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Das Schweigen der Ziegel

von Tom Crispa (Autor:in)
320 Seiten
Reihe: Pat & Ally, Band 3

Zusammenfassung

Ein defekter Aufzug, ein nagelneuer Streifenwagen, das Klingeln an der falschen Haustüre, eine ordnungsliebende Omi, eine demolierte Parkbank – der Schmetterlingseffekt schickt die Akteure auf eine Achterbahnfahrt mit bisweilen tödlichem Ausgang. Pat und Ally arbeiten eigentlich für die Mordkommission, doch kleine, unbesonnene Momente führen die beiden in einen schmerzhaft heftigen Konflikt. Ungewollt geraten sie in einen ›roten Bezirk‹, mit gänzlich unerwarteten Folgen. Ziegel sind derweil stumme Zeugen der Geheimnisse, die das Haus mit der Nummer 194 birgt. Und bei allem Verständnis – der Speicher ist kein Ablageort für eine Leiche …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1

Es war noch nicht ganz halb zehn. Das frische Bohnerwachs begrüßte sie mit seinem unverwechselbaren Duft gleich nach dem Verlassen der Wohnung wie ein guter Freund aus alten Tagen. Der Weg durch das unverputzte Treppenhaus mit den roten Ziegeln und ausgetretenen verblichenen Holzstufen war ihr bestens vertraut. Sie war ihn so viele Jahrzehnte immer und immer wieder gegangen, besser gesagt gestiegen. In jungen Jahren rasch, meist zwei Stufen auf einmal nehmend, inzwischen jedoch nur noch Stufe um Stufe mit bisweilen der Notwendigkeit einer kleinen Pause auf dem nächsten Treppenabsatz.

Ihr Atem ging schwer, obwohl sie es nicht mehr mit den früheren Gewichten zu tun hatte. Damals, aus der Waschküche im Keller, den schweren Weidenkorb vor sich, mit der mühsam und nur leidlich ausgewrungenen Wäsche, die ihn wahrlich schwer gemacht hatte. Vorbei am ersten, zweiten und dritten Stock bis zum Speicherboden. Heutzutage konnte sie sich wenigstens das Parterre sparen. Die gemeinsame Waschküche aller Mieter im Keller benötigte sie nicht mehr.

Sie dachte dankbar an die neue Waschmaschine, die Micky ihr besorgt und in ihrer Wohnküche im ersten Stock angeschlossen hatte. Die Wäsche war nun nach dem automatischen Schleudern erträglicher zu transportieren und musste nicht mehr von Hand gewrungen oder mit der Kurbelpresse ausgequetscht werden.

Sie schüttelte den Kopf. Nein, wie sich doch die Zeiten geändert hatten! Vieles von der neuen Technik verstand sie nicht. Wenn sie genauer nachdachte, verstand sie diese im Grunde genommen gar nicht. Micky hatte ihr daher aufgeschrieben, wo das Waschpulver hineinkam und welche Tasten sie danach drücken musste. Dann sollte sie nur noch auf das Piepsen der Schlussmelodie warten und die Wäsche entnehmen. Er hatte ›In einem Bächlein helle‹ als Tonfolge programmiert, so hatte er gesagt. Was auch immer dieses ›programmiert zu bedeuten hatte.

Das Ergebnis war aber schön. Die Melodie kannte sie und sie gefiel ihr.

Roseanne Ermintrude Garwood war überwiegend gut aufgelegt und freute sich auch stets an den kleinen Dingen des Lebens. Manchmal setzte sie sich auf einen kleinen Hocker vor das neue Gerät und sah zu, wie die Wäschestücke bunt durcheinandergewirbelt wurden, dann die Trommel eine kleine Pause machte und das Ganze anschließend wieder weiterging. Es hatte direkt etwas Beruhigendes und sie schätzte ohnehin Beschaulichkeit und Strukturen. Aber auch Abwechslung. Abwechslung und Besuche. Besuche waren immer schön.

»Rosie, du dumme Gans! Steh hier nicht rum und halte Maulaffen feil. Mit deinen neunundachtzig Jahren solltest du es doch wohl wissen – wer rastet, der rostet!«, ermahnte sie sich selbst und nahm die letzte Treppe in Angriff.

Sie ärgerte sich, weil sie heute besonders rasch außer Atem kam. Vielleicht hatte sie sich doch eine dieser lästigen Sommergrippen zugezogen? Aber nach Krankheiten oder gar Arztbesuchen stand ihr niemals der Sinn. Reine Zeitverschwendung. »Was von selbst kommt, geht auch wieder von selbst«, hatte schon ihre Mutter gewusst.

Schnaufend setzte sie nach der letzten Etappe den Korb ab, betrachtete kurz die tiefen Rillen, die das Korbgeflecht in die geplagten Hände gezeichnet hatte, und öffnete endlich die quietschende Holztüre, die den Blick auf den alten Dachboden freigab.

Der Wind strich warm durch die nicht mehr lückenlos dichten Schindeln. Die Sonne strahlte durch die ungeputzten Dachlukenfenster und ließ die hochgescheuchten Staubpartikel im sanften Gegenlicht aufgeregt umherwirbeln. Für derlei Bilder hatte sie keine Muße, denn erneut hatte irgendein Idiot eine der Luken offengelassen, so dass die Tauben wieder ausgiebig auf den Holzboden gekackt und Teile ihres Gefieders zurückgelassen hatten.

Manche Mitbewohner lernten es eben nie. Sie zog den metallenen Sperrhaken heran und klemmte das Fenster bis auf einen kleinen Spalt wieder zu.

Danach holte sie mit einem tiefen Seufzer das angefeuchtete Tuch aus der Kittelschürze. Wie immer musste sie sich auf die Zehenspitzen stellen, um die quer verspannten Drahtleinen zu säubern, bevor sie ihre frische Wäsche daran aufhängen würde. Die Stauborgie machte derweil ungerührt ohne Zuschauer weiter und führte ihre Choreographie im Halbschatten fort.

Ein leiser Anflug von Vorfreude stellte sich ein.

Nach dem Aufhängen würde es wie immer drei Mal die Woche pünktlich um 15:00 Uhr die nachmittägliche Tasse Kaffee mit ihren beiden nicht wesentlich minder betagten Nachbarn geben. Aber bis dahin war noch reichlich Zeit.

Sie lächelte, hatte sie doch die Blutlache noch nicht bemerkt, in die sie nun schon mehrfach hineingetreten war.

2

Nur wenige Meilen entfernt schickte sich etwa eine Stunde zuvor Commander Brad Falchuk an, sein Büro im Yard aufzusuchen. Im Gegensatz zu Roseanne Ermintrude Garwood hätte er das bloße Besteigen einer Treppe bereits als Zumutung empfunden, vom Tragen irgendwelcher Behältnisse mal gar nicht erst zu sprechen. Die beiden schweren Pilotenkoffer mit Akten trug an seiner Stelle selbstverständlich sein Fahrer zwischen Büro und Wohnsitz. Immer mit wenigen Schritten Abstand hinter ihm, damit auch jeder sehen konnte, dass er selbst zu Hause noch wichtige Arbeit für den Yard erledigte und sich sichtlich immer im Dienst befand. Dass deren Inhalt dort meistens nicht das Licht einer Schreibtischlampe zu sehen bekam, ging niemanden etwas an. Im Grunde pendelten nicht gerade selten die gleichen Akten mehrfach unausgepackt hin und her, bis er sie letztlich doch in seinem Büro ›bearbeitete‹. Im Klartext bedeutete dies, dass er deren Erledigung irgendwelchen leitenden Mitarbeitern grundsätzlich verspätet aufs Auge drückte und kurz darauf herummäkelte, wie lange sie denn noch dafür brauchen würden.

Als der Commander das Gebäude betrat, wichen derweil nicht nur die Sperrflügel, so schnell die Motoren es erlaubten, zur Seite, sondern auch alle Bediensteten änderten ebenso unauffällig wie zügig ihre Richtung, um jeglichen Augenkontakt zu vermeiden.

Eine direkte Begegnung mit diesem leitenden Beamten befand sich ohnehin nirgendwo auf der Wunschliste eines Officers. Es war schwer auszumachen, ob die Klimaanlage des Hauses oder der Commander die größere Kälte abstrahlte. Bei einer Umfrage hätte Letzterer vermutlich aber mit großem Vorsprung gewonnen.

Falchuk hatte schlechte Laune. Eigentlich immer. Heute schon am frühen Morgen, da der Lift, der die Tiefgarage direkt mit der Chefetage verband, gewartet werden musste. Den Haupteingang von Scotland Yard benutzen zu müssen, war an sich schon Zumutung genug, dann auch noch den Aufzug mit anderen teilen zu müssen, lag außerhalb seiner Toleranzschwelle. Als ein junger Beamter ihn heranrauschen sah, drückte er flugs die ›Tür-öffnen-Taste‹ und hinderte den Lift an der eigentlich gerade bevorstehenden Abfahrt. Die halbgeschlossenen Flügel öffneten sich wieder und die Fahrgäste räumten nach dem somit freigewordenen Blick auf den näher kommenden ranghohen Beamten umgehend das Feld. Der junge Officer hielt die Tür auf, schlüpfte eilends hinaus und Falchuk passierte ihn grußlos und natürlich ohne ein Wort des Dankes. Fast wäre er aus der eigentlich zwölf Personen fassenden Kabine zurückgeprallt, als er die groß gewachsene schlanke Rothaarige in der Ecke erblickte.

Allyssa Colmberg war nicht ausgestiegen.

Er schluckte.

Generell hasste er Überraschungen, und die damit häufig verbundene Notwendigkeit schneller Entscheidungen war zudem nicht sein Ding.

Er kam sich vor wie eine Maus, die unversehens einer Katze vor die Füße gefallen war. Dieser Albtraum in Frauengestalt, diese Heimsuchung – und er konnte nicht schnell genug ausweichen, die Türen schlossen sich bereits. Unwillkürlich ging er einen Schritt rückwärts, um mehr Abstand zu gewinnen und ihr nicht auch noch direkt von unten in die Augen sehen zu müssen.

Der Lift setzte sich leise wimmernd nach oben in Bewegung. Sein Fahrer musste auf den nächsten warten.

»Guten Morgen, Commander«, grüßte sie so unverbindlich sachlich wie eine Nachrichtensprecherin und er rang sich mühsam ein »Mmh, ja« ab, während er rasch das Gesicht abwandte. Die Aussicht auf die nun geschlossenen Türen aus gebürstetem, wenn auch deutlich verkratztem Edelstahl trugen weniger zu seinem Unbehagen bei, als gewissermaßen von oben herab begutachtet zu werden.

»Ach, übrigens vielen Dank für den wunderbaren Blumenstrauß, den mir Superintendent Ellis in Ihrem Auftrag übergeben hat«, flüsterte sie von hinten, gefühlt beinahe auf Höhe seines linken Ohrläppchens.

»Bitte sehr«, knirschte er.

Falchuk sah weiter stur geradeaus. Seine Nackenhaare stellten sich auf, seine Kiefermuskulatur trat ebenso deutlich wie gequält hervor und man brauchte nicht viel Fantasie um sich vorzustellen, was seine Backenzähne gerade zu erleiden hatten.

Allyssa musterte ihn ungeniert von der Seite. Sie wollte ihn nicht unnötig provozieren, sah aber auch keine Veranlassung zu kuschen. Sie hatte den Knopf nur für ihre Etage gedrückt, auch wenn ihr aufgefallen war, dass der Commander seinen gewünschten Zielort der Aufzugssteuerung noch nicht mitgeteilt hatte. Wäre er ein freundlicherer Zeitgenosse gewesen, hätte sie ihn entweder gefragt oder von sich aus die Chefetage gedrückt.

Falchuks Gedanken rotierten. Er erinnerte sich an das letzte Gespräch mit Sir Percy, der ihm im Club freundschaftlich ans Herz gelegt hatte, die Hände weg von Colmberg zu lassen. Einen großen Bogen zu machen sei nicht die schlechteste aller Ideen, hatte er hinzugefügt. Als hätte ihm ihre Anwesenheit im Yard nicht schon genug Schwierigkeiten bereitet, jetzt war sie auch noch in sein Allerheiligstes vorgedrungen, in seinen Club. War sie ihm auch dort nicht persönlich erschienen, musste sie auf irgendeine verborgen gebliebene Weise immerhin seinen Freund dort aufgesucht und nachhaltig inkommodiert haben. Er war weiß Gott kein gläubiger Mensch, aber die Bibel musste sich bei der Zählung der Plagen definitiv vertan haben. Es gab eine elfte, die gerade aus dem Aufzug stieg und ihm wie zum Hohn auch noch lächelnd einen schönen Tag wünschte.

Erleichtert stellte er fest, dass er alleine war. Die Türen hatten sich geschlossen und der Aufzug fuhr endlich los … aber wieder nach unten!

Es war nicht recht auszumachen, wer oder was das zweifelhafte Vergnügen gehabt hatte, nach dieser kleinen Episode dem Commander als Erstes vor die Füße zu fallen. Aber nachdem sich im Erdgeschoss die Türen geöffnet hatten, hörte man noch drei Etagen höher lautstarkes Keifen durch den Aufzugsschacht. Für Ausbrüche dieser Art bot schon ein nicht korrekt geschlossener Uniformknopf den erforderlichen Anlass, falls es überhaupt eines Grundes bedurfte.

Ally hingegen war an diesem Morgen in Erwartung neuer Aufträge und Fälle in guter Stimmung und freute sich auf die Arbeit mit Pat und den anderen.

Sie fühlte sich als erklärtes Teammitglied bei ihrem Praktikum nun richtig angekommen.

Hätte sie geahnt, welchen Rattenschwanz an unerwarteten Konsequenzen dieses kleine Aufzugsintermezzo nach sich ziehen würde, wäre ihr zwar das Lachen vergangen, aber sie hätte dennoch nicht die Treppe gewählt.

Oder vielleicht doch?

