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Gläserne Welt

Eine Radioactive - Geschichte

von Maya Shepherd (Autor:in)
286 Seiten
Reihe: Zoe & Clyde, Band 1

Zusammenfassung

Es ist nur ein flüchtiger Moment des Widerstands. Doch dieser Augenblick verändert nicht nur das Leben zweier Menschen, sondern bringt eine ganze Welt ins Wanken. Zoe wurde in Freiheit geboren. Als die Legion ihr Zuhause angreift, muss sie nicht nur den Tod ihrer Eltern mit ansehen, sondern wird vom Feind entführt. Um zu überleben, ist sie gezwungen, ihr bisheriges Leben hinter sich zu lassen und sich den strengen Gesetzen der Legion zu beugen. C515 ist ein treuer Kämpfer der Legion. Er besitzt weder einen Namen noch eine Persönlichkeit. Sein Dasein dient einzig und allein dem Schutz der letzten überlebenden Menschen in der Sicherheitszone unter der Erde. Bis er einem Mädchen begegnet, das aus der Menge hervorsticht. In ihren Augen erstrahlt das Leben. (Zoe & Clyde kann unabhängig von der Radioactive-Reihe gelesen werden. Es ist kein Vorwissen nötig.)

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


MAYA SHEPHERD

 

  1. ZOE & CLYDE

GLÄSERNE WELT

 

 

 

 

Test

 

 

 

 

 

 

 

 

EINE RADIOACTIVE-GESCHICHTE

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Copyright © 2018 Maya Shepherd

Marion Schäfer, c/o SP-Day.de Impressum-Service, Dr. Lutz Kreutzer, Hauptstraße 8, 83395 Freilassing

news@mayashepherd.de

Umschlaggestaltung: Jaqueline Kropmanns; www.jaqueline-kropmanns.de

Covermodel: Miranda Hedman; https://mirish.deviantart.com

Korrektorat: Martina König

 

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

www.facebook.com/MayaShepherdAutor

E-Mail: mayashepherd@web.de

 


1-Zoe

Das ist der Tag, vor dem unsere Eltern sich immer gefürchtet haben.

Das ist der Tag, vor dem sie uns immer gewarnt haben.

Das ist der Tag, von dem ich geglaubt habe, dass er niemals eintreten würde.

Und obwohl es der Tag ist, mit dessen täglicher Erwähnung ich aufgewachsen bin, trifft uns der Angriff der Legion völlig unvorbereitet. Wir wussten immer, dass er irgendwann kommen würde. Die Lage hat sich immer mehr zugespitzt. Während wir zu Beginn noch mit ihnen zusammengearbeitet haben, entzweiten sich unsere Vorstellungen über die Jahre immer weiter voneinander, bis sie so verschieden waren, dass selbst ein friedliches Gespräch längst nicht mehr möglich war.

Die Legion will die Kontrolle behalten, aber wir wollen das Gegenteil: unsere Freiheit.

Wenn meine Eltern und die anderen Rebellen über die Legion sprechen, wissen sie, wovon sie reden, denn sie waren einst ein Teil von ihr. Sie lebten in einer Sicherheitszone unter der Erde, sahen niemals die Sonne, den Mond oder die Sterne, fühlten keinen Regen oder Wind auf ihrer Haut, ernährten sich von Tabletten und folgten dem obersten Gebot: Keine Gefühle! Denn Gefühle sind der größte Feind der Menschheit. Sie bringen einen dazu, Dinge zu tun. Schreckliche Dinge. Dinge, die so grausam sind, dass sie einen ganzen Planeten zerstören können – die Erde.

Als im Dritten Weltkrieg die Atombomben fielen, war danach alles radioaktiv verseucht und den letzten Überlebenden blieb nur die Zuflucht in die Legionen und ihre Sicherheitszonen.

Seitdem sind nun achtzig Jahre vergangen und die Erde hat es geschafft, sich selbst zu heilen. Es geht keine Gefahr mehr von ihr aus, dafür ist der Retter der Menschheit zu einer geworden: die Legion.

Wenn die anderen von ihr sprechen, sind ihre Worte für mich wie Erzählungen aus einer fremden Welt, denn ich habe diesen Ort nie von innen gesehen. Ich bin in Freiheit geboren. Es gibt keine Mauern, die mich eingrenzen, außer jene, die ich mir selbst errichte.

 

Jep wickelt sich eine Strähne meines langen blonden Haares um den Finger. Ein schelmisches Lächeln liegt in seinem Gesicht, als sein Daumen über meine Wange streift. Seine Haut ist rau von der harten Arbeit.

»Deine Augen haben dieselbe Farbe wie der Himmel«, behauptet er, woraufhin ich nur die Augen verdrehe und ihn frech angrinse, als ich ihm den Flachmann aus der anderen Hand nehme und die Öffnung an meine Lippen setze. Er braucht mir nicht zu schmeicheln.

Der scharfe Geruch des Alkohols steigt mir in die Nase, bevor ich einen großen Schluck nehme und dann angewidert das Gesicht verziehe.

Jep prustet laut los, woraufhin ich ihm erschrocken eine Hand auf den Mund presse.

»Sei still, du Idiot!«, fauche ich alarmiert. »Oder willst du, dass sie uns erwischen?«

Er blickt mich mit großen Augen an und ich lasse meine Hand nach unten gleiten, was er zu bedauern scheint.

Wir sitzen am Seeufer, abseits von den Höhlen, die unser Zuhause sind. Der Flachmann gehört Gustav. Er hat den Alkohol selbst gebrannt und rückt ihn nur zu besonderen Anlässen heraus. Dieser alte Geizhals!

Meine Eltern wollen nicht, dass ich davon trinke. Sie sagen, ich sei dafür noch zu jung. Aber sie schreiben nicht die Regeln dieser neuen Welt, sondern das Leben selbst. Und wenn ich entscheide, dass ich mit sechzehn Jahren alt genug bin, um Alkohol zu probieren, können sie mich nicht daran hindern.

Obwohl wir in ständiger Bedrohung durch die Legion leben, kann es oft sehr eintönig und langweilig sein. Die meisten Tage laufen gleich ab. Wir stehen bei Sonnenaufgang auf, danach gibt es Frühstück und dann sucht jeder nach einer Möglichkeit, um sich irgendwie nützlich zu machen. Wir gehen jagen, füttern die Ziegen und Hühner, holen Wasser, kümmern uns um die Felder, reparieren etwas, backen, kochen oder putzen. Es gibt hier nur wenig Abwechslung. Die Besuche von Ruby oder einem anderen Spion aus der Legion sind dabei ein Highlight. Sie berichten uns über alles, was die Legion plant, um uns so vor drohenden Gefahren zu schützen. Der letzte Kontakt ist jedoch schon Wochen her.

»Du bist eben doch noch zu jung dafür«, zieht Jep mich auf, als er mir den Flachmann wieder entwendet und selbst daraus trinkt.

Ich boxe ihm in die Seite, woraufhin er sich ruckartig auf mich stürzt und mich am Bauch zu kitzeln beginnt. Krampfhaft versuche ich, mein Lachen zu unterdrücken, doch dann platzt es laut und schallend aus mir heraus. Ich lasse mich zu Boden fallen und winde mich kreischend, um seinen flinken Fingern zu entkommen. Der Stoff meines kurzen Kleides raschelt bei jeder Bewegung.

Nun presst er mir seine Hand auf den Mund, um mich zum Schweigen zu bringen. Er liegt auf mir und blickt auf mich hinab. Ein Funkeln liegt in seinen grünen Augen, das immer dann zutage tritt, wenn wir allein sind.

Das ist jedoch nicht oft der Fall. Sein Zwillingsbruder Pep folgt ihm stets überall hin und mein älterer Bruder Finn hält sich für meinen persönlichen Kommandeur. Bestimmt suchen sie schon nach uns. Wir verstecken uns nicht nur wegen des Alkohols, sondern vor allem um einmal Zeit für uns zu haben.

Jep nimmt seine Hand weg. Ich kann seinen beschleunigten Herzschlag an meiner Brust spüren. Wir kommen uns nicht zum ersten Mal nahe. Es ist ein Spiel, das wir seit ein paar Wochen spielen. Ich kann Jep gut leiden, aber verliebt bin ich nicht. Glaube ich zumindest. Meine Auswahl ist nicht sonderlich groß: er oder sein Bruder. Das war’s. Vielleicht gibt es in den anderen Rebellenlagern noch mehr Jugendliche in unserem Alter, aber die sind zu weit weg, um sich öfter als alle paar Monate treffen zu können.

Er senkt seinen Kopf zu mir herunter. Seine schwarzen Haarspitzen kitzeln mich an der Stirn.

»Wenn ich dir erlaube, mich zu küssen, muss ich es Pep dann automatisch auch gestatten?«, feixe ich herausfordernd.

Seine Lippen verziehen sich zu einem Schmunzeln. »Wir teilen nicht alles miteinander.«

»Wenn ich dir erlaube, mich zu küssen, wird Finn dich einen Kopf kürzer machen«, scherze ich weiter.

»Er muss es ja nicht erfahren.«

Unsere Nasenspitzen berühren sich fast. Sein Atem schlägt mir entgegen und ich rieche erneut den scharfen Geruch des Alkohols. Heute ist nicht der Tag, an dem ich ihm erlaube, mich zu küssen. Sorry, Jep!

»Oder wir erzählen ihm, es wäre Pep gewesen«, erwidere ich grinsend, woraufhin auch Jep lachen muss und sich von mir runterrollt. Rein optisch sind die Zwillinge kaum voneinander zu unterscheiden.

Er nimmt mir meine Zurückweisung nicht übel. Auch er hat nicht viel Auswahl. Sogar noch weniger als ich, denn ich bin das einzige Mädchen in unserem Alter. Wir sind Freunde. Es ist so schön, einfach nur neben ihm auf dem moosbedeckten Boden liegen zu können und in den wolkenlosen Himmel zu blicken, der sich hinter dem Blätterdach der Bäume erstreckt. Alles ist friedlich.

Ich halte inne. Plötzlich habe ich das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt. Es ist so still – die Vögel zwitschern nicht einmal. Ich stütze mich auf meine Ellbogen und lausche angestrengt.

Jep mustert mich von der Seite. »Was ist los?«

»Hörst du das?«

Für einen Moment hält er den Atem an, dann schüttelt er den Kopf. »Ich höre nichts.«

»Das meine ich ja! Ist es nicht zu still?« Unruhig setze ich mich auf.

Jep macht es mir nach, während er seinen Blick über die umstehenden Bäume gleiten lässt. »Es sind keine Vögel da.«

»Wa…«

Ein ohrenbetäubender Knall lässt die Erde unter uns erbeben. Wimmernd schlage ich mir die Arme über dem Kopf zusammen und lege mich flach auf den Boden. Ein Piepen bleibt in meinen Ohren zurück, als der Knall längst vorbei ist.

Mit vor Schreck geweiteten Augen blicke ich zu Jep neben mir. Er wirkt genauso verängstigt wie ich, aber ihm fehlt nichts. Gleichzeitig rappeln wir uns auf und schauen uns suchend um. Was immer den Knall verursacht hat, es muss weiter weg passiert sein.

»Was war das?«, flüstere ich ängstlich und denke an die Warnungen meiner Eltern. Ist es jetzt so weit? Wir haben oft darüber gesprochen, was in diesem Fall zu tun ist. Wenn es auch nur das kleinste Anzeichen für einen Angriff durch die Legion gibt, versteckt ihr euch in der Schutzkammer und bleibt dort für mindestens einen Tag und eine Nacht.

Die Schutzkammer ist ein Raum in dem Höhlensystem, welches wir bewohnen. Sie unterscheidet sich dadurch von den anderen Zimmern, dass keine Tür in das Innere führt, sondern man sie nur erreichen kann, wenn man durch eine Öffnung in der Decke hineinklettert.

Jep beantwortet meine Frage nicht. Vielleicht weiß er die Antwort auch nicht oder er fürchtet sich davor, sie auszusprechen. Stattdessen ergreift er meine Hand und zieht mich plötzlich mit sich.

Ich möchte rennen, doch er hält mich zurück. Es ist zu gefährlich. Solange wir nicht wissen, was los ist, müssen wir unsere Umgebung im Auge behalten.

Wir kommen nur ein paar Meter weit, da lässt ein erneuter Knall die Erde erbeben. Jetzt bekomme ich es wirklich mit der Angst zu tun. Ich klammere mich an Jep fest, der wie Espenlaub zittert. Ich kann nicht sagen, ob die Erschütterung oder seine Furcht daran schuld ist. Aber obwohl er sich selbst sichtbar fürchtet, spielt er mir zuliebe den Starken und zieht mich bestimmt mit sich.

Vorsichtig tasten wir uns von einem Baum zum nächsten. Nach den ersten beiden Erschütterungen folgen noch drei weitere im Minutentakt. Wir haben die Höhlen noch nicht erreicht, da hören wir bereits die Schreie. Für mich gibt es kein Halten mehr – was immer dort vorgefallen ist, ich will helfen. Ich muss helfen!

Jep kann nicht schnell genug reagieren, da habe ich mich bereits von ihm losgerissen und renne geradewegs auf die Höhlen zu. Eine einzelne Person kommt mir völlig außer Atem entgegen. Es ist mein Bruder Finn. Sein Haar, das dieselbe Farbe hat wie meins, klebt ihm in der Stirn. Schweiß und Blut rinnen ihm gleichermaßen über das Gesicht.

