eva seine Tochter ist. Es gelingt ihm, den Zwerg zu überreden, ihm und seinen Eltern am morgigen Abend, im Tumult des Spiegelballs, zur Flucht zu verhelfen.

12.00 Uhr

Jacob, Margery, Simonja und Rosalie erreichen Schloss Drachenburg und fordern von Vlad Dracul, Maggy freizulassen. Als dieser sich weigert, greift Rosalie ihn an. Erst als sie ihm im Kampf unterliegt, offenbart Vlad Dracul ihnen, dass er Maggy gehen ließ, nachdem sie sich mit ihrer Magie in eine Spinne verwandelte. Obwohl die Stimmung angespannt ist, machen sie sich gemeinsam an die Planung für einen gemeinsamen Angriff auf dem Spiegelball der falschen Königin.

13.00 Uhr

Arian wird im Raum der Wahrheit von Lavena aufgesucht. Zuerst versucht er, sie auszublenden, da er sie für eine weitere Halluzination hält, doch er ist körperlich zu sehr geschwächt, um dem Zauber standzuhalten, und beginnt, sich in ihm zu verlieren. Er genießt Lavenas Nähe und vergisst dabei immer mehr, dass sie nicht real ist. Als sie plötzlich von einem Wolf angegriffen werden, zögert Arian nicht und stellt sich schützend vor das Mondmädchen. Er kämpft gegen den Wolf und bricht ihm schließlich das Genick.

Erst da löst sich die Illusion auf und Arian muss erkennen, dass er einen fürchterlichen Fehler begangen hat. Er tötete nicht irgendeinen Wolf, sondern sein eigenes Ich in Wolfsgestalt.

Zur selben Zeit wagt Lavena sich aus den schützenden Mauern des Klosters und stellt sich der Sonne entgegen, um diese durch eine Heirat zu besänftigen. Die Sonne bricht jedoch ihr Wort und verbrennt Lavena mit ihrer Hitze. Ihr Herz hört im selben Augenblick auf zu schlagen wie Arians. Damit endet ihr Leben aber nicht, sondern sie findet sich an einem Ort vollkommener Dunkelheit wieder, die nur von ihrem eigenen silbernen Schein durchbrochen wird. Sie beginnt, sich umzusehen, und erkennt, dass sie sich in der Unterwelt befindet, da sie von Toten umgeben ist. Diese ruhen jedoch nicht länger, sondern werden von dem Licht des Mondmädchens aus dem ewigen Schlaf gerissen.

Lavena fürchtet sich und versucht zu fliehen, um mit ihrem Licht nicht noch mehr Schaden anzurichten. Dabei findet sie den Menschen, von dem sie am wenigsten gehofft hätte, ihm im Reich der Toten zu begegnen – Arian.

Freitag,

26. Oktober 2012

Noch 5 Tage


Herzstillstand

Freitag, 26. Oktober 2012

13.00 Uhr

Königswinter, Finsterwald

Glühend heiß brannte die Sonne vom Himmel herab. Nicht einmal der Schatten der Bäume des Finsterwaldes vermochte die Hitze zu mildern. Jeder Schritt bedeutete Anstrengung. Beinahe vermisste Simonja schon das kühle Gemäuer von Schloss Drachenburg, wenn Vlad Dracul und seine Vampire nicht gewesen wären. Trotz der hohen Temperaturen war sie froh gewesen, sobald sie die Schlossmauern hinter sich gelassen hatten. Sie traute dem Fürsten der Finsternis nicht, obwohl er vorgab, zumindest bis zu der Nacht des Blutmondes auf ihrer Seite zu sein. Wie sollte man auch jemandem vertrauen, dem nicht einmal die eigene Familie etwas bedeutete?

Sie hatte den Hass in Rosalies Augen lodern gesehen, als sie ihr Schwert gegen ihren Großvater gerichtet hatte. Solch eine Ablehnung entstand nicht durch eine einzelne entsetzliche Tat, sondern wurde über Jahre genährt.

Es erinnerte sie etwas an ihre eigene Familie, vor allem an Baba Zima. Als Kind waren die seltenen Ausflüge zu ihrer Oma eine willkommene Abwechslung gewesen und sie hatte die Alte irgendwie sogar gerngehabt. Das hatte sich aber schlagartig geändert, als sie an ihrem fünfzehnten Geburtstag erfuhr, was für ein fürchterliches Ungeheuer Baba Zima wirklich war – eine Kinderfresserin.

Jegliche Sympathie, die sie je für ihre Großmutter empfunden hatte, wurde zu Abscheu und Verachtung. Sie hatte den Tag, an dem der Baum des Lebens ihr den Namen der Hexe nannte, herbeigesehnt und keinen Funken Reue empfunden, als Baba Zima in der brennenden Glut ihres Ofens verzweifelt gekreischt hatte. Es war eine Erleichterung gewesen, endlich jede Verbindung zu ihr auslöschen zu können. Ging es Rosalie so auch mit Vlad Dracul? Sehnte sie sich nach seinem Tod?

Als das blonde Mädchen plötzlich auf der Türschwelle ihres Hauses vor Simonja gestanden hatte, waren all die schmerzhaften Worte jener schicksalhaften Nacht in Engelland wieder durch ihren Kopf gehallt. Damals hatte Rosalie kein Mitleid gekannt. Ganz im Gegenteil, sie hatte Simonja für ihren Kummer belächelt.

Gerade deshalb war Simonja überzeugt davon gewesen, dass Rosalies Absichten nicht ehrlicher Natur sein konnten. Sie war gekommen, um Margery zu töten – eine andere Erklärung konnte es nicht geben.

Aber je mehr Zeit Simonja mit Rosalie verbrachte, umso mehr geriet diese Überzeugung ins Wanken. Nach wie vor war zwar etwas Geheimnisvolles, wenn nicht gar Bedrohliches an dem Mädchen, aber es tat Dinge, die keinen Sinn ergaben. Es fing schon damit an, dass Rosalie sich bereitwillig von ihnen einsperren ließ und ihnen ihre Waffen aushändigte. Dann rettete sie Margery vor den Wölfen, anstatt sie sterben zu lassen. Aber am meisten verunsicherte Simonja die Tatsache, dass Rosalie wirklich etwas an Joe zu liegen schien. Die Sorge um ihn am Morgen war echt gewesen. Auch im Schloss hatte sie sich für Maggy eingesetzt, mehr noch als jeder andere von ihnen. Sie hatte sie wirklich finden wollen – seinetwegen.

Konnte es sein, dass jemand sich zum Guten wendete, nur weil er verliebt war?

Von all dem abgesehen, musste Simonja sich aber auch eingestehen, dass es ihr imponierte, welche Bedeutung Rosalie ihr von Anfang an beimaß. Für Margery und die anderen war sie eine der Sieben, wenn auch als Tod eine sehr starke Verbündete. Aber Rosalie sah mehr als das in ihr – die rote Macht.

Vielleicht lag es an der Erziehung durch Vlad Dracul, denn auch dieser schien etwas an ihr wahrzunehmen, das ihr selbst noch verborgen blieb. Für sie war es mehr ein Zufall, dass sie am selben Tag wie die Schwestern geboren worden war, als eine Bestimmung. Sie konnte sich nicht vorstellen, was es bedeutete, nicht nur den Krieg der Farben zu führen, sondern ihn auch zu entscheiden.

Rot ist die Farbe, die über das Schicksal der Welt bestimmen wird, hieß es in der Prophezeiung. Wenn es jedoch nie zu einem Krieg zwischen Licht und Dunkelheit kommen würde, wäre alles andere unwichtig.

Die sengende Hitze deutete allerdings darauf hin, dass ein Krieg nicht nur unausweichlich war, sondern bereits begonnen hatte.

Wo Lavena wohl gerade ist?, dachte Simonja besorgt. Gewiss war das Mondmädchen in der Nacht aufgebrochen, um sich der Sonne entgegenzustellen, doch bisher schien es keinen Erfolg gehabt zu haben, denn es war heißer denn je.

Auch wenn Simonja nachvollziehen konnte, warum Lavena ohne Abschied gegangen war, fühlte es sich für sie falsch an, dass die Gruppe auseinanderbrach. Sie sollten zusammenhalten, denn ihre Gemeinschaft war der einzige Vorteil, den sie gegenüber der bösen Königin hatten, die ganz allein dastand. Sie hatte zwar ihre Diener, aber niemanden, dem sie vertrauen konnte.

Geplagt von ihren Gedanken trottete Simonja hinter Jacob her. Obwohl die hohe Temperatur ihnen allen zusetzte, litt Margery besonders unter ihr. Sie kam nur langsam voran und atmete schwer. Nicht einmal das Blut, welches Vlad Dracul ihr serviert hatte, konnte sie stärken. Simonja wusste nicht, ob es daran lag, dass sie ein Vampir war, oder ob ihr geteiltes Herz sie beeinträchtigte. Immerhin musste ihr Körper nun mit einem Achtel davon auskommen.