Im Nachhinein wurde ihr klar, dass diese Begegnung Züge des berühmten Schmetterlingseffektes trug. Alleine das Wissen darum hätte ihr jedoch zu diesem Zeitpunkt nichts genutzt. Wenn nicht heute, wäre sie eben nur ein wenig später unvorbereitet k.o. geschlagen worden.

3

Er war so etwas wie ein geborener Charmeur. Der Traum einer jeden Mutter für ihre Tochter, kurz: ein echter Sonnyboy. ›Der frühe Vogel fängt den Wurm‹ war sein Motto, daher blieb er auch immer emsig und mit einem treffsicheren Gespür für lohnende Beute. Seine Aktivitäten in den frühen Morgenstunden waren somit nichts Außergewöhnliches.

Alles war gut vorbereitet und geschickt von ihm eingefädelt worden. Nur wenige Meter trennten ihn von seinem Ziel und der verdienten Belohnung. Die Gier blitzte in seinen Augen auf, aber das konnte im Moment niemand sehen. Er stand mit dem Rücken zu seiner Begleitung.

»Hier ist es?«, rief er fragend nach hinten und nahm das Vorhängeschloss des Holzverschlages ungeduldig in die Hand. Abgeschlossen!

»Genau hier!«, vernahm er die Stimme hinter sich.

»Ich bräuchte dann nur noch den Schlüssel«, dabei drehte er sich erwartungsvoll um. Unter seinen Füßen knisterte bei der eleganten Wendung eine dünne Plastikfolie, die er eher unterbewusst realisierte. Ein Gedankengang schickte sich dabei vorsichtig an, das Vorhandensein einer Folie an diesem Ort intern thematisieren und erörtern zu wollen. Hinsichtlich deren Abmessungen und Beschaffenheit galt es, ergänzende Informationen vom Auge zu erbitten, das aber anderweitige Verpflichtungen hatte. Es hatte soeben einen Auftrag höherer Priorität erhalten und sendete derweil das Bild eines langsam hineingleitenden Messers an die zuständigen Hirnareale.

Man sagte Donovan Hildrew nach, er sei gewitzt, gar gewieft, habe eine schnelle Auffassungsgabe und wisse jederzeit, sich überall höchst erfolgreich hindurch- und herauszulavieren. Von diesen früheren Lobeshymnen seiner Freunde und Bekannten unbeeindruckt brach jedoch hier und jetzt in ihm das Chaos aus.

Die schnelle Auffassungsgabe hatte zweifelsfrei eine Auszeit genommen.

Es begann damit, dass ein Teil seines Bewusstseins mit Interesse registrierte, wie die Klinge in ihrer beachtlichen Länge und ohne eine Spur besonderer Eile in seiner Leber verschwand.

Ein anderer Teil des Kopfes – reichlich mit der Situation überfordert reagierte der Lage völlig unangemessen mit einer Art Glucksen, wie ein kurzes und steckengebliebenes Lachen bei einem gerade gehörten Witz.

Der restliche Körper bereitete zügig und ohne Rücksprache, da reflexgesteuert, den erforderlichen Schockzustand vor.

»Nein, nein, nein – was mache ich denn da für einen Unsinn?«, hörte Donovan eine Stimme sagen.

Wie in Zeitlupe bewegte sich seine Hand zu dem Messer, griff aber ins Leere und landete flach auf der Sekunden zuvor geräumten Einstichstelle. Das Blut quoll langsam und gleichmäßig zwischen den Fingern hindurch, als habe es alle Zeit der Welt. Die Augen wanderten wieder nach oben und schafften es noch rechtzeitig, gemeinsam mit dem restlichen Gesicht nonverbal grenzenlose Überraschung abzubilden.

Es konnte sich auch eine Art Unverständnis mit eingeschlichen haben. Genauer war es nicht zu verifizieren, da sich das Messer zwischenzeitlich auf die andere Seite begeben, seine Spitze mit dem Herzbeutel bekannt gemacht sowie in der rechten Herzkammer häuslich eingerichtet hatte. Im Brustkorb verkantet sah es keine erkennbare Notwendigkeit, diese Position wieder aufgeben zu sollen, insoweit widersetzte sich die Klinge erfolgreich dem Versuch, wieder herausgerissen zu werden, und blieb trotzig an Ort und Stelle stecken.

Die Prioritäten hatten sich abermals verschoben, für Interpretationen und Feinheiten der Mimik bot sich kein zeitlicher Spielraum mehr an.

Das Herz stellte seinen Betrieb ein, die Beine knickten weg und Donovan begab sich mit einem dumpfen Knall in die Waagerechte.

Die Pumpleistung war mittlerweile zwar eingestellt, jedoch dank der Schwerkraft blutete er noch ein wenig still vor sich hin. Es wäre durchaus in mehrfacher Hinsicht zutreffend gewesen, ihn als ›Auslaufmodell‹ zu bezeichnen. Dermaßen billige Witze waren eigentlich den Forensikern vorbehalten, aber die waren nun mal abwesend.

Zu dieser Stunde war es ohnehin mehr als fraglich, wann ihn überhaupt jemand in diesem Zustand zu Gesicht bekommen würde, um ihn gebührend ob seines vorzeitigen Ablebens zu bemitleiden oder gar zu betrauern.

Ungeachtet dessen befand sich Mr. Hildrew im Begriff, zu einer gewissen Bedeutungslosigkeit zu verkommen und war –hierzu stimmig – nach wenigen Minuten im Wesentlichen mutterseelenallein.

Von der Straße drang durch die einfachverglasten Luken, von denen eine offen stand, gleichmäßiger Verkehrslärm auf den Dachboden. Isolierung oder Dämmmaterial gab es hier oben nicht. Einer gewissen Ironie folgend pulsierte unten das Leben ungerührt weiter. Ein leises Summen der Insekten klinkte sich in die Geräuschkulisse ein, untermalt vom Knacken der zahlreichen Dachziegel, die sich unter der Sommersonne zunehmend aufheizten.

Nach ein paar Minuten wurde das Summen stärker, aufgeregter. Anlässlich des überreichen Angebotes, das sich ihnen nun darbot, gerieten einige Schmeißfliegen in einen ernsthaften Konflikt. Sie umschwirrten ihn auf der Suche nach der Antwort, wo sie denn nun genau ihre Eier ablegen sollten. Ein Landeplatz nach dem nächsten wurde anvisiert und begutachtet. Man konnte sich Zeit lassen, es gab im Augenblick noch relativ wenig Konkurrenz. Allerdings war immer im Blick zu behalten, dass jederzeit eine der Tauben zurückkommen und die Nachwuchsplanung unterbinden konnte. Von den gefiederten Zeitgenossen war jedoch nichts zu hören und zu sehen. Lediglich aus dem Treppenhaus kamen Geräusche, die darauf hindeuteten, dass in absehbarer Zeit mit Gesellschaft zu rechnen war.

Da er jedoch sein Leben bereits seit nicht ganz einer Stunde ausgehaucht hatte, spielte die Ankunft Roseanne Garwoods für ihn keine entscheidende Rolle mehr. Sie schien ohnehin nur Augen für ihre Wäsche zu haben und sich nicht im Geringsten darum zu scheren, was unter ihren Füßen vorging.

Rosie hatte gerade den letzten Kopfkissenbezug mit zwei Klammern befestigt und den leeren Korb unter die Wäscheleinen geschoben, als ihr Blick auf die roten Fußabdrücke fiel.

Ihre Fußabdrücke.

In unterschiedlicher Stärke und Ausdehnung breiteten sich Fußspuren rund um die gespannten Drahtleinen und auch darunter aus. Sie lugte unter die tiefhängenden Bettlaken und hob schließlich eines davon an. Hinten, im Halbdunkel der Ecke, entdeckte sie eine mittelgroße Blutlache, bereits im fortgeschrittenen Übergang zum Trocknen. Immer noch hinreichend frisch, um intensiv an ihren Hausschuhen zu kleben, deren Sohlen sich wie bei einem Stempel nun in der rauen Holzoberfläche verewigt hatten.

Sie trat näher an die dunkle Fläche heran, die sich im Wechsel von rot zu braun befand, und erblickte deren Quelle. Vor ihr lag ein gepflegter junger Mann im Anzug mit zumindest einem sichtbaren Stich, vorbildlich durch das in seinem Brustkorb befindliche Messer markiert.

Sein krawattenloses Oberhemd und der Anzug würden kaum mehr zu gebrauchen sein. Sie war sich sicher, dass auch ihre moderne Maschine das Blut nicht herausgewaschen bekam.

Gut, aus der Unterwäsche vielleicht schon. Es kam darauf an, ob es bei ihm Kochwäsche wäre. Nein, eher wohl nur sechzig Grad.

Sie nahm ihre Brille mit den dicken Gläsern ab, wischte sie an ihrer Kittelschürze leidlich sauber und setzte sie wieder auf die Nase. Das Gestell rutschte wohlig in die angestammte Kerbe, die es über Jahrzehnte hinweg beharrlich in den Nasenrücken gepresst hatte. Gleichwohl vermochten die seit langem verkratzten Gläser kein anschaulicheres Bild der Situation zu vermitteln.

Rosie Garwood wurde zunehmend ungehalten.

Was dachten die sich hier eigentlich nur? Dies war ein ordentliches Haus.

Schon immer gewesen. Daran änderte auch die Plastikfolie nichts. Zu dünn. Zu kurz. Das Blut war etwa zu einem Drittel darüber hinaus gelaufen.

Sie sah sich genauer um.

Gut, wenigstens steckte kein Messer im Parkettboden. Hier oben gab es glücklicherweise nur die alten, unbehandelten Holzbohlen. Es wäre hier nicht so schlimm gewesen wie ein hässlicher Spalt im Parkett.

Allerdings – Parkett ließ sich eindeutig besser wischen und pflegen. Man könnte anschließend noch mit einer leichten Pflege und Wachsschicht drübergehen.

Gute Pflege war wichtig! Bei den Bohlen verklebte das Blut zu sehr in den Fasern. Es würde schon bald anfangen, richtig zu stinken und gewiss noch unappetitlicher werden.

Wie zum Beweis griffen die Stubenfliegen die durch Rosies Anwesenheit gestörten Landeversuche wieder auf und summten ungehalten um den Leichnam.

Sie sah auf ihre Armbanduhr. Die spätere Kaffeestunde erforderte ihre Aufmerksamkeit. Sie wollte noch Kuchen backen sowie Donuts frittieren und die sollten bis zum Nachmittag ausgekühlt sein.

»Das Wichtigste immer zuerst!«, ermunterte sie sich, machte auf dem Absatz kehrt und schritt langsam die Stufen herab.

»Rosie, du Schaf, wo hast du nur immer deine Gedanken?!«, schalt sie sich und wendete auf dem ersten Treppenabsatz. Dann stieg sie wieder hinauf und verschloss die Speichertüre zweimal ordentlich mit dem alten Buntbartschlüssel.

Es war zwar noch nicht vorgekommen, aber man musste ja auch nicht gerade zum Wäschediebstahl einladen.

Sicher war sicher.

4

Die Außentemperaturen versprachen heute wieder Höchstwerte erklimmen zu wollen und so machte sich Patricia Farquharson bereits um sechs Uhr früh auf den Weg in die klimatisierten Büros der Metro-Police. Sie frühstückte ausgiebig in der Cafeteria und trödelte noch etwas herum, bis Chloe, wie meist, um Viertel vor Acht unten im Büro eintreffen würde.

»Gott sei Dank wieder mal Tagdienst. Diese Scheiß-Nachtstreifen im Theater waren wirklich sowas wie verschärfter Arrest für mich.« Pat war in Top-Laune und insgesamt in Hochform, erntete aber nur ein leicht mitleidvolles Kopfschütteln ihrer Kollegin. Detective Constable Chloe Sanderson vermochte diesen Enthusiasmus nicht zu teilen. Ihr kleiner Sohn hatte sich heute Nacht mehrfach übergeben und sie hatte wenig Schlaf bekommen. So bedachte sie Pat nur kurz mit einem spöttischen »Du Arme, du tust mir ja soooo leid!« und widmete sich in der gleichen Sekunde wieder ihren morgendlichen Routineaufgaben.

»Mach dich nützlich und koch schon mal Kaffee!«, trug sie Pat auf, die den Wink verstand und ausnahmsweise ohne zu Murren der Aufforderung Folge leistete.

Als Ally das Büro der zweiten Mordkommission betrat, wurde sie von Pat aufgekratzt mit »Wie nett – auch schon wach, du Schlafmütze?« begrüßt.

»Hallooo? Acht Uhr dreißig!«

»Trotzdem – zu spät!«

»Sagt wer?«

»Na, ich!« Pat streckte sich. »Wir sind schon Stunden bei der Arbeit, stimmt’s?« Sie drehte sich zu Chloe, die gerade Fallakten sortierte und auf dem Tisch ausbreitete.

»Na jaaa. Nicht so ganz«, widersprach sie leicht abwesend.

»Tja, dann seid ihr ja um den Auftritt des Tages gebracht worden …«

»Hä?«

Ally tat, als müsste sie sich übergeben.

Pat sah sie fragend an.

»Ich dachte, das wäre ziemlich eindeutig«, bemerkte Ally.

»Ist es auch«, meinte Chloe wieder aufmerksamer und zu ihr gewandt. »Du hast Falchuk getroffen, oder?«

Ally strahlte sie an und drehte sich zu Pat: »Genau – siehst du. Sooo arbeiten Profis!«

»Ach so, sag das doch einfach!«, murrte Pat, weil sie nicht vor Chloe darauf gekommen war.

»Du bist doch sonst nicht so schwer von Begriff«, meinte Ally, wurde aber unterbrochen, da Pat aufgesprungen war, weil Detective Inspector Leon Aiken den Raum betrat.