Seine blauen Augen leuchten vor Erleichterung auf, als sie mich erblicken. Ich stürze ihm in die Arme und war noch nie zuvor so froh, ihn zu sehen.

»Was ist passiert?«, wispere ich völlig verängstigt, während er mich so fest an sich drückt, als wolle er mich nie wieder loslassen.

»Wir werden angegriffen«, spricht er aus, was ich bereits befürchtet habe. Doch bis jetzt habe ich nicht wirklich daran geglaubt. Erst sein Blut beweist mir, dass ein Irrtum ausgeschlossen ist.

»Warum bist du nicht in der Schutzkammer?«, bringe ich bestürzt hervor, als ich mich von ihm löse. So war doch unser Plan. Er darf nicht hier draußen sein, sondern muss sich in Sicherheit bringen.

Die Erleichterung wird aus seinen Augen von Wut verdrängt. Bei Finn wechseln sich die Emotionen ab wie bei einem Sommergewitter. In einem Moment ist noch strahlender Sonnenschein und im nächsten schüttet es wie aus Eimern.

»Mutter und Vater suchen nach dir«, erwidert er vorwurfsvoll und schließt seine Hand so fest wie ein Schraubstock um mein Handgelenk.

»Und die anderen?«, stößt Jep aus. Es gelingt ihm nicht länger, den Starken zu markieren. Er wirkt vollkommen hilflos, wie er mit seinen dünnen Armen vor uns steht.

Finn wirft ihm einen anklagenden Blick zu. »Weiß ich nicht, es ist Chaos ausgebrochen!«

In Jeps Augen zeichnet sich die Sorge um seinen Zwilling ab. Ruckartig rennt er los.

»Jep!«, schreit Finn ihm nach und knirscht mit den Zähnen, als dieser nicht reagiert. Ich will ihm hinterher, doch Finn hält mich zu fest. »Komm mit!«

Im Gegensatz zu den Zwillingen ist sein Körper von harter Arbeit und Training gestählt.

»Wohin?«, japse ich, während er mich zurück in den Wald zerrt. »Wir müssen doch zur Schutzkammer!«

»Dafür ist es zu spät«, entgegnet er zornig. »Die Kämpfer der Legion sind bereits da. Wenn sie dich sehen, wie du auf der Höhle herumkletterst, verrätst du ihnen das Versteck der anderen.«

»Aber was ist mit Mama und Papa? Sie müssen doch wissen, dass sie nicht mehr nach mir suchen brauchen!« Ich habe Angst um meine Eltern. Wenn ihnen etwas passiert, ist das allein meine Schuld.

»Ich kümmere mich um sie, aber erst wenn du in Sicherheit bist.«

Das ist typisch Finn! Er traut mir nichts zu und versucht mich vor allem und jedem zu beschützen. Dabei merkt er gar nicht, wie sehr er mich einzwängt.

Ich versuche mich von ihm loszureißen, aber mit dieser Reaktion hat er schon gerechnet und hält mich deshalb nur noch umso fester.

»Es gibt keinen sicheren Ort!«, fahre ich ihn außer mir vor Wut an. »Wir müssen zusammenbleiben und uns gegenseitig beschützen.«

Er dreht sich zu mir herum und packt mich an den Schultern. Mein Handgelenk pocht noch von seinem festen Griff. »Zoe, ich kann nicht auf uns beide aufpassen! Bitte hör ein einziges Mal auf mich und klettere auf den höchsten Baum, den du finden kannst, und bleibe dort.« Seine Augen flehen mich voller Verzweiflung an, ihm zu gehorchen. »Bitte!«, drängt er eindringlich.

Die Angst schnürt mir den Hals zu. Mir ist klar: Je länger wir hier stehen und diskutieren, umso größer ist die Gefahr, dass uns jemand entdeckt oder unsere Eltern in Sorge um mich getötet werden – wenn sie nicht bereits tot sind. Sie müssen sich selbst in Sicherheit bringen, und das können sie erst, wenn ich es bin. Genauso wie Finn.

Ich fühle mich schrecklich dabei, nachzugeben, trotzdem nicke ich nun widerwillig. Er schlingt dankbar seine Arme um mich und vermittelt mir einen Wimpernschlag lang ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit. Als mein Gesicht an seiner Brust liegt, fließen die Tränen. Ich kann sie nicht länger zurückhalten und blicke zitternd zu ihm empor. Seine Lippen drücken einen Kuss auf meine Stirn.

Bitte lass es keinen Abschiedskuss sein!

Ich möchte mich an ihn klammern und ihn anflehen, bei mir zu bleiben, aber stattdessen lasse ich ihn gehen. Er rennt zurück in sein Unglück, während ich mich wie ein Feigling in der Krone eines Baumes verstecke. Von hier oben kann ich nicht einmal die Höhlen erkennen, aber ich sehe von dort, wo sie sich befinden, dicke Rauchschwaden aufsteigen. Mein Herz zieht sich vor Angst und Sorge schmerzhaft zusammen. Ich bilde mir ein, Schreie zu hören, doch jedes Geräusch wird von den immer wiederkehrenden Explosionen verschluckt. Der Geruch von Feuer und Asche liegt in der Luft.

Auf einmal dringt ein Rascheln zu mir durch und ich blicke nach unten. Zwischen den Bäumen nehme ich eine Bewegung wahr und im nächsten Augenblick taumelt mein Vater hervor, dicht gefolgt von meiner Mutter. Sie sind auf der Flucht und blicken nicht nach oben. Aber sie müssen doch wissen, dass ich am Leben bin.

»Ich bin hier!«, schreie ich, so laut ich kann. Sofort bleiben sie stehen und schauen sich panisch zu allen Seiten um.

»Hier oben«, brülle ich und beginne bereits, von dem Baum hinabzusteigen. Meine Mutter entdeckt mich als Erste und winkt mir aufgeregt. Sie rennen mir entgegen, während ich mich von einem Ast zum anderen hangele. Die letzten zwei Meter springe ich zu Boden.

Wir haben einander fast erreicht, da schießt ein einzelner roter Lichtstrahl zwischen uns hindurch und mein Vater gerät ins Straucheln. Meine Mutter kommt ihm zu Hilfe und stützt ihn. Nun sind es mehrere Lichtstrahlen, die durch die Bäume schießen. Ihnen folgen Menschen in blauen Anzügen: die Kämpfer der Legion. Sie umzingeln uns.

Als ich meine Eltern erreiche, ist das grüne Hemd meines Vaters dunkel verfärbt. Er liegt am Boden, meine Mutter neben ihm. Sein Atem geht stoßweise, während ihre Augen mit Tränen gefüllt sind. Blut sickert aus einer Wunde an ihrem Kopf. Irgendwo schreit jemand herzzerreißend. Ich kann es nicht sein, denn ich sterbe in dem Moment, als das Licht in den Augen meiner Eltern erlischt und alles um mich herum schwarz wird.

Dies ist der Tag, der mein bisheriges Leben für immer auslöscht.

 


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»Die Blutproben der Versuchsperson zeigen keinerlei Auffälligkeiten«, berichtet A350 in der Konferenz der Legionsführer. »Obwohl sie bereits im Mutterleib einer leichten radioaktiven Reststrahlung ausgesetzt war, sind bei ihr keine Symptome für eine Genveränderung feststellbar. Sie verfügt über eine gute Gesundheit und ein starkes Immunsystem.«

»Wäre es möglich, dass ihr Abwehrmechanismus durch die vermehrte Aussetzung von Bakterien und anderen Krankheitserregern gestärkt, zu Teilen sogar immunisiert wurde?«, erkundigt sich ein anderer Legionsführer interessiert.

Er und auch alle anderen Anführer sind sehr gespannt auf den Verlauf des Experiments. Im Vorfeld gab es Uneinigkeit über dessen Durchführung. Manche sorgten sich um mögliche Gefahren, andere hielten es für Zeitverschwendung. Es ist das erste Mal, dass sie eine Verstoßene in die Sicherheitszone geholt haben. Die Ergebnisse der Versuchsreihe könnten ihr weiteres Leben sowohl im medizinischen als auch psychischen Bereich beeinflussen.

  1. »Das ist durchaus denkbar«, bestätigt A350, die für das Experiment verantwortlich ist. »Die radioaktive Strahlung ist in den letzten zwanzig Jahren so weit zurückgegangen, dass sie kaum noch Einfluss auf den menschlichen Organismus hat. Die Probandin ist dafür der beste Beweis.«
  2. »Das sind rein medizinische Fakten«, entgegnet A489, einer der größten Gegner des Versuchs. »Wie sieht es mit der geistigen Gesundheit des Objekts aus? Ich habe gehört, dass es einen Angriff gab und ein Kämpfer hinzukommen musste.«
  3. »Die Probandin zeigt sich noch sehr resistent«, pflichtet A350 ihm bei. »Ich habe jedoch auch nichts anderes erwartet. Wir dürfen nicht vergessen, dass sie unter Verstoßenen aufgewachsen ist. Sie wird eine gewisse Zeit brauchen, um sich unterzuordnen.«
  4. »Wenn das Objekt es überhaupt tut«, kontert A489 missbilligend. Er glaubt nicht daran, dass es möglich sein könnte, die Verstoßenen wieder in die Legion einzugliedern. Sie sind für ihn Wilde, die nicht zu kontrollieren sind. Ein Gefahrenrisiko.
  5. »Sie ist ein Mensch und somit wird sie irgendwann nachgeben, um in die Gesellschaft zurückzukehren«, beteuert A350 überzeugt. Sie sieht das Experiment als eine Chance an, um das Leben der Bewohner der Sicherheitszone nachhaltig zu verbessern. Die daraus gewonnenen Forschungsergebnisse könnten wegweisend für ihrer aller Zukunft sein.

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»Die Entwicklung der Probandin weist große Fortschritte auf«, berichtet A350 stolz. »Sie hat ihre Bezeichnung angenommen und verweigert nicht länger die Tabletten. Ihr Überlebensinstinkt setzt sich gegen ihre falschen Überzeugungen durch.«

A350 fühlt sich in all ihren Annahmen bestätigt. Letztendlich ist alles so gekommen, wie sie es für das Experiment vorhergesehen hatte.

Einige der anderen Legionsführer nicken zustimmend. Sie sind mit ihrer Arbeit sehr zufrieden.

»Nur weil sich das Objekt nicht länger gegen lebenserhaltende Maßnahmen sträubt, kann man noch lange nicht von einem erfolgreichen Versuch ausgehen«, widerspricht A489 energisch.

A350 weiß, dass er nur nicht zugeben kann, dass sie recht behalten hat und eine Wiedereingliederung durchaus möglich ist. »Ich habe auch nicht behauptet, dass das Experiment bereits abgeschlossen ist«, kontert sie. »Aber wir befinden uns auf einem guten Weg. Als Nächstes möchte ich das Verhalten der Probandin innerhalb der Sicherheitszone im Zusammenspiel mit anderen Bewohnern untersuchen. Ich gehe davon aus, dass sie sich an die Gruppendynamik anpassen wird.«

»Dafür ist es noch viel zu früh«, schimpft A489 zornig. »Nur weil das Objekt ein paar Tage lang brav seine Tabletten schluckt, können wir es nicht auf die Bewohner loslassen. Es könnte sie angreifen oder ihre Gedanken vergiften.«

»Niemand würde ihr glauben«, widerspricht A350. Es ärgert sie, dass A489 von E523 immer nur als Objekt und nicht als Mensch spricht. Auch sie hat ihre Differenzen – große Differenzen – mit den Verstoßenen, aber es sind immer noch Menschen.

»Letztendlich sind alle Menschen gleich«, fährt sie unbeirrt fort. »Wir gehören zur Klasse der Rudeltiere und können nur in der Gruppe überleben. Das wird auch die Probandin schnell einsehen und sich den Bewohnern und ihrem Verhalten anpassen.«

A489 rümpft verärgert die Nase. »Dieses Experiment unterliegt deiner Verantwortung«, erinnert er A350 scharf. »Du wirst die Konsequenzen für das Versagen deines Objekts tragen.«

»Sie wird nicht versagen«, beteuert A350 selbstsicher. »Vermutlich wird sie zu Beginn Anpassungsschwierigkeiten haben, aber das wird vergehen. Ihre Vergangenheit wird immer mehr in den Hintergrund rücken und ihr Handeln wird sich immer deutlicher auf die Zukunft ausrichten. Stellt euch nur mal vor, was das bedeutet!« A350 wird ganz euphorisch. »Wenn wir eine Verstoßene dazu bringen können, sich uns zu fügen, können wir das bei allen erreichen. Eine Ausgliederung der Legion wäre somit möglich.«

»Nicht so voreilig«, fährt A489 erneut dazwischen. »Die Versuchsreihe ist längst nicht abgeschlossen.«

A350 erkennt in seiner beharrlichen Gegenwehr Angst. Sie weiß, dass er sich davor fürchtet, die Kontrolle zu verlieren. Sie alle tun das. Aber im Gegensatz zu ihm ist ihr bewusst, dass sie etwas verändern müssen, um an der Macht zu bleiben. Wenn das Experiment gelingt, werden sie ihre Kontrolle nicht nur sichern, sondern sogar ausweiten. Die Verstoßenen werden keine Bedrohung mehr darstellen, sondern zu einer kontrollierbaren Komponente der Legion werden.


