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Dornen, Rosen und Federn

von Maya Shepherd (Autor:in)
93 Seiten
Reihe: Die Grimm-Chroniken, Band 8

Zusammenfassung

Zwischen all den weißen Schwänen tauchte auf einmal ein schwarzer auf. Sein Gefieder schimmerte beinahe bläulich im silbrigen Mondlicht. Er hatte einen roten Schnabel und ebenso rot glühende Augen, die er nun auf mich richtete, als würde er mich kennen. Sein Anblick verursachte mir eine Gänsehaut. »Warum ist dieser Schwan schwarz?«, wandte ich mich an Baba Zima. »Er symbolisiert das Böse, welches du in dir trägst«, antwortete sie mir mit rauer Stimme.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Was zuvor geschah

1796

Mary und Dorian erwachen am Strand der Insel, welche die Erdenmutter für sie erschaffen hat. Sie nennen ihr Königreich Engelland – ein Ort, der von Engeln behütet wird. Alles ist so, wie sie es sich erträumt haben. An das ebenfalls erschaffene Schloss Drachenburg grenzt eine Apfelplantage.

Zuerst sind sie die einzigen Bewohner, doch jedes Mal, wenn sie sich schlafen legen, werden am nächsten Morgen neue Schutzsuchende an den Strand gespült. Gemeinsam beginnen sie, das Eiland zu bevölkern, verteilen Aufgaben und gründen die ersten Dörfer.

Unter den Neuankömmlingen ist auch eine junge schwangere Frau namens Marie Hassenpflug samt ihrem Mann Georg und ihrem einjährigen Sohn Johannes. Sie und Mary knüpfen Freundschaft. Es ist Marie, die Mary voraussagt, dass sie eine Tochter bekommen wird.

Sie leben friedlich miteinander, bis es Vlad Dracul und seinen Vampiren eines Nachts gelingt, Engelland zu finden. Ausgerechnet in dieser Nacht lässt Dorian Mary allein im Schloss zurück, um seinen Blutdurst zu stillen. Als Mary die Angreifer kommen sieht, flüchtet sie sich in den Wald. Der Fürst der Finsternis folgt ihr, um das ungeborene Kind in ihrem Bauch zu töten. Er behauptet, dass dieses Kind sie ohnehin töten würde, da es sich von ihrer Energie und Schönheit nähren würde, bis nichts mehr von ihr übrig wäre.

Angelockt von Marys Blut, stößt ein Rudel Wölfe zu ihnen. Vlad Dracul flieht und überlässt Mary den Tieren zum Fraß – im Wissen, dass dies ihren und den Tod des Kindes bedeuten wird. Die Wölfe gehen auf ihr wehrloses Opfer los, bereit, es zu zerfleischen. Da tritt plötzlich eine fremde Frau mit einem roten Umhang hinzu. Sie stellt sich Mary als der Tod vor und sagt ihr, dass ihre Zeit, zu sterben, nun gekommen sei. Mary fleht sie um ihres Kindes willen um Gnade an. Sie erweicht damit das Herz der Fremden, da diese ebenfalls ein Kind erwartet. Der Tod gewährt Mary einen Aufschub, bis der Krieg zwischen Licht und Schatten entschieden ist. Sie bindet das Leben der vier Wölfe an Mary, um sie bis dahin vor ihren Feinden zu schützen.

Als Mary später im Schloss wieder zu sich kommt, berichtet Dorian ihr, dass sein Vater und seine Anhänger Engelland in dem Glauben verlassen haben, dass sie tot sei. Außerdem hat sich wie durch ein Wunder alles, was zuvor auf der Insel rot war, nun golden gefärbt. Rot ist die Farbe des Todes und deshalb sollte nichts und niemand außer ihr sie tragen, um es den Menschen leichter zu machen, den Tod zu erkennen.

1812

Ember führt Margery zum Lebkuchenhaus der grausamen Hexe Baba Zima. Ihnen wird jedoch die Tür von ihrer Magd Gretel geöffnet, die ihnen Zutritt gewährt, da Ember den Ofen der Hexe für einen Zauber braucht.