»Das kannst du, wenn wir unter uns sind, lassen, Pat. Mir genügt es, wenn wir uns im Einsatz mit dem gebührenden Respekt begegnen. Ich bin auch nur auf einen Sprung hereingekommen, um kurz Hallo zu sagen. Bin gleich mit Scott auf Außeneinsatz. Chloe kümmert sich in der Zwischenzeit um die Eingewöhnung«, er lachte, »falls die überhaupt noch nötig ist. Jedenfalls, alles Weitere später. Bis dann!«

Er nickte freundlich in die Gruppe und war schon wieder entschwunden.

Chloe blies die Backen auf. »Na prima, was soll ich denn noch alles gleichzeitig machen?!«

»Wie können wir dir denn helfen?«, erkundigte sich Ally teilnahmsvoll.

»Das ist es ja – im Moment leider gar nicht. Das zu erklären würde länger dauern, als wenn ich es selbst mache. Sorry, aber Montage sind grundsätzlich schon Scheiße, weil da vom Wochenende die ganzen Vorgänge vom Kriminaldauerdienst reinkommen und gesichtet und verteilt werden müssen.«

»Und das mit dem KDD musst du machen?«, erkundigte sich Pat verwundert.

»Ich bereite die Unterlagen vor und Superintendent Ellis entscheidet dann, welche Kommission welche Aufträge übernimmt. Im Augenblick wäre mir am ehesten geholfen, wenn ich euch mal die nächsten ein, zwei Stunden alleine lassen dürfte.«

Pat grinste dreckig.

»… OHNE dass hier jemand Blödsinn anstellt!«, ergänzte Chloe in gespielter Strenge.

»Schade, mir wär’ schon was eingefallen.«

»Davon bin ich hundertprozentig überzeugt.«

»Ich auch«, schloss sich Ally an und lehnte sich gegen die Wand.

»Ja, ja, ja, hackt nur auf mir rum! Los, schieb ab, wir werden uns schon die Zeit vertreiben«, kommandierte Pat und drängelte Chloe Richtung Tür.

»Genau das befürchte ich!«, erwiderte Chloe.

»Raus jetzt!«

Chloe sah kurz zu Ally hinüber, die sie als die Vernünftigere erachtete, und erhielt von dort ein zustimmendes Nicken. Beruhigt verließ sie schließlich den Raum.

»Und jetzt?«, fragte Ally in die eingetretene Stille.

»Ich bin dem Himmel dankbar, dass sich DC Suskin im Urlaub das Schulterblatt gebrochen hat, so haben wir mindestens zwei weitere Monate miteinander«, frohlockte Pat plötzlich ungeniert.

Ally sah sie rügend an.

»Meinst du, ich komme dafür in die Hölle?«, fragte sie mit übertrieben treuherzigem Augenaufschlag.

»Falls ja, wäre es das erste Mal, dass ich mit dem Teufel Mitleid bekäme«, stichelte Ally. Ihr war Pats Superlaune nicht ganz geheuer. Sie betrachtete diese Stimmungslage mit einer gewissen Skepsis. Zu frisch war noch die Erinnerung an die Niedergeschlagenheit und den emotionalen Ausnahmezustand, in dem sich Pat noch vor Kurzem befunden hatte, nachdem sie von einer vermeintlichen Freundin schmählich hintergangen und ausgenutzt worden war. Zwar wirkte ihre Stimmung nicht so aufgesetzt wie bei einem früheren Kommilitonen Allys, der im Grunde seines Herzens eher depressiv veranlagt war und dennoch immer eine Spur zu fröhlich auftrat, aber … nun ja, man würde sehen, was die nächsten Tage mit Pat bringen würden.

Nüchtern betrachtet gab es ja tatsächlich Gründe für deren gute Laune. Nicht nur, dass Superintendent Ellis ihre zeitweilige Versetzung von Central Operations zur Mordkommission II bewerkstelligt hatte, er hatte sich darüber hinaus dazu hinreißen lassen, dass Pat als bisherige Teamleiterin einer bewaffneten Task-Forcegruppe sogar in seiner Einheit ihre Automatic führen durfte. Und das, obwohl er Waffen verabscheute wie der Teufel das Weihwasser und Pat bei ihrem ersten Aufeinandertreffen noch wie eine Aussätzige behandelt hatte. Immerhin trugen rund neunzig Prozent der Bobbies der britischen Hauptstadt keine Schusswaffen. Vielleicht hatten die allgegenwärtige Terrorgefahr sowie die tatsächlich erfolgten Messerangriffe und Fahrzeugattacken seine Meinung zu bewaffneten Einheiten in ein anderes Licht gerückt. Dazu hatte er sich nicht direkt geäußert, andererseits war dies die schlüssigste Vermutung, sonst hätte er sich nicht so vehement dafür eingesetzt, dass Allyssa desgleichen wie Pat durfte. Sie war bereits im Besitz eines gültigen Waffenscheins für Personenschützer zur Selbstverteidigung gewesen, aber Ellis hatte nun sogar darauf bestanden, dass sie die Waffe ab sofort auch im Dienst mitführen sollte. »Wenn wir schon über entsprechende Möglichkeiten und Know-how verfügen, sollten wir sie auch nutzen!«, hatte er dem überraschten Team erklärt. So ergab sich die ungewöhnliche Konstellation, dass sie in ihrer Fünfergruppe, zu der außerdem noch DI Leon Aiken, Detective Sergeant Scott Peters und DC Chloe Sanderson gehörten, die einzigen Waffenträger waren.

Wie nicht anders zu erwarten, hatte es in den ersten Stunden nach Bekanntwerden neugierige Blicke und Getuschel auf den Fluren gegeben, da aber die beiden Frauen nicht darauf eingingen und dem keine sichtbare Beachtung schenkten, legte sich die Sache rasch, wie so oft beim Reiz des Neuen.

»Du strahlst wie ein Honigkuchenpferd«, flachste Ally.

»Tolles Kompliment. Aber sieh uns beide mal an – zwei sexy Girls mit dicken Kanonen – David Bishop hätte jetzt seine helle Freude an uns gehabt. Kommt halt nur ein bisschen zu spät für ihn.«

Ally sah an sich herunter.

Abgesehen davon, dass sie ihre eigene Glock 18c behalten durfte, trug sie den ähnlich abgespeckten Dienstgürtel wie Pat mit Reservemunition und Handschellentasche. Allerdings ihr privates Schnellziehholster mit FBI-Ziehwinkel und nicht wie Pat mit einem Durchladeholster. Bei beiden war vorne am Gürtel ein Polizeiabzeichen sichtbar. Sie hatten Ally eingeschärft, dass dies zu ihrer beider Schutz diente, damit sie nicht im Einsatz versehentlich von Kollegen als Bedrohung betrachtet würden. Ally hatte auch eine eigene signalrote Armbinde erhalten und Ellis versprechen müssen, dass sie verstanden hatte, nach wie vor keine hoheitlichen Befugnisse zu haben, sondern nur im Gespann mit einem anderen Officer handeln zu dürfen. Auch die Waffe dürfe ausschließlich dem Selbstschutz dienen. Allyssa versprach es und ließ jedoch im Geheimen ihre Freundin wissen, dass sie jedem das Hirn herausblasen würde, der es wagte, Pat etwas anzutun.

Genau dieser Pat, die schon wieder kreativ geworden war, sich einer Heftmaschine bemächtigt hatte und sie in Kopfhöhe unentwegt zusammendrückte. »Eins, zwei, drei, vier, fünf …« Die zusammengepressten Heftklammern fielen aus einem halben Meter Höhe auf den Tisch.

»… dreiundzwanzig, vierundzwanzig, was, schon leer?«

Ally lehnte noch immer an der Wand und besah sich die Szene mit verschränkten Armen. Pat zog nacheinander ein paar Schubladen auf. »Shit, hier muss doch irgendwo Nachschub stecken!«

»Dass du ziemlich ein Rad ab hast, weißt du schon, nicht?«

»Man muss jederzeit wissen, wieviel Schuss einem zur Verfügung stehen!«, belehrte Pat sie unbekümmert und kruschtelte weiter in den Schubladen herum.

»Schuss ja – aber Heftklammern? Wo soll das denn noch enden?«

»Weiß nicht. Meine gute Laune geht schon wieder flöten. Mir ist lang-wei-lig, verstehst du, l-a-n-g-w-e-i-l-i-g!!« Sie klickerte mit dem leeren Tacker weiter herum.

»Was du nicht sagst! Ich dachte eigentlich auch, dass wir etwas mehr …«

Die Tür flog auf und Chloe stand im Rahmen. Sie sah aus, als hätte sie eine schlechte Nachricht zu überbringen.

»Ihr sollt zum Sekretariat des Commanders kommen!«

»Zu Falchuk?« Pat traute ihren Ohren nicht.

»Ja, alle beide!«

Chloe sah die Bescherung auf dem Tisch, schüttelte den Kopf, schob die verstreuten Klammern in die Handfläche und beförderte sie in den Papierkorb. »Und zwar sofort«, ergänzte sie.

Pat und Ally tauschten Blicke aus, aber keine war sich einer Schuld bewusst.

»Noch was – auch wenn seine Sekretärin weder Officer noch weisungsbefugt ist, tut ihr besser, was sie euch von Falchuk ausrichtet beziehungsweise aufträgt!«

Ally zuckte mit den Schultern.

»Na schön, dann gehen wir eben.«

So richtig wohl war ihr nicht, denn sie hatte nicht die Spur einer Vorstellung, was sie dort erwarten würde.

5

Der Vormittag hatte alle Voraussetzungen mitgebracht, um sie tüchtig durcheinander zu bringen. Ordnung und Struktur hatten aber stets Vorrang vor allen Unwägbarkeiten gehabt und waren das Gerüst, das Rosie durchgetragen und auch so alt hatte werden lassen.

Unerschüttert und letztlich zufrieden setzte sie an diesem Morgen wieder einen Fuß vor den anderen, eine Hand immer am runden, eisernen Treppengeländer bis hinab vor ihre Wohnung im ersten Stock. Von unten hörte sie, wie jemand den Hausflur betrat. Rasch schlüpfte sie in ihre Behausung. Es war zu riskant, sich jetzt auf einen Schwatz mit einem Nachbarn einzulassen, erst musste alles vorbereitet sein.

Das Mittagessen fiel heute wie an jedem Waschtag aus. Diese Tradition hatte vor langer Zeit begonnen, als die Wäsche noch per Hand in der Waschküche im Keller in dem großen Bottich umgerührt werden musste. Wasser einfüllen, unter dem Kessel einheizen, Seifenflocken einrühren und dann mit dem Holzlöffel immer wieder umrühren. Einem Löffel, der auch ohne Weiteres als Kinderpaddel durchgehen konnte. Dann wieder nachspülen, auswringen, aufhängen, bügeln. Da blieb keine Zeit, auch noch zu kochen.

Auch wenn die Waschmaschine heute den Löwenanteil übernahm, hatte sie doch diese Gepflogenheiten so verinnerlicht, dass ihr nicht einmal der Gedanke gekommen wäre, an diesem Rhythmus etwas ändern zu können oder gar zu wollen. Genauso wenig stand jemals die Kaffeestunde montags, mittwochs und freitags zur Disposition.

Sie fütterte Johnny, den orange-gelben Kanarienvogel, gab ihm frisches Wasser, heizte den Backofen vor, erhitzte Fett auf dem Herd und rührte den Kuchenteig zusammen. Nachdem sie die Form in den Ofen geschoben hatte, drehte sie den mechanischen Kurzzeitwecker auf die erforderliche Backzeit und lauschte zufrieden dem Ticken des Uhrwerks. Hinter ihr trillerte Johnny aus seinem Käfig flankierend, was das Zeug hielt.

Eine gute Stunde hatte sie nun für die weiteren Besorgungen und das Frittieren der Hefeteilchen. Geschickt tauchte sie die bereits vorbereiteten Teiglinge nacheinander in das siedende Öl und fischte sie mit der Schaumkelle nach einigen Minuten wieder heraus. Auf dem ausgebreiteten Küchenpapier konnten sie nun abtropfen und auskühlen. Aus dem Gasofen drang schon der Kuchenduft durch die Ritzen.

Rosie hielt auf einmal inne und hatte das Gefühl, dass sie etwas Fundamentales vergessen hatte.

Draußen kamen Sirenentöne immer näher. Sie dachte angestrengt nach, bis ihr der erleuchtende Gedanke kam: Richtig – die Leiche!

Sie schaltete den Herd ab, kramte aus der Küchentischschublade zwischen Kordeln, Einmachgummis und einigem Krimskrams ein Stück Papier und einen dicken Bleistift hervor. Dann malte sie mit der schönsten Schreibschrift ›Hier keine Leichen ablegen!‹ darauf.

Sie besah sich ihr Werk, überlegte nochmals und schrieb schließlich ›Bitte.‹ darunter.

In der Lade fanden sich nach intensiver Suche zwei Reißzwecken, die sie vorsichtig in ihre Schürzentasche gleiten ließ. Danach nahm sie den Speicherschlüssel vom Schlüsselbrett und stieg wieder zum Dachboden hinauf. Sie vergewisserte sich, dass die Tür immer noch verschlossen war, pinnte ihre Botschaft daran und strich das leicht verknitterte Blatt sorgsam glatt.

Zufrieden musterte sie das Arrangement, nickte ihm aufmunternd zu und begab sich wieder in ihre Wohnung im ersten Stock.

Mit geübten Handgriffen deckte sie den Tisch, nahm den vorbereiteten Kuchen aus dem Ofen, garnierte ihn und die Teilchen mit reichlich Puderzucker und stellte die Köstlichkeiten schließlich zu dem Kaffeeservice mittig auf den Wohnzimmertisch.

Jahrzehntelang war sie es gewohnt gewesen, den Kaffee per Hand mit dem alten Porzellanfilter aufzubrühen, bis Micky ihr auch noch eine Kaffeemaschine aufgenötigt hatte.

»Ein Geschenk!«, hatte er ihr versichert und sie so lange bedrängt, bis sie sich bereit erklärt hatte, sie gemeinsam mit ihm in Betrieb zu nehmen. Seither wollte sie sie nicht mehr missen. Manche Annehmlichkeiten sollte man sich schon gönnen dürfen, hatten auch ihre Nachbarn beigepflichtet.