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»Die Probandin hat sich dem Leben in der Sicherheitszone angepasst«, berichtet A350. »Sie nimmt an allen Aufgaben der Heranwachsenden teil und besucht den Bildungsunterricht ohne Auffälligkeiten.«

»Da muss ich widersprechen«, grätscht A489, wie nicht anders zu erwarten, dazwischen. »Die Kameraaufnahmen des Atriums zeigen einen Vorfall, bei dem sich das Objekt auffällig verhalten und damit andere Bewohner verunsichert hat. Eine Kämpferin musste es festnehmen und auf die Krankenstation bringen.«

A350 beißt fest die Zähne aufeinander. Sie hatte gehofft, dass A489 dies entgangen wäre, aber im Grunde schon geahnt, dass er versuchen würde, diesen kleinen Ausrutscher gegen sie zu verwenden. Schließlich sucht er nur nach etwas, um das Experiment für gescheitert erklären zu können.

Sie reckt ihm ihr Kinn entgegen. »Mir ist dieser Vorfall auch bekannt, allerdings konnte die Probandin sehr schnell beruhigt werden, sodass ich in ihr keine Gefahr sehe. Sie testet ihre Grenzen aus und beobachtet, wie andere auf sie reagieren. Da die anderen Bewohner solche Auffälligkeiten jedoch ignorieren, wird sie es nicht noch einmal versuchen.«

»Wir können nicht riskieren, dass das Objekt beim nächsten Mal jemanden angreift. Wir sollten es erneut isolieren, um jede Gefahr zu vermeiden«, schlägt A489 vor, worauf die anderen Legionsführer nachdenklich reagieren. Die Mehrheit wusste noch nichts von dem Vorfall, sodass er sie bestürzt. Alles außerhalb der Norm gibt ihnen Grund zur Sorge.

»Das würde das gesamte Experiment gefährden«, widerspricht A350 aufgebracht. »Die Probandin macht große Fortschritte, und das innerhalb eines kurzen Zeitraums. Kleine, harmlose Ausfälle stehen dazu in keinem Vergleich!«

»Noch sind es kleine Ausfälle, aber wollen wir dem Objekt wirklich die Möglichkeiten geben, Bewohner womöglich anzugreifen? Nicht auszudenken, was es anrichten könnte, wenn es die Laserwaffe eines Kämpfers in die Hände bekommen würde.«

A350 schnaubt verächtlich. »Eine Laserwaffe, deren Funktion die Probandin nicht beherrscht! Selbst wenn sie das versuchen sollte und es ihr gelingen würde, könnte sie damit gar nichts ausrichten.«

  1. A233, eine der ältesten Legionsführerinnen, geht dazwischen. »Wir werden über den weiteren Verlauf des Experiments abstimmen. Wer ist dafür, dass die Probandin weiter in der Sicherheitszone verbleibt?«
  2. Von den zwanzig Legionsführern heben fünfzehn die Hände. Ihre Neugier siegt über ihre Sorgen.
  3. A489 verschränkt verärgert die Arme vor der Brust. »Das wird noch böse enden«, behauptet er kopfschüttelnd.

  1. 5-Zoe

Die Tage ziehen sich zäh wie Honig. Jeden Tag rechne ich damit, dass irgendetwas passieren wird und die Rebellen mich endlich befreien, aber es bleibt alles beim Alten. Manchmal habe ich Angst, dass sie beschließen könnten, dass das Risiko zu hoch ist.

Bei einer Entführung kann viel falsch laufen. Die Legion ist gut bewacht und wir sind nur sehr wenige im Vergleich zu ihnen. Alle, die sich an der Aktion beteiligen, würden dabei ihr Leben aufs Spiel setzen. Ich möchte eigentlich nicht, dass sich irgendjemand meinetwegen in Gefahr begibt. Aber die Vorstellung, für immer in der Legion bleiben zu müssen, ist unerträglich.

Wenn ich Ruby richtig verstanden habe, soll es bei der Entführung auch gar nicht nur um mich gehen, sondern sie suchen nach einem geeigneten Bewohner der Sicherheitszone, den sie später als Spion zurückschicken können. Ich weiß nicht, was ich von diesem Plan halten soll.

Wenn ich mir die Menschen anschaue, mit denen ich hier auf engstem Raum zusammenlebe, kann ich mir nicht vorstellen, dass einer von ihnen mutig genug dafür sein könnte. Die meisten von ihnen wirken völlig abgestumpft, so als ob sie mit ihrem Leben bereits abgeschlossen hätten und nur noch existieren, um der Legion ihren Dienst zu erweisen. Der Rest ist verängstigt und fürchtet sich vor jedem Blick, jeder Geste und jeder Bewegung, die ihnen außer der Norm erscheint. Wie soll uns so jemand helfen können?

Die Rebellen haben das Gleiche mit einem Bewohner der Sicherheitszone vor, was die Legion gerade mit mir versucht. Sie wollen jemanden entführen und ihn umkehren – ein Experiment.

Menschen sollten keine Experimente sein, weder in der Legion noch unter den Rebellen. Menschen sind nicht berechenbar und sollten einen freien Willen haben.

Was, wenn sich der Testkandidat den Rebellen anpasst und sie glauben lässt, dass er auf ihrer Seite ist, nur um sie später an die Legion zu verraten? Es steht dabei nicht nur das Leben eines Einzelnen auf dem Spiel, sondern das aller Rebellen. Vertrauen kann hier fatal sein.

Wenn ich Ruby nicht manchmal zufällig in der Sicherheitszone begegnen würde, könnte ich beinahe glauben, unser Gespräch hätte nie stattgefunden, sondern wäre nur ein Traum gewesen, geboren aus meiner Sehnsucht.

Aber in der Legion gibt es nicht einmal Träume. Dabei wünsche ich mir so sehr, wenigstens im Schlaf mit meiner Familie vereint zu sein.

Träume haben etwas Gefährliches an sich – sie sind nicht zu kontrollieren.

 

Es vergehen Wochen – Wochen des Hoffens, Wartens und Bangens. Schließlich steht mir die Klassifizierung bevor. Ich hätte niemals gedacht, dass es dazu kommen würde. In meiner Wunschvorstellung war ich schon längst wieder in Freiheit. Ich kann nicht noch weitere Wochen und womöglich Monate damit verbringen, darauf zu hoffen, dass mich irgendwann jemand befreien wird. Ich muss mir selbst helfen und die Klassifizierung sehe ich dabei als willkommene Chance an. Dabei müssen alle Heranwachsenden sich verschiedenen Prüfungen unterziehen, die dabei helfen sollen, sie ihrem zukünftigen Aufgabengebiet zuzuordnen.

In mir ist ein eigener Plan herangereift, den ich mit Ruby besprechen muss. Die größte Herausforderung besteht darin, sie zu treffen. Sie gehört zu den Kämpfern, die für den Außeneinsatz zugelassen sind, deshalb ist sie nur sehr selten in der Sicherheitszone eingesetzt.

Meine Gelegenheit ergibt sich gerade rechtzeitig: einen Tag vor der Klassifizierung. Alle Heranwachsenden hatten ihre letzte Bildungsunterrichtsstunde, in der wir noch einmal eingehend auf die morgigen Prüfungen vorbereitet wurden. Vor dem Lehrsaal stehen Wachen, die unser Ein- und Austreten kontrollieren. Dieses Mal entdecke ich Ruby unter ihnen. Jetzt oder nie!

Zielstrebig marschiere ich auf sie zu, senke aber den Blick, als ich bei ihr ankomme. »Kämpferin C403, ich möchte einen Verhaltensverstoß melden«, behaupte ich laut genug, damit die anderen Kämpfer und Heranwachsenden mich verstehen können, falls sie uns belauschen.

»Wer hat den Verhaltensverstoß begangen, E523?«, fragt Ruby zurück. Sie beherrscht es perfekt, gleichgültig auszusehen. So gut, dass ich jedes Mal aufs Neue die Befürchtung hege, dass sie mich nicht erkennen könnte.

»Ein Heranwachsender.«

»Wie lautet seine Bezeichnung?«

»Das weiß ich nicht. Wir sehen alle gleich aus.«

»Folge mir. Du musst den Vorfall einem Legionsführer melden«, erwidert sie kühl und führt mich von den anderen weg.

Wir schreiten durch den roten Gang der Heranwachsenden, bis wir um eine Ecke biegen. Ruby öffnet eine Stahltür mit einem Code und schiebt mich in ein schmales Zimmer, in dem sich nichts als ein Tisch und zwei Stühle befinden, die sich gegenüberstehen. An den weißen Wänden, die den gesamten Raum umschließen, befindet sich ein roter Streifen als Zeichen dafür, dass wir noch immer im Bereich der Heranwachsenden sind. Vermutlich ist es ein Zimmer für Einzelprüfungen oder Befragungen.

Ruby nimmt auf einem der Stühle Platz und deutet auf den anderen. Dabei blickt sie in die rechte obere Zimmerecke, in der ich das grüne Leuchten einer Kamera entdecke. Das Gespräch wird gefilmt und wir dürfen uns nicht auffällig benehmen.

»Was willst du?«, fährt Ruby mich an. Sie gibt sich keine Mühe, zu verbergen, dass ihr diese Störung missfällt. Ich gefährde dadurch ihre Tarnung.

Verunsichert schaue ich erneut zu der Kamera, wodurch ich mich sicher verdächtig mache, sollte jemand die Aufnahmen überprüfen. Außerdem weiß ich nicht, wie ich ihr von meinem Plan erzählen soll, wenn die Legion mithört.

»Diese Kamera zeichnet keinen Ton auf«, teilt Ruby mir mit ausdrucksloser Miene mit. »Sonst würden zwei Lichter leuchten.«

Das erleichtert mich etwas. »Ich habe einen Plan«, entgegne ich ihr und muss mich zwingen, meine Euphorie nicht zu deutlich zu zeigen.

Für den Bruchteil einer Sekunde blitzt Entsetzen in ihren lichtblauen Augen auf, das sie jedoch sofort wieder unterdrückt. »Du brauchst keinen Plan«, entgegnet sie nur kalt und abweisend.

»Hör ihn dir doch erst einmal an«, fordere ich sie auf. Wut wallt in mir auf. Ich bin es leid, dass mir niemand etwas zutraut. Wenn ich wirklich so unnütz wäre, wie sie zu glauben scheint, hätte ich die letzten Wochen wohl kaum überstanden.

Ihre Haltung ist immer noch abwehrend, aber durch ein leichtes Nicken gibt sie mir ihr Einverständnis, weiterzusprechen.

»Morgen ist die Klassifizierung. Ich könnte versuchen, eine Spitzenposition zu erreichen und zur Legionsführerin aufzusteigen, dann bräuchtet ihr die Entführung nicht mehr.«

Ihr Mund zuckt, als müsste sie ein Grinsen unterdrücken. »Du kannst es gern versuchen.«

»Traust du mir das nicht zu?«, empöre ich mich zornig. Ich muss mich bremsen, meine Stimme nicht zu erheben und meine Gesichtszüge ruhig zu halten.

»Es ist völlig egal, was ich dir zutraue. Du könntest in allen Bereichen als Beste abschneiden und die Legion würde dich trotzdem nicht zur Legionsführerin ernennen. Du bist als Rebellin geboren. Glaubst du, das haben sie ganz plötzlich vergessen?«

»Aber ich habe mich angepasst«, widerspreche ich. »Ich kann sie glauben lassen, dass ich mit meinem alten Leben abgeschlossen habe.«

Ich sehe ihr an, dass sie gar nicht bereit ist, mein Plan auch nur in Erwägung zu ziehen. »Die Legion ist nicht dumm, E523.«

Ich spüre, wie sich meine Wangen vor Scham rot färben. Es tut weh, sie diese dämliche Bezeichnung sagen zu hören. Ich weiß, dass sie es nur wegen der Kamera macht. Sie ist ganz in ihrer Rolle als treue Kämpferin der Legion, auch wenn der Ton nicht aufgezeichnet wird.

»Vielleicht reicht es wenigstens für die Kämpfer-Klassifizierung«, sage ich kleinlaut. »Dann könnte ich eine Spionin werden. Wie du!«

Ich habe sie immer dafür bewundert. Ruby war so etwas wie meine Heldin: stark, selbstbewusst und clever. Ihr macht niemand etwas vor und jeder behandelt sie mit Respekt.

Auch wenn der Preis dafür hoch ist: Sie steht immer außen vor. Obwohl sie ein wichtiger Teil der Rebellen ist, gehört sie nicht richtig dazu. Wenn wir sie verlieren würden, würden wir hauptsächlich die Position vermissen, die sie ausgeführt hat, und weniger sie als Person, denn dafür haben wir zu wenig Zeit mit ihr verbracht.