Sie drehte sich zu der Prinzessin um, die erneut stehen geblieben war und zum Himmel aufblickte, der durch die Baumkronen verdeckt wurde. Hinter ihr befand sich mit etwas Abstand Rosalie, die das Schlusslicht der Gruppe bildete.

»Brauchst du eine Pause?«, sprach Simonja Margery an, als ein Keuchen deren Kehle entwich und sie sich eine Hand auf die Brust presste.

Gerade noch rechtzeitig eilten Simonja und Jacob an ihre Seite, da knickten Margery bereits die Beine weg und sie verdrehte die Augen, während ihr Körper unkontrolliert zu zucken begann. Ihre Augenlider flatterten und ihre Lippen bebten. Eine dünne Blutspur floss aus ihrer Nase.

Jacob hielt ihren krampfenden Leib fest in seinen Armen und sackte mit ihr zu Boden.

Simonja legte ihre Hände um das Gesicht der Prinzessin, welches eiskalt war. »Margery!«, rief sie entsetzt. »Margery, sieh mich an!«

Diese konnte sie aber nicht hören, sondern stieß ein verzweifeltes Wimmern aus. Das Blut tropfte nun nicht mehr nur aus ihrer Nase, sondern lief auch aus ihren Ohren.

»Was ist mit ihr los?«, schrie Simonja Jacob an, der sonst auf alles eine Antwort parat zu haben schien, aber jetzt genauso ratlos aussah wie sie selbst.

Alarmiert fuhr sie zu Rosalie herum, die sich als Einzige abseits hielt und mit weit aufgerissenen Augen zu ihnen starrte, anstatt auch nur zu versuchen, ihrer Schwester zu helfen.

»Hat Vlad Dracul sie vergiftet?«, wollte Simonja von ihr wissen, da sie sich nicht erklären konnte, was hier vor sich ging.

Rosalie schüttelte mit bleicher Haut den Kopf. »Nein, einen Vampir kann man nicht vergiften.«

»Aber was hat sie dann?«, brüllte Simonja hilflos. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Es machte ihr Angst, dass sie nur hilflos dabei zusehen konnte, wie Margerys Körper von Krämpfen geschüttelt wurde, und sie nicht einmal den Grund dafür kannte.

Ein kalter Schauer jagte über ihren Rücken, als sich eine Vermutung in ihr ausbreitete, die sie nicht zulassen wollte. Sie hatte Margery schon einmal so erlebt, wenn auch in etwas abgeschwächter Form.

Dieser Zeitpunkt lag nur einen Tag zurück – Philipp war gestorben.

Nein! Es durfte nicht schon wieder passieren. Sie konnten nicht noch jemanden verlieren.

Arian, wisperte ihr Herz und Tränen füllten Simonjas Augen. Die Ungewissheit war unerträglich, denn sie war es als Tod gewohnt, vor allen anderen zu wissen, wenn jemand sterben würde. In Engelland hätte sie noch am Morgen vom Baum des Lebens eine Nuss mit Arians Namen erhalten und versuchen können, seinen Tod zu verhindern. Es war gegen die Regeln und zog immer schlimme Folgen nach sich, aber nichts hätte sie davon abhalten können.

Doch diese Aufgabe gehörte der Vergangenheit an. In Königswinter im Jahr 2012 war sie nur ein seltsames Mädchen, das auf einem Friedhof wohnte. Sie war ein Niemand. Zum ersten Mal vermisste sie die Last ihrer Bürde, wenn sie zugleich bedeutete, dass sie einen Freund hätte retten können. Nicht irgendeinen Freund – Arian. Er war so viel mehr für sie.

NEIN, schrie sie innerlich. Nicht er!

Grob packte sie Margery an den Schultern und schüttelte sie. »KOMM ZU DIR!«, kreischte sie beinahe hysterisch, weil die Prinzessin die Einzige war, die ihr sagen konnte, dass sie sich irrte. Sie musste es ihr sagen. Sie musste ihr sagen, dass Arian am Leben war. Nichts anderes wollte sie hören.

»Hey«, rief Jacob laut und stieß Simonja zurück. »Du hilfst ihr nicht, indem du ihr wehtust!«

Margery war Simonja in diesem Augenblick gleichgültig. Alles war ihr gleichgültig, nur Arian nicht. Er durfte nicht tot sein! Ihr Herz krampfte sich bei diesem Gedanken genauso sehr zusammen wie Margerys Körper. Sie wollte schreien und um sich schlagen, weil sie nicht zulassen konnte, dass ihre Furcht sie lähmte. Nie zuvor hatte sie solche Angst gehabt.

»Tu doch etwas«, fuhr sie Rosalie an, die einfach nur dastand und aus einigen Metern Entfernung dabei zusah, wie ihre Schwester litt.

Wusste sie irgendetwas? Warum rührte sie sich nicht?

»Ich kann nichts tun«, beteuerte Rosalie, die bis zu einem Baumstamm in ihrem Rücken zurückgewichen war.

Simonja ertrug es nicht länger, abzuwarten. Die Befürchtung, dass ihr in diesem Moment einer der wichtigsten Menschen in ihrem Leben genommen werden könnte, machte sie wahnsinnig. Ohne nachzudenken, richtete sie sich auf, um sich auf Rosalie zu stürzen und sie zu schütteln, bis sie sich nicht mehr wie jemand verhielt, der nichts mit dem zu tun hatte, was vor sich ging. Wenn sie irgendetwas wusste, musste sie es ihnen sagen.

Sie machte einen Schritt in ihre Richtung, als plötzlich etwas vom Himmel fiel und krachend vor ihren Füßen landete. Erschrocken zuckte Simonja zusammen und blickte in die weit aufgerissenen Augen eines Bussards. Sie waren erstarrt – jedes Leben war aus ihnen gewichen. Der Körper des Tieres wirkte jedoch gänzlich unversehrt. Kein Pfeil ragte aus seiner Brust und auch sonst schien sein Gefieder keine Verletzung aufzuweisen.

Fassungslos blickte Simonja nach oben, als weitere Vögel wie aus dem Nichts herabstürzten. Mitten im Flug versagten ihre Herzen zum gleichen Zeitpunkt und die Tiere fielen leblos zu Boden. Von einer Sekunde auf die andere erlosch ihr Leben.

Panisch riss Simonja die Arme über den Kopf und kauerte sich zusammen, während der Wald erbebte – es regnete tote Vögel. Sie konnte nicht begreifen, was geschah. Es war zu entsetzlich. Das war der Anfang vom Ende. Und sie fühlte sich dem vollkommen ausgeliefert.

Wie hatte es dazu kommen können? Was war geschehen? Lag es an der Sonne? Ließ sie die Vögel sterben? Galt das nur für den Finsterwald oder für Königswinter, gar für die ganze Welt? Warum?

Es vergingen einige Sekunden, bis sich eine Totenstille über dem Wald ausbreitete, die Simonja nicht sofort wahrnahm, weil sie nur noch das Blut in ihren Ohren rauschen hörte. Zitternd löste sie ihre Arme von den Beinen und hob ängstlich den Kopf. Rund um sie herum lagen toten Vögel auf dem Laubboden – Bussarde, Amseln, Eulen, Elstern, Krähen, Meisen, Spatzen, Stare. Es waren so viele, dass sie den Anblick kaum ertragen konnte.

Bittere Galle kämpfte sich ihre Kehle hinauf, als ihr Blick dem von Rosalie begegnete. Sie las darin dieselbe Furcht und dieselbe Fassungslosigkeit.

Ein einzelnes Wort zerriss den apokalyptischen Augenblick. Kein Wort, sondern ein Name.

»Lavena.«

Verzweifelt fuhr Simonja zu Jacob und Margery herum, welche nun die Augen wieder geöffnet hatte. Sie waren rot geädert, aber ausdruckslos. Blutige Tränen hatten Spuren auf Margerys Wangen hinterlassen. Auch wenn sie nun wieder bei Bewusstsein war, wirkte sie dennoch weit weg. Der Schrecken hatte sich in ihr schneeweißes Antlitz gegraben.

»Lavena ist tot«, wisperte sie mit bebenden Lippen.

Simonja war eiskalt, ihr Herz schien stehen zu bleiben und sie konnte kaum atmen. Die Trauer streckte bereits ihre dunklen Klauen nach ihr aus, aber sie gebot ihr noch Einhalt. Noch konnte sie diese nicht zulassen.

»Was ist mit Arian?«, hauchte sie. Es war ihre Angst, die sie diese Frage stellen ließ. Sie musste es wissen, auch wenn ihr Innerstes die Antwort nicht hören wollte. Ein Teil von ihr kannte die Wahrheit bereits.

Erst jetzt schien Margery ganz zu sich zu kommen, denn sie blinzelte verwirrt und bemerkte die Kadaver der Vögel, die rund um sie herum im Laub lagen. Erschrocken stieß sie Luft aus und ihre Atmung beschleunigte sich, ehe sie die Augen schloss, als könne sie so dieses Schreckensbild ungeschehen machen.

Simonja war überzeugt davon, dass Margery sie gehört hatte, und ihre Weigerung, ihr zu antworten, nährte ihre schlimmste Befürchtung.