Die Hexe befindet sich zu diesem Zeitpunkt auf dem Weg zur Königin. Sie kehrt unerwartet früher zurück, sodass Ember und Margery gezwungen sind, vor ihr zu fliehen. Baba Zima versucht, sie durch Magie an der Flucht zu hindern. Dabei stellt sich ihr Ember mit ihrer Feuermagie in den Weg und gibt dadurch preis, dass sie ein Phönix ist.

Baba Zima sieht sich gezwungen, die Mädchen entkommen zu lassen.

2012

Zurück in Berlin, werden Maggy und Joe von ihren Betreuern zur Rede gestellt. Sie behaupten ihnen gegenüber, dass sie spontan nach Königswinter in ein Ferienhaus gefahren wären und Will sich geweigert hätte, wieder mit ihnen zurückzufahren.

Am nächsten Tag verschafft sich Maggy durch ein Ablenkungsmanöver von Joe Zutritt zur Intensivstation des Krankenhauses, in dem Jacob im Koma liegt. Als sie an sein Bett tritt, scheint er sie selbst im Schlaf wahrzunehmen und vertraut ihr ein Gedicht über die Vergessenen Sieben an.

Während Maggy zurück in die Wohngemeinschaft fährt, geht Joe seinem Fitnesstraining nach, um einen klaren Kopf zu bekommen. In der Umkleide bemerkt er, dass er immer noch die ›Grimm-Chroniken‹ bei sich hat. Er kann der Versuchung nicht widerstehen und beginnt, darin zu lesen, wohl wissend, dass das Buch danach für ihn verschlossen bleiben wird. Er erfährt, was bisher geschehen ist, und findet unter anderem heraus, dass er und Maggy in Engelland Hänsel und Gretel waren. Wobei er selbst dort von der Hexe ermordet wurde, sodass er nie eine Rolle für die Geschichte gespielt hat. Ihre Mutter war Marie Hassenpflug, die von Margery getötet wurde.

Maggy findet in Joes Abwesenheit den goldenen Apfel wieder, den sie aus Königswinter mitgebracht hat. Ihre Verzweiflung und ihre Sorge um Will sind so groß, dass sie sogar ihren Tod in Kauf nimmt, als sie in die Frucht beißt, um in die Vergangenheit von Engelland zu gelangen. Sie vertraut darauf, dass es keine Zufälle gibt und sie genauso ein Teil der Geschichte ist wie Will. Sie ist jedoch völlig ahnungslos über ihre wahre Identität.


Sonne und Mond

Engelland, Mai 1796

Der Tod, welcher eine Frau war, hatte mich aus Mitleid mit meinem ungeborenen Kind verschont. Die Wölfe, die mich hätten zerfleischen sollen, waren nun dazu verdammt, mich mit ihrem Leben zu beschützen. Solange Vlad Dracul mich tot glaubte, waren wir vor ihm und seinen Vampiren erst einmal in Sicherheit.

Trotzdem fühlte ich mich nach seinem Angriff nicht mehr so zuversichtlich und hoffnungsvoll wie bei meiner Ankunft in Engelland. Ich hatte geglaubt, dass hier alles anders werden würde.

Es war Dorians und meine Welt. Wir waren naiv genug gewesen, zu glauben, dass wir die Insel nach unseren Vorstellungen und Gesetzen formen könnten. Aber es gab weder hier noch irgendwo eine Zukunft für mich. Ich würde sterben. Jeder Tag, den ich noch lebte, war gestohlene Zeit. Der sechzehnte Geburtstag meiner Tochter würde mein Todestag sein.

Es tat weh, zu wissen, dass mir nur so wenige Jahre mit ihr und Dorian blieben. Ich würde sie niemals heiraten oder selbst ein Kind bekommen sehen. Vielleicht könnte ich sie nicht einmal über ihren ersten Liebeskummer hinwegtrösten.

Am meisten schmerzte es jedoch, Dorian zu sehen. Er litt unter dem Versprechen, das er mir hatte geben müssen: Er würde nichts unternehmen, um mich zu retten. Jeder Versuch, mein Leben zu bewahren, könnte den Tod unserer Tochter bedeuten. Er musste mir beim Sterben zusehen. Vielleicht wäre es ohnehin so gekommen, aber wir hatten erwartet, ein Leben zusammen zu haben, und nicht nur ein paar Jahre.