Während die Maschine gurgelnd und milde dampfend ihren Dienst aufnahm, öffnete sie die Fenster zur Straße. Es war etwa zehn vor drei und sie gab die Hoffnung nicht auf, etwas frische Luft hereinzulassen, obgleich es draußen wesentlich wärmer war als in den alten Mauern der Wohnstube.

Sie griff sich das dicke Sofakissen, legte es unter ihre Arme auf das Fensterbrett und sank wie üblich ein kleines Stückchen darin ein.

Vor dem Haus stand ein Krankenwagen mit Warnblinkanlage und offenen Hecktüren. Ach ja, den hatte sie also vorhin gehört. Wen die wohl hier abholen wollten?

Eine gewisse Neugier konnte man ihr nicht absprechen, freundlicher formuliert, ein Interesse an den Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung. Sie musste sich diesmal aber weder weiter vorbeugen noch gedulden, denn schon kamen zwei Sanitäter mit einer Trage angerollt, auf der sie zu ihrer Überraschung die kleine Jessica Turbin erblickte.

Die anderen Autos stoppten kurz, als einer der Sanitäter durch Handzeichen zu erkennen gab, dass sie jetzt die Straße überqueren müssten.

Einige kurze Sirenentöne waren zu hören und kurz danach hielt ein Polizeiwagen hinter der Ambulanz, als sie gerade die Trage durch die geöffneten Doppeltüren schoben. Eine junge Frau stieg aus, ging auf die Männer zu und schien mit ihnen zu reden.

»Soso, auch noch die Polizei, da schau her«, dachte sie verwundert und war nun ernsthaft interessiert. Man konnte durch die Motorengeräusche nichts richtig verstehen, aber selbst mit ihren dicken Brillengläsern konnte sie die weißen Großbuchstaben POLICE auf dem Rücken der Blonden erkennen. Eine weitere Polizistin stieg aus und wartete neben dem Wagen.

Die erste Frau sprach offenbar auch kurz mit dem Kind und verabschiedete sich dann von den Dreien. Der Wagen des London Ambulance Service setzte sich kurz darauf in Bewegung und schaltete seine Blinkleuchten aus.

Die blonde Beamtin sah ihm nach, ging zu ihrer Kollegin und schaute unvermittelt zu ihrem Fenster hoch. Sie sahen sich einen Moment lang an, gerade so lange, als ob der Blick der Blonden etwas Fragendes angenommen hätte. Rosie winkte ihr zu und die Blonde erwiderte das Winken, etwas zögernd, aber freundlich lächelnd. Dann stieg sie in ihren Wagen.

Das Gefühl, sich schwerer konzentrieren zu können, etwas vergessen zu haben, überkam Rosie in den letzten Monaten zwar des öfteren, fand aber diesmal keine Gelegenheit, sich eindringlicher bemerkbar zu machen.

Das Timing der Einsatzkräfte hätte kaum besser sein können, denn die Gäste klingelten bereits und Rosie machte sich auf, sie in Empfang zu nehmen.

Minuten später würde ihre nette, plauschige Runde ungeplant erweitert werden. Rosie würde abermals öffnen und gleichermaßen überrascht wie erfreut ausrufen: »Ah, Polizei!«

6

Sie standen mit reichlichem Abstand an einer Ampel mit zeitlich sehr ausgeprägten Rotphasen, die bei grün gerade mal zwei Fahrzeuge durchließ. Vor ihnen warteten noch etwa fünfzehn Wagen auf die erlösende Farbe. Es hatte sich gerade eine längere Gesprächspause ergeben. Pat schien leicht abwesend und bohrte ausgiebig in der Nase.

Ally sah sich das Schauspiel von der Seite an, während Pat, ohne von ihrem Tun abzulassen, mechanisch wieder zwei Fahrzeuglängen aufschloss.

»Na, fündig geworden?«

»Was?« Pat war immer noch woanders.

Statt zu antworten hielt Ally ihr ein zwischen Zeige- und Mittelfinger eingeklemmtes Taschentuch hin.

Pat nahm nur die Bewegung wahr, blickte einen Augenblick verständnislos auf das Zellstofftuch und realisierte dann schlagartig, wo sich ihr linker Zeigefinger gerade befand. Rasch zog sie ihn aus der Nase und bemächtigte sich mit einem »Sorry, alte Angewohnheit« des Tuches.

Ally grinste.

»Ach, und Mylady bohren wohl nie in der Nase?«, knurrte Pat.

»Mylady lassen bohren!«, spottete Ally und schob nach: »Vor allem lassen sich Mylady nicht dabei beobachten und schon gar nicht erwischen!«

»Wir sind ja hier unter uns!«

Ally wollte sie gerade darüber belehren, dass sie schließlich von Fenstern umgeben waren, als ihr aufging, dass Pat tatsächlich recht hatte. Beim Einsteigen in der Tiefgarage hatte sie es gesehen: die Scheiben waren mit dunklen Spezialfolien beklebt, die nach draußen eine gute Sicht ermöglichten, aber aus Sicherheitsgründen keinen Blick ins Innere erlaubten. So wusste niemand, wieviele Beamte sich aktuell in dem Einsatzfahrzeug befanden.

Pat wischte übertrieben gründlich an ihrem Finger herum und hielt ihn Ally unter die Nase.

»Na, zufrieden?«

»Yesss, Sergeant!«

»Gut. Wenigstens ein Erfolgserlebnis.« Sie trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad herum. »Ich kotz’ gleich im Strahl, welches Arschloch hat denn diese Verkehrsführung geplant?«

Sie rüttelte heftig am Lenkrad und katapultierte sich damit zwischen Lenksäule und Sitz ein paar Mal hin und her. Es fehlte nicht mehr viel, bis ihr der Geduldsfaden vollständig riss. Sie setzte plötzlich ein – milde umschrieben diabolisches Grinsen auf.

»Lass es!«, ermahnte Ally sie, als Pat ihren Zeigefinger langsam in Richtung Display bewegte.

Pat stoppte in der Bewegung und beklagte sich mit schlecht gespielter Empörung: »Du weißt doch gar nicht, was ich vorhatte!«

»Echt jetzt?«

Pat nickte bekräftigend.

»Du wolltest Blaulicht und Sirene einschalten und vor zur Kreuzung fahren, weil da ja ein ›Unfall‹ passiert sein könnte. Anders wäre der Rückstau ja gar nicht zu erklären und da man ja als Freund und Helfer die öffentliche Sicherheit und Ordnung aufrechterhalten und natürlich auch den Straßenverkehr am Fließen halten muss und …«

»Bla, bla, bla – kannst aufhören!«

»Und, stimmt’s?«

»Ja, schon, nur ohne die Begründung. Ich wär’ einfach so drübergefahren.«

»Also lass es.«

»Spielverderber.«

»Kindskopf.«

Pat stöhnte, sagte aber nichts mehr.

Draußen flirrte die Luft über dem Asphalt. Gott sei Dank hielt die Klimaanlage zumindest den Innenraum im angenehmen Temperaturbereich.

Das nicht enden wollende Stop-and-Go zerrte natürlich auch an Allys Nerven, aber sie verkniff sich jegliche Andeutung, um Pat nicht doch noch einen Vorwand zu liefern, und schloss einfach die Augen, um über etwas zu sinnieren. Zur Verbesserung der Lage oder der Stimmung konnte sie schließlich nichts beitragen.

Pat hatte sich einstweilen einen neuen ihrer geliebten wie unvermeidlichen Kaugummis zwischen die Zähne geschoben und reagierte sich mit unentwegtem Aufblasen-und-platzen-Lassen etwas ab.

Es waren Momente wie dieser, im Grunde Kleinigkeiten, die Ally seit ein paar Tagen zweifeln ließen. Zweifeln, ob sie sich mit Pat nicht zu weit vorgewagt hatte. Gewiss, sie war eine sehr enge Freundin, genau genommen sogar ihre beste, aber womöglich zu eng? Nie zuvor hatte Allyssa jemanden außerhalb der Familie so nahe an sich herangelassen, ihm intime Geheimnisse anvertraut.

War es wirklich klug gewesen, sich derart zu öffnen, angreifbar, verwundbar zu machen? Man sagte ja: »Gegensätze ziehen sich an«.

In vielen Punkten waren sie sehr gegensätzlich, in anderen wieder überhaupt nicht. Allyssa stammte nicht nur geografisch aus einer anderen Region, von Bildung, finanziellem und familiärem Hintergrund ganz abgesehen. Sie schätzte Zurückhaltung, beobachtete, dachte lieber einmal mehr als zu wenig nach. Pat hingegen hatte die Energie eines gelegentlich unerwartet ausbrechenden Vulkans. Ihre Spontanität wirkte belebend, ansteckend, und fegte schon mal wie ein Wirbelsturm durch Allys bevorzugt durchgeplantes Leben.

Einerseits gefielen ihr die neuen Erfahrungen, die sie Pat zu verdanken hatte, andererseits beunruhigten sie sie aber auch. Es waren diese Züge von Kontrollverlust, die Ally dabei zu schaffen machten und ihr zutiefst widerstrebten. Ob sie diesen Kontrolltrieb lediglich ihrem jahrelangen Training verdankte oder bereits eine genetische Veranlagung mitbrachte?

Immer und überall hatte sie mit einer sehr hohen Trefferquote ein Gespür für Gefahren und Dinge, die garantiert schiefgehen würden. Es gelang ihr, die meisten zu verhindern, es ließ sie aber auch immer besonnener, kühler und distanzierter werden. Vielleicht zu besonnen, zu unnahbar. Sie versuchte sich erfolglos Klarheit darüber zu verschaffen, ob und wie weit sie sich weiter darauf einlassen oder dem entgegenstellen sollte.

Vielleicht war es besser, nur bei sich selbst zu bleiben und nicht Pat mitbeschützen zu wollen. So wie das Unterbinden des Missbrauchs von Sonderrechten gerade, denn das ging sie doch eigentlich gar nichts an. Pat war schließlich Officer on duty, ihr Sergeant, ausgebildete Polizistin und sie nur die Praktikantin!

Pat hatte das Sagen, hörte aber auf Ally, folgte ihr. Stellte das nicht sogar die Dinge völlig auf den Kopf?

Ihre Grübelei schien derzeit nicht zu einem befriedigenden Ergebnis zu führen.

Der Lüfter blies tapfer und gleichmäßig hochtourig die angenehm kalte Luft ins Wageninnere, ohne den Geruch des nagelneuen Fahrzeuges dabei überlagern zu können. Die Kälte tat gut und Ally hoffte, dass sie Pat etwas weiter vom Siedepunkt weg herunterkühlen würde. Ihre Gedanken kreisten nun um die merkwürdige Order, die sie hierhergebracht hatte.

Auftragsgemäß hatten sie sich bei der Sekretärin des Commanders eingefunden. Die grauhaarige Frau mit kurzen Haaren machte nicht den Eindruck, als ob sie sich die Butter vom Brot nehmen lassen würde. Das Maß an Robustheit, das für einen Vorgesetzten des Typs Falchuk erforderlich war, um einen Arbeitstag ohne Nervenzusammenbruch und Weinkrampf zu überstehen, brachte sie wohl mit.

»So, Sie sind also heute dran?«, musterte sie die beiden Besucherinnen grußlos. »Hier, das muss auf direktem Wege zum Commander. Adresse steht drauf.« Sie drückte Pat einen großen braunen Umschlag in die Hand.

»Der Commander ist nicht mehr im Haus?«, erkundigte sich Ally interessiert.

»Warum fragen Sie?«

»Ich traf ihn vorhin im Aufzug.«

»Hey, das ist ja draußen in Barnet, da brauchen wir um diese Zeit ja fast anderthalb Stunden nur für die Hinfahrt! Das ist ja wohl die reinste Strafexpedition«, platzte Pat dazwischen, als sie die Handschrift entziffert hatte.

Die Mundwinkel der Sekretärin zuckten kurz, aber nicht schnell genug, um nicht von Ally wahrgenommen zu werden.

»Tun Sie’s einfach«, forderte sie die beiden nun wieder teilnahmslos auf.

Ally strahlte Pat an. »Das ist ja auch genau der Sinn der Sache, nicht?« Sie schaute die Grauhaarige fragend an.

»Es ist immer gut zu wissen, dass kluge Köpfe für den Yard arbeiten«, wich sie einer direkten Antwort aus und lächelte erstmals freundlich.

»Und warum haben wir dann so einen Comm…«, Pat kam nicht weiter, da Ally sie rüde vom Schreibtisch wegschob und sich nach hinten gewandt verabschiedete.

Im Aufzug nach unten krakeelte Pat in nicht zitierfähiger Weise ihren Unmut in die Kabine. Ally wartete den ersten Schwall ab und bugsierte Pat in die Tiefgarage.

»Komm, ist gut. Wir machen einfach mal, was aufgetragen wurde.«

»Gut? Nix ist gut, ich bin doch kein Messenger-Boy!«

»Wenn schon, dann Girl«, versuchte Ally sie aufzumuntern, aber Pat war noch auf Krawall gebürstet und blitzte sie an: »Du musst auch immer alles besser wissen, hä?«

Ally hielt es für klüger, nicht darauf einzugehen. Pat hatte ohnehin bereits direkten Kurs auf den Fahrzeug-Disponenten genommen. Joseph Messua trug die Haare kurz wie Barack Obama, hatte dessen Teint, allerdings abstehende Ohren und einen sehr großen Mund, aus dem die weißen Zähne nun hervorblitzten, als er Pat erblickte.

»Hallo Patricia, was kann ich für meine Lieblingskollegin tun?«

»Maul halten und nicht rumquatschen, ich brauche mal flotti einen Wagen.«

»Grund?«

»Bewaffneter Geleitschutz für’n Briefumschlag«, bellte Pat ihn an.

»Ach was, das soll ich so eintragen?«, lachte Messua über den Witz.