»Margery, was ist mit Arian?«, wiederholte sie nun laut ihre Frage, wobei ihre Stimme zitterte. »IST ARIAN AM LEBEN?«

So viel hing für sie von dieser einen Frage ab. Jeder Herzschlag, der in Ungewissheit verstrich, war eine Qual und fühlte sich wie eine Ewigkeit an.

Sie wollte sich bereits auf Margery stürzen, deren Schweigen so grausam war, als diese die Kraft aufbrachte, sie anzusehen.

»Er ist tot«, sagte sie leise. »Arian ist tot.«

Ihre Worte bohrten sich wie eine Pfeilspitze in Simonjas Brust. Nun gab es kein Halten mehr für ihre Trauer und den Schmerz, die über sie hereinbrachen und sie zurück in die Knie zwangen. Ungehindert flossen Tränen über ihre Wangen und sie schrie aus vollem Hals, während sie sich vor und zurück wiegte.

NEIN!!! Sie konnte ihn nicht verlieren. Wie sollte sie ohne ihn leben?

»Es tut mir so leid«, weinte Margery, aber ihre Worte erreichten Simonjas Innerstes nicht. Es gab nicht genug Worte auf der Welt, um ihr Linderung verschaffen zu können.

»Sie sind beide tot?«, hakte Jacob fassungslos nach. Es war schlimm genug, einen der Sieben zu verlieren, aber direkt zwei auf einmal war unerträglich.

»Ihre Herzen hörten im selben Augenblick auf zu schlagen«, bestätigte Margery ihm. »Es tat so weh, dass ich fürchtete, mit ihnen zu sterben.«

Simonja war es gleichgültig, wie es Margery oder irgendjemandem ging, der Schmerz in ihrer Brust drohte sie zu zerbrechen. Er fühlte sich an wie Tausende Scherben, die sich in ihr Herz bohrten. Sie wusste nicht, wie sie es jemals schaffen sollte, wieder aufzustehen und einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sie wollte für immer auf dem Waldboden liegen bleiben, in der Hoffnung, dass sie damit die Zeit anhalten könnte. Wenn sie sich nicht rührte, würde sich vielleicht auch die Welt nicht mehr weiterdrehen und Arian wäre nicht tot.

Durch den Schleier aus Tränen merkte sie, wie es auf einmal kühler und dunkler wurde. Sie nahm es hin, ohne sich nach dem Grund dafür zu fragen.

»Wolken«, hörte sie jedoch Rosalie murmeln, die nun direkt neben ihr stand. »Sie schieben sich vor die Sonne.«

Ein eisiger Windhauch jagte raschelnd durch die Blätter, streifte Simonjas erhitzte Haut und ließ sie erschaudern.

»Bedeutet das, die Sonne zieht sich wieder zurück?«, überlegte Margery.

»Sie wollte Lavenas Tod«, meinte Jacob bekümmert. »Vielleicht war es sogar die Sonne, die sie getötet hat. Ihr Licht muss in diesem Augenblick so stark gewesen sein, dass sie die Vögel vom Himmel hat stürzen lassen. Sie sind ihr in der Luft immerhin näher als die Lebewesen am Boden.«

»Sie hat bekommen, was sie wollte«, stimmte Rosalie ihm zu. »Allerdings ist der Krieg der Farben noch lange nicht vorbei. Wenn die Sonne eine Rolle darin spielt, ist die Bedrohung noch nicht vorüber.«

»Wir müssen zurück zu den anderen«, entschied Jacob. Sein Blick glitt mitfühlend über Simonja, die am Boden lag, und seine Stimme wurde etwas sanfter. »Sie müssen erfahren, was geschehen ist.«

Simonja rührte sich nicht. Sie konnte nicht weitergehen, denn sie war in einer Sackgasse gelandet, aus der es kein Entkommen gab. Ein Zurück gab es nicht mehr und den Weg nach vorn wollte sie nicht antreten. Innerhalb von zwei Tagen hatte die böse Königin drei der Sieben getötet – der Rest war doch nur eine Frage der Zeit. Wie hatte sie glauben können, dass sie eine Chance gegen sie hätten?

Es raschelte im Laub und der Geruch von Blut wehte Simonja in die Nase, als Margery sich über sie beugte.

»Bitte steh auf«, bat sie. »Wir brauchen dich.«

Tröstend legte sie ihre kalte Hand auf Simonjas Schulter, die unter ihrer Berührung zusammenfuhr, als wäre sie geschlagen worden. Ruckartig fuhr sie hoch und starrte Margery voller Verachtung an. »Arian wollte keiner der Sieben sein«, schrie sie anklagend, während ihr unaufhaltsam Tränen über das Gesicht rannen. »Du hast ihn in den Tod geführt!«

Sie hatte die Szene in der Höhle wieder genau vor Augen. Arian, der sich als Einziger gesträubt hatte, bei dem Zauber des geteilten Herzens mitzumachen. Aber es war nicht Margery gewesen, die ihn doch noch dazu gebracht hatte, zu einem Teil der Vergessenen Sieben zu werden, sondern Lavena und Simonja. Sie hatten ihn aufgezogen, bei seinem Stolz gepackt und ihn einen Angsthasen genannt, weil sie unbedingt wollten, dass sie das zusammen durchzogen. Wenn Margery Schuld an seinem Tod trug, dann auch sie.

Warum hatte sie ihn nur zurück in die Schlosskommende gehen lassen? Sie hatte doch geahnt, dass sein Rudel Verdacht schöpfen würde. Die Königin hatte bereits nach einem Verräter gesucht. Sie hätte sich ihm entgegenstellen und ihn aufhalten müssen! Selbst wenn er sich in einen Wolf verwandelt hätte, wäre es ihr vielleicht dennoch gelungen, zu ihm durchzudringen. Sie hätte an ihn glauben müssen, gerade weil er das selbst nicht gekonnt hatte.

Der Wolf in ihm hatte in der Vergangenheit Lavena getötet, das Mädchen, das er liebte. Aber galt das auch für sie? Nur weil es Lavena nicht gelungen war, zu seinem Inneren durchzudringen, musste das nicht auch für Simonja gelten. Sie hätte es versuchen müssen! Zur Not hätte sie so lange gegen ihn gekämpft, bis der Mensch in ihm wieder zum Vorschein gekommen wäre.

Simonja wusste nicht, ob sie es hätte schaffen können, aber es quälte sie, dass sie es nun niemals herausfinden würde. Sie hatten nur ein verdammtes Jahr zusammen gehabt. Es war zugleich das schlimmste, aber auch das schönste ihres Lebens gewesen. Ohne Arian wäre sie an ihrer Bestimmung als Tod zerbrochen. Für jede Träne, die sie vergossen hatte, hatte er ihr ein Schmunzeln entlockt.

Margery stritt ihren Vorwurf nicht ab, sondern wich schuldbewusst vor ihr zurück. Sie hatte keinen der Sieben gezwungen, sich ihr anzuschließen. Die meisten von ihnen waren ihr bis zu jener Nacht fremd gewesen. Doch starb mit jedem von ihnen auch ein Stück von ihrem Herzen. Sie verlor nicht nur Verbündete, sondern auch sich selbst.

»Simonja, wir müssen weiter«, ermahnte Jacob sie streng. »Arian würde nicht wollen, dass du allein im Wald zurückbleibst.«

»Was weißt du schon über Arian?«, fauchte Simonja uneinsichtig und ließ ihren Blick von ihm über die anderen beiden gleiten. »Keiner von euch kannte ihn! Sein Tod ist euch doch gleichgültig! Ihr seid nur froh, dass es nicht jemand anderen getroffen hat.«

Sie wusste noch genau, wie erleichtert sie gewesen war, als es Philipp anstatt Arian getroffen hatte. Für diesen Gedanken hatte sie sich verachtet, dabei war er so verdammt menschlich. Es war sinnlos, einen Krieg zum Wohle der Menschheit auszufechten, wenn man nicht einmal die beschützen konnte, die man liebte.

Margery und Jacob tauschten ratlose Blicke miteinander. Sie wollten nicht ohne Simonja weitergehen, aber wenn sie sich weigerte, mit ihnen zu kommen, würde ihnen kaum etwas anderes übrig bleiben.

»Du kannst auch in der Villa weiterheulen«, blaffte Rosalie Simonja plötzlich an.

Fassungslos schaute Simonja zu ihr auf und entdeckte denselben herablassenden Gesichtsausdruck bei ihr, der ihr schon in Engelland begegnet war, als sie zwischen unzähligen von Walnüssen gesessen hatte, die alle für den Tod eines Menschen standen. Schon damals hatte das Schicksal anderer Rosalie kaltgelassen. Scheinbar hatte sie sich doch nicht verändert.

Wie konnte sie nur derart rücksichtslos sein?

Der Schmerz in Simonjas Brust machte ungezügeltem Zorn Platz. Mit wutverzerrtem Gesicht erhob sie sich vom Boden und baute sich vor Rosalie auf. »Du bist ein eiskaltes Miststück«, spie sie ihr verächtlich entgegen.