Manchmal, wenn er sich unbeobachtet fühlte, betrachtete er mich, als wäre ich bereits tot. Ich konnte den feuchten Glanz in seinen Augen nicht ertragen.

Meine eigene bekümmerte Stimmung schien sich auf Engelland zu übertragen. Die Tage waren trist und die Nächte lang und finster. Der Sommer hätte Einzug halten sollen, stattdessen pfiffen kalte Winde über das Land. Eine dichte Wolkendecke hüllte uns ein, die unsere Welt grau und farblos erscheinen ließ. Die Pflanzen wuchsen nur schlecht und nicht einmal meine Blutäpfel waren noch genießbar, seitdem sich alles Rote in unserer Welt golden verfärbt hatte.

Nur der Tod war noch rot. Es war ihre Farbe. Die verbotene Farbe.

Je mehr Menschen auf unsere Insel kamen, umso mehr Verbrechen ereigneten sich. Das Böse breitete sich wie eine Krankheit aus. Es gedieh gut in der Dunkelheit und schlug seine Wurzeln in die Herzen der Menschen.

Engelland hatte weder eine Sonne, welche den Menschen bei Tag hätte Wärme spenden können, noch einen Mond, der die Nacht erhellte. Hatte die Erdenmutter sie schlicht bei der Erschaffung unserer Welt vergessen oder war es Absicht gewesen?

Als Dorian und ich am Strand spazieren gingen, um den traurigen Gedanken für eine Weile zu entfliehen, sahen wir am Horizont den gewaltigen Baum der Erdenmutter aufragen, dessen Krone sich zwischen den Wolken befand. Der Wal, welcher den Baum auf seinem Rücken trug, drehte an diesem Tag seine Runden um unsere Insel. Es war das erste Mal, dass wir ihn wiedersahen.

War es Zufall oder kam es einer Einladung gleich?

Ein einsames Ruderboot trieb nicht weit von der Küste entfernt im Wasser. Unsere bisherigen Erfahrungen hatten uns gelehrt, dass es keine Zufälle gab.

»Lass uns zur Erdenmutter gehen und sie um eine Sonne und einen Mond für unsere Welt bitten«, schlug ich Dorian kurz entschlossen vor. Wer wusste schon, ob wir jemals wieder so eine Chance bekommen würden.

»Wir brauchten das letzte Mal sieben Tage, um den Stamm und den darauffolgenden Turm zu erklimmen«, wandte Dorian ein. »Ohne die Gegenstände aus dem Beutel von Jacob wäre es uns gar nicht gelungen.«

»Wir müssen es wenigstens versuchen«, drängte ich ihn und wollte bereits in das Wasser waten, um zu dem Boot zu schwimmen.

Er hielt mich an beiden Schultern zurück und sah mir eindringlich in die Augen. »Meine Schöne, du bist schwanger«, erinnerte er mich sanft. Mittlerweile zeichnete sich durch mein Kleid sogar eine kleine Wölbung ab, die nicht länger zu übersehen war. »Du bist die mutigste Frau, die ich kenne, aber du bist nicht länger nur für dich verantwortlich. Der Aufstieg brachte dich schon vor Monaten an deine Grenzen. Nun wäre er zu viel für dich. Lass mich allein gehen.«

Es gefiel mir nicht, dass er diesen beschwerlichen Weg allein auf sich nehmen wollte, gleichzeitig zeigte mir seine Sorge, dass er sein Versprechen ernst nahm: Er würde unser Kind beschützen, selbst vor mir und meiner Uneinsichtigkeit.

»Ich war nie mutig«, widersprach ich, als ich ihm zum Abschied mit meiner Hand über die Wange streichelte, »sondern immer nur verzweifelt.«

»Mach dich nicht schwächer, als du bist«, entgegnete er mit einem schwachen Lächeln, zog mich an sich und legte seine Stirn an meine.