»Und zwar genau so!«, fauchte Pat.

Messua zuckte mit den Schultern. »Meinetwegen, ist ja deine Sache!«

»Eben!«

»Zivil?« Beide steckten in Blue Jeans, die Rothaarige mit taubenblauer kurzärmliger Bluse in weißen, Patricia in schwarzen Sneakern und gleichfarbigem T-Shirt, sofern schwarz als Farbe gelten sollte.

»Ist mir scheißegal«, blaffte sie.

»Na dann … bitte mir zu folgen. Ich bin übrigens Joe«, reichte er Ally die Hand, die sich ihm ebenfalls vorstellte und der Pats Ausbrüche langsam peinlich wurden. Entweder hatte er einen unerschütterlichen Gleichmut oder er kannte Pat schon lange genug, um ihren barschen Tonfall zu überhören. Er führte sie um die Ecke vor eine Parkbucht mit einem sichtlich in die Jahre gekommenen Volkswagen.

»So, bitte, Schlüssel stecken.«

Pat funkelte ihn an. »Den Tacky? Willst du mich verarschen? Die Bums-Schleuder kannst du den Anfängern andrehen und dir die Nuttenkiste in den Arsch …«

Auf Allys Berührung am Arm und fragenden Blick wurde sie etwas leiser und fügte zur Erklärung hinzu: »Jeder darf da mal drüberrutschen. Die abgewrackten Kisten nehmen wir für Observationen, den kann er sich sonstwohin … Was denn?!« Sie hatte mitten im Satz realisiert, dass sie von ihm aufgezogen worden war. Josephs Grinsen war bei Pats Tirade immer breiter geworden, sein halbes Gesicht schien nur noch aus Zähnen zu bestehen.

»Na, komm schon, das war’s mir wert. Hier, den da drüben kannst du haben, hat gerade mal zwölf Meilen drauf und noch nicht mal die Jungfernfahrt hinter sich.«

Er zeigte auf einen funkelnagelneuen SUV-Streifenwagen, der selbst im Kunstlicht der Garage Eindruck machte.

Pat schien nicht uninteressiert.

»Schon etwas besser«, brummelte sie, ging auf das Fahrzeug zu und schwang sich auf den Fahrersitz.

Joseph öffnete die Heckklappe und zog zwei neue, leichte Schutzwesten heraus.

»Bitte zieht die an. Wo ›POLICE‹ draufsteht, muss auch ›POLICE‹ drin sein.« Er tippte auf die Fahrzeugbeschriftung. »Ich denke, ihr wollt wohl weniger in Signalgelb und Karostreifen herumlaufen, dunkelblau steht euch besser.«

»Danke Joe, machen wir.«

Ally verstand, was er meinte, hatte das Teil schon übergestreift und mit wenigen Griffen die Klettverschlüsse zugezogen.

Pat war darin vertieft, das Armaturenbrett zu inspizieren, und reagierte bereits wieder missmutig auf den von Joe hingehaltenen Uniform-Ersatz.

»Was soll das denn? Um einen Scheiß-Umschlag zu transportieren brauche ich doch wohl nicht auch noch eine Bevormundung für so’n …«

»Weste und diesen Streifenwagen oder den Tacky«, schnitt Joe ihr hart das Wort ab und Pat konnte an seinem Gesicht ablesen, dass er es diesmal absolut ernst meinte. Sie riss ihm die Weste aus den Händen, legte sie blitzschnell an und schenkte ihm dabei einen hitzigen Blick, der Stahl zum Schmelzen gebracht hätte, aber er lächelte bereits wieder. Genauso schnell, wie sie herausgesprungen war, saß sie wieder hinter dem Lenkrad und Ally war auf der anderen Seite eingestiegen.

»Sehr schön!« Joe war zufrieden. »Ich muss dir allerdings noch ein paar Besonderheiten mit dem neuen Bordcomputer erklären. Es gibt da nämlich …«

Pat hatte schon den Motor gestartet.

»Ja, ja, ja – ein andermal. Ist nicht das erste Auto in meinem Leben. Also schönen Dank auch, man sieht sich!«

Bei ihrem Kavalierstart schoss der Wagen mit kreischenden Reifen abrupt nach vorne und die Fahrertür flog wie von Pat beabsichtigt durch die Beschleunigung ins Schloss, ohne dass sie sie zuvor ordnungsgemäß zugezogen hatte. Joe wurde dadurch völlig überrumpelt und gestikulierte mit den Armen, wie Ally beim Schulterblick durchs Heckfenster sehen konnte.

»Meinst du nicht, wir hätten …«

»Nein, meine ich nicht! Der will sich nur wichtig machen. Was soll denn der Aufriss? Hier Tank ist voll, Gas geben, lenken, bremsen, nix Neues.«

»Na ja, der Bordcomputer?«

»Auch kein Hexenwerk, haben wir in den anderen Fahrzeugen auch. Mann, du bist so ein Weichei, mach dich doch mal locker!«, giftete Pat entnervt.

Bis sie endlich in Barnet bei Falchuks Behausung eingetrudelt waren, hatten sie nur wenig miteinander gesprochen. Pats Stimmung war auch durch das neue Auto nicht entscheidend aufgehellt worden.

Und jetzt? Jetzt zuckelten sie schon wieder seit längerem in gleicher Stimmung heimwärts, zum Yard.

Ally spürte instinktiv eine Veränderung. Pat hatte aufgehört zu kauen. Zwischen leicht geöffneten Lidern hindurch bemerkte Ally, dass sie nun als erste vor der Ampel standen. Es mussten demnach etwa fünfzehn Minuten vergangen sein. Sie drehte den Kopf nach rechts und öffnete die Augen. Pats Körperspannung und Haltung erinnerten sie an ihre Hunde, wenn diese eine potentielle Beute witterten und die Richtung anzeigten. Für ein Abbruchkommando blieb dann meist nur etwa eine Sekunde, um …

Die aufheulende Sirene unterbrach ihren Gedankengang. Pat wartete einen Augenblick, bis der Verkehr allseitig zum Stehen gekommen war, tastete sich behutsam in die Kreuzung, überquerte diese und schaltete kurz den Alarmton Yelp ›Anhalten‹ hinzu. Sekunden später standen sie hinter einem Krankenwagen, in den gerade jemand eingeladen werden sollte. Offensichtlich ein Kind.

Während Ally noch versuchte, ihre Gedanken zu sortieren, was Pat wohl im Sinn gehabt haben mochte, erst so lange zu warten, um sich dann in letzter Sekunde doch einen völlig überflüssigen winzigen Vorteil zu verschaffen, war selbige schon aus dem Wagen gesprungen und sprach mit den Sanitätern.

Ally öffnete nun auch ihre Tür und empfand die ihr entgegen prallende Hitze wie einen Schlag vor den Kopf. Raus aus dem Kühlschrank, rein in den Backofen, so fühlte sich das an. Sie war unschlüssig, was nun von ihr erwartet wurde, also blieb sie beim Wagen stehen.

Zumindest war sie sich nun sicher, dass sich ihre Freundin eindeutig im Einsatz befand und keineswegs irgendeiner Marotte nachgegeben hatte. Sie rätselte allerdings, was dazu den Ausschlag gegeben hatte.

Der Motor drehte aus dem Leerlauf auf einmal automatisch höher, die Klimaanlage hatte ihre liebe Mühe und benötigte wie die Signalleuchten zusätzliche Energie.

Der nachfolgende Verkehr stand und wartete, ohne den Versuch aufzuschließen. Wohl weniger aus Rücksichtnahme, sondern eher aus Neugier, vermutete sie. Der Krankenwagen hatte zwar nur seine Warnblinkanlage angeschaltet, aber die blitzenden blauen Lampen des Streifenwagens zogen nahezu magisch alle Blicke an. Fernscheinwerfer und Abblendlicht blendeten wechselseitig getaktet auf und reflektierten trotz hellen Sonnenscheins gut sichtbar an den geöffneten Hecktüren der Ambulanz.

Ally überlegte, die Lampenshow zu beenden, zumal aus den Fenstern immer mehr Menschen herüberschauten und Fußgänger stehen blieben. Allerdings hatte sie keine Vorstellung, was genau sie auf dem Display drücken musste und das Risiko, eine der beiden Sirenen versehentlich zuzuschalten, war ihr im Hinblick auf die Patientin in nur fünf Metern Abstand viel zu groß. Solange Pat beschäftigt war, wollte sie auch nicht unterbrechen.

Als der erste Fahrer die Scheibe herunterließ, um sich vermeintlich dreist zu erkundigen, was denn nun hier los sei, war sie geneigt, ihn anzupflaumen. Sie besann sich jedoch darauf, dass sie schließlich jetzt auch die Polizei repräsentierte, es stand ja auch groß genug auf ihrer Schutzweste, und erstmal höflich sein sollte. Sie ging die paar Schritte nach hinten und fragte freundlich: »Wie kann ich helfen?«

»Mir sagen, wie lange ich noch hier stehen muss«, kam prompt die ungehaltene Antwort. Dazu deutete er auf das Heckfenster des Streifenwagens, in dem rote Leuchtdioden unablässig von NO PASSING zu POLICE wechselten.

Das Überholverbot hatte mit Sicherheit nicht in Pats Absicht gelegen.

»Einen Augenblick noch Geduld, Sir, es geht sicher gleich weiter!«, bluffte Ally und ging Richtung Ambulanz, an Pat vorbei, tat so, als würde sie die Lage vor der Motorhaube des Krankenwagens checken. Pat schickte kurz einen irritierten Blick zu Ally, den die jedoch unbeantwortet ließ, da sie bereits auf dem Rückweg damit beschäftigt war, den wartenden Fahrer sowie die nachfolgenden Fahrzeuge zügig vorbeizuwinken und den Rückstau somit aufzulösen.

Pat war mit dem, was sie klären wollte, offensichtlich fertig. »Spielst du jetzt Verkehrspolizist?«, rief sie schnippisch, als sie aus den Augenwinkeln Ally kommen sah.

»Ehe du die die Klappe zu weit aufreißt, sieh dir mal dein neues Gefährt an. Von vorne und hinten!«

Pat sah zwischen den Alarmleuchten rote Doppelblitze und in Spiegelschrift den Wechsel STOP – POLICE. Nach Umrundung des Fahrzeugs blinkte ihr der Text entgegen, den Ally zuvor im Heck abgelesen hatte.

»Fuck! Ich hatte doch nur kurz den Signalton abgeben wollen.«

»Kann es wohl sein, dass das zu den Dingen gehörte, die dir Joe vor deiner, ähm, überstürzten Abfahrt hatte erklären wollen?«, bohrte Ally genüsslich in dieser Wunde. »Neue Technik und so …«

»Schnauze, Klugscheißer!«

Ally musste die nächsten Fahrzeuge durchwinken.

»Lass uns von hier verschwinden«, meinte Pat, stoppte aber kurz neben der Fahrerseite, winkte einer netten Omi im gegenüberliegenden Haus zu und befahl Ally: »Komm, steig ein!«

»Und was sollte das jetzt?«, erkundigte sich Ally, während sie sich anschnallte und Pat auf dem Display herumfingerte, um das Durcheinander wegen der Außensignale zu beenden.

»Ganz einfach: immer wenn einer von uns, also eigentlich jeder Officer, zufällig mitbekommt, dass ein Kind verletzt wurde, erkundigen wir uns genau nach den Umständen«, erklärte Pat ernst und unterbrach ihre Versuche.

»Wieso das denn?«

»Es gibt eine wahnsinnig hohe Dunkelziffer bei Kindesmisshandlungen und auch wenn die Ärzte Verdachtsfälle melden, nutzen wir jede erdenkliche Chance, um so etwas sofort aufzudecken und zu unterbinden.«

»Verstehe. Das klingt vernünftig. Hast du gut gemacht!«, sagte Ally ohne ironischen Unterton.

»Danke.«

»Bitte«, lachte Ally.

»Allerdings …« Pat zögerte.

»Was?«

Pat sah zu dem Fenster hoch. Die Flügel standen noch offen, die alte Dame war aber verschwunden.

»Mmh, mmh.«

»Nun sag schon!«

»Weiß nicht, nur so’n Gefühl.« Pat wirkte noch unschlüssig.

»Ja, und, folg’ ihm doch einfach!«

»Echt jetzt? Und sowas ausgerechnet von dir?!«

»Sicher, sag mir nur, wenn ich was machen soll.«

»Okay. Wie gesagt, nur so, eigentlich … na, egal. Wir geh’n mal die Omi da oben besuchen, entweder wollte die uns was zu dem kleinen Mädchen sagen oder wir verschwinden einfach gleich wieder.«

Ally nickte und Pat lenkte den Wagen von der Straße weg einige Meter in die gegenüberliegende Hofeinfahrt hinein. Sie verkniff sich den Hinweis auf das absolute Halteverbot ›Feuerwehreinfahrt‹, aber Pat kannte sie auch schon gut genug, um zu wissen, was ihre Freundin gesehen hatte und hatte sagen wollen.

»Ja doch, mach dich locker! Wenn’s brennt, kriegen wir das schon mit.«

»Ich sag doch gar nichts.«

»Wolltest aber! Wie schon gesagt – Klugscheißer!«

Statt einer Antwort grinste Ally nur und Pat schaltete endlich auch noch die Blitzleuchten aus.

Ein Gruppe Jugendlicher beendete gleichzeitig das Malträtieren des ausgeleierten Maschendrahtzauns, der das Nachbargrundstück abtrennte, und kam erkennbar missmutig und wenig freundlich gestimmt näher.

»Und jetzt?«, fragte Ally.

»Aussteigen, Job machen!«, kommandierte Pat, wieder heiter.

Ally war sich nicht sicher, ob sie damit meinte, gleich auf die Bande loszugehen, die noch gar nichts Verbotenes unternommen hatte. Pat war aber schon draußen, sah Ally durch die offene Tür provozierend an, zog die Weste aus und warf sie achtlos auf den Sitz. Ally runzelte die Stirn, kommentierte aber nicht, obwohl sie Pats Verhalten ziemlich merkwürdig und irrational fand. Vielleicht die Hitze? Für Diskussionen war auch keine Zeit, denn die Teens kamen zügig näher.