Rosalies Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Grinsen. »Das bin ich, aber ich habe Arian nicht getötet. Das war Elisabeth. Willst du sie damit durchkommen lassen?«

NEIN!, schrie Simonjas Innerstes. Sie wollte die falsche Königin leiden lassen. Sie wollte sie quälen und foltern, bis sie um ihr Leben bettelte. Sie wollte ihr entsetzliche Schmerzen zufügen, nur um ihr am Ende das schwarze Herz aus der Brust zu reißen und es ein für alle Mal zu zerstören. Ein Leben, gefangen hinter einem Spiegel, erschien ihr noch viel zu harmlos für dieses Monster. Elisabeth hatte den Tod verdient!

»Nein«, raunte Simonja, von Rachegelüsten erfüllt.

Rosalie stieß ihr herausfordernd mit dem Zeigefinger gegen die Schulter. »Dann ertränk dich nicht in Selbstmitleid, sondern unternimm etwas! Bereits morgen kannst du es diesem Biest auf seinem dämlichen Spiegelball heimzahlen.«

Morgen. Was für ein kurzer Zeitraum, dennoch erschienen Simonja die Stunden dazwischen wie eine unerträgliche Ewigkeit. Am liebsten wäre sie direkt zur Schlosskommende aufgebrochen, um der falschen Königin eigenhändig den Kopf von den Schultern zu schlagen. Aber sie konnte noch klar genug denken, um zu wissen, dass solch eine wahnsinnige Entscheidung höchstens ihren eigenen Tod bewirkt hätte.

Simonja presste wütend die Lippen aufeinander und nickte widerwillig. »Lasst uns gehen«, entschied sie zur Erleichterung von Jacob und Margery.

Gemeinsam brachen sie auf und obwohl Simonja alles wehtat, erkannte sie, was Rosalie für sie getan hatte. Sie hatte ihr weder Mitleid noch Trost geschenkt, sondern etwas Besseres, das Einzige, was sie jetzt aufrecht hielt – Hass.

Es hieß, dass Liebe stärker sei als Hass, aber was, wenn einem die Liebe entrissen worden war? Welchen besseren Grund gab es dann noch, um weiterzumachen, wenn nicht der Wunsch nach Vergeltung?


Folge deinem Herzen

Freitag, 26. Oktober 2012

13.30 Uhr

Bonn, Schlosskommende Ramersdorf, Verlies

Es war das eine, Dorian aus seinen Ketten zu befreien, aber etwas völlig anderes, ihn aus einem Verlies herauszuschleusen, das wie ein Labyrinth aufgebaut zu sein schien. Als Spinne hatte Maggy sich erst an Rumpelstein drangehängt und später den Kerker über die Decke erkundet. Die Sichtweise war nicht mit der eines Menschen zu vergleichen, zumal sie nicht davon ausgegangen war, dass sie auf zwei Beinen einen Ausweg finden musste. In den vielen schmalen Gängen fühlte sie sich genauso orientierungslos wie Dorian, auch wenn der zumindest äußerlich vorgab, alles unter Kontrolle zu haben.

Ihre Überlegung, den Geisttier-Zauber auch bei ihm anzuwenden, war daran gescheitert, dass sie nicht einschätzen konnte, ob diese Art von Magie überhaupt bei einem Vampir funktionieren würde, denn immerhin konnten Vampire nicht ersticken. Womöglich wäre Dorian für immer in dem Körper eines Tieres gefangen.

Deshalb bewegten sie sich auf altmodische Weise vorwärts und kämpften sich von einem Korridor zum nächsten vor. Es wäre leichter und weniger blutig gewesen, wenn Maggy einen Unsichtbarkeitszauber hätte durchführen können. Da sie den Spruch dafür aber nicht kannte, musste sie dabei zusehen, wie Dorian einem Jäger nach dem anderen die Kehle aus dem Hals riss. Man musste ihm zugutehalten, dass er dabei sehr präzise und beinahe geräuschlos zu Werke ging. Wie ein dunkler Schatten warf er sich über seine Opfer und ehe die auch nur ahnten, was vor sich ging, brach er ihnen bereits das Genick. Es war ein furchtbares Geräusch, das Maggy jedes Mal erschaudern ließ.

Sie hatte Dorian auch von Philipp und seinen Eltern erzählt, die ebenfalls irgendwo im Verlies gefangen gehalten wurden, doch die Betonung lag auf irgendwo. Da Maggy den Weg zu ihrer Zelle genauso wenig kannte wie den zu einem Ausgang, war es aussichtslos, gezielt nach ihnen zu suchen.

Die Perspektive einer Spinne unterschied sich deutlich von der eines Menschen, zumal sie sich in der Gestalt des winzigen Tieres auch durch Mauerspalten quetschen konnte und sich nicht an vorgegebene Wege halten musste. Dabei hatte sie bei den vielen Gängen und Stockwerken, die das Verlies umfasste, die Orientierung verloren.

Deshalb hatten Dorian und sie vereinbart, dass sie den Zufall darüber entscheiden lassen würden, ob sie dem Prinzen und seiner Familie zu Hilfe kämen. Sollten sie bei ihrer Flucht auf ihn stoßen, würden sie nicht ohne ihn gehen. Fanden sie allerdings einen Weg in die Freiheit, bevor sie ihn erreichten, kämen sie zu einem späteren Zeitpunkt mit Verstärkung zurück, um ihn zu befreien. Je länger sie sich in den Katakomben der Schlosskommende aufhielten, desto größer wurde allerdings das Risiko, dass Dorians Flucht bemerkt wurde oder die Wachen über eine der Leichen stolperten, die sie hinterlassen hatten.

Nachdem Dorian ihren letzten Angreifer ausgeschaltet hatte, wagten sie sich aus der Zelle hervor, in die sie sich zurückgezogen hatten. Der Gang davor lag verlassen da, sodass sie diesem bis zur nächsten Abzweigung folgten, die zu einer Treppe führte. Das war ein erster Lichtblick, da sich ein Ausgang am ehesten über der Erde befinden würde. Zugleich bedeutete das aber auch, dass sie Philipp zurücklassen mussten, denn Maggy konnte sich nicht erinnern, als Spinne eine Treppe passiert zu haben.

Dorian bemerkte ihre Zweifel, als sie zögerte, einen Fuß auf die erste Stufe zu setzen. »Wir kommen zurück«, versicherte er ihr bestimmt. »Mit Verstärkung und einem guten Plan!«

Sie wusste, dass er recht hatte und sie ihre eigene Flucht aufs Spiel setzten, wenn sie wegen Philipp umdrehten. Dorian zu befreien, war schon mehr, als Maggy je erwartet hätte, zu erreichen. Als sie auf Rumpelsteins Rücken geklettert war, hatte sie auf ein paar geheime Informationen gehofft. Die hatten sie auch bekommen, und wenn es ihr dazu noch gelingen würde, Dorian zu Margery und den anderen zu bringen, wäre das ein großer Erfolg.

Dennoch fiel es ihr schwer, einen Freund zurückzulassen. Sie kannte Philipp kaum, genauso wenig wie die meisten anderen der Sieben, aber sie fühlte sich jedem von ihnen mehr verbunden als Menschen, die sie bereits seit Jahren kannte. Dieses Gefühl lag nicht nur an Margerys Herz in ihrer Brust, sondern noch mehr an der Erfahrung, die sie miteinander teilten.

»Solange die falsche Königin Verwendung für Philipp hat, wird sie ihn nicht töten, oder?« Sie versuchte, sich selbst davon zu überzeugen, dass es in Ordnung war, den Weg ohne den Prinzen fortzusetzen.

»Sie braucht ihn, um ihr aus diesem Buch vorzulesen«, versuchte Dorian, sie zu beruhigen.

Maggy hatte ihm von den ›Grimm-Chroniken‹ erzählt und im Gegensatz zu den meisten anderen, die von der Existenz dieser magischen Geschichte erfuhren, fürchtete er sich nicht vor den Geheimnissen, die dabei enthüllt werden könnten. Es gab für ihn keine größere Schuld als jene, die er Mary bereits gestanden hatte. Niemals würde er wiedergutmachen können, dass er seine Tochter Rosalie Vlad Dracul überlassen hatte. Die falsche Königin würde in diesem Buch nichts finden, was sie gegen ihn verwenden könnte.

»Uns bleibt nicht viel Zeit«, erwiderte Maggy, denn auch wenn die ›Grimm-Chroniken‹ ein sehr umfangreiches Werk waren, konnte Philipp der Königin daraus nicht ewig vorlesen.

»Dann sollten wir uns wohl besser beeilen, hier rauszukommen«, schmunzelte Dorian und deutete auf die Treppe.

Maggy nickte und folgte ihm die Stufen empor. Gerade als er die Tür erreichte, wurde diese schwungvoll aufgestoßen und er sah sich drei seelenlosen Jägern gegenüber, die augenblicklich ihre Armbrüste hoben und auf sie richteten. Der erste Schuss löste sich und bohrte sich in Dorians Schulter, als dieser sich zur Seite drängte. Die Wunde würde zwar schnell wieder heilen, aber vorerst schwächte sie ihn.