Wir schlossen beide die Augen und genossen für den Moment nur die Nähe des anderen. Ich liebte ihn so sehr, auch wenn die ganze Welt gegen uns zu sein schien. Vielleicht liebte ich ihn gerade deshalb nur noch mehr.

Bevor er ging, küsste er mich auf den Mund und ich hatte das Gefühl, einen Hauch von Erleichterung bei ihm zu spüren. Nun hatte er eine Aufgabe, die es ihm erlaubte, für einige Tage vor unseren Sorgen davonzulaufen. Er konnte sich darauf konzentrieren, die Erdenmutter zu erreichen und sie dazu zu bringen, unserer Welt eine Sonne und einen Mond zu schenken. Zumindest für eine Weile musste er mir nicht hilflos dabei zusehen, wie sehr die Schwangerschaft mich beanspruchte.

Nachdem sieben Tage vergangen waren, ging ich erneut an den Strand und ließ mich im Dünengras nieder, um auf Dorians Rückkehr zu warten. Der gewaltige Baum der Erdenmutter war vom Horizont verschwunden, als wäre er nie dort gewesen.

Das Meer war in Aufruhr, mit einem starken Wellengang, sodass die Gischt nur so spritzte. Ich schlang meinen Umhang fest um meinen Körper, bereit, so lange auszuharren, bis Dorian wieder bei mir war. Noch war nichts von ihm zu sehen. Ich wusste nicht, wie er zurückkommen würde. Beim letzten Mal waren wir wie Schiffbrüchige an den Strand gespült worden.

Der Wind schlug mir eisig ins Gesicht und zerrte an mir, sodass ich bereits nach kürzester Zeit vor Kälte zitterte.

Die vier Wölfe, welche mich seit der verhängnisvollen Nacht im Wald überallhin begleiteten, blieben sonst immer auf Abstand. Nun kamen sie jedoch zu mir und ließen sich dicht neben mir nieder. Sie schmiegten ihre warmen Körper an mich, sodass ich von ihnen umzingelt war. Dieses Mal empfand ich keine Furcht vor den großen Tieren. Sie verhielten sich mir gegenüber unterwürfig und schienen es nicht einmal zu wagen, ihre Augen auf mich zu richten.

Andächtig strich ich ihnen über das Fell, welches sich von der salzigen Luft ganz rau anfühlte. Während wir warteten, kraulte ich sie abwechselnd hinter den Ohren, wodurch sich ihre Anspannung etwas löste. Langsam gewöhnten wir uns aneinander. Auch wenn ein Zauber sie an mich band, wollte ich ihnen dennoch meine Dankbarkeit zeigen.

Sie würden mich beschützen, wenn Vlad Dracul irgendwann zurückkehren würde. Der Tag würde mit Sicherheit kommen, spätestens wenn unsere Tochter das Licht der Welt erblickt hatte. Er würde es erfahren.

Es verging einige Zeit und ein leichter Nieselregen setzte ein, der meine Kleider zu durchweichen drohte, als ich zwischen den Wellen ein kleines Boot ausmachen konnte. Es wurde hin und her geworfen wie eine winzige Walnussschale und ich konnte aus der Ferne nicht sagen, ob sich eine Person darin befand.

Mit klopfendem Herzen beobachtete ich das Geschehen und sah dabei zu, wie das Boot immer näher kam, bis ich tatsächlich Dorian darin erkennen konnte.

Nun gab es für mich kein Halten mehr. Ich löste mich aus der wärmenden Nähe meiner Begleiter und rannte die Dünen hinab bis zum Wasser. Die Kälte und den Regen spürte ich nicht mehr. Mein ganzer Körper sehnte sich danach, Dorian in die Arme schließen zu können. Es war mir gleich, ob sein Ausflug erfolgreich gewesen war. Hauptsache, er war wieder bei mir.

Als das Boot den Strand fast erreicht hatte, sprang Dorian heraus und zog es an einem Seil bis in den schwarzen Sand. Übermütig lief ich ihm entgegen und schlang meine Arme um seinen Hals, in der Erwartung, dass seine Wiedersehensfreude genauso groß wäre wie meine und er mich lachend durch die Luft wirbeln würde.