Ruby scheint meine Bewunderung zu spüren, denn ihre harten Gesichtszüge erweichen sich. Sie dreht ihr Gesicht kaum merklich von der Kamera weg. »Zoe«, sagt sie so leise, dass ich ihr den Namen von den Lippen ablesen muss, trotzdem erfüllt es mich mit einer unglaublichen Wärme. Es ist so lange her, dass mich jemand mit meinem richtigen Namen angesprochen hat. »Es ist völlig egal, wie du in den Tests abschneidest, deine Klassifizierung steht bereits fest. Du wirst nicht mehr als eine Helfertätigkeit erreichen, egal wie sehr du dich anstrengst.«

Es sollte mir gleichgültig sein. Ich hasse diesen Ort ohnehin und will hier keinen Tag länger als nötig sein, trotzdem bin ich enttäuscht. Ich hatte gehofft, etwas tun zu können. Ich möchte helfen und nicht nur die Last sein, für die andere ihr Leben riskieren. Ich fühle mich dumm und naiv, weil ich geglaubt habe, irgendetwas verändern zu können.

»Es dauert nicht mehr lange«, flüstert sie plötzlich, als hätte sie meine Gedanken gelesen.

Sie braucht mir nicht zu erklären, was sie damit meint. Automatisch beschleunigt sich mein Herzschlag.

»Kurz nach der Klassifizierung ist es so weit.«

»Wirklich?« Ich traue mich kaum, zu hoffen. Es ist bereits so viel Zeit vergangen. Mehrere Wochen, die zu Monaten wurden.

Sie nickt und dreht sich wieder zu der Kamera. Es wirkt wie eine fließende, völlig natürliche Bewegung.

»E523, deine Sorge war berechtigt«, sagt sie mit strenger Stimme. »Zum Glück hat sich deine Beobachtung aber als ein Missverständnis herausgestellt. Nun begib dich zu deiner Unterbringung!«

Schnell befolge ich ihre Aufforderung, erhebe mich von meinem Stuhl und verlasse den Raum, ohne mich noch einmal umzudrehen. Die winzige Flamme in meinem Inneren lodert jedoch vor lauter Hoffnung auf. Nicht mehr lange.

 


  1. 6-Zoe

Die Klassifizierung findet in der Arena der Legion statt. Es ist ein riesiges rundes Bauwerk, so gewaltig, dass ich mir in Erinnerung rufen muss, dass es sich unter der Erde befindet. Wenn man in der Mitte steht und den Blick über die vielen Zuschauerränge, die sich wie Treppen um das gesamte Kampffeld ziehen, schweifen lässt, hat man das Gefühl, sich im Freien zu befinden. Zuschauer gibt es jedoch nur bei den Paarungskämpfen, die erst in einigen Monaten ausgetragen werden. Wenn ich Rubys Worten Glauben schenken darf, werde ich dann längst nicht mehr hier sein.

Der Boden ist von weichem Sand bedeckt. Er ist viel feinkörniger als in der Wüste. Er rieselt wie Mehl durch die Finger.

Die Leuchtplatten ziehen sich gleichmäßig über die gewölbte Decke und imitieren einen blauen Himmel. Die Täuschung sieht verdammt echt aus. Das Einzige, was die Illusion zerstört, ist das Fehlen sämtlicher Geräusche. Kein Wind rauscht, sondern es herrscht eine beängstigende Stille.

Alle Heranwachsenden haben sich zusammengefunden. Manche von ihnen erkenne ich aus dem Bildungsunterricht wieder, andere habe ich noch nie zuvor gesehen und wieder andere gehen in der Masse unter. Ich kann auf den ersten Blick keine Besonderheiten an ihnen erkennen, auch wenn ich mit Sicherheit weiß, dass dort welche sein müssen. Menschen sind Individuen – keiner ist wie der andere.

Auf der Tribüne stehen drei Legionsführer in ihren strahlend weißen Anzügen. Es sind zwei Männer und eine Frau. Der Älteste von ihnen tritt vor und eröffnet die Tests mit einer Ansprache.

»Willkommen! Heute beginnt der erste Tag eurer Zukunft. Die Ergebnisse eurer Tests sind anhand eurer Leistungen der letzten Jahre vorhersehbar, trotzdem kann ein Punkt mehr oder weniger im Einzelfall entscheidend sein.«

Lügen, denke ich verächtlich mit aufeinandergepressten Lippen. Alles Lügen!

Von mir gibt es nicht einmal Leistungen der letzten Jahre. Sie lassen die Menschen in dem Glauben, dass sie ihr Schicksal selbst in der Hand hätten, dabei ziehen sie die Fäden. Ob sie sich heimlich über die Naivität und die Angst der Bewohner lustig machen?

»Egal, welcher Stelle ihr zugewiesen werdet, alle haben eine unerlässliche Aufgabe, die das Leben der letzten Menschen garantiert. Ihr könnt euch sicher sein, dass WIR, die Legionsführer, euch der am besten geeigneten Stelle zuweisen werden. Es gibt keine Fehler oder Schwankungen. Gebt euer Bestes, denn nur das Beste ist gut genug!«

Mir ist schlecht vor lauter Hass auf die Legion und ihre Führer. Sie nutzen die Menschen nur aus und die sind zu ängstlich, um es zu merken. Jeder von ihnen ist mit der Aussage aufgewachsen, dass ein Überleben außerhalb der Sicherheitszone unmöglich sei. Sie haben keine Wahl. Wer am Leben bleiben will, muss sich den Gesetzen fügen. Was, wenn sie die Wahrheit kennen würden?

Die Kabinen fahren per Knopfdruck aus dem künstlichen Sandboden der Arena empor – für jeden Heranwachsenden eine. Sie sind winzig, gerade groß genug, dass eine Person stehend hineinpasst. Zischend öffnen sich die Türen. Zögerlich setze ich einen Fuß hinein und zucke zusammen, als sich die Kabine schließt. Es ist so eng, dass ich nicht einmal meinen Arm ausstrecken kann. So eng wie ein Grab. Ich bekomme kaum Luft, weil die Angst mir die Kehle zuschnürt.

Die Klassifizierung startet mit einer Befragung zur kristallinen und fluiden Intelligenz. Eine blecherne Computerstimme verkündet die erste Wissensfrage: »Wie hieß der erste Legionsführer?«

Ich weiß es nicht. Sicher wurde es im Bildungsunterricht genannt, aber das muss gewesen sein, bevor ich die Hoffnung hatte, den Rebellen durch ein gutes Testergebnis nützlich sein zu können.

Die Sekunden verstreichen.

»E523, geben Sie innerhalb der nächsten fünf Sekunden eine Antwort oder die Frage wird automatisch als falsch bewertet«, informiert mich die körperlose Stimme. »Fünf«, beginnt der Computer runterzuzählen.

Soll ich raten?

»Vier.«

Gustav und seine Frau Marie gehörten der ersten Generation an. Sie wüssten es.

»Drei.«

Aber sie sind nicht hier, um mir zu helfen.

»Zwei.«

Niemand kann mir helfen.

»Eins.«

Ich erinnere mich an Rubys Worte: Es ist egal, wie ich bei den Tests abschneide, mein Ergebnis steht bereits fest.

Der Computer fährt ungerührt mit der nächsten Frage fort: »Was sind die Ursachen für Krieg?«

Diese Antwort kenne ich, oder zumindest die Ansicht der Legion dazu. Sie sehen den Ursprung allen Übels in der Fähigkeit, Gefühle zu empfinden. Andersartigkeit führt zu Neid und Eifersucht, welche beide Auslöser für einen Streit sind. Ein Streit schwillt zu einem Krieg an. Ich zögere jedoch, die Frage zu beantworten.

»E523, geben Sie innerhalb der nächsten fünf Sekunden eine Antwort oder die Frage wird automatisch als falsch bewertet.«

Was macht es für einen Unterschied?

»Fünf.«

Gar keinen!

»Vier.«

Meine Lippen bleiben verschlossen.

»Drei.«

Vielleicht ist es dumm, aber es fühlt sich gut an, sich wieder gegen die Legion aufzulehnen und ihnen zu zeigen, dass ich immer noch ich bin und keiner ihrer willenlosen Roboter.

»Zwei.«

Ich bin Zoe!

»Eins.«

Auch alle übrigen Fragen lasse ich unbeantwortet. Finn würde mich dafür an beiden Schultern packen und schütteln. Bist du wahnsinnig?, würde er voller Sorge brüllen. Ruby hingegen würde über mein Verhalten nur bemitleidend den Kopf schütteln. Ich weiß, dass ich damit keinem helfe, am wenigsten mir selbst. Aber ich kann die Legion nicht in dem Glauben verlassen, dass ich mich ihnen wie ein Feigling gefügt habe. Auch in mir schlägt das Herz einer Rebellin.

 

Die Klassifizierung wird mit einem sportlichen Leistungstest fortgesetzt, welcher nicht in der Arena, sondern in einer angrenzenden Turnhalle stattfindet. Dafür stellen sie uns auf Laufbänder und lassen uns so lange rennen, bis wir zusammenbrechen. Dabei wird das Tempo stetig gesteigert. Wenn ich könnte, würde ich auch diesen Test boykottieren, aber dann würden mich die anwesenden Legionsführer wohl direkt von der Klassifizierung ausschließen und in die Krankenstation einweisen lassen. Mich ihren Fragen in einer winzigen Kammer zu verweigern, ist etwas anderes, als es direkt vor ihren Augen zu tun.

Und so jogge ich wie ein dressiertes Tier gehorsam auf ihrem blöden Laufband. Links und rechts von mir befinden sich ebenfalls Heranwachsende auf Laufbändern. Sie stehen alle in einer Reihe. Das Aufschlagen unserer Füße und unser keuchender Atem erfüllen den Raum. Die Anspannung legt sich schwer auf unsere Schultern.

Meine Augen sind geöffnet, aber starren ins Leere. Ich denke an den Wald bei den Höhlen und stelle mir vor, ich wäre dort. Als Kinder haben Finn und ich dort oft Verstecken oder Fangen gespielt. Er war immer schneller als ich, was ich darauf geschoben habe, dass er der Ältere ist. Aber es war ein Ansporn, ihn eines Tages schlagen zu können.

Zu Beginn fällt mir das Laufen noch leicht und ich habe das Gefühl, ewig so weitermachen zu können, aber als die Ersten ausscheiden, bemerke ich, wie sich auch auf meiner Stirn Schweißperlen bilden. Die Zeit meiner Gefangenschaft hat sich auf meine Kondition ausgewirkt und mich geschwächt. Mein Herzschlag beschleunigt sich. Meine Atmung wird unregelmäßig. Ich kann mir nicht länger einbilden, dass ich an einem anderen Ort bin. Die Realität holt mich ein.

Meine Augen huschen unruhig durch die große Halle und bleiben an dem Mädchen neben mir hängen. In ihrem Gesicht liegt eine verbissene Entschlossenheit – etwas, das ich zuvor noch nie in der Legion bemerkt habe. Die Menschen entwickeln hier normalerweise keinen Ehrgeiz, da sie in dem Glauben leben, dass alle gleich sind. Aber ihr sehe ich an, dass sie tatsächlich gewinnen will. Sie möchte diesen Test mit Bravour bestehen. Wahrscheinlich ist es ihr Ziel, Legionsführerin zu werden. Obwohl ihr dieses Leben nichts bietet, was es lebenswert machen würde, kämpft sie hier für ihre Zukunft.

Sie scheint meinen Blick auf sich zu spüren, denn ihr Gesicht wendet sich mir zu. Der Kampfgeist, der sich in ihren Augen spiegelt, raubt mir den Atem. Ich gerate ins Stolpern. Mein Versuch, mich zu fangen, scheitert und ich stürze zu Boden. Gerade noch rechtzeitig schaffe ich es, mich mit den Händen abzufangen.

Das Laufband geht automatisch aus. Mein Leistungstest ist damit beendet. Schwer schnaufend drehe ich mich auf den Rücken. Das Mädchen blickt auf mich hinab, während ich zu dem Fleck über ihrer Brust schiele, wo sich ein Schild mit ihrer Bezeichnung befindet: E518.

Triumph liegt in E518s Augen, wodurch sie mich an Finn erinnert. Er hat jedes Mal genauso ausgesehen, wenn er mich besiegt hat. E518 ist der erste Mensch der Legion, der Sympathie in mir hervorruft.

 

Für den letzten Teil der Prüfung kehren wir in die Arena zurück. Die anwesenden Wachen teilen beim Einlass Laserwaffen an uns aus. Ruby ist nicht unter ihnen. Es fällt mir schwer, das kleine Gerät um mein Handgelenk zu schnallen. Eine dieser Waffen hat meine Eltern getötet. Sie sind im Vergleich zu einem Gewehr oder einem Messer geradezu winzig, aber dafür umso tödlicher. Nur ein roter Laserstrahl vermag Dutzende Menschen in den Tod zu befördern.

Die Strahlen, die aus diesen Waffen kommen, sind jedoch grün. Das bedeutet, sie verletzen niemanden und eignen sich lediglich zum Training.

Es folgt eine weitere Ansprache der drei Legionsführer.

»Es ist eure letzte Prüfung, eure letzte Chance, Punkte zu sammeln. Der Nahkampf dient ausschließlich der Verteidigung.«

Meine Hände ballen sich zu Fäusten. Nichts als Lügen. Der Angriff auf die Rebellen hatte nichts mit Verteidigung zu tun. Bis dahin hatten wir die Legion nicht ein einziges Mal angegriffen. Sie haben ein Exempel an uns statuiert, um uns und alle anderen Rebellen wissen zu lassen, dass sie uns jederzeit auslöschen könnten, wenn sie nur wollten. Haben sich die Bewohner der Sicherheitszone nie gefragt, wovor sie sich verteidigen müssen, wenn außer ihnen niemand überlebt hat?