Ein weiterer Bolzen verfehlte Maggys Kopf nur knapp und krachte gegen die Wand hinter ihr.

Die Zeit, welche die Jäger zum Nachladen brauchten, nutzte Dorian, um sich auf einen von ihnen zu stürzen. Dabei verlor dieser seine Armbrust, aber zückte dafür den Dolch, der sich an seiner Hüfte befand. Er schaffte es damit, sich den Vampir vom Hals zu halten. Während die beiden miteinander rangen, richtete ein anderer Jäger erneut seine Waffe auf Dorian, während der dritte davonrannte, um Alarm zu schlagen.

Das konnte Maggy nicht zulassen und sie jagte eine Vibration durch den Boden, die alle zu Fall brachte. Sie hatte instinktiv gehandelt und realisierte zu spät, dass das Wirken ihrer Magie erst recht die Königin und alle anderen, die sich in der Schlosskommende befanden, auf sie aufmerksam machen würde. Daran konnte sie nun aber nichts mehr ändern, umso wichtiger war es, schnell zu entkommen.

Dorian gelang es, den Jäger von sich zu stoßen und niederzudrücken, während die beiden anderen ihre Waffen nun auf Maggy richteten. Die Bolzen lösten sich mit einem Klacken und schossen direkt auf sie zu. Anstatt sich zu ducken, hob sie ihre Hände und parierte die Angriffe wie mit einem unsichtbaren Schutzschild. Die Geschosse prallten mehrere Zentimeter vor ihr ab und fielen zu Boden. Sie hatte nicht gewusst, dass sie das konnte, sondern instinktiv gehandelt.

Von irgendwoher erklang nun eine schrille Sirene, die sicher weitere Jäger in das Verlies rufen würde. Sie mussten so schnell wie möglich hier weg!

In dem Moment bohrte sich ein Dolch in die Brust eines Angreifers. Dorian hatte ihn geschleudert, nachdem es ihm gelungen war, den anderen Jäger zu töten. Es blieb nur noch ein dritter übrig, der nicht die Flucht ergriff, sondern sich ihnen mutig entgegenstellte. Verzweifelt versuchte er, sie mit der Armbrust auf Abstand zu halten, doch Maggy ließ die Bolzen zu Boden krachen, noch ehe diese Dorian oder sie streifen konnten.

Mit einem Satz stürzte sich Dorian auf ihn, ungehindert des Dolches, der sich in seinen Bauch bohrte. Die Verletzung würde ihn nicht umbringen. Er hingegen tötete den Jäger mit einem Biss in den Hals, ehe er sich fluchend die Klinge aus dem Fleisch zog. Blut sprudelte hervor, das aber in wenigen Sekunden schon nachlassen würde.

Hastig rannten sie in die Richtung, aus der ihre Feinde zuvor gekommen waren. Sie befanden sich nun nicht mehr in einem unterirdischen Verlies, in dem sich Zellen aneinanderreihten und ein Gang zum nächsten führte, sondern waren in einer Art Gewölbekeller gelandet, wie er zur Lagerung von Weinfässern benutzt wurde.

Das ohrenbetäubende Kreischen der Sirene erschwerte es, irgendein anderes Geräusch ausmachen zu können. Hinter jeder Ecke könnten weitere Jäger lauern, doch Maggy und Dorian blieb kaum etwas anderes übrig als die Flucht nach vorn. Sie waren zu weit gegangen, um sich jetzt noch irgendwo verstecken zu können. Entweder würden sie sich den Weg freikämpfen oder sie würden an dem Versuch scheitern.

Durch winzige Öffnungen am obersten Rand der Decke fiel Sonnenlicht in die Dunkelheit. Diese waren allerdings zu schmal, als dass ein Mensch dort hindurch hätte passen können. Aber zumindest wussten sie nun, dass sie ihrem Ziel bereits ganz nah waren.

Die schmalen Gewölbe endeten in einem etwas größeren Raum, in dem Weinflaschen in Regalen gelagert wurden. Der Geruch von kaltem Stein, Staub und gegorenen Beeren hing in der Luft. Eine Holztreppe führte ein Stockwerk höher.

Maggy und Dorian stürmten darauf zu, bemerkten aber gerade rechtzeitig, wie die Tür geöffnet wurde, um hinter einem der Regale in Deckung zu gehen. Der helle Schein, welcher sich in den Keller ergoss, deutete darauf hin, dass diese Tür direkt ins Freie führte.

Eine Gruppe von Jägern, die sie bisher nicht bemerkt hatten, polterte mit erhobenen Waffen die Stufen hinunter.

Dorians ganzer Körper stand wie unter Strom, bereit, sich den Feinden entgegenzustellen, doch Maggy hielt ihn zurück. Stattdessen deutete sie auf die Treppe und signalisierte ihm mit den Augen, dass er sich zur Flucht bereithalten sollte. Er schüttelte besorgt den Kopf, da er fürchtete, dass sie eine Dummheit planen könnte.

»Vertrau mir«, raunte sie bestimmt. Je aussichtsloser eine Situation war, umso mehr schien sie Herrin über ihre Kräfte zu werden. Sie konnte die Magie durch ihre Adern fließen und in ihren Fingerspitzen zucken fühlen.

Nicht weit von ihnen schritt einer der Jäger zwischen den Regalen entlang, als Maggy ihre Hand hob und ihre Augen konzentriert zu Schlitzen formte. Einen Atemzug später explodierte direkt neben dem Mann eine der Weinflaschen und er schrie erschrocken auf, als die Glassplitter seine Haut streiften und sich in seinem Haar verfingen. Von dem Lärm angelockt, stürzten auch die anderen Jäger in seine Richtung, während Maggy und Dorian die Gelegenheit zur Flucht nutzten.

Trotz der kleinen Ablenkung blieben sie nicht lange unbemerkt und erste Bolzen schossen auf sie zu. Es gelang Maggy, diese abprallen und gleichzeitig weitere Flaschen explodieren zu lassen. Glasscherben zischten wie Geschosse durch das Gewölbe und zwangen ihre Verfolger in Deckung.

Sobald Dorian und sie die Tür in die Freiheit erreicht hatten, klatschte Maggy ihre Hände gegeneinander und ließ die Holztreppe hinter ihnen unter lautem Poltern einkrachen, um zu verhindern, dass die Jäger ihnen nachkamen. Eine Staubwolke legte sich über das Gewölbe und nahm ihnen den Atem.

Hustend stieß Dorian die Tür auf und taumelte hinaus auf einen großen Platz, der im Schatten der Schlosskommende lag. Das weiße Gemäuer erhob sich bedrohlich über ihm. Hunderte Fenster waren wie Augen auf ihn gerichtet, hinter einem davon könnte sich auch die böse Königin befinden.

»Hier entlang«, rief Maggy und riss ihn aus seiner Starre. Sie zeigte auf die dichten Bäume, die auf der anderen Seite des Platzes standen.

Ohne nachzudenken, rannten sie los. Der Wald erwies sich jedoch nicht als so sicher, wie sie es sich erhofft hatten. Denn kaum dass sie diesen erreicht hatten, pirschten Wölfe aus dem Unterholz hervor. Instinktiv stellte Dorian sich schützend vor Maggy und zog zwei Dolche, die er den Jägern im Verlies abgenommen hatte. Damit gelang es ihm, die Tiere erst einmal auf Abstand zu halten, doch Maggy wusste, dass sie es auf keinen Kampf ankommen lassen durften, da in der Zeit weitere Feinde sie umzingelt hätten. Sie mussten die Wölfe sofort in die Flucht schlagen.

Wie sollte ihnen das gelingen? Wovor fürchteten sich die Tiere am meisten?

Feuer!

Sie verfügte zwar nicht über Embers Phönixmagie, aber auch sie konnte Flammen in dem trockenen Laub erzeugen. Ein tanzender Lichtpunkt, der im Schatten der Bäume von dem silbernen Medaillon an ihrem Hals erzeugt wurde, brachte sie auf die Idee.

Hastig schloss sie ihre Hand um das Schmuckstück und lenkte den Strahl auf den Boden direkt zwischen den Pfoten der Tiere, ehe sie dessen Kraft verstärkte. Innerhalb von Sekunden stieg Rauch auf und Feuer loderte auf.

Winselnd wichen die Wölfe zurück und machten einen Bogen um die Flammen, die sich langsam immer weiter ausbreiteten. Gierig zogen sie sich über den ausgetrockneten Boden und an den Baumstämmen empor. Es entstand eine Schneise, die Maggy und Dorian von ihren Verfolgern trennte.

»Weiter!«, schrie Dorian und sie liefen in den Wald hinein, ohne sich noch einmal nach der Schlosskommende umzudrehen. Ihre Lungen füllten sich mit Qualm und ihre Augen tränten von der Hitze, aber sie blieben nicht stehen, sondern rannten immer tiefer in das Unterholz.