»Einfach ignorieren!«, tuschelte Pat im Vorbeigehen und verriegelte den Wagen, der mit zwei Pieptönen und Lichtzeichen quittierte.

Sie wandten sich dem Haus zu und läuteten im ersten Obergeschoss rechts. Die sechs Jungen und zwei Mädchen waren inzwischen dem neuen Wagen ganz nahe, der auch in etwas weniger glänzendem Zustand wie ein unerwünschter Fremdkörper, um nicht zu sagen feindlicher Eindringling, in dieser Umgebung wirkte.

»Ey!«, brüllte Pat hinüber. »Ein Kratzer an der Karre und es gibt was aufs Maul!«

Das kollektive Gelächter war Antwort genug und Pat setzte sich in Bewegung, um ihr Versprechen einzulösen, als das Küchenfenster über ihnen aufging.

Ally trat vom Eingang zurück, sah nach oben und wollte gerade etwas sagen, als Mrs. Garwood schon nach unten rief: »Oh, hallo, wie schön! Kommen Sie nur gerne hoch, ich öffne gleich!«

Pat sah auch kurz hoch und wollte sich einen der Jungen abgreifen, aber die ganze Gruppe wirkte bereits unsicher und wich einige Schritte zurück. Der Summer gab zu verstehen, dass die Eingangstür nun freigegeben war. Pat ließ zufrieden von ihrem Vorhaben ab und schloss sich Ally an, die inzwischen die Haustüre offen hielt. Irgendetwas passte hier nicht, meldete sich ihr Gefühl, aber Pat ließ ihr keine Zeit zum Nachdenken.

»Na also, geht doch«, äußerte Pat selbstzufrieden beim Betreten des Gebäudes.

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend stiegen sie im Erdgeschoss ein paar Steinstufen hoch, die ab dem Treppenabsatz in knarrende, ausgetretene Holzstufen übergingen.

»Sollten wir uns nicht bei der Zentrale abmelden?«, fragte Ally und machte Halt.

»Wieso, hast du Schiss?«, stichelte Pat. »Vor der Omi …?«, schob sie hinterher und hielt dies für einen besonders gelungenen Witz.

»Bei Adler hast du es jedenfalls gemacht und mir erzählt, wie wichtig das wäre.«

»Ja, ja, ja«, meinte Pat trotzig, wohl, weil Ally wieder recht hatte, sie es aber nicht zugeben wollte. Es war schon blöd genug gewesen, dass sie ihretwegen länger im Stau hatten stehen müssen, anstatt mal flink über die Engstelle zu huschen.

»Wir sind sowieso gleich wieder weg. Sei nicht so pedantisch und gib einfach Ruhe!«

»Du bist der Boss«, bestätigte Ally und beendete das Thema.

Die Wohnungstüre stand schon offen und Rosie Garwood strahlte ihnen fröhlich entgegen.

»Ah, Polizei! Nur immer herein mit Ihnen! Gut, dass Sie kommen, das erspart uns einen Anruf!«

7

Superintendent Timothy Ellis benötigte keinen Rückgriff auf seine kriminalistische Erfahrung, um zu erkennen, dass DC Sanderson an diesem Morgen deutlich neben der Spur lief. Er sprach sie daher behutsam darauf an.

Aufgrund der von ihr erklärten Umstände konnte er es ihr nicht verdenken und hatte Chloe somit bereits angeboten, ab Mittag ausnahmsweise frei zu nehmen. Eine durchwachte Nacht war nicht die ideale Voraussetzung für einen anstrengenden Dienst. Gewiss machte sich auch bei ihm eine Art Erschöpfung breit, die jedoch präziser als Dienstmüdigkeit zu bezeichnen wäre.

Die Aussicht auf einen verdienten Ruhestand in weniger als zwei Jahren trug ihn immerhin stoisch durch jeden noch verbleibenden Arbeitstag, selbst durch diesen Montag. Montage waren immer eine besondere Herausforderung, nur heute schien der Wochenbeginn sich besondere Mühe zu geben, um alle zu nerven. Dabei hatte er doch mit DS Farquharson als zusätzliche Kraft auf mehr Entlastung gehofft. Dummerweise hatte sein Chef diesbezüglich auch eigene Vorstellungen gehabt.

Der Chief-Superintendent hatte höchst erfreut auf SI Ellis’ als Schachzug gedachten Vorschlag reagiert und die bewilligte personelle Verstärkung der zweiten Mordkommission zum Anlass genommen, eine ganze Reihe noch schwebender Fälle der letzten zehn Tage von der ersten und dritten Homicide Division umzuwidmen und der zweiten aufhalsen zu lassen. Es war wenig verwunderlich, dass die Kollegen dabei etwas großzügiger im Abgeben unliebsamer Fälle gewesen waren, als man ihnen führungsseitig eigentlich zugestanden hatte.

Zu spät, um noch dazwischen zu gehen, hatte Ellis erfahren, dass Leon Aiken beschlossen hatte still zu halten und Chloe, Pat und Ally mit der Durchsicht beauftragen wollte.

Aiken gedachte sich darauf zu verlassen, dass DC Sanderson als die Einzige mit Kriminalerfahrung in dieser neuen Konstellation mit drei Frauen die nötige Sorgfalt und Umsicht walten lassen würde. Da sie sich wie abgesprochen nun auch bereits für die Fortbildung zum Detective Sergeant angemeldet hatte, konnte und sollte es eine gute Vorbereitungsübung für sie sein. Er selbst und sein Sergeant Scott Peters hatten ohnehin genug zu tun. Als leidenschaftlicher Teamplayer war er gespannt darauf, was die neue ›Girlsgroup‹ denn so abarbeiten würde.

So lautete der Plan, wie ihn Sanderson Ellis gerade vorgetragen hatte, wäre da nicht DI Aiken bereits zum Einsatz entschwunden und hätte der Commander nicht auch noch dazwischen gegrätscht. Wie es seine Unart war, hatte er über alle Hierarchiestufen hinweg direkt auf Mitarbeiter zugreifen lassen und DS Farquharson nebst Miss Colmberg für einen ›Sonderauftrag‹ abberufen. Im Ergebnis befand sich gegen halb zehn eine übermüdete Sanderson, mit noch höheren Fallstapeln als üblich, alleine vor dem Schreibtisch ihres Chefs, und hoffte darauf, dass der SI ihr in dieser Lage eine Hilfe sein würde. Zu allem Überfluss war unmittelbar zuvor noch eine Meldung hereingeschneit, die einer zügigen Entscheidung bedurfte.

Ellis setzte sein Brillengestell ab und putzte mit einem sauberen Leinentuch ausgiebig die Gläser, die sich bei ihrer Herstellung nicht zwischen rund oder oval hatten entscheiden wollen und nun irgendwo dazwischen lagen. Zwischen dem Anhauchen und Reiben sah er zu Chloe hinüber, die ungeduldig auf eine Entscheidung wartete und sicher war, dass Ellis sie derzeit nur leicht verschwommen wahrnehmen würde.

»Sanderson«, begann er, »es ist meist nichts so dringend, wie es sich oftmals den Anschein gibt. Fanden Sie in den Unterlagen denn eine Angelegenheit, die der sofortigen Behandlung bedarf? Anders gefragt, können die Dinge auf eine spätere Entscheidung durch DI Aiken warten?« Damit hatte er eine goldene Brücke gebaut. Chloe schob die Unterlippe kurz vor.

»Ich denke, bis heute Nachmittag kann sich fast alles noch ein wenig gedulden. Wir haben ja ohnehin zu wenig Leute hier und es ergibt keinen Sinn, das gleich an den KDD zurückzugeben. Bis auf die letzte Meldung, die vor wenigen Minuten reinkam …«

»Ich bin ganz Ohr.«

»Eine Funkstreife meldet einen verdächtigen Todesfall. Augenscheinlich eine Vergiftung durch Lackierspray, möglicherweise ein Unfall oder eben auch nicht.«

Der Superintendent runzelte fragend die Stirn.

»Die Streife ist noch vor Ort und einem Officer kommt die Sache merkwürdig vor, er hat um Unterstützung gebeten, und von der Bereitschaft her wären wir jetzt dran, Sir.«

»Was haben Sie denen gesagt?«

»›Alles so belassen und auf Weisung warten!‹ Wollte erst mit Ihnen abstimmen, ob ich rausfahren soll. Sie wären dann hier alleine.«

»Mmh«. Ellis trommelte mit den Fingern auf der Schreibtischunterlage, während er an Chloe vorbei zu einem imaginären Horizont schaute. Mit einer Beförderung war nicht mehr zu rechnen und aufgrund des in Sichtweite befindlichen Ruhestandes hatte man sogar auf seine Vorladung zum eigentlich obligatorischen Fitnesstest verzichtet. Seine Neigung, in der Gegend herumzuspringen und Straftätern nachzujagen, tendierte nicht erst in diesen letzten Wochen gegen Null. Unbewusst strich er über seinen Bauch und sah nach unten: der Gürtel war aus dieser Perspektive nicht zu erkennen. Vielleicht sollte er sich doch mehr bewegen? Zumindest ein wenig.

Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Gut. Wir gehen!«

»Wir, Sir?«

»Genau das! Schauen Sie nicht so entgeistert, ist das denn so ungewöhnlich, wenn ich mich persönlich an einen mutmaßlichen Tatort begebe?«

»Bei allem gebotenen Respekt, Sir – ja, Sir, ist es!«

Ellis grinste sie an. »Dann wird es ja wohl höchste Zeit, mal wieder Detektiv zu spielen. Wohin müssen wir?«

»Rüber nach Walworth, Burton Grove.«

»Gut. Bestellen Sie uns eine Alarmstreife in den Hof! Und Sanderson …«

»Sir?«

»Sie leiten das vor Ort, ich schaue nur zu.«

Chloe rutschte das Herz in die Hose. Sie fühlte sich wie eine Schülerin, die unversehens nach vorne an die Tafel zitiert worden war. Es bestand nicht die allergeringste Chance, sich irgendwie durchmogeln zu können, auch wenn das sowieso nicht ihre erste Wahl gewesen wäre.

»Wie Sie meinen, Sir«, nickte sie und tippte von seinem Apparat die Nummer der Funkzentrale.

Einerseits freute es sie, dass sie somit Diskussionen mit Joe Messua aus dem Weg gehen konnte, der je nach Tagesform schon mal rumzickte, wenn ein rangniederer Officer einen Wagen anforderte. Andererseits war dies ihr erster Außeneinsatz mit einem vier Ränge über ihr stehenden Aufpasser.

Ob der SI danach immer noch große Stücke auf sie halten würde? Hoffentlich machte sie keine allzu großen Fehler.

Der einsetzende Adrenalinschub vertrieb mit einem Schlag die bleierne Müdigkeit, die immer wieder versucht hatte, von ihr Besitz zu ergreifen. Ein Vorteil, auf den sie lieber zugunsten ausgiebigen Aktendurchsehens im Yard verzichtet hätte.

8

Keerthi hatte den ganzen Morgen ungeduldig auf Donovans Nachricht gewartet. Er hatte ihr fest versprochen, sich sofort bei ihr zu melden, sobald der Coup geklappt hatte.

Bislang keine Kurzmitteilung, kein Anruf, nichts auf der Mailbox. Im Gegenteil, ihre letzten vier Anrufe zwischen ihren Kundinnen landeten alle auf seiner Mailbox.

In den riesigen Spiegeln, die die Wände säumten, war nichts von ihrer inneren Verfassung ersichtlich. Sowohl sie als auch alle Anwesenden sahen eine sympathische junge Frau indischer Abstammung mit schulterlangen, pechschwarzen lockigen Haaren, die vom Hinterkopf voluminös über den hellblauen Kittel flossen. Über die Stirn und ihr apart anmutendes Gesicht fielen breite Strähnen der vorne kurz gehaltenen Haare, die hin und wieder auch vor den Augen herumstreunten und ebenso routiniert wie beiläufig von ihr beiseite gewischt wurden, wenn sie zu sehr störten. Zu ihrem Ärger hatten sich heute über Nacht zwei Pickel auf ihrer rechten Wange häuslich eingerichtet und wurden so gut wie möglich mit etwas Make-up kaschiert. Sie hatte schließlich nur einmal den Fehler gemacht, allzu früh daran herumzudrücken, und dann wirklich alle Blicke auf die eklige Entzündung gelenkt. Im Stillen seufzte sie und wünschte, dass dies ihre einzigen Probleme wären. Die beste Ablenkung bestand darin, wie üblich mit den Kunden und Kundinnen zu plaudern.

Ab elf Uhr begann sie sich jedoch ernsthaft Sorgen zu machen. Während sie wie immer freundlich Haare schnitt, wusch, färbte, föhnte und frisierte, wanderte ihr Blick immer wieder zur Uhr. Es schien dem Zeiger unendliche Mühe zu machen, sich fortzubewegen. Ihrem Eindruck nach klebte er geradezu an dem Zifferblatt, bis er sich schließlich erbarmte und – mit dem kleinen Zeiger auf der Eins, dem großen auf der Zwölf –, die erlösende Mittagspause anzeigte.

Im Hinterzimmer warf sie achtlos den Kittel über eine Stuhllehne und holte hektisch ihren kleinen Handtaschenrucksack aus dem Spind.

»Bis nachher«, rief sie ihren Kolleginnen sowie der Chefin zu und war schon draußen, ehe jemand eine Frage stellen oder sich ihr anschließen konnte. Heute konnte sie unter keinen Umständen Gesellschaft brauchen. So schnell es ihre hohen Absätze zuließen, rannte sie zur nächsten U-Bahn-Station. Während der Fahrt sah sie immer wieder unruhig auf ihr Smartphone.