Doch er hielt sich zurück und drückte mich nur kurz an sich, dabei wirkte er geradezu hölzern. Er küsste mich auf die Stirn, anstatt meine Lippen mit seinen in einem leidenschaftlichen Kuss zu fangen. Behutsam strich er mir das vom Wind zerzauste Haar aus dem Gesicht.

Ich deutete seine Zurückhaltung als ein Zeichen seiner Enttäuschung, weil die Erdenmutter vielleicht seiner Bitte nicht nachgekommen war und sich geweigert hatte, uns eine Sonne und einen Mond zu schenken.

Er versuchte, sich von mir zu lösen, doch ich hielt mich an ihm fest und legte meine Hände um sein Gesicht, damit er mich ansehen musste. »Ich brauche keine Sonne, solange du bei mir bist«, versicherte ich ihm tröstend.

Ehe er etwas erwidern konnte, vernahm ich plötzlich ein leises Wimmern wie von einem Baby. Es kam aus dem Ruderboot und ich sah, dass sich darin zwei kleine Bündel befanden. Beide waren in eine Decke eingeschlagen, sodass ich sonst nichts von ihnen erkennen konnte. Ein schwaches Leuchten ging von ihnen aus. Das eine strahlte silbrig kühl wie der Mond und das andere so golden wie die Sonne.

Dorian hatte es geschafft. Er hatte Sonne und Mond nach Engelland gebracht, wenn auch ganz anders, als ich es erwartet hätte. Es waren Babys. Winzige Geschöpfe, die nicht wussten, welch mächtige und verantwortungsvolle Aufgabe sie erwartete.

Bestürzt wollte ich in das Boot greifen, um die Kinder näher zu betrachten und an mich zu nehmen. Sicher hatten sie Angst und brauchten etwas Wärme und Nähe. Aber Dorian stellte sich vor mich und versperrte mir den Weg.

»Du darfst sie nicht berühren«, warnte er mich streng. »Du darfst sie nicht einmal ansehen.«

»Warum?«, stieß ich schockiert aus.

Es sind doch nur Babys, dachte ich und begriff sogleich, dass es nicht um meinen Schutz ging, sondern um den der Kinder. ICH war die Gefahr, nicht sie.

Dorian senkte traurig den Kopf. Er konnte mich nicht ansehen. »Die Erdenmutter hat mir verboten, mit dir darüber zu sprechen, was im Turm geschehen ist. Es ist noch nicht vorbei. Bitte kehr in das Schloss zurück und warte dort auf mich.«

Die Wölfe, welche sich bisher im Hintergrund gehalten hatten, fingen nun an, zu knurren, als spürten sie meine Enttäuschung. So hatte ich mir unser Wiedersehen nicht vorgestellt. Aber was würde es bringen, mich zu weigern?

Ich versuchte erneut, einen Blick auf die Kinder zu erhaschen, den Dorian mir jedoch nicht gewährte. »Bitte, Mary«, flehte er verzweifelt. »Ich werde noch vor Einbruch der Dunkelheit wieder bei dir sein.«

Niedergeschlagen nickte ich und trat in Begleitung der Wölfe den Rückzug an. Erst als ich einige Entfernung zwischen uns gebracht hatte, drehte ich mich noch einmal nach ihm um. Das Boot lag nun verlassen da, während Dorian auf jedem Arm eines der Bündel trug und in Richtung Wald davonlief.

Was hatte er mit ihnen vor? Was hatte die Erdenmutter von ihm verlangt, zu tun?

Als Dorian am Abend zum Schloss zurückkehrte, hatte er nur noch eines der Kinder bei sich.

»Was ist mit dem anderen geschehen?«, fragte ich ihn, woraufhin er nur den Kopf schüttelte. Er durfte es mir nicht sagen. Die Erdenmutter hatte es ihm verboten.