»Wir sind die letzten Überlebenden«, behauptet der Legionsführer eisern.

Mir wird schlecht. Ich hasse die Legionsführer so sehr – jeden einzelnen von ihnen. Jeden, der die Wahrheit kennt und trotzdem weiter diese Lügen verbreitet.

»Die Ordnung in der Sicherheitszone zu erhalten, steht über allem. Jeder Feind der Ordnung ist ein Feind des Lebens und muss ohne Zögern vernichtet werden. Kämpft fair, aber hart.«

Mit Fairness hat das alles nichts zu tun. Es ist nicht fair, dass unschuldige Menschen sterben müssen, nur damit andere nicht die Kontrolle verlieren. Es ist nicht fair, Menschen ihr Leben lang zu belügen und sie unter der Erde einzusperren. Die Legion hat keinerlei Skrupel, ihre Lügen vor mir, die ich die Wahrheit kenne, zu verbreiten, weil sie darauf setzen, dass ich zu viel Angst habe, um meinen Mund aufzumachen. Angst und Ahnungslosigkeit verleihen ihnen ihre Macht.

 

Jeder von uns bekommt einen Gegner zugewiesen, den er dann mit der Laserwaffe zu bekämpfen hat. Je schneller man einen theoretisch tödlichen Schuss platziert, umso mehr Punkte erhält man.

Die ersten Kämpfe werden absolviert, ehe ich aufgerufen werde.

»E518 gegen E523.«

Ich trete vor und erkenne meine Gegnerin wieder. Es ist das Mädchen, welches neben mir auf dem Laufband gerannt ist. Nun macht sie jedoch keinen so entschlossenen Eindruck. Sie wirkt eher unsicher.

Als das Startsignal ertönt, blickt sie abwartend in meine Richtung. Sie möchte, dass ich als Erste schieße, damit sie dann nur darauf zu reagieren braucht. Doch den Gefallen tue ich ihr nicht. Ich werde die Laserwaffe nicht benutzen. Die Legion hat meine Eltern getötet und so gern ich irgendjemanden dafür büßen lassen würde, weiß ich, dass nicht dieses Mädchen mein Feind ist. Keiner der ahnungslosen Bewohner der Sicherheitszone trägt Schuld an dem Tod meiner geliebten Familie. Sie wissen ja nicht einmal von all dem dort draußen.

Zuvor war ich mir noch sicher, dass meine Gegnerin über Leichen gehen würde, um ihrem Ziel näher zu kommen. Nun erkenne ich, dass nicht ihr Ehrgeiz sie angetrieben hat, sondern der Wunsch nach Veränderung. Der Wunsch, ein wenig anders zu sein.

Es ist nur eine Simulation, aber ihre Weigerung, auf jemanden zu schießen, der sie nicht bedroht, beweist mir ihre Menschlichkeit. Sie denkt nach, bevor sie handelt, und folgt nicht stupide den Befehlen der Legion.

Ich lasse meine Waffe sinken und fordere sie mit den Augen auf, es mir gleichzutun. Meine Handlung irritiert sie und ich kann erkennen, wie nervös sie plötzlich wird, als die Computerstimme uns mit Disqualifikation droht.

Ich werde bald nicht mehr hier sein, aber für sie geht es hierbei um ihre Zukunft.

Die letzten Sekunden werden angezählt: »51, 52, 53 …«

Ihre Reaktion schenkt mir Hoffnung. Obwohl ich sie nicht im Geringsten kenne, fühle ich mich ihr doch nah. Gemeinsam verweigern wir uns der Legion. Vielleicht hat der Plan der Rebellen doch eine Chance, wenn sie jemanden wie sie entführen. Jemanden, der aus seinem Leben in Unterdrückung ausbrechen möchte. Jemanden, der mutig genug ist, die Wahrheit zu glauben.

»57, 58, 59 …«

Ich bin dem Mädchen so dankbar, dass ich ihr gern etwas zurückgeben würde. Am liebsten würde ich mich ihr anvertrauen – mein Geheimnis mit ihr teilen, sie wissen lassen, dass ihr Leben nicht so aussichtslos ist, wie sie es vielleicht glauben muss. Da das nicht geht, schenke ich ihr etwas anderes. Etwas, das in dieser Welt viel zu selten vorkommt. Eine winzige Geste der Menschlichkeit und doch so bedeutungsvoll: Ich lächle sie an.

Genau in diesem Augenblick schnellt E518s Arm nach oben und sie erschießt mich. Obwohl der grüne Lichtstrahl mich nicht verletzten kann, empfinde ich Schmerz. Er ist nicht körperlich, ich spüre die Berührung des Lasers nicht einmal, sondern bittere Enttäuschung, die ich nicht in Worte zu fassen vermag. Jedes Mal, wenn ich in der Legion Hoffnung schöpfe, wird sie umso fester zerschlagen. Ich muss hier raus!


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»Das Verhalten des Objekts bei der Klassifizierung ist ein deutlicher Beweis dafür, dass eine Wiedereingliederung nicht erfolgt ist«, behauptet A489 in der Konferenz der Legionsführer. »Es hat sowohl die Fragerunde als auch die Kampfeinheit verweigert und sich dadurch gegen das System aufgelehnt.«

A350 schnaubt und schüttelt den Kopf. »Nehmen wir mal an, die Probandin hätte sämtliche Fragen richtig beantwortet und den Kampf gewonnen, dazu ein wirklich gutes Ergebnis im Ausdauerbereich erzielt – hätte das irgendetwas an ihrer Klassifizierung geändert?« Ihre Stimme ist schneidend. »Das Mädchen ist nicht dumm und wusste ganz genau, dass wir ihr keine Aufgabe mit Verantwortung übertragen würden.«

»Sie hat es aber nicht einmal versucht«, empört sich ein anderer Legionsführer. »Sie zeigt nicht den Willen, sich in das System eingliedern zu wollen.«

»Das sehe ich anders«, widerspricht A350. »Seit ihrer Verlegung in die Sicherheitszone befolgt sie sämtliche Regeln und passt sich an. Sie hat an der Klassifizierung teilgenommen, in der Vorahnung, dass ihr Ergebnis keine Rolle spielen wird. Wenn wir ihr das Gegenteil bewiesen und ihr eine Chance gegeben hätten, hätten wir vermutlich bessere Ergebnisse erzielen können.«

A489 stößt ein ungläubiges Lachen aus. »Du kannst doch nicht wirklich einem Objekt der Verstoßenen Macht übertragen wollen?«, verhöhnt er A350. »Es würde sie gegen uns einsetzen …«

»Nicht, wenn wir sie davon überzeugen könnten, dass unsere Motive nicht so schlecht sind, wie sie glaubt«, kontert A350 unnachgiebig. »Wir hätten sie in die B-Klassifizierung einstufen können …«

Nun fällt A489 ihr ins Wort. »Aber sicher, wir sollten einem Objekt freien Zugriff auf Betäubungsmittel gewähren …«

»Wir würden ihr auf diese Weise die Hand reichen und ihr eine echte Chance geben!«, ruft A350 aufgebracht. »Das würde sie irritieren und zum Nachdenken bringen. Mit Unterdrückung erreichen wir bei ihr gar nichts, außer Hass, den sie immer gegen uns richten wird.«

Während A489 sie verächtlich anfunkelt, schweigen die anderen Legionsführer. Sie sind hin- und hergerissen, was sie glauben sollen. Als A350 ihnen vor der Klassifizierung vorschlug, der Probandin einer höheren Gruppierung zuzuweisen, lehnten sie ihren Vorschlag ab, aus Angst vor den Folgen.

Doch ein letzter Zweifel, eine Neugier, bleibt. Was wäre gewesen, wenn … Hätte sich dadurch wirklich alles verändert? Im besten Fall hätten sie jemanden zwischen den Fronten gehabt, einen Vermittler. Im schlechtesten Fall wäre es das Ende der Legion gewesen.


  1. 8-Zoe

Die Bewohner der Sicherheitszone haben mich schon immer wütend gemacht, weil sie tatenlos dabei zusehen, wie die Legion über ihr Leben bestimmt. Irgendwie hatte ich sogar Verständnis dafür, weil sie es einfach nicht anders kennen. Sie sind so aufgewachsen und haben nie gelernt, anders zu sein.

Aber E518, jetzt D518, macht mich nicht nur wütend, sondern hat mich enttäuscht! Ich habe geglaubt, in ihr jemanden gefunden zu haben, der trotz der lebenslangen Unterdrückung in der Lage ist, eigene Gedanken zu fassen und Entscheidungen zu fällen. Sie hat mir für einen kurzen Moment Hoffnung gegeben, nur um sie mir dann Sekunden später wieder zu entreißen.

Warum hat sie auf mich geschossen? Gebracht hat es ihr auf jeden Fall nichts, denn nun trägt sie den gleichen braunen Anzug wie ich und steht vor derselben Tür, die uns von unserem neuen Einsatzgebiet trennt: der Nahrungszuweisung.

Ich muss zugeben, es erfüllt mich mit Genugtuung und Schadenfreude. Denn im Gegensatz zu ihr werde ich nicht mein ganzes Leben hier festsitzen. Meine Tage sind gezählt – das hat Ruby mir versprochen.

Der dienstführende D-ler lässt uns ein. Hinter der Tür verbirgt sich ein großer Raum mit vielen Tischen. Auf jedem davon befindet sich ein kleiner Monitor, in den wie in Trance ein fleißiger Arbeiter starrt. Sie heben nicht einmal den Blick, um die Neuen zu begutachten. Die Wände sind kahl, wie überall in der Legion. Lediglich das bläuliche Licht der Bildschirme gibt dem Raum eine eigene Note. Die Tische stehen so dicht beieinander, dass man nur durch eine schmale Lücke an der Seite durch das Zimmer kommt.

Der Leiter weist uns unsere Plätze zu, die in der vorletzten Reihe direkt nebeneinanderliegen. Daraufhin erklärt er uns die Arbeit, die im Grunde nur daraus besteht, stupide auf einen Knopf zu drücken und die Vorgaben des Systems zu bestätigen. Es geht um die Tablettenzuteilung der Bewohner.

D518 gibt sich äußerst interessiert, so als hätte sie nun eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Es ist einfach nur lachhaft, aber die Legionsführer, welche die Klassifizierung vorgenommen haben, wären sicher stolz auf sie. Oder vielmehr auf sich, da ihre Einschüchterung scheinbar Wirkung zeigt.

Als sie D518 am Vortag angedroht haben, sie zu G518 zu degradieren, hätte ich ihr und allen anderen am liebsten laut zugerufen, dass es das Beste wäre, was ihnen passieren könnte. Aber ich habe ihren Gesichtern angesehen, wie viel Angst sie vor der Welt da draußen haben. Kein Wunder, immerhin denken sie, dass dort nichts als der sichere Tod auf sie wartet. Die Legion verbreitet ihre Lügen sehr glaubhaft und eindringlich.

Sobald der Leiter uns allein lässt und an seinen eigenen Platz zurückkehrt, wendet sich D518 ihrem Monitor zu. Ich sollte sie ignorieren und keinen Gedanken mehr an sie verschwenden. Bald werde ich der Legion den Rücken kehren und sie hoffentlich nie wieder von innen sehen. Aber es liegt mir nicht, meine Meinung für mich zu behalten. Erst recht nicht, wenn mich jemand verletzt hat. Ich wäre nicht mehr Zoe, wenn ich heute anfangen würde, darüber hinwegzusehen.

»Beeindruckend, wie vorbildlich du deine Arbeit ausführst. Hältst dich wohl immer noch für etwas Besseres«, zische ich ihr wütend zu.

Sie schaut mich so erschrocken an, als hätte ich ihr eine Ohrfeige verpasst. Fast tut mir meine Wortwahl leid, als ich ihren reumütigen Blick bemerke.

»Es war dumm von mir, das Ergebnis anzuzweifeln«, gibt sie schuldbewusst zu. »Das System macht keine Fehler, also gehören wir wohl beide gleichermaßen hierher.«

Nein! Sie war doch bereits auf dem richtigen Weg. Warum macht sie jetzt einen Rückzieher? Aus Angst? Irgendjemand muss ihr und den anderen die Augen öffnen.

»Du warst aber in mindestens zwei Prüfungen besser als ich«, erinnere ich sie. »Sollte das nicht belohnt werden?«

Ich verunsichere sie – spreche das aus, was man ihr verboten hat, zu denken. Wenn die Bewohner der Sicherheitszone sich gegen die Legionsführer auflehnen und die Rebellen gleichzeitig von außen angreifen würden, hätten wir vielleicht eine Chance, sie zu besiegen. Sie könnten nicht an zwei Fronten gleichzeitig kämpfen. Es ist nur ein Gedanke, dessen Ausführung wahrscheinlich unmöglich ist, aber er lässt mich dennoch nicht mehr los.

»Die Zuordnung besteht aber aus mehr als zwei Tests. Vielleicht warst du in der Fragerunde besser als ich«, wehrt sie meinen Einwand ab. Es ist ein Versuch, sich selbst zu überzeugen.