Keuchend sank Maggy in das Gras und drehte sich auf den Rücken. Ihr Sportlehrer wäre beeindruckt gewesen, zu welcher Geschwindigkeit sie fähig war, wenn ein Rudel Wölfe, eine Horde Jäger und eine böse Königin hinter ihr her waren. Aber er hätte sich ohnehin gewundert, wozu sie sonst noch in der Lage war: eingestürzte Holztreppen, explodierende Weinflaschen, umgeleitete Bolzen und, nicht zu vergessen, die Verwandlung in einen Spinnenkörper.

Ihr beschauliches Dasein in Berlin erschien wie Teil eines anderen Lebens, obwohl es erst zwei Wochen zurücklag. Wie sollte sie jemals in ihren Alltag zurückfinden? Könnte sie je wieder in der Schule sitzen und über etwas Unbedeutendes wie das Mittagessen in der Cafeteria nachdenken?

Wollte sie das überhaupt?

So gefährlich ihre momentane Situation auch sein mochte, sie hatte sich noch nie lebendiger gefühlt. Adrenalin pumpte durch ihre Venen und alles um sie herum drehte sich wie im Rausch. Aber da war auch dieses unglaubliche Glücksgefühl, es tatsächlich geschafft zu haben: Dorian und sie waren der Königin entkommen!

Zumindest vorerst.

Ein Schatten fiel auf ihr Gesicht, als Dorian sich über sie beugte. Im Gegensatz zu ihr brauchte er keine Pause, um sich von dem Sprint zu erholen – nicht einmal eine Schweißperle stand auf seiner Stirn.

»Wohin müssen wir jetzt?«, wollte er ungeduldig von ihr wissen. »Wo verstecken sich Margery und die anderen?«

»Wenn ich das wüsste«, seufzte Maggy, ohne sich zu erheben, dafür fehlte ihr die Kraft. Ihre Muskeln zitterten und drohten zu reißen, wenn sie sich auch nur noch ein Stück bewegen würde.

Bereits als sie mit Jacob durch das magische Portal nach Königswinter gelangt war, hatten sie keine Ahnung gehabt, wie sie die anderen finden sollten. Nachdem ihr Besuch im Lebkuchenhaus erfolglos geblieben war, hatten sie ihre Suche im Schloss Drachenburg fortgesetzt – ein großer Fehler.

Vermutlich hatte Vlad Dracul noch ihr Hexenbuch und wartete darauf, dass sie es abholen kam. Würde er es ihr überhaupt wiedergeben, wenn sie ohne Margery oder die Sieben bei ihm auftauchte?

Dorian musterte sie ungläubig. »Du weißt nicht, wo sie ist?«, wiederholte er fassungslos. »Du bist doch eine Hexe! Kannst du das nicht irgendwie herausfinden?«

Das könnte sie bestimmt – irgendwie. Wieder war sie bei ihrem üblichen Dilemma angelangt, dass sie zwar die Magie in sich spürte, aber diese nicht richtig zu lenken wusste.

Frustriert setzte Maggy sich nun doch auf und hielt sich eine Hand vor die Augen, da ihr etwas schwindelig von der Anstrengung war. Verdammt! Gerade hatte sie sich noch so gut und geradezu unbesiegbar gefühlt. Hätte Dorian ihr nicht einen Moment länger diesen Erfolg gönnen können?

»Wenn du mir sagen kannst, wie – jederzeit«, konterte sie gekränkt, jedoch ohne große Hoffnung, dass Dorian ihr wirklich weiterhelfen konnte, auch wenn sein Vater, Vlad Dracul, einige Kenntnisse über Magie zu haben schien. Immerhin hatte Vlad Dracul auch gewusst, wie sie den Geisttier-Zauber brechen konnte.

Aber Dorian war nicht sein Vater und schwieg betreten. Wortlos zerbrachen sie sich nun beide die Köpfe darüber, wie sie ihre neu erlangte Freiheit nutzen könnten, um Margery zu finden. Gedankenverloren spielte Maggy dabei an dem Medaillon und zog es an der Kette von einer Seite zur anderen.

Dorian entging das nicht und er deutete auf ihren Hals. »Was ist das für ein Anhänger?«

Sie hielt ertappt in der Bewegung inne. »Das gehört Will«, vertraute sie ihm an. »Elisabeth hat es ihm im Traum gestohlen und dadurch Macht über ihn erlangt. Ich konnte es ihr in unserer letzten Nacht in Engelland entwenden, bevor ich vom Fluch des Schlafenden Todes wieder erwacht bin. Seitdem ist das Medaillon bei mir.«

Dorian runzelte nachdenklich die Stirn. »Die Königin hatte durch das Schmuckstück Macht über ihn?«, hakte er nach. »Bedeutet das nicht, dass du jetzt ebenfalls Macht über ihn hättest?«

»Vermutlich«, gab Maggy zu. »Aber ich werde es Will natürlich zurückgeben, sobald wir uns wiedersehen.«

Niemals würde sie das Medaillon verwenden, um Will zu irgendetwas zu bringen, das er nicht aus freien Stücken getan hätte. Denn dann wäre sie kaum besser als die böse Königin.

»Könntest du es nicht zuvor nutzen, um zu ihm zu gelangen?«, überlegte Dorian laut. »Diesem Schmuckstück scheint irgendein Zauber innezuwohnen, der uns helfen könnte. Dort, wo Wilhelm ist, finden wir sicher auch Margery und die Sieben.«

Auch wenn sie sich dagegen sträubte, sich diesen Zauber zunutze zu machen, musste sie einsehen, dass ihnen kaum etwas anderes übrig blieb. Es wäre auch etwas anderes, wenn sie das Medaillon verwendete, um zu ihm zu gelangen, anstatt Will zu sich zu rufen. Dort, wo er gerade war, wurde er sicher gebraucht und sie wollte ihn nicht gegen seinen Willen zu sich beordern, nur weil sie es konnte und ihn so sehr vermisste. Das wäre ziemlich egoistisch.

Zögerlich öffnete sie den Verschluss in ihrem Nacken und hielt die Kette mit dem silbernen Anhänger wie ein Pendel vor sich. Es baumelte locker, ohne jedoch in eine bestimmte Richtung auszuschlagen. Sie erhoffte sich davon nicht viel, aber vielleicht hatte sie auch nur Angst vor der Macht der Magie.

»Wo ist Will?«, murmelte sie mehr zu sich selbst, doch das Schmuckstück reagierte augenblicklich auf die Frage und änderte schlagartig seine Schwungrichtung. Auf einmal lenkte es deutlich nach links, wie ein Kompass, der in den Osten deutete.

Überrascht sah Maggy zu Dorian auf, der sie zufrieden angrinste. »Dann mal los«, forderte er sie auf und hielt ihr seine Hand hin, um ihr aufzuhelfen.

Erfüllt von neuem Mut, tat Maggys Körper nicht mehr ganz so weh wie zuvor und sie ließ sich ächzend auf die Beine helfen, ehe sie ihren Weg fortsetzten – immer dem Medaillon hinterher.


Beste Freunde

Freitag, 26. Oktober 2012

16.00 Uhr

Königswinter, Villa Rheinstolz

Wolken hatten sich wie aus dem Nichts vor die Sonne geschoben. Dadurch lag das Innere der verfallenen Villa in einem trüben Dämmerlicht. Zugleich waren die Räume aber von der Hitze des Vormittags aufgeheizt und die warme Luft schien darin zu stehen.

Die Dielen knarrten unter Wills Füßen, als er das Zimmer betrat, in welches Joe sich zurückgezogen hatte. Auch dort war es zu heiß, obwohl die Fenster keine Scheiben mehr hatten und nur mit Brettern vernagelt waren. Dazu kam ein leicht fauliger Gestank, der für Will wie ein Stich ins Herz war, da er wusste, dass dieser Geruch von Joes eiternder Wunde ausging. Er konnte nicht einschätzen, wie viel Zeit seinem Freund noch blieb, aber es war nicht zu leugnen, dass dessen Lage verdammt ernst war.

Joe lag noch genauso da wie beim letzten Mal, als Will einen Blick ins Zimmer riskiert hatte. Sein Kopf ruhte auf Rosalies Lederjacke, die sie bei ihm zurückgelassen hatte, bevor sie mit Jacob, Margery und Simonja zu Vlad Dracul aufgebrochen war.

Leise bewegte Will sich auf das Fenster zu, welches Joe am nächsten lag, und rüttelte vorsichtig an den Holzscheiten, die davor angebracht waren. Jenes, welches am lockersten saß, löste er mithilfe seines Dolches, sodass durch die Lücke etwas mehr frische Luft in das Zimmer strömen konnte.