Er drückte das Bündel einer unserer Dienerinnen in den Arm, die mir sonst nur dabei halfen, das Schloss sauber zu halten und den Garten zu pflegen. »Kümmere dich darum«, wies er sie an. »Die Königin darf das Kind nicht zu Gesicht bekommen. Es wird sieben Tage bei uns bleiben.«

Die Dienerin war von seinem Verhalten genauso schockiert wie ich, aber sie wagte nicht, ihm zu widersprechen, und tat, was er ihr aufgetragen hatte. Kaum dass sie uns den Rücken gekehrt hatte, lief Dorian zu unserem Schlafgemach und ließ sich völlig entkräftet auf das Bett sinken. Er vergrub sein Gesicht in den Händen, als hätte er etwas Fürchterliches getan und könnte die Schuld kaum ertragen.

Er machte mir Angst und ich verstand nicht, was geschehen war. Warum durfte ich Sonne und Mond nicht sehen? Glaubte die Erdenmutter wirklich, dass ich unschuldigen Babys etwas antun würde? Glaubte Dorian es?

Ich ging vor ihm auf die Knie und streckte meine Hände nach seinen aus. Sie waren eiskalt. Sanft löste ich sie von seinem Gesicht und sah den gequälten Ausdruck darin. Er starrte beinahe apathisch vor sich auf den Boden.

Was war ihm nur widerfahren?

»Dorian, schau mich an«, bat ich ihn den Tränen nahe. Ich ertrug es nicht, ihn so zu sehen. Seit ich ihn kannte, war er mein Held gewesen. Er hatte immer Stärke gezeigt und niemals aufgegeben. Nun wirkte er gebrochen und jeder Hoffnung beraubt.

Allein schon, mir den Kopf zuzuwenden, schien ihn unendliche Überwindung zu kosten. Seine Augen waren wie ein zerbrochener Spiegel. Es lag so viel Schmerz in ihnen, dass die Scherben mir ins Herz stachen.

»Sprich mit mir«, flehte ich verzweifelt. »Erzähl mir, was geschehen ist.«

»Ich kann nicht«, entgegnete er mir traurig.

Seine Zurückweisung war wie eine Ohrfeige. Erst hatte die Erdenmutter alle Geheimnisse, die zwischen uns gestanden hatten, gelüftet, nur um nun neue zu säen.

Die ersten Wochen in Engelland waren vor allem deshalb so schön gewesen, weil wir ehrlich miteinander hatten sein können. Es hatte keine Lügen und keine Heimlichtuereien mehr gegeben, auch wenn ich Dorian nie von meinem Pakt mit dem Teufel erzählt hatte. Doch nun spürte ich bereits, wie sich die Mauern des Misstrauens erneut zwischen uns aufzubauen begannen. Ich wollte nicht außen vor sein. Was immer auch geschehen war, es schien Dorian zu zerbrechen. Er sollte sein Leid nicht allein tragen müssen.

»Du hast getan, was du tun musstest«, tröstete ich ihn. »Ich verzeihe dir, ganz egal, was es ist.«

Meine Worte raubten ihm seine letzte Kraft. Er glitt vom Bett zu mir auf den Boden, schlang seine Arme um mich und hielt sich an mir fest. Sein Gesicht vergrub er in meiner Halsbeuge, wo sein kühler Atem meine Haut kitzelte.

Ich konnte spüren, wie seine spitzen Eckzähne über meinen Hals glitten. Sicher hatte er, seitdem er aufgebrochen war, kein Blut mehr zu sich genommen und war durstig.

»Trink von mir«, flüsterte ich einladend in sein Ohr.

Sonst weigerte er sich immer. Nun war er zu schwach, um sich gegen das Verlangen zu wehren. Es tat nicht weh, als seine Zähne sich in meine Haut bohrten. Trotz seines Hungers war er zärtlich und behutsam, immer darauf bedacht, mich nicht mehr als notwendig zu verletzen. Er nahm nur wenige Schlucke, bevor er seinen Mund von meinem Hals löste und stattdessen seine Lippen auf meine drückte. An ihnen haftete noch der metallische Geschmack meines Blutes.

Wir küssten uns voller Verzweiflung, als blieben uns nur noch Minuten und nicht Jahre eines gemeinsamen Lebens.

Die Kleidung war schnell abgestreift. Die Leidenschaft, nach der ich mich zuvor gesehnt hatte, war nun da, nur hatte sie einen bitteren Beigeschmack. Wir liebten uns noch auf dem Boden, weil der Weg ins Bett zu weit war, obwohl es direkt neben uns stand.