Meine Wut auf sie verraucht und wird stattdessen zu Mitleid. Nicht sie hat auf mich geschossen, sondern die Legion. Es war ihre Angst, die sie hat schießen lassen. Sie wollte es nicht, aber sie hat geglaubt, es tun zu müssen, wenn sie ihr Leben nicht damit verbringen möchte, jeden Tag nur auf einen Knopf zu drücken. Für diese Arbeit bräuchte man keine Menschen, Roboter würden hierfür genügen.

»Bezweifle ich«, entgegne ich ihr.

»Woher willst du das wissen?«

»Hast du alle Testfragen beantwortet?«

Meine Alarmglocken schrillen und warnen mich, die Klappe zu halten, aber es ist bereits zu spät. Die Zweifel stehen ihr ins Gesicht geschrieben. Sie waren schon immer da, aber meine Worte bringen sie zum Aufblühen.

»Ich nicht. Nicht eine«, setze ich hinterher.

Entsetzt starrt sie mich an. Sie versteht nicht, warum ich so etwas tun sollte. Wie gern würde ich es ihr erklären. Wie gern würde ich ihr von der Welt dort draußen erzählen. Wie gern würde ich sie wissen lassen, dass das Leben mehr für sie bereithält. So viel mehr.

 


  1. 9-C515

»Vor genau 81 Jahren brach an dem heutigen Tag der Dritte Weltkrieg aus und stürzte die Erde in ihren Untergang. Anlässlich dieses Ereignisses wird in der Arena eine Dokumentation gezeigt. Bitte unterbrechen Sie Ihre Arbeit und finden Sie sich umgehend dort ein.«

Es ist mein erster offizieller Einsatz. Ich stehe als einer von vielen Wachen vor den großen Flügeltüren zur Arena und achte als Kämpfer der Legion darauf, dass es beim Einlass nicht zu Unruhen kommt. Es passiert nur selten, denn die Bewohner der Sicherheitszone sind friedlich, aber dennoch ist es nicht vollkommen ausgeschlossen. In einer Welt, in der es keine körperlichen Erkrankungen mehr gibt, wird der Geist umso stärker beansprucht. Manche Menschen ertragen den Druck nicht, der auf unseren Schultern lastet: Wir sind die letzten Überlebenden der Menschheit.

Mein blauer Anzug fühlt sich immer noch fremd an, obwohl er wie eine zweite Haut an meinem Körper liegt.

Seit der Klassifizierung wurde mein Trainingsprogramm erhöht. Ich habe die letzten Tage ausschließlich damit verbracht, auf einem Laufband einen Kilometer nach dem anderen zu rennen, bis zur völligen Erschöpfung. Wer keine Ausdauer hat, kann auch nicht kämpfen, das ist einer der Leitsätze unserer Ausbilder.

Ich frage mich immer wieder, wogegen wir ankämpfen sollen. Etwa gegen aufsässige Bewohner? Dafür würde eine kleine Spezialeinheit völlig ausreichen. Aber sie bilden uns alle aus.

Reine Vorsichtsmaßnahme? Niemand traut sich, zu fragen, dabei machen sich die anderen neuen Kämpfer die gleichen Gedanken wie ich. Ich kann es ihnen ansehen, auch wenn keiner von ihnen meinen Blick erwidert.

In solchen Momenten denke ich an E518. Sie hätte den Mut gehabt, unsere Fragen laut auszusprechen. Aber genau dieser Mut hat sie zu D518 gemacht.

Fragen sind in der Legion nicht willkommen, dabei würden Antworten den Menschen helfen, zu verstehen, wofür wir dies alles tun. Gewissheit würde uns einen Sinn im Leben geben. Die Legion behauptet, dass jede Aufgabe gleich wichtig sei. Trotzdem sind wir alle ersetzbar. Es ist ein trauriger und deprimierender Gedanke, dass niemand sich an einen erinnern würde, wenn man plötzlich nicht mehr da wäre. Für niemanden außer einem selbst spielt die eigene Existenz eine Rolle.

Die Legionsführer treffen als Erste in der Arena ein – es sind sieben Personen, unter ihnen ist auch ihr neustes Mitglied: A566. Er stolziert mit hocherhobenem Kopf an mir vorbei und würdigt mich keines Blickes. Wenn alle Aufgaben in der Legion gleich wichtig sind, warum hält er sich dann für etwas Besseres?

Nach den Führern treffen auch die anderen Bewohner der verschiedenen Klassifizierungen sowie die Heranwachsenden und selbst die Kleinkinder mit ihren Erziehern ein. Grüne, gelbe, rote und braune Anzüge vermischen sich. Es ist ein buntes Farbenmeer, das nun durch die geöffneten Türen strömt. Dabei laufen sie im Gleichschritt, gesittet und ohne ein Wort zu sprechen oder auch nur ihren Nebenmann zu betrachten. Sie wirken identisch: alle Generationen gleich groß, die gleiche Figur, selbst die Gesichter ähneln sich so stark, dass ich sie nicht auseinanderhalten kann.

Plötzlich spüre ich ein Kribbeln auf meiner Haut. Instinktiv suche ich die Menschenmasse ab und erstarre, als mich zwei lichtblaue Augen direkt anblicken. Ein Irrtum ist ausgeschlossen. Sie sieht mich. Ich trage einen blauen Anzug und trotzdem erkennt sie mich. So wie sie mich immer erkannt hat.

So wie ich sie immer erkannt habe. Auch ihr brauner Anzug kann mich nicht täuschen. Das ist D518. Niemand sonst blickt einen so intensiv an wie sie.

Ein schwaches Lächeln zeigt sich auf ihren Lippen, als sie an mir vorbeigeht. Es tut gut, für wenigstens einen Menschen auf der Welt ein Jemand zu sein.

Ich nicke ihr zu, um ihr zu signalisieren, dass auch ich sie erkannt habe.

Sie geht weiter, doch das Mädchen neben ihr, ebenfalls in einem braunen Anzug, dreht sich neugierig zu mir herum. Ich weiß nicht, wer sie ist, was mich wundert, da sie ebenfalls der fünften Generation angehören muss. Es erstaunt mich, da ich mir einbilde, dass sie mir hätte auffallen müssen, denn es gibt kaum Menschen, die sich für einen anderen interessieren oder ihn auch nur wahrnehmen. Außerdem hat sie unter ihrem linken Auge einen kleinen Pigmentfleck, der sie zu einem Unikat macht.

Sie stupst D518 an und flüstert ihr etwas ins Ohr, woraufhin diese sie verständnislos anstarrt. Ihr Verhalten ist außergewöhnlich. Niemand spricht miteinander, aber diese beide tuscheln, als wären sie die beiden einzigen Lebewesen zwischen einem Haufen Roboter.

Auch als sie aus meiner Sicht verschwunden sind, kann ich die Gedanken nicht von ihnen lösen. Worüber mögen sie wohl gesprochen haben? Es ist offiziell nicht verboten, miteinander zu reden, trotzdem tut es niemand. Was sollten wir einander auch erzählen?

Nachdem alle Bewohner sich in der Arena eingefunden haben, treten auch wir, die Kämpfer, ein und schließen hinter uns die großen Türen. In der Mitte sind an den Rändern Projektoren aufgebaut worden, die das Bild dreidimensional in das Innere übertragen. Wir haben schon öfter Vorführungen dieser Art gesehen. Es ist jedes Mal so, als wäre man tatsächlich selbst dabei.

Die Lichter erlöschen und die kurze Tonfolge der Legion ertönt. Der Titel der Dokumentation wird eingeblendet: Menschliche Abgründe.

Vor unseren Augen setzen sich die ersten Bilder zusammen. Die Baumkronen eines Waldes sind zu sehen. Für gewöhnlich ist eine Vorführung eine willkommene Abwechslung vom Alltag, aber mich interessiert etwas anderes gerade viel mehr.

Unauffällig lasse ich den Blick über die vielen Menschen gleiten – jeder Platz ist besetzt. Die Legionsführer sitzen alle auf der Tribüne. In den Reihen davor und daneben haben sich die Grünen eingefunden. Die Heranwachsenden und die Kleinkinder sitzen vorwiegend in den ersten Reihen, doch den meisten Platz beanspruchen die Braunen. Das macht es mir umso schwieriger, diejenigen zu finden, nach denen ich suche.

Ich muss die Augen zusammenkneifen, um die einzelnen Gesichter erkennen zu können. Reihe für Reihe gehe ich sie ab, bis mein Blick endlich verharrt. Dort sitzen sie: D518 und das Mädchen, deren Bezeichnung ich nicht kenne. Genauso wie alle anderen starren sie gebannt auf das Schauspiel der Projektion. Auch ich schaue kurz hin: Eine Frau rennt durch die Straßen einer verwahrlosten Stadt der alten Erde. Im Hintergrund sind die Geräusche von Explosionen, Gewehrschüssen und die Schreie sterbender Menschen zu hören. Immer wieder dreht die Frau sich in Panik um. Sie schreit um Hilfe, doch niemand kommt.

Ich lasse meinen Blick zurück zu den beiden Mädchen gleiten und bemerke, dass auch D518 das Geschehen nicht ganz so aufmerksam beobachtet wie die anderen. Immer wieder wandern ihre Augen zu ihrer Nachbarin. Diese ist bleich und hat sich eine Hand auf ihre Brust gepresst. Auch wenn es aus dieser Entfernung schwer zu sagen ist, glaube ich, dass sie zittert. Ihr Gesicht ist verzerrt, als würde sie die Qualen, die in der Dokumentation gezeigt werden, am eigenen Körper miterleben.

Die Frau in der Projektion stolpert durch ein Loch im Asphalt und schlägt der Länge nach zu Boden. Sie rappelt sich sofort wieder auf, aber da ist es bereits zu spät. Ein Mann in der Uniform des Feindes steht vor ihr. Er presst der Frau eine Waffe an den Schädel und zwingt sie, ihre Kleider abzustreifen. Als sie nackt und weinend vor ihm steht, fleht sie um ihr Leben. Doch der Mann knöpft sich seine grüne Militärhose auf und drückt die Frau brutal gegen die Wand.

Die Schultern des Mädchens neben D518 beben, als würde sie weinen. Der Anblick fasziniert und berührt mich zugleich. In der Legion weint niemand außer den Kleinkindern und selbst diesen wird beigebracht, dass Tränen ein Zeichen von Schwäche sind.

Nichts an diesem Mädchen wirkt schwach – ganz im Gegenteil: Sie strahlt eine unglaubliche Stärke aus, wie sie dort mit erhobenem Kopf sitzt und nicht die Augen vor dem Leid unserer Vorfahren verschließt. Sie hat eine unglaubliche Gabe, die ich zuvor bei niemandem bemerkt habe: Sie kann sich in den Schmerz anderer hineinversetzen und spürt ihn so stark, als wäre es ihr eigener.

Etwas in mir zieht sich zusammen. D518 war mit ihrem starrenden Blick schon etwas Besonderes, aber dieses Mädchen mit dem Pigmentfleck ist derart einzigartig, dass es nicht aus der Legion stammen kann. Es ist ein verrückter, geradezu wahnsinniger Gedanke, denn woher sollte sie sonst kommen?

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»Dieses Experiment war von Anfang an zum Scheitern verurteilt«, schimpft A489 aufgebracht. »Wir hätten uns niemals darauf einlassen sollen. Dadurch haben wir den Verstoßenen einen Weg in die Legion geebnet.«

»Die Entführung verschiedener Bewohner steht in keinem Zusammenhang mit der Probandin oder dem Experiment«, beteuert A350 überzeugt. »E523 hat damit nichts zu tun! Sie wurde von uns überwacht und hatte nicht die Möglichkeit, irgendetwas zu planen.«

»Es kann kein Zufall sein, dass Bewohner genau dann verschwinden, wenn sie sich frei innerhalb der Sicherheitszone bewegen kann. Sie muss etwas damit zu tun haben!«

»Und warum ist sie dann nicht mit ihnen verschwunden?«, blafft A350 ihren Kontrahenten wütend an.

A489 zuckt mit den Schultern. Das Warum interessiert ihn gar nicht. Für ihn steht die Schuldige bereits fest. Nicht die Probandin, sondern A350, die für das ganze Projekt die Verantwortung trägt. »Vielleicht ist etwas schiefgelaufen. Das Objekt muss Komplizen gehabt haben und diese müssen wir ausfindig machen.«

»Wir können den Verlauf des Morgens nicht verfolgen, da genau in diesem Zeitraum die Kameras gewartet wurden«, entgegnet A233. »Derjenige, der für die Entführung verantwortlich ist, muss davon gewusst haben.«

»Das bedeutet, wir suchen den Verräter in der C-Klassifizierung«, schlussfolgert A489 zähneknirschend, da außer den Legionsführern nur die Kämpfer darüber informiert waren.

»Oder zwischen uns«, widerspricht A350 herausfordernd, wofür sie entsetzte Blicke erntet. Niemand glaubt, dass einer von ihnen gemeinsame Sache mit den Verstoßenen machen würde. A350 glaubt das selbst auch nicht. Sie ist nur wütend, weil man ihr Experiment für gescheitert erklärt hat, obwohl die Entführung ihrer Ansicht nach in keinem Zusammenhang damit steht.