Als er sich zu Joe umdrehte, glänzte dessen Stirn schweißfeucht, aber seine Augen waren geöffnet. Seine Mundwinkel waren vor Belustigung verzogen. »Ich war noch nie im Krankenhaus, aber in meiner Vorstellung hat sich immer eine sexy Krankenschwester um mich gekümmert und nicht ein Praktikant, der keine Ahnung hat, was er tut.«

Es erleichterte Will, dass Joe zumindest seinen Humor noch nicht verloren hatte. Er setzte sich neben ihm auf den Boden und reichte ihm eine Wasserflasche. »Du solltest genug trinken. Schaffst du das allein oder soll ich dir helfen?«

Seine Frage war durchaus ernst gemeint, aber daran, wie Joe ihn verärgert anfunkelte und ihm die Flasche aus der Hand riss, erkannte er, dass er es mit der Fürsorge wohl etwas übertrieben hatte.

Oder Joe war schlicht zu stur und zu stolz, um Hilfe anzunehmen, denn als er versuchte, sich aufzusetzen, ächzte er mit schmerzverzerrtem Gesicht. Er mühte sich an dem Drehverschluss der Plastikflasche ab und es verstrichen einige Sekunden, bis es ihm gelang, diese fluchend zu öffnen. Auf einen Ellbogen gestützt, schaffte er es schließlich, ein paar Schlucke zu trinken, ehe er sich stöhnend zurücksinken ließ. Seine Atmung war danach so beschleunigt, als hätte er gerade einen Hundert-Meter-Lauf absolviert.

Zittrig schob er das Wasser von sich. An seiner verkniffenen Miene konnte Will ablesen, wie unangenehm Joe die Situation war. Er fühlte sich schwach und hilflos, unfähig, irgendetwas zu bewirken, wie eine Last für die anderen.

»Du hast mir gefehlt«, platzte es aus Will heraus. Das hatte er schon die ganze Zeit zu Joe sagen wollen, aber es hatte nie einen richtigen Zeitpunkt gegeben. Nie waren sie allein gewesen. Er konnte Joes Verletzung nicht heilen, aber er konnte versuchen, dass er sich nicht zusätzlich auch noch mit Selbstvorwürfen quälte. Joe konnte zwar gerade nichts ausrichten, aber Will war dennoch froh, dass er bei ihm war. Er brauchte ihn, nicht wegen seiner Muskeln, seiner vorlauten Klappe oder seiner schlechten Scherze, sondern als Freund.

Joe zog spöttisch die linke Augenbraue hoch und musterte ihn amüsiert. »Werde jetzt bloß nicht rührselig! Du tust ja gerade so, als würde ich im Sterben liegen.«

Will lächelte beschämt, obwohl ihm nicht danach zumute war. Wenn die anderen Maggy nicht fanden oder diese nicht in der Lage wäre, Joe mit ihrer Magie zu helfen, dann … Er wollte es nicht einmal denken. Verzweifelt suchte er nach Worten, um die Situation aufzulockern, irgendetwas, das dem Ganzen ihre Schärfe nahm.

»Es ist lächerlich, dass die anderen dich zurückgelassen haben, um auf mich aufzupassen«, kam Joe ihm jedoch zuvor. Ein herablassender Tonfall lag in seiner Stimme. »Mal ehrlich, was solltest du denn tun, wenn jetzt eine Horde Jäger diese Bruchbude stürmen würde?«

Will kannte Joe gut genug, um zu wissen, dass er es nicht so meinte, wie er sich ausdrückte. Er benutzte die Arroganz, um dahinter seine Angst zu verbergen.

»Ember ist ja auch noch da«, erinnerte Will ihn, obwohl das eigentlich nicht ganz richtig war. Denn Ember war schon vor einer ganzen Weile zum Supermarkt aufgebrochen, um etwas zu essen zu besorgen. Eigentlich hätte sie schon zurück sein müssen. Aber Joe wusste nichts davon, denn er hatte überhaupt nicht mitbekommen, dass sie gegangen war. »Außerdem habe ich doch meine Armbrust«, setzte er schnell hinterher und deutete auf die Waffe, die griffbereit über seinen Rücken hing.

»All die Jahre hast du mir verheimlicht, dass du Mitglied in einem Schützenverein warst«, feixte Joe. »Oder wo hast du sonst so schießen gelernt?«

Er hatte gesehen, wie Will mit der Armbrust umgehen konnte, als sie sich zusammen mit Ember den Eindringlingen gestellt hatten, die in das Totengräberhaus eingebrochen waren. Auch dabei war Joe sich nutzlos vorgekommen, denn weder Will noch Ember hatten seine Hilfe gebraucht. Rosalie natürlich auch nicht, denn als er das Zimmer im ersten Stock erreichte, in dem Simonja sie eingeschlossen hatte, stand die Tür bereits sperrangelweit offen und Rosalie thronte über zwei Jägern, die sie erst entwaffnet und dann erschlagen hatte.

»Das ist ein Teil meiner Vergangenheit«, gestand Will ihm. »Ich bin nicht stolz darauf, aber in Engelland war ich ein Jäger der Königin. Seitdem ich aus dem Traum aufgewacht bin, kann ich mich wieder an die Fähigkeiten erinnern, über die ich dort verfügt habe.«

»Genau wie Maggy«, schnaubte Joe. »Vor zwei Wochen hatte ich noch eine Streberin zur Schwester und einen Emo als besten Freund. Jetzt bin ich der einzige Normalo zwischen Hexen, Jägern, Phönixen, Vampiren und Prinzessinnen. Wer weiß, vielleicht sollte ich auch mal in den goldenen Apfel beißen und wache dann als Superheld auf.«

Joe formulierte es scherzhaft, aber dahinter verbarg sich die Furcht davor, nutzlos zu sein. Will konnte das nachvollziehen, auch wenn er gern mit ihm getauscht hätte. Die Vergangenheit in Engelland brachte vor allem Schmerz und Schuld mit sich. Unter dem Bann der Königin hatte er so viele Unschuldige getötet. Er glaubte nicht, dass Joe diese Last wirklich auf sich hätte nehmen wollen.

»Wozu brauchst du noch Superkräfte, wenn du eine Killermaschine zur Freundin hast?«, konterte Will schmunzelnd.

Obwohl alles, was er über Rosalie wusste, sein Misstrauen weckte, konnte er sehen, wie glücklich Joe mit ihr war. Im vergangenen Jahr hatte er schon viele Mädchen an der Seite seines Freundes erlebt, aber mit keinem war es wie mit Rosalie gewesen. Joe hatte sich vor sie gestellt, als alle anderen gegen sie gewesen waren. Er hatte sich ihretwegen sogar gegen Will gestellt. Auf der einen Seite verletzte ihn das, aber auf der anderen bewies es ihm auch, wie tief die Gefühle seines Freundes sein mussten.

Joe lachte über seine Worte. »Sollte ich es mir je mit ihr verscherzen, muss ich verdammt schnell laufen. Aber wem sage ich das? Meine Freundin bricht mir sämtliche Knochen, deine saugt dich dafür bis zum letzten Tropfen Blut aus.« Der Schalk wich aus seinem Gesicht und eine Ernsthaftigkeit legte sich in seine Augen. »Wie läuft es mit der Prinzessin?«

Nicht nur Will kannte Joe gut, dasselbe galt auch andersherum. Deshalb befürchtete Will, dass Joe ihm seine Zweifel längst angesehen hatte. Dennoch wusste er nicht, was er antworten sollte, denn er konnte sich selbst nicht erklären, warum seine Beziehung zu Margery plötzlich so kompliziert war.

Als er sie in dem Glassarg liegen gesehen hatte, war die Anziehung zu ihr enorm gewesen und er hatte ihr unbedingt helfen wollen. Je mehr er über sie erfuhr, umso mehr tat sie ihm leid. Er bewunderte sie dafür, dass sie sich ein reines Herz bewahrt hatte, während ihr von der bösen Königin so viel Grausamkeit angetan worden war. Sie hatte es verdient, dass jemand sie liebte. Er wollte so gern dieser Jemand sein.

All diese Gefühle für sie trug er immer noch in sich, aber es hatten sich Schatten über sie gelegt.

»Ich weiß es nicht«, vertraute er Joe an und spürte dabei die Last seiner Emotionen auf sich. »Seitdem wir zum zweiten Mal erwacht sind, ist alles anders. In Engelland sind Dinge passiert, die ich nie erwartet hätte.«

Mags. Beim Gedanken an Joes Schwester spürte Will eine Hitze in seinem Inneren aufsteigen. Aber er wusste auch, dass sie nicht der Grund für seine Zweifel an Margery war. Es stimmte auch nicht, dass es an den Ereignissen in Engelland lag. Es war vielmehr das, was jetzt geschah – Margery veränderte sich und er wollte es nicht wahrhaben.

Eine Weile schwieg Joe, als müsse er nach den richtigen Worten suchen oder abwägen, welche Worte er besser für sich behielt. Er machte kein Geheimnis daraus, dass er Margery nicht leiden konnte. Das war auch nicht unbedingt verwunderlich, immerhin hatte sie ihn in Schloss Drachenburg schon angreifen wollen. Für Joe war es sicher schwer, zu verstehen, dass sie sich zu dem Zeitpunkt in einer Art Trance befunden hatte, die ihre vampirischen Bedürfnisse hervorbrachte. Aber jetzt kam Will der Verdacht, dass mehr hinter der Abneigung stecken könnte.