Es war erst etwa fünf Monate her, dass Donovan in ihr Leben getreten war. Da eine Kollegin sich mit der Tönung einer Kundin vertan hatte und das wieder geradebiegen musste, war sie damals an deren Stelle die nächste freie Kraft gewesen, als Mr. Hildrew nach der kurzfristigen Möglichkeit eines Herrenschnitts gefragt hatte. Sie musste am Tresen buchstäblich zu ihm aufsehen; er war vierunddreißig Zentimeter größer als sie und von einem jungenhaften Charme, der sie beinahe erröten ließ. Wäre es nicht so klischeebeladen, hätte man von Liebe auf den ersten Blick sprechen können. Zumindest von ihrer Seite. Bei ihm war sie sich bis heute nicht hundertprozentig sicher, aber die Art und Weise, wie er mit ihr umging und wie sie miteinander schliefen, zerstreute ihre zarten Zweifel ein ums andere Mal.

Er hatte ihr noch keinen Antrag gemacht, aber sie war fest entschlossen, ihn keiner anderen zu überlassen, auch wenn es außer Frage stand, dass jemand wie er wirklich viele andere hätte haben können. Sollte es nur eine versuchen – sie würde ihr die Augen auskratzen, die passenden Fingernägel dazu hatte sie ja. Lang und äußerst stabil, sehr selten, dass mal einer abbrach. Hinsichtlich Eifersucht und Besitzansprüchen hätte sie in einer anderen jungen Frau eine Seelenverwandte gefunden, aber die wusste noch nichts von Keerthis Existenz.

Auf dem Weg von der Station zum Zielort versuchte sie, sich diese unguten Gedanken an mögliche Nebenbuhlerinnen aus dem Kopf zu schlagen. Es war, dessen war sie sich so gut wie sicher, nicht die Eifersucht, die sie umtrieb, sondern die nagende Ungewissheit, was ihn davon abgehalten haben mochte, sich wie versprochen zu melden.

Auf dem Weg kam sie an Donovans rotem Mini Cooper mit den weißen Streifen und den beiden Glückswürfeln am Rückspiegel vorbei. Offensichtlich hatte er absichtlich etwas weiter weg geparkt, denn es waren noch gut dreihundert Meter bis zum Ziel.

Als sie sich dem Haus näherte, dessen Adresse auf dem zusammenknüllten Notizzettel in ihrer Handtasche stand, wurde sie noch ratloser. Hier sollte der große Fang, von dem er heute Nacht gesprochen hatte, stattgefunden haben?

Eine ärmlich und heruntergekommen wirkende Gegend, die sie ohne diese besonderen Umstände nicht freiwillig aufgesucht hätte. Und hier wollte er eine wertvolle Münzsammlung aufgetan haben?

Die Mittagssonne brannte von oben und der schwarze löchrige Asphalt warf die Hitze von unten erbarmungslos zurück.

Es stank nach Teer.

In dem Salon war sie an hohe Temperaturen gewöhnt und unter dem hauchdünnen Kleid gab es derzeit nichts, was sie ins Schwitzen hätte bringen können, dennoch fühlte sie sich unwohl. Sie nestelte eine Weile nervös an dem kleinen silbernen Kruzifix, das sie um den Hals trug. Dann wühlte sie in ihrer Handtasche, förderte eine Zigarette nebst Feuerzeug zutage, entflammte sie und nahm ein paar tiefe, hastige Züge.

Die Zigarette zwischen ihren dezent geschminkten Lippen festgeklemmt, sah sie nochmals nachdenklich auf den Zettel. Wenn sie nun dort aufkreuzte und Donovans Plan zunichte machte, wäre er bestimmt erbost. Andererseits mochte ihm doch etwas zugestoßen sein und sie stünde hier einfach untätig herum! Sie machte einen besonders tiefen Lungenzug, stieß den inhalierten Rauch durch die Nase gleichmäßig aus und trat die Kippe mit einer Fußdrehung platt. Ihr Entschluss stand fest, sie trippelte bereits in ihren offenen Stilettos über die Straße.

Vor der eisernen, dunkelgrünen Haustüre mit großflächig abgeblättertem Lack angekommen machte sie Halt und holte tief Luft, da sie spürte, wie ihr der Mut schwand. Ehe er sie völlig im Stich lassen würde, drückte sie rasch einen Klingelknopf und hoffte insgeheim, dass niemand öffnen würde.

Nach einer Minute traute sie sich schon nicht mehr, das zweite Mal zu läuten, und wollte sich zum Gehen wenden, als der Summer ertönte. Sie drückte gegen die schwere Tür, die noch aus Kriegszeiten zu stammen schien, und trat ein.

Kühle Luft strömte ihr entgegen und die Haut reagierte dankbar auf den plötzlichen Temperaturunterschied.

Die Tür fiel hinter ihr krachend ins Schloss und verbannte das Sonnenlicht nahezu vollständig aus dem Aufgang.

Sie blinzelte, um die Augen auf das schwächere Licht einzustellen. Nur die tellergroße, rautenförmige Aussparung im Türblatt gab noch zu erkennen, dass draußen Tag war.

In dem kahlen Treppenhaus klapperten ihre kleinen Absätze nervös auf gesprungenen, dunkelroten Fliesen und verursachten ein ebenso kleines Echo im Vorraum. Unvermittelt blieb sie stehen, um nachzudenken.

»Hallo?«, rief jemand fragend in die Stille.

Sie schluckte, es gab wohl kein Zurück.

»Ich komme«, antwortete sie und erschrak über den Klang ihrer Stimme, die von den steinernen Wänden zurückgeworfen wurde. Dann setzte sie ihren Fuß auf die erste Stufe. Ab diesem Augenblick würde sich Keerthi Nag keine Sorgen mehr machen müssen. Nicht um Donovan und nicht um ihre Pickel.

9

Von einem Park zu sprechen wäre die Übertreibung des Jahrhunderts gewesen. Zwischen den alten Häusern war im Laufe der Jahrzehnte ein kleines Areal von der Bebauung verschont geblieben. Ein gutes Dutzend mächtiger Kastanien und eine Handvoll anderer Bäume hatten Krieg und Smog getrotzt und die verschärften Umweltauflagen ihretwegen eine nachträgliche Bebauung erfolgreich verhindert.

Der ursprüngliche Kiesbelag der seinerzeit angelegten Wege hatte sich schon lange verflüchtigt und nur die Trampelspuren eines betonharten Lehmbodens zeugten von der damaligen Absicht der Gärtner. Die Rasenflächen, die außerhalb der Baumschatten lagen, waren entweder verbrannt oder hatten sich hartnäckigem Unkraut ergeben.

Das kontinuierliche Rauschen der Blätter im Wind erzeugte stets den irreführenden Eindruck eines fließenden Gewässers.

Die Jugendbande, die sich hier ständig traf, sorgte neben den Budgetkürzungen der Stadt dafür, dass sich niemand mehr um die Pflege des Areals kümmerte.

Das ›Dreieck‹, wie sie es nannten, war eine Art FreiluftWohnzimmer und eignete sich hervorragend, um Geschäften aller Art nachzugehen. Es bot ideale Fluchtmöglichkeiten in verschiedenste Richtungen und die eingesetzten Buben und Mädchen standen mit zehn Jahren bereits an den Zugängen wirkungsvoll Schmiere.

Makenna war aus diesem Alter schon lange raus. Sie saß rittlings auf seinem Schoß und bedeckte seine Wangen und den Hals mit Küssen. Mick lehnte sich dabei auf der maroden Bank zurück.

Seiner Bank. Der einzigen im Schatten.

Er drückte seinen Rücken an die verbliebene Querstrebe und ärgerte sich jedes Mal wieder über die fehlende obere Bohle. Rechts und links ragten rostige Winkel ins Leere, die ihr zuvor den Halt gegeben hatten. Wie ein Kratzer in einer Schallplatte sprang seine Erinnerung bisweilen zu dem Augenblick zurück, als er in der Dämmerung dazugestossen war, als einer der Boys unentwegt schwere Tritte gegen das Holz ausführte, um sich vor den anderen zu profilieren.

Unter den anfeuernden Rufen der Gruppe ging es wohl darum zu beweisen, dass er stark genug war, das drei Zentimeter dicke Holz zu zerschmettern. Die Verankerung im Streifenfundament quietschte bei jedem Tritt, gab aber nicht nach und hielt die Bank in Gänze in der vorbestimmten Position. Unter Winterwetter, Regen, Schnee und wieder Sonne hatte das Holz jedoch seine Lackschicht und Elastizität verloren. Ehe Mick dazwischenrufen konnte, splitterte es krachend in der Mitte auseinander. Lautes Krakeelen begleitete Rizzos Triumph.

Als die Ersten Mick näher kommen sahen, wurde es schnell stiller. Die Luft knisterte vor Spannung, ob und wie er reagieren würde, während er langsam auf Rizzo zuging. Die Gruppe wich etwas zurück und Mick sah ruhig auf die zerborstene Bohle, dann auf Rizzo. Der zeigte eine Spur von Unsicherheit, wurde sich aber rasch der Situation bewusst, dass ein gutes Dutzend Augenpaare auf ihn gerichtet waren. Er war größer, viel schwerer und breiter als Mick und sogar in der Lage, einen Kleinwagen umzustürzen, was er bereits eimal getestet hatte. So hatte er einen Smart bei passender Gelegenheit aus Jux in den Straßengraben gekippt. Er streckte sich und rollte mit den Schultern, bereit anzugreifen, als Mick in aufforderte: »Los, bring es zu Ende!«

Rizzo war schon immer etwas schwer von Begriff gewesen; so wusste er nicht, ob er Mick jetzt niederschlagen und damit die Rangfolge für sich beanspruchen sollte. Während er etwas tumb vor sich hin glotzte, half ihm Mick auf die Sprünge.

»Hier, die Teile hängen doch noch fest.« Mick hatte auf die Reste gezeigt, die links und rechts noch von Bolzen in der geschundenen Aufhängung baumelten.

Rizzos Gesicht hellte sich auf, er sah sich um, ob auch alle dem Schauspiel folgten, spuckte in die Hände und riss wie ein Berserker an dem ersten Fragment, das es ihm nicht leicht zu machen beabsichtigte. Es dauerte fast volle fünf Minuten, bis sich das Teil mit einem letzten gequälten Knirschen ergab. Trotz des dämmrigen Lichtes sah man, dass Rizzo schwitzte wie ein Schwein und außer Atem gekommen war.

Mick hielt seine Arme wie ein Gabelstapler hin, um die Beute aufzunehmen, und deutete mit einem Kopfnicken auf das zweite Teil. Rizzo schien keine große Lust zu verspüren, weiterzumachen, aber Mick provozierte ihn lautstark – »Du wirst doch wohl nicht schlappmachen wollen, oder?« – und sah fragend in die Gruppe, die zwar inzwischen gelangweilt erschien, aber dennoch wissen wollte, warum Mick nichts unternommen hatte oder ob doch noch etwas käme.

Je nach Betrachtung meinte es das Schicksal gut mit Rizzo. Ob sein aufkommender Zorn ihm zusätzliche Kräfte verliehen hatte, blieb dahingestellt, aber diesmal legte er schon nach zwei Minuten stolz und heftig keuchend den letzten Teil der Beute auf Micks wieder freie Unterarme. Der wog das Stück prüfend in seinen Händen, ließ es ein paar Mal darin hüpfen, umfasste es fest und drosch ohne Vorwarnung damit so oft auf Rizzos rasierten Schädel, bis dieser an mehreren Stellen aufplatzte.

Das Blut ergoss sich in solchen Strömen über den Kopf, dass sein Gesicht dahinter nahezu verschwand. Rizzo sank gleichzeitig mit beiden Beinen ein, fiel auf die Knie und Mick schickte ihn mit einem letzten Schlag seines Hilfsmittels vollständig zu Boden. Eines der Mädchen kreischte, alle anderen starrten geschockt auf die Szene.

Mick warf das verschmierte Brett achtlos zur Seite. Rizzo röchelte, blutete auch aus dem Mund und produzierte bei jedem Atemzug kleine schaumige Bläschen.

»Ein für allemal: meine Bank, mein Revier! Wenn noch jemand ein Problem damit hat, dann soll er es jetzt sagen«, rief Mick in die Gruppe.

»Ich!«, brüllte plötzlich jemand. Mick erkannte in der heranpreschenden Gestalt Lea, das Mädchen, das zuvor aufgeschrien hatte und allgemein als Rizzos Freundin bekannt war. Mit wütendem Geheul stürzte sie sich auf Mick, der jedoch geschickt auswich und ihr mitten im Lauf brutal in den Magen schlug. Sie klappte auf der Stelle zusammen, fiel auf die Knie und japste nach Luft.

»Noch jemand?«, rief er so ruhig in die einsetzende Stille, dass auch dem Letzten das Fürchten kam.

Das Brett befand sich wieder in seiner Hand. Das Mädchen hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Bauch, versuchte, sich etwas aufzurichten, und Mick schlug ihr mit der Faust hart gegen den Kopf. Sie stürzte neben ihren Freund und blieb reglos im Halbschatten zwischen den Laternen liegen. Der Wind rauschte ungerührt durch die Bäume und niemand wagte zu sprechen oder auch nur lauter zu atmen.

Makenna drückte auf einmal ihre Schenkel zusammen und holte ihn mit dem Druck auf seine Nieren in die Gegenwart zurück.

»Wo bist du nur wieder gewesen?«, fragte sie vorwurfsvoll und presste ihr Becken noch stärker gegen seinen Schritt. Die kurzhaarige Brünette mit großen Naturlocken und Stupsnase zog einen Schmollmund, da sie durch ihre Hotpants hindurch keine angemessene Reaktion auf ihre bisherigen erotischen Bemühungen verspüren konnte. Sie nahm sein Gesicht in beide Hände und versuchte vergeblich, einen Zungenkuss zu platzieren, aber Mick drehte seinen Kopf weg und herrschte sie an: »Lass das!«. Er warf sie brüsk ab und sie plumpste neben ihm auf die Bank, wobei einer ihrer blauen Flipflops vom Fuß glitt.