Meine Liebe war alles, was ich Dorian geben konnte, um seinen Schmerz zu lindern. Sie konnte ihn nicht vergessen lassen, was er hatte auf sich nehmen müssen. Aber ich könnte ihn fühlen lassen, dass ich ihn immer lieben würde, ganz egal, welche Steine und Felsen man uns auch in den Weg warf. Mein Herz gehörte ihm. Es würde ohne ihn aufhören, zu schlagen.

Als ich in der Nacht in unserem Bett aufwachte, ergoss sich ein schwacher Schein durch das Fenster in unser Zimmer. Dorian schlief neben mir tief und fest, während ich leise meine Beine unter der Decke hervorschob und barfuß dem Licht entgegentrat.

Ich badete in seinem silbrigen Glanz und ließ meinen Blick über den Apfelhain und den angrenzenden Wald bis in den Himmel schweifen. Dieser war nicht länger finster, sondern erhellt von einem runden Mond, der dort strahlend schön am Firmament thronte.

Sein Anblick erfüllte mich nicht mit Erleichterung, sondern mit Wehmut. Der Mond wirkte unendlich einsam, wie er von dort oben, fern jeden Lebens, ganz allein auf das Geschehen der Welt hinabblickte. Funkelnde Sterne umgaben ihn, doch alle zu weit entfernt, um sie erreichen zu können.

Der Mond war ein lebendiges Wesen – noch ein Kind. Es sollte nicht auf sich allein gestellt sein, sondern zwischen Menschen leben, die es liebten. Dorian musste es ausgesetzt haben, während er die Sonne mit in unser Schloss gebracht hatte.

Vielleicht hatte er sich für eines von beiden entscheiden müssen und die Wahl quälte ihn, da sie ihm so oder so falsch erschien. Es waren nur Vermutungen und selbst wenn ich damit richtiglag, hatte ich das Gefühl, dass es längst nicht alles war.

Ich erinnerte mich an das Versprechen, das ich dem Mondmädchen gegeben hatte. Ich hatte geschworen, ihre Schwester zu beschützen. Aber wie konnte ich das, wo ich hier unten war und sie so weit oben? Sie war unerreichbar für mich. Hatte ich bereits versagt, bevor ich auch nur eine Chance gehabt hatte, es zu versuchen? Hätte ich Dorian nicht mit ihr in den Wald gehen lassen dürfen?

Ich fühlte mich ihr auf seltsame Weise verbunden, denn auch ich trug die Einsamkeit in meinem Herzen und das Gefühl, von niemandem verstanden zu werden.


Absolution

Engelland, Schloss Drachenburg, Mai 1796

Das Sonnenkind blieb sieben Tage bei uns, ohne dass ich es auch nur zu Gesicht bekam. Ich erfuhr nicht einmal, ob es ein Mädchen oder ein Junge war.

Manchmal hörte ich seine Schreie vom anderen Ende des Schlosses. Dann war der Drang, nach ihm zu sehen, am stärksten. Ich wollte Dorian jedoch nicht in Schwierigkeiten bringen und unterließ deshalb jeden Versuch, mich dem Kind zu nähern. Zudem wusste ich, dass es bei unseren Dienerinnen in liebevollen Händen war. Es waren allesamt gute und nachsichtige Frauen. Einige von ihnen hatten selbst Kinder. Sie wüssten besser als ich, was zu tun war.

Am Morgen des achten Tages war das Kind auf wundersame Weise aus seinem Bettchen verschwunden und stattdessen tasteten sich die warmen Strahlen einer goldenen Sonne am Horizont empor. Es war das erste Mal, dass sie in Engelland aufging, und mit ihr hielt der Sommer bei uns Einzug. Die kalten Winde wurden von Tag zu Tag schwächer und bald gab es in den Nächten keinen Frost mehr.

Mit den wärmeren Temperaturen wuchs auch die Ernte besser und die Stimmung der Menschen hob sich. Es kam zu weniger Verbrechen – sei es, weil alle glücklicher waren oder weil der Mond nun sein schützendes Licht über Engelland erstrahlen ließ.