»Ich habe einen Teil der ›Grimm-Chroniken‹ gelesen«, gab Joe zu. »Dabei habe ich etwas über Margery erfahren, das es mir unmöglich macht, in ihr die reine und gute Prinzessin zu sehen, als die du und die anderen sie wahrnehmt.« Er bemerkte Wills bestürztes Gesicht und versuchte, seine Worte abzumildern. »Bitte versteh mich nicht falsch. Ich glaube nicht, dass sie von Grund auf böse ist, aber auch sie hat ihre Schattenseiten. Sei vorsichtig und vertraue ihr nicht blind.«

»Was hast du über sie rausgefunden?«, fragte Will, unsicher, ob er es überhaupt wissen wollte. Er zweifelte auch so schon genug an Margery, könnte er überhaupt noch mehr ertragen? Sie brauchte ihn an ihrer Seite und er wollte ihr immer noch helfen, aber das konnte er nicht, wenn es sich nicht mehr richtig anfühlte.

Joe sah ihn zögerlich an und schüttelte dann entschieden den Kopf. »Es wäre nicht richtig, wenn ich dir etwas verrate, das ich nur durch ein magisches Buch erfahren habe. Margery müsste es dir selber erzählen, aber ich befürchte, dass es für sie keine Bedeutung hat. Vermutlich denkt sie nicht einmal mehr daran. Ich hätte es nicht ansprechen sollen. Es tut mir leid.«

Will verstand nicht, was auf einmal mit Joe los war, denn so zurückhaltend kannte er ihn sonst nicht. Was immer er rausgefunden hatte, konnte nicht so schlimm sein, dass er glaubte, dass Will es wissen musste. Zugleich war es aber schlimm genug, dass er es Margery nicht verzeihen konnte.

Hatte es womöglich mit Maggy zu tun? Aber würde Joe dann schweigen? Vielleicht war es ein Geheimnis und jemand hatte versprochen, es nicht weiterzusagen, sodass Joe dem nicht zuvorkommen wollte.

Bei dem Gedanken drängte sich Will die Erinnerung an die vergangene Nacht auf. Margery war aus dem Schlaf aufgeschreckt, weil die böse Königin Arians Herz verletzt hatte und auf diese Weise Margery wissen ließ, dass sie den Gestaltwandler in ihrer Gewalt hatte. Will hatte sofort die anderen wecken wollen, um ihnen davon zu erzählen, doch Margery hatte ihn angefleht, erst einmal niemandem etwas davon zu sagen. Sie dachte, dass die anderen sich dann zu leichtsinnigen Handlungen hinreißen lassen könnten, aus Sorge um Arian.

Will konnte zwar ihre Befürchtung nachvollziehen, dennoch hatte es ihn schockiert, was sie von ihm verlangte. Es passte nicht zu ihr. Er hatte sie für eine ehrliche Person gehalten und nun bat sie ihn darum, zu schweigen. Auch wenn er ihr sein Wort gegeben hatte, fühlte er sich nicht wohl dabei. Als ehemaliger Jäger hatte er ohnehin schon einen schweren Stand in der Gruppe. Wenn die anderen erfuhren, dass er ihnen eine so wichtige Entwicklung verheimlicht hatte, würden sie ihm gar nicht mehr vertrauen.

»Du brauchst dich nicht dafür zu entschuldigen«, beschwichtigte Will seinen Freund und legte ihm freundschaftlich eine Hand auf die Schulter. »Aber es gibt da etwas, wovon ich dir erzählen möchte. Du musst mir allerdings versprechen, dass du es für dich behältst.«

Joe schaute ihn erst überrascht an, bevor er entschlossen nickte. »Du kannst dich auf mich verlassen.«

Will wusste, dass es nicht richtig war, Margerys Geheimnis jemand anderem zu verraten, aber er konnte diese Last nicht länger allein tragen – zu viel hing davon ab. Joe war zwar sein bester Freund, aber im vergangenen Jahr hatten sie sich immer weiter voneinander entfernt. Dennoch vertraute er Joe mehr als jedem anderen. Will wollte, dass es zwischen ihnen wieder wie früher wurde, und das setzte Ehrlichkeit voraus.

»Arian befindet sich in der Gewalt der Königin«, brach er sein Schweigen. »Margery hat heute Nacht gespürt, wie sein Herz verletzt wurde. Aber er ist nicht tot!«

Auf der einen Seite fühlte Will sich schuldig, weil er sein Versprechen brach, aber auf der anderen Seite empfand er auch Erleichterung, weil er dieses Geheimnis nicht länger für sich behalten musste.

»Warum habt ihr es niemandem erzählt?«, wollte Joe bestürzt wissen, ein leiser Vorwurf lag in seiner Stimme.

»Margery wollte das nicht, weil sie fürchtet, dass die anderen dann versuchen könnten, ihn zu befreien. Und genau darauf hofft die böse Königin. Es ist eine Falle.«

Jetzt, wo Will diese Entscheidung vor Joe verteidigte, konnte er Margery etwas besser verstehen. Sie hatte sicher recht mit dieser Ansicht, dennoch war es falsch, solch eine Entscheidung allein zu treffen.

Joe schüttelte wütend den Kopf. »Sie hätte es den anderen sagen müssen!«, beharrte er. »Es ist nicht fair, sie in Unwissenheit zu lassen.«

»Das habe ich ihr auch gesagt, aber sie war überzeugt davon, dass es das Beste für alle wäre«, rechtfertigte Will sich. »Sie meint es nur gut, aber es hat mich erschreckt, wie sie die anderen außen vor gelassen hat.«

»Sie benutzt uns«, drückte Joe es deutlich härter aus. »Die Sieben sind ihre Lebensversicherung. Solange sie am Leben sind, kann Margery nicht sterben. Deshalb tut sie nun alles dafür, möglichst viele von ihnen zu beschützen. Dabei schreckt sie nicht einmal davor zurück, Einzelne zu opfern.«

»Nein, so berechnend ist sie nicht«, widersprach Will ihm. »Sie sorgt sich auch um Arian, immerhin ist er auch einer der Sieben.«

»Aber nur EINER«, konterte Joe unnachgiebig. »Wenn Simonja und Ember heute Nacht entschieden hätten, Arian zu befreien, hätten drei Leben auf dem Spiel gestanden. Dieses Risiko wollte Margery nicht eingehen.«

Will wollte Margery nicht so sehen. Er wollte weiter daran glauben können, dass sie an alle und nicht nur an sich selbst gedacht hatte. Sie war nie selbstsüchtig gewesen – das war kein Teil ihres Wesens.

»Joe, du hast mir versprochen, dass du niemandem davon erzählst«, erinnerte Will ihn, da er nun Angst hatte, einen Fehler gemacht zu haben.

»Ich weiß«, seufzte Joe unglücklich. »Aber das bedeutet nicht, dass ich mich dir gegenüber mit meiner Meinung zurückhalten muss. Du solltest dich fragen, ob du Margery wirklich kennst.«

Seine Worte nährten Wills Zweifel. Er hatte gehofft, dass es ihm helfen würde, mit einem Freund über Margery zu sprechen, aber das tat es nicht. Er fühlte sich dadurch nicht sicherer, sondern nur noch verwirrter.

Ein Quietschen unterbrach seine Gedanken und ließ ihn den Atem anhalten. An Joes geweiteten Augen erkannte er, dass dieser ebenfalls etwas gehört hatte. Es war das Geräusch, das erzeugt wurde, wenn die Eingangstür geöffnet wurde. War das Ember, die zurückgekehrt war? Aber warum sagte sie dann nichts zur Entwarnung? Sie musste sich doch denken können, dass sie in absoluter Alarmbereitschaft waren!

Hastig zog Will die Armbrust von seinem Rücken und erhob sich vom Boden, bevor er mit der Waffe in Richtung Tür schlich. Er spähte auf den Flur hinaus und lauschte in die Stille. Wer immer die Villa betreten hatte, bewegte sich sehr leise. Viele Personen konnten es demnach nicht sein.

Vorsichtig tastete er sich in den Gang vor. Er hatte nicht einmal die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht, als ein lautes Knarren unter seinen Füßen seine Anwesenheit verriet. Das Geräusch erschien ihm ohrenbetäubend laut und er erstarrte auf der Stelle, während sein Puls in die Höhe schnellte.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739496849
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (August)
Schlagworte
Brüder Grimm Hexen Grimm Rotkäppchen Dornröschen Märchenadaption Wolf Märchen Schneewittchen Königin Romance Fantasy Urban Fantasy Historisch

Autor

  • Maya Shepherd (Autor:in)

Maya Shepherd wurde 1988 in Stuttgart geboren. Zusammen mit Mann, Kindern und Hund lebt sie mittlerweile im Rheinland und träumt von einem eigenen Schreibzimmer mit Wänden voller Bücher. Seit 2014 lebt sie ihren ganz persönlichen Traum und widmet sich hauptberuflich dem Erfinden von fremden Welten und Charakteren.
Zurück

Titel: Hexenherz