Mitleidslos starrte Mick sie an.

Makenna war keine Schönheit, hatte eine eher knabenhafte Figur, aber anscheinend alle erdenklichen Pornos eingehend studiert und sich ihm auf Weisen dargeboten, die selbst Mick manchmal peinlich erschienen. Jedenfalls hatte sie Mick vor mehr als zwei Jahren als ihr Eigentum erobert und würde buchstäblich alles tun, um ihre Besitzansprüche zu verteidigen.

Alles.

Auf Leben und Tod.

Völlig egal, wie herablassend er sie zeitweise in einer Art Hassliebe behandelte. Wenn er sie fortstieß oder schlug, war das für sie nur die Fortsetzung ihrer sexuellen Ergebenheit mit anderen Mitteln.

Bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit versuchte sie durch intime Handlungen und Gesten dem Rest der Gang zu zeigen, dass ausschließlich sie diejenige war, die er zu vögeln hatte. In der Nacht vor gut zweieinhalb Jahren hatte alles begonnen. Seine Kraft und Entschlossenheit, als er damals Rizzo und dessen Schlampe in die Schranken verwiesen hatte, waren der Anfang gewesen. In der gleichen Nacht hatte sie Mick so lange bedrängt, bis er sie sich endlich wiederholt und heftig nahm und sie beide sich bis Tagesanbruch mit einem gefühlt halben Kamasutra völlig verausgabt hatten. Seitdem klebte sie wie eine Klette an ihm.

Sie lächelte zufrieden.

Dennoch vermied sie es ebenso sorgsam wie alle anderen, über die brutalen Ereignisse jener Nacht auch nur ein Sterbenswörtchen zu verlieren, was über die ohnehin kolportierten Nachrichten hinausging. Bis heute blieb es daher außer für sie und Mick offiziell ein Rätsel, was in der halben Stunde geschehen war, nachdem alle fluchtartig den Park verlassen hatten. Mit Ausnahme von Lea hatte keiner etwas ausgesagt und der glaubte man nicht, weil alle sich gegenseitig Alibis gegeben hatten.

Die Ermittlungen verliefen im Sande und wurden eingestellt. Näher kommende Sirenentöne hatten sie gleichzeitig in alle Richtungen fliehen lassen. Makenna hatte angeblich niemand gesehen, aber auch nicht vermisst. Zwar hatten die anderen schnell bemerkt, dass die vorbeirasenden Polizeiwagen damals gar nicht ihnen gegolten hatten, es verspürte aber auch niemand große Lust, zu Rizzo und Lea zurückzukehren. Sie würde sich schon um ihn kümmern, wenn sie wieder aufwachte.

Dachte man.

Nach etwa dreißig Minuten war es dann soweit. Das neuerliche Geheule wollte kaum ein Ende finden und Fahrzeug um Fahrzeug verdrängte mit blauen Blitzen und Flackern die Dunkelheit. Zuerst Taschenlampen und dann Halogenscheinwerfer durchschnitten das Halbdunkel der Anlage. Makenna stieß als Letzte zur Gruppe und wurde gleich zur Erkundung von den anderen wieder vorgeschickt. Sie war immer schon geübt darin gewesen, sich gut verstecken zu können und plötzlich wie aus dem Nichts aufzutauchen. Es gelang ihr somit leicht, einige nützliche Blicke zu erhaschen und Wortfetzen aufzuschnappen.

Ihr Bericht deckte sich mit dem, was am nächsten Tag die Runde machte: ein anonymer Anrufer sei bei einem spätabendlichen Spaziergang über eine Bewusstlose gestolpert, die neben einem augenscheinlich schwerverletzten jungen Mann lag. Im Gegensatz zu der niedergeschlagenen Frau kam für ihn jede Hilfe zu spät, wie Makenna hochzufrieden festgestellt hatte.

Er war erstochen worden.

Soweit Makenna gehört haben wollte, möglicherweise sogar mit seinem eigenen Messer, von dem seitdem jede Spur fehlte.

Dieses verdammte Messer, das ihr immer wieder im Kopf herumspukte und ihren Magen verkrampfen ließ. Immerhin hatte sich niemand für sie interessiert und auch nicht nach ihr gesucht.

So dachte sie in diesen Tagen, bis sie eines Besseren belehrt worden war. Es hatte doch jemand gequatscht.

Mit mehr Glück als Verstand hatte Mick damals ohne Nachzudenken die Holzbohle beim Wegrennen einfach mitgenommen. Nachdem ihm klar wurde, dass Rizzos tot war und das Teil mit seinen Abdrücken verziert sein musste, hatte er es in den kleinen Flusslauf in der Nähe geworfen.

»Was?«, schrie Mick in sein Smartphone und Makenna erschrak, unsanft sowohl aus ihren Gedanken als auch aus Micks Schoß gerissen, auf den sie schon wieder unbemerkt ihren Kopf gelegt hatte.

»Was ist denn los, Baby?«

»Die Bullen sind bei Grams«, knirschte er zornig zwischen den Zähnen und rannte los, ehe sie ihn aufhalten konnte.

Sorgenvoll sah sie ihm nach.

Er war sicher kein ›Bad Boy‹, auch wenn er sich Mühe gab so zu wirken, aber sein hitziges Temperament würde ihn irgendwann den Kopf kosten, dessen war sie sich sicher. Nicht aber, wenn ihn jemand beschützte. Jemand, der es gut mit ihm meinte. Jemand, der ihn hingebungsvoll, gar aufopferungsbereit liebte und weit gehen würde für ihn, selbst über eigene Grenzen hinweg.

Sehr weit.

Im Augenblick war es sinnlos, ihm nachzulaufen, so weit konnte sie Mick schon einschätzen.

Sie brach einen dünnen Ast von dem Baum ab, klappte ihr Springmesser aus und begann zu schnitzen.

10

»Herein, herein, wenn’s kein Schneider ist!«, rief Rosie fröhlich ins Treppenhaus hinunter, als Pat und Ally in Sichtweite kamen.

»Ach Gott, seid ihr jung«, meinte sie, als habe sie die beiden vor der Türe nun erst richtig wahrgenommen. »Darf ich eigentlich ›du‹ sagen, oder ist das einem Officer gegenüber zu respektlos?«, plapperte sie weiter drauflos.

Pat wollte gerade antworten, hatte aber keine Chance gegen Rosie, die sie bereits an der Hand ergriffen und in den kleinen Flur gezogen hatte. Kaffeeduft schlug ihnen entgegen und schien die ganze Wohnung auszufüllen.

»Platz ist in der kleinsten Hütte!«, damit schob sie Pat ins Wohnzimmer weiter, die sich ein wenig wie abgeführt vorkam und hilfesuchend über die Schulter zur grinsenden Partnerin sah. Selbst ein Drei-Zentner-Koloss hätte gegen Pat schlechte Karten, aber hier stand es eins zu null für die Omi.

Ein schneller Rundblick ließ Ally fünf Türen erkennen, die von dem kleinen rechteckigen Flur abgingen. Durch eine waren sie eingetreten, drei standen offen. Schräg rechts ging es in die Küche, daneben das Schlafzimmer, in dem sie ein Doppelbett ausmachen konnte, links die Wohnstube, also musste sich hinter der letzten in ihrem Rücken die Toilette, beziehungsweise das Bad, befinden. Ohne um Erlaubnis zu fragen, öffnete sie rasch die Tür und fand ihre Vermutung bestätigt.

Es war immer besser, nachträglich um Entschuldigung zu bitten, als plötzlich und unerwartet jemanden in seinem Rücken vorzufinden. Hier agierte sie wieder automatisch im Selbstschutzmodus und nicht, wie sich eine reguläre Polizeibeamtin ohne Durchsuchungsbefehl verhalten hätte. Das Abchecken der jeweils aktuellen Umgebung ging bei ihr grundsätzlich so schnell und beiläufig vonstatten, dass bislang kaum jemand etwas davon mitbekommen hatte.

Pat sah sich inmitten des Redeschwalls der alten Dame gänzlich überrumpelt und wurde genötigt, auf dem Sofa Platz zu nehmen.

»Papperlapapp!«, hörte Ally nun Rosie deutlicher. »Eine Tasse Tee oder Kaffee hat noch niemandem geschadet und außerdem müssen wir ja schließlich noch etwas besprechen.«

Pat sah in schneller Folge zu Rosie, den beiden anderen Senioren, zu Ally und nicht zuletzt den Backwaren. Sie schien sich ihrem Schicksal zu ergeben und Ally war sich sicher, dass der Anblick und Wohlgeruch letzterer einen nicht unwesentlichen Anteil am ausbleibenden Widerstand hatte. Allys Mundwinkel zuckten belustigt, als Pat, ein Stück weit auf dem türkisfarbenen Dreisitzer eingesunken, versuchte, eine einigermaßen vernünftige Haltung einzunehmen, und sich ihre Blicke trafen.

»Nun, Mrs. Garwood …, wir, äh …«, bemühte sich Pat erfolglos durchzudringen.

»Rosie, nennen Sie mich Rosie. Eigentlich heiße ich Roseanne Ermintrude Garwood, aber alle nennen mich Rosie. Bis auf Micky. Der nennt mich Grams«, sprudelte sie bereits weiter.

Die Gelegenheit, sich alles vom Türrahmen aus unbeteiligt anzusehen, zerplatzte wie eine Seifenblase, denn Rosie hatte behände den Tisch umrundet, stand direkt vor Ally und sah zu ihr auf.

»Heilige Maria und Josef, sind Sie aber groß, Kindchen! Das ist ja das reinste Gardemaß, nicht wahr, Captain?« Damit hatte sie sie ungefragt am Handgelenk gepackt und stracks mit aufmunternden Worten neben Patricia platziert. Ally sank ebenfalls ein Stück ein.

Pat feixte, weil sich ihre Freundin auch nicht hatte widersetzen können.

Das Sofa bestand aus sichtlich abgewetztem, wahrlich in die Jahre gekommenem Polyacrylbezug und hatte früher womöglich sogar über eine Federpolsterung verfügt, die jedoch in den Sitzflächen ihren Dienst zugunsten tief ausgeleierter Sitzkuhlen eingestellt hatte.

Ally kam sich in Schutzkleidung und Waffengürtel an diesem Ort über die Maßen deplatziert vor, insbesondere, da Pat im diskret neutralen schwarzen T-Shirt einen nun noch größeren Kontrast zu ihr abgab. Die Anwesenden schien das jedoch nicht im Geringsten zu irritieren.

»Darf ich vorstellen: das ist meine gute Freundin Felicitas, Felicitas Stern, und das ist der Captain, unser Hahn im Korb, der Jüngste in unserem Kränzchen«, trällerte Rosie, während sie Felicitas ohne Vorwarnung samt Sessel beiseite rollte und aus einer Seitenvitrine zwei weitere Kaffeetassen und Teller hervorholte.

Mrs. Stern war nicht sehr groß und wirkte beinahe etwas verloren in dem gegenüberliegenden Sitzmöbel. Entweder achtete sie immer sehr auf ihr Äußeres oder sie war gerade vom Friseur gekommen. Die dünnen Haare wirkten blondiert und gut frisiert, die Lippen rot geschminkt, und kleine helle Perlenohrringe rundeten das Bild einer netten alten sympathischen Lady ab. Rosie bugsierte sie in dem Rollensessel wieder zurück auf die vorherige Position. Es schien nicht ungewöhnlich, dass so mit ihr umgegangen wurde, jedenfalls zeigte sie diesbezüglich keinerlei Befremden.

»Captain? – Der Jüngste?«, erkundigte sich Pat interessiert.

»Nein, nein, ich bin Noel Laughland. Die Damen machen sich immer nur einen Spaß daraus, mich Captain zu nennen, wegen meines Bartes. Bin aber nie zur See gefahren. Mit meinen vierundachtzig Jahren bin ich der Youngster hier, wie die jungen Leute sagen würden«, lächelte er milde.

Seefahrt passt, dachte Pat, als sie von seinen wässrig-blauen Augen über den beinahe kahlen Schädel zum voluminösen Vollbart blickte. Auf Laughlands Stirn funkelte eine kleine Armada an Schweißtröpfchen, die er versuchte, diskret mit einem großen Stofftaschentuch einzufangen.

Sie und Ally lächelten ihm und Mrs. Stern mit einer leichten Verbeugung freundlich zu und Pat stellte sie beide als ›DS Farquharson und Officer Colmberg‹ vor. Ally war etwas verwundert über die Benennung ›Officer‹, schließlich war sie keine Beamtin. Allerdings wäre ihr in der Situation auch nichts Besseres eingefallen. Bemerkenswert fand sie es, dass Pat sie beide doch distanziert formal mit Dienstbezeichnung vorstellte und nicht wie vermutet ›Nennen Sie mich einfach Pat‹ gesagt hatte.

Eine Mischung aus Kaffeeduft, frischem Backwerk und eine überlagernde Note von Vanille-Tabak aus den Polstermöbeln drang in ihre Nase. Irgendjemand rauchte hier wohl gelegentlich Pfeife.

»Nun, was verschafft uns denn die Freude, von zwei so angenehmen Gesetzesvertreterinnen beehrt zu werden?«, fragte der Captain auf einmal direkt.

»Also, wir …«, begann Pat, wurde jedoch gleich wieder unterbrochen.

»Aber, aber, Captain, wo bleiben denn da unsere Manieren? Die beiden haben noch nicht ihre erste Tasse Kaffee und werden schon überfallen!«

»Aber wir …«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783946914129
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (August)
Schlagworte
Detektivin Polizistin britische Krimis Krimi Ermittler

Autor

  • Tom Crispa (Autor:in)

Tom Crispa wurde 1976 in der Nähe von Köln geboren. Heute lebt er als freier Texter mit seiner Frau, seinen beiden Kindern und zwei Hunden in einem Cottage in der Nähe von Inverness, Schottland.
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Titel: Das Schweigen der Ziegel