»Wir sollten die Probandin wieder in die Sicherheitszone lassen und beobachten, ob sie mit jemandem Kontakt aufnimmt«, schlägt sie versöhnlich vor. »Auf diese Weise finden wir einen möglichen Verräter am ehesten.«

»Auf keinen Fall«, entgegnet A489 energisch. »Das Objekt hat sich als eine Gefahr für die Bewohner herausgestellt. Es hat den Leiter angegriffen!«

»Ein paar Tage auf der Krankenstation werden sie zur Besinnung bringen«, beteuert A350. »Wir könnten ihr zusätzlich Tabletten zur Beruhigung verabreichen.«

»Nein.« A489 ist unnachgiebig, aber er ist nicht derjenige, der das zu entscheiden hat. Hilfe suchend blickt A350 zu den anderen Legionsführern, deren Mienen jedoch wie versteinert sind.

A233, eine der ältesten Legionsführerinnen, erhebt die Stimme: »A350, es tut mir leid um die Arbeit, die du in dein Projekt investiert hast, aber das Experiment ist gescheitert. Wir haben es versucht und mussten feststellen, dass eine Wiedereingliederung von Verstoßenen nicht möglich ist. Die Aggressivität ist tief in ihren Genen verwurzelt, vielleicht durch die Radioaktivität hervorgerufen. Die Probandin wird auf der Krankenstation bleiben.«

A350 will nicht einsehen, dass es das nun gewesen sein soll. »Für wie lange?«

»In jedem Fall bis die Verantwortlichen für die Entführung überführt wurden und wir ausschließen können, dass die Probandin in irgendeinem Zusammenhang damit steht.«

Es ist so gut wie unmöglich, ohne Kameraaufzeichnungen herauszufinden, was genau passiert ist. A350 weiß das und lässt bedrückt die Schultern hängen. Seit Jahren hat sie ihre ganze Energie in dieses Projekt investiert, geforscht und geplant. Sie wollte allen etwas beweisen und die Legion verändern. Doch sie ist gescheitert.


  1. 11-C515

D518 ist verschwunden.

  1. Niemand hat es bemerkt. Niemand vermisst sie. Niemand macht sich Gedanken, was mit ihr geschehen ist. Sie ist ein Niemand wie ich. Wie jeder in der Legion.
  2. Sie verschwand in derselben Nacht, in der D523 durchgedreht ist und ich auf sie schießen musste. Zwar war es nur ein Betäubungsschuss, aber dennoch fühle ich mich seitdem schrecklich. Ich bekomme die Verzweiflung in ihrem Blick nicht aus dem Kopf. Natürlich hatte ich keine andere Wahl. Ich musste schießen – zu ihrem eigenen Wohl und für den Schutz der Gemeinschaft.
  3. Sie war außer Kontrolle.
  4. Trotzdem erscheint mir die Lösung falsch – zu einfach. Ein Mensch, der so voller Panik ist, sollte nicht angeschossen, sondern beruhigt werden. Vielleicht hätte ich mit ihr reden können, um ihr die Angst zu nehmen. In der Sicherheitszone gibt es nichts, wovor man sich fürchten müsste.
  5. Mit ihr zu reden, wäre jedoch gegen jede Vorschrift gewesen. In einem Fall wie ihrem gibt es strikte Anweisungen, die ohne Kompromisse zu befolgen sind: Den Störenfried eliminieren. Genau das habe ich getan und sie danach in der Krankenstation abgeliefert, wo nun Ärzte sich um ihren Geisteszustand kümmern und ihr helfen werden.
  6. Einerseits hoffe ich inständig, dass es ihr nach der Behandlung besser gehen wird, aber auf der anderen Seite fürchte ich, dass sie dann nicht mehr dieselbe sein wird. Ich mochte das Feuer, das in ihren Augen gebrannt hat, so kurz ich sie auch nur kannte. Sie ist jemand, den man nicht vergisst.
  7. Ich bin sicher, dass dieses Feuer endgültig erloschen sein wird, wenn die Legionsführer sie je zurück in die Sicherheitszone lassen.
  8. Es fällt mir schwer, mich weiter auf meine Ausbildung zu konzentrieren, wenn meine Gedanken doch nur um das Schicksal dieser beiden Mädchen kreisen. Für die eine kann ich nichts mehr tun, denn sie ist wie vom Erdboden verschluckt. Aber die andere ist noch hier. So nah, dass es mich nur ein paar Schritte kosten würde, um zu sehen, wie es ihr geht.
  9. Während ich Dienst im Atrium habe, gleitet mein Blick immer wieder zu der geschlossenen Tür der Krankenstation. So geht es jeden Tag.
  10. Die meisten denken wahrscheinlich schon gar nicht mehr an den Vorfall, sofern sie überhaupt etwas davon mitbekommen haben. Aber ich habe ihn nicht vergessen.
  11. Ich habe sie nicht vergessen.
  12. Und ich habe auch nicht vergessen, was sie zuletzt gesagt hat: Ich bin Zoe. Sie hat sich selbst einen Namen gegeben.
  13. Ihr Feuer hat mich in Brand gesetzt. Ein Brand, der sich nicht so leicht wieder löschen lässt.
  14. Es wird nicht besser, je mehr Zeit vergeht, sondern nur schlimmer. Die Ungewissheit raubt mir noch den letzten Nerv. Ich empfinde keinen Stolz, weil ich es schaffe, meinem inneren Drang zu widerstehen, sondern Scham. Es fühlt sich falsch an.
  15. Die Legion behauptet immer, dass das Überleben der Menschheit oberste Priorität hätte, aber wie kann es dann sein, dass das Leben des Einzelnen so wenig bedeutet? Ein Mensch ist anders und deshalb wird seine Existenz ohne Zögern ausradiert, wie ein Schreibfehler in einem Dokument. Nur ein paar Klicks genügen und es ist, als hätte es ihn nie gegeben. Ist Andersartigkeit wirklich so falsch?
  16. Manchmal möchte ich meinen Kopf gegen die Wand schlagen, denn all das dürfte ich nicht denken.
  17.  

Entweder meint es das Schicksal gut mit mir oder es will mir eine Falle stellen, denn ein paar Wochen später wird mein Einsatz von dem Atrium auf die Krankenstation verlegt. Ich patrouilliere die Gänge, stehe den Ärzten zur Verfügung, wenn sie Hilfe bei schwierigen Patienten benötigen, und halte meine Augen nach allem offen, was mir in irgendeiner Weise außerhalb der Norm erscheint. Mir kommt es jedoch eher so vor, als würde man von mir erwarten, dass ich meine Augen fest zusammenkneife, um nicht zu sehen, was hinter den geschlossenen Türen vor sich geht.

  1. D523 ist kein Einzelfall. Immer wieder werden Bewohner in die Krankenstation gebracht, die sich gegen die Gesetze der Legion auflehnen. Manche flehen danach um Verzeihung und geloben Besserung, andere spucken den Ärzten sogar ins Gesicht und behaupten, sie wären lieber tot, als noch einen Tag länger in diesem Gefängnis, das sich Erde nennt, verbringen zu müssen. Sie behandeln alle gleich, indem sie alle ausnahmslos mit Medikamenten ruhigstellen.
  2. Wenn ich an den geschlossenen Zellen vorbeigehe und durch den Spion in der Tür einen Blick ins Innere werfe, bietet sich mir überall das gleiche Bild: Menschen, die apathisch auf dem Bett liegen oder in einer Ecke kauern – ihres Lebenswillens beraubt. Es gibt so viele von ihnen – so viel mehr, als ich mir jemals hätte vorstellen können. Aus jeder Generation mindestens ein Dutzend.
  3. Tage vergehen, bis ich SIE finde. Ihre Zelle befindet sich ganz am Ende eines Gangs. Abgelegen von den anderen Gefangen, so als hätte auch die Legion erkannt, dass sie etwas Besonderes ist. Keine der Türen gibt Auskunft über die Person, die dahinter lebt. Es ist, als hätten die Patienten bei ihrer Einweisung selbst ihre Bezeichnungen verloren. Trotzdem bin ich mir sicher, dass sie es ist, als ich das erste Mal einen Blick in die Zelle werfe.
  4. D523, ohne jeden Zweifel. Zoe.
  5. Sie unterscheidet sich in ihrem Verhalten nicht von anderen. Sie sitzt genauso still auf dem Boden und starrt ins Leere. Aber niemand außer ihr hat einen Pigmentfleck unter dem linken Auge.
  6. Als ich sie das erste Mal wiedersehe, ertrage ich es nicht länger als ein paar Sekunden, sie zu betrachten. Ich fühle mich schuldig daran, dass sie nun hier ist. Hätte ich irgendetwas tun können, um ihr dieses Schicksal zu ersparen?
  7. Nein.
  8. Dennoch.
  9. Beim nächsten Mal bleibe ich länger und hoffe auf die kleinste Regung von ihr. Jeden Tag zieht es mich aufs Neue zu ihrer Zelle. Ich wage es nicht, mich bemerkbar zu machen. Manchmal hebt sie jedoch den Kopf und blickt geradewegs auf die Tür, so als könnte sie mich sehen, was unmöglich ist. Sie wirkt so schrecklich einsam und verloren, wie sie dort allein auf dem Boden kauert – von aller Welt verlassen und vergessen.
  10.  

Ich stehe wieder vor ihrer Zelle und spähe durch den Spion, als sich plötzlich jemand neben mir durch ein Räuspern bemerkbar macht. Erschrocken zucke ich zurück und blicke in die kalten lichtblauen Augen einer Kämpferin der vierten Generation.

  1. 13-C515

Nachdem C403 mich vor der Tür von D523 erwischt hat, traue ich mich in den nächsten Tagen nicht einmal mehr in die Nähe der Zelle. Ich meide diesen Bereich der Krankenstation sogar komplett. Dabei hat C403 es mir nicht einmal verboten, sondern mich sogar für meine große Vorsicht gelobt. Es ist mein eigenes schlechtes Gewissen, das es mir verbietet, das Mädchen weiter zu beobachten. Obwohl sie nichts tut, ist ihre bloße Existenz wie Gift für meine Gedanken. In ihrer Nähe werden die Stimmen in meinem Kopf immer lauter – die bösen Stimmen, die ich mit allen Mitteln unterdrücken muss. Sie bringen mich auf Ideen und Spekulationen, die ich nicht einmal in der Lage sein sollte, zu denken.

Doch je mehr ich mich dagegen sträube, umso hartnäckiger und eindeutiger sind sie. Ich komme mir vor wie ein Magnet, der sich nicht gegen die Anziehungskraft seines Gegenstücks wehren kann. Und so zieht es mich etwa eine Woche später wieder vor ihre Tür. Ich sage mir: Nur ein Blick, nicht mehr. Sieh nach, ob alles in Ordnung ist, und dann geh wieder.

Es kostet mich Überwindung, von ihr fernzubleiben, gleichzeitig kostet es mich aber mindestens genauso viel Überwindung, durch den Spion zu blicken. Ich atme tief durch und bin mir bewusst darüber, dass mein Verhalten auf den Kameraaufnahmen, sollte sie jemand überprüfen, verdächtig wirken könnte.

Vorsichtig schaue ich in die Zelle. Als ich jedoch feststelle, dass D523 nicht auf ihrem üblichen Platz am Boden hockt, beschleunigt sich automatisch mein Herzschlag und ich sehe genauer hin. Jeden Zentimeter ihres Zimmers suche ich mit den Augen nach ihr ab. Sie ist weder am Boden noch auf ihrem Bett zu finden. Die Zelle ist nicht groß, trotzdem kann ich sie nirgends entdecken. Augenblicklich gerate ich in Panik und will bereits mit zittrigen Fingern den Code in das Tastenfeld eingeben, als ich plötzlich ein Geräusch wahrnehme. Es kommt von der anderen Seite der Tür. Ich halte den Atem an und lausche aufmerksam.

»Ich sehe dich«, flüstert eine Stimme. Ihre Stimme.

Erschrocken weiche ich zurück und starre auf den Spion in der Stahltür. Es ist unmöglich, dass sie mich dadurch sehen kann. Er funktioniert nur in eine Richtung.

»Ich sehe deinen Schatten am Boden«, erklärt sie mir dann leise. Ihre Stimme ist nicht mehr als ein Wispern.

Erleichtert atme ich aus. Meine Stirn ist von kaltem Schweiß bedeckt. Sie weiß nicht, wer ich bin, nur dass jemand vor ihrer Tür steht. Aber wenn sie mich jetzt bemerkt hat, muss sie mich auch die anderen Male gesehen haben.

Langsam gehe ich wieder auf die Zelle zu und riskiere erneut einen Blick. Das Zimmer wirkt genauso leer wie zuvor. Da ich nun jedoch weiß, dass sie neben der Tür stehen muss, erkenne ich die Umrisse ihres braunen Nachthemds ganz am Rand meines Sichtfeldes. Plötzlich wird mir die Sicht versperrt. Sie muss ihre Hand auf den Spion gelegt haben.

»Wer bist du?«, will sie wissen. »Warum beobachtest du mich?«

Die Frage kann ich ihr nicht beantworten – ich kann sie ja nicht einmal mir selbst beantworten. Alles, was ich C403 gesagt habe, war gelogen. Die Worte kamen aus reinem Selbstschutz aus meinem Mund.

»C515«, antworte ich leise. »Ich wache über dich.«

Sie nimmt ihre Hand wieder weg und stellt sich nun direkt vor den Spion, sodass ich ihr Gesicht sehen kann. Wenn die Tür nicht zwischen uns wäre, würde ich erschrocken vor ihr zurückweichen. Eine derart zwischenmenschliche Nähe ist nicht angebracht. Doch so wage ich, neugierig jeden Winkel ihres Gesichts zu studieren, das dem der anderen Mädchen in der Legion gleicht, aber mir dennoch auf eine besondere Art fremd erscheint. Es ist nicht nur der Pigmentfleck, sondern auch die Art, wie sie den Kopf leicht schief legt, wenn sie nachdenkt oder ungeduldig wird. Dazu ihre Augen, die so viel Gefühl, vor allem Wut, in sich tragen.

»Ich weiß, wer du bist«, sagt sie und starrt in den Spion.

Dieser eine Satz bedeutet mir so viel mehr, als er sollte. Es ist ein verbotener Satz, weil wir alle gleich sein sollten. Nicht nur ich erinnere mich an sie, sondern sie sich auch an mich. Mir wird bewusst, dass ich nur dafür, dass ich mit ihr spreche, verwarnt, wenn nicht gar degradiert werden könnte. Es macht mir Angst, wozu dieses Mädchen mich treibt. In ihrer Gegenwart benehme ich mich nicht wie ich selbst. Doch als ich der Tür den Rücken zuwende und meinen Kontrollgang fortsetze, kommt mir ein gegensätzlicher Gedanke: Vielleicht ist sie nicht die Ursache, sondern nur der Auslöser. Du bist, was du bist, und kannst es nicht für immer verbergen. Irgendwann drängt sich jede Wahrheit an die Oberfläche.

  1. 14-Zoe

Mein Leben hat plötzlich wieder einen Sinn.

Jeden Tag warte ich auf die Schritte, die nicht an meiner Tür vorbeigehen, sondern davor stehen bleiben. Ich warte auf den einen Menschen, für den ich nicht nur eine Nummer, sondern eine Person bin.

Er hat keinen Namen, nicht einmal eine Vergangenheit. Deshalb denke ich mir in der Zeit, in der er nicht über mich wacht, Geschichten über ihn aus. Ich stelle mir vor, wie sein Leben verlaufen wäre, wenn er nicht in der Legion geboren worden wäre, sondern bei den Rebellen. Was für eine Art Mensch wäre er? Wie würde er aussehen? Wären wir Freunde geworden?

In diesen Geschichten nenne ich ihn Clyde, weil ihn das realer macht. Wieso Clyde? Den Namen habe ich wiederum aus einer anderen Geschichte, die mir Marie oft erzählt hat. Marie ist die gute Seele der Rebellen. Sie ist schon fast achtzig Jahre alt und somit neben ihrem Mann Gustav einer der beiden ältesten Menschen, die ich kenne. Mittlerweile ist sie fast blind und trotzdem sieht sie mehr als alle anderen. Sie blickt in das Herz der Menschen und betrachtet nicht nur ihre Hülle.

Wie die meisten der Rebellen wuchs sie in der Legion auf, bis sie sich vor etwa zwanzig Jahren für ein Leben in Freiheit entschied und freiwillig die Sicherheitszone verließ. Es war ein Experiment, das von der Legion unterstützt wurde. Die Auswanderer nahmen alles mit, wofür die Legion keine Verwendung hatte: Zeug der alten Erde. Plunder. Schrott.

Darunter waren auch viele Bücher mit Seiten, die zerknittert und verblichen waren. Manchmal fehlten sogar einige. Marie las den Kindern alle Bücher vor. Am liebsten mochte ich die Erzählung von Clyde Barrow und Bonnie Parker. Ein Mann und eine Frau, die auf der alten Erde den Gesetzen getrotzt haben und von der Polizei gejagt wurden. Sie waren die Rebellen ihrer Zeit. Ich habe mir Clyde immer als mutigen Mann vorgestellt, der bis zum Schluss dafür gekämpft hat, Bonnie zu beschützen. So einen Mann könnte ich jetzt auch gebrauchen.

Marie schwört, es sei eine wahre Geschichte, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich ihr das glauben soll. In unserer Welt gibt es nur wenige Helden. Vielleicht war Clyde Barrow nicht einmal ein Held, sondern genau das Gegenteil – der negative Einfluss, der Bonnie dazu verleitet hat, gegen das Gesetz zu verstoßen.

Bin ich in dieser Geschichte vielleicht der schlechte Einfluss und treibe C515 wissentlich dazu, sich in Gefahr zu bringen? Er dürfte nicht mit mir reden. Das weiß ich und er weiß es auch, dennoch tut er es immer wieder aufs Neue.

Meistens schaut er mehrmals am Tag vorbei. Das erste Mal zu Beginn seiner Schicht, kurz nachdem es die erste Tablettenration gab. Es kommt mir fast vor, als müsse er überprüfen, wie es mir geht, bevor er seinen Dienst antreten kann. Er bleibt nie lange. Immer wenn er vor der Tür steht, muss ich daran denken, was er gesagt hat: Ich wache über dich.

Es hört sich liebevoll und fürsorglich an, so als würde ihm tatsächlich etwas an mir liegen und als wolle er nicht, dass mir etwas passiert. Natürlich ist das Quatsch, denn ich bin für ihn nur eine weitere Verrückte. Er hätte auch sagen können: Ich bewache dich, weil ich dir nicht traue. Dann würde er genauso vor meiner Tür stehen, aber die Bedeutung wäre eine ganz andere.

Meine Eltern haben mir als Kind oft erzählt, dass die Sterne über uns wachen, weil sie unsere Vorfahren seien, die uns nach ihrem Tod vom Himmel aus beschützen. Es ist ein Unterschied, über jemanden zu wachen oder jemand zu bewachen, auch wenn es sich fast gleich anhört. Ich vermisse den Sternenhimmel, gerade weil ich noch genau weiß, wie er aussieht. Aber ich habe Angst, dass sich meine Vorstellung immer mehr von der Realität entfernt, ohne dass ich es merke. Irgendwann lebe ich vielleicht nur noch in meinen eigenen Geschichten von Clyde, den es nie gegeben hat.

Der echte Clyde spricht nicht viel. Das, was er nicht sagt, denke ich mir in meiner Fantasie dazu.

Es muss Mittag sein, als seine Schritte wieder vor meiner Tür verharren. Sofort stehe ich von meinem Bett auf und stelle mich vor sie. Ich hebe meine rechte Hand und zeige ihm alle fünf Finger. Dann schließe ich sie und strecke nur noch den Daumen nach oben. Danach wieder die ganze Hand.

5.1.5.

C515.

In meiner Einbildung lächelt er darüber hinter der Tür. Natürlich weiß ich nicht, ob er das wirklich tut. Ich kann mich ja nicht einmal mehr richtig an sein Gesicht erinnern – nur an die Maske der Legion. Aber mir gefällt die Vorstellung, dass ihm meine Begrüßung etwas bedeutet. Dass ich ihm etwas bedeute. Warum kommt er sonst immer wieder?

»Hallo«, erwidert er durch die Tür. Niemand sonst sagt das in der Legion. Die Bewohner kennen zwar die Bedeutung des Wortes, aber sie grüßen einander nicht.

Ich lächle ihm durch die geschlossene Tür zu, denn er kann mich durch den Spion sehen.

»Warum machst du das?«, fragt er leise. Ich muss meinen Kopf gegen den kalten Stahl lehnen, um ihn verstehen zu können.

»Was meinst du?«, hake ich verständnislos nach.

»Das, was du gerade mit deinem Mund gemacht hast«, antwortet er mir.

»Lächeln?«, entfährt es mir fassungslos. Hat er nie zuvor jemanden lächeln gesehen?

»Ja, so nannten es die Bewohner der alten Erde. Wer hat es dir beigebracht?«

Es macht mich traurig, dass es Menschen gibt, die nicht einmal wissen, was ein Lächeln ist. »Es musste mich niemand lehren. Mein Körper macht das von ganz allein, wenn ich jemanden mag«, antworte ich ihm.

Er ist still, aber ich bilde mir ein, ihn atmen zu hören.

»Ich musste es erst von dir lernen«, flüstert er, bevor er geht, und ich bin mir nicht sicher, ob C515 zu mir gesprochen hat oder nur der Clyde in meinem Kopf.

Nichts von dem, was ich tue, ist geplant. Wahrscheinlich wird es mich nie aus dieser Zelle bringen, aber es hilft mir, zu überleben. Ruby würde geschickter vorgehen. Sie würde sich alles, was sie zu ihm sagt, vorher gut überlegen und jedes Wort wie einen Zug bei einem Schachspiel wählen. Alles würde auf ein Ziel hinauslaufen, das sie niemals aus den Augen verlieren würde, egal wie lange es auch dauert. Sie ist ein Kopfmensch. Wie Finn.

Das war ich noch nie.

  1. 15-C515

Ich habe mich daran gewöhnt, meinen Tag mit einem Blick auf D523 zu beginnen. Es ist zu einer Routine geworden, wie morgens meine Tabletten zu schlucken. Natürlich war mir klar, dass es nicht ewig so weitergehen würde. Die Einsatzorte der Kämpfer werden immer wieder getauscht. Dennoch erfüllt es mich mit Unwille und Enttäuschung, als man mich außerplanmäßig in den Trainingsraum bestellt.

Für einen kurzen Moment befürchte ich sogar, dass jemandem meine Gespräche mit der Patientin aufgefallen sind und man mich deshalb gemeldet hat. Aber die Angst verfliegt, sobald ich den Raum betrete und sehe, dass neben mir auch andere Neue einberufen wurden.

An den Wänden befinden sich verschiedene Geräte mit unterschiedlich schweren Gewichten. Sie dienen dazu, sämtliche Muskeln des Körpers zu beanspruchen. Außerdem gibt es etwa fünfzig Laufbänder, die für das Ausdauertraining unerlässlich sind. Es schließt sich eine Art gewaltiger Glaskasten an den Trainingsraum an. Darin sind mehrere Kabinen, in denen der Laserkampf mit einem Computer simuliert wird.

Normalerweise ist es beim Training immer laut aufgrund der vielen Geräten und Maschinen oder dem erschöpften Schnaufen der Kämpfer, doch nun herrscht eine angespannte Stille. Beunruhigt darüber, was geschehen wird, stehen wir alle in einer Reihe und warten auf jemanden, der uns darüber aufklärt, warum wir hier sind.

Wenige Minuten später treffen ein Ausbilder und ein Legionsführer ein. Das Auftauchen eines Führers macht uns deutlich, dass es sich um eine ernste Angelegenheit handeln muss. Augenblicklich nimmt unser Unbehagen noch weiter zu. Er geht an jedem Einzelnen vorbei und mustert uns, als würde er nach dem kleinsten Anzeichen von Ungehorsam Ausschau halten. Als er uns alle in Augenschein genommen hat, baut er sich mit vor der Brust verschränkten Armen vor uns. Der Ausbilder steht direkt hinter ihm.

»A489 grüßt die Kämpfer der Legion«, sagt er mit geschwellter Brust, geradem Rücken und gerecktem Kinn.

»Die Legion grüßt A489«, rufen wir im Chor, ehe wir demütig den Kopf senken.

»Es sind nun fast drei Monate seit der Klassifizierung vergangen«, fährt er fort. »In dieser Zeit habt ihr eure Ausdauer trainiert, eure Kampftechniken verbessert und im Schutz der Sicherheitszone gehandelt. Ihr wurdet vor Herausforderungen gestellt, mit denen ihr zuvor vielleicht nicht gerechnet hättet, aber die größte von allen steht euch noch bevor.«

Es ist, als würden alle gleichzeitig den Atem anhalten. Niemand hat bisher ein Wort darüber verloren, dennoch wissen wir, was er gleich ansprechen wird: die Außeneinsätze. Sie sind es, wovor sich jeder Kämpfer fürchtet. Nur einen Schritt aus der Sicherheitszone zu setzen, bedeutet Gefahr – Lebensgefahr.

»Ich glaube fest an jeden Einzelnen von euch. Ihr seid bereit, euch zum Schutz der letzten Überlebenden der Außenwelt zu stellen.« A489s Worte sind aufbauend, aber das Lob erreicht seine kalten Augen nicht. Wie oft hat er diese Rede schon gehalten?

Meine Kehle schnürt sich zusammen. Ich habe Angst. Niemand weiß, warum es die Außeneinsätze gibt. Wir sind die letzten Menschen. Was lauert dort draußen, dass wir gezwungen sind, unser sicheres Zuhause zu verlassen, und sei es auch nur für wenige Stunden? Manch einer ist nie zurückgekehrt.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739418919
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Juni)
Schlagworte
Wüste Australien Dystopie Abenteuer Überlebenskampf Weltkrieg Apokalypse Liebe Radioactive Romantasy Romance Fantasy

Autor

  • Maya Shepherd (Autor:in)

Maya Shepherd wurde 1988 in Stuttgart geboren. Zusammen mit Mann, zwei Kindern und Hund lebt sie mittlerweile im Rheinland und träumt von einem eigenen Schreibzimmer mit Wänden voller Bücher. Seit 2014 lebt sie ihren ganz persönlichen Traum und widmet sich hauptberuflich dem Erfinden von fremden Welten und Charakteren.
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Titel: Gläserne Welt