Auch ich versuchte, wieder Mut zu fassen und etwas hoffnungsvoller in die Zukunft zu blicken. Mir mochten vielleicht nur sechzehn Jahre mit unserer Tochter bleiben, aber ohne das Mitleid des Todes wäre unser Kind nicht einmal geboren worden. Ich sollte mich nicht über das beklagen, was ich nicht haben würde, sondern mich stattdessen an dem erfreuen, was ich geschenkt bekommen hatte.

Dorian hingegen war weiterhin in seinen Sorgen gefangen. Der Besuch bei der Erdenmutter hatte es nicht besser, sondern nur schlimmer gemacht. Vielleicht wusste er mehr als ich. Er suchte im ganzen Königreich nach Freiwilligen, die mit ihm die Grenzen Engellands beschützen sollten, als wäre der Feind bereits auf dem Weg zu uns. Die Schmiedemeister begannen, Waffen herzustellen, und Dorian unterrichtete die Männer in der Kampfkunst.

Mich beunruhigte sein Verhalten und ich sehnte mich nach Zeit mit ihm allein, auch wenn er das alles nur zu unserem Schutz tat. Wir konnten nicht wissen, wann Vlad Dracul erfahren würde, dass ich noch am Leben war. Theoretisch könnte er jederzeit erneut angreifen. Der friedliche Schein des Sommers war trügerisch.

Georg, Maries Mann, hatte sich ebenfalls für Dorians Armee gemeldet, sodass auch Marie tagsüber mit ihrem Sohn allein war. Ihr Bauch war mittlerweile so kugelrund, dass sie kaum allein gehen konnte und sich die Wehen für die Geburt ihres zweiten Kindes schon herbeisehnte. Ich half ihr mit Johannes, um sie zu entlasten, und sah es gleichzeitig als eine Vorbereitung für mein eigenes Kind an.

Hänsel, wie Marie ihn liebevoll nannte, war mit fast einem Jahr voller Neugier auf die Welt. Zwar konnte er noch nicht laufen, aber auch krabbelnd war er kaum zu halten.

»Ach, was würde ich nur ohne dich machen«, seufzte Marie oft, während ihr der Schweiß von der sommerlichen Hitze auf der Stirn stand und ich den kleinen Jungen auf meinem Schoß auf und ab wippen ließ. Er jauchzte vor Vergnügen, was seiner Mutter und mir immer wieder ein entzücktes Lächeln entlockte.

»Dafür sind Freundinnen doch da«, erwiderte ich und genoss es, gebraucht zu werden. Es war ein neues Gefühl für mich, jemandem helfen zu können, da sonst ich immer die Hilfsbedürftige gewesen war. Ich empfand dabei eine Stärke, aus der ich Kraft schöpfen konnte. »Ich wünschte nur, dass ich mehr tun könnte.«

»Eine Geburt wirst du noch früh genug selbst vor dir haben«, scherzte Marie, während sie sich über den Bauch streichelte, als wolle sie das Mädchen darin ermutigen, sich doch endlich auf die Welt zu trauen.

»Das meine ich nicht«, widersprach ich ihr. »Uns droht nur meinetwegen Gefahr von außerhalb. Nur wegen mir müssen Georg, Dorian und all die anderen tapferen Männer die Grenzen sichern. Wenn Vlad Dracul wirklich angreift, werden es einige von ihnen nicht überleben.«

Nach dem Angriff auf mich hatte ich Marie in die Prophezeiung der Erdenmutter eingeweiht und ihr von meiner Vergangenheit erzählt. Nur dass Dorian ein Vampir und wir Halbgeschwister waren, hatte ich dabei verschwiegen. Ich versuchte selbst, so wenig wie möglich daran zu denken.

Sie hatte mit Verständnis reagiert und mir keine Vorwürfe gemacht, so auch jetzt nicht.

»Gräme dich nicht, das spürt dein Kind«, redete sie mir einfühlsam zu. »Ohne dich und Dorian gäbe es diese Insel nicht. Ihr habt einen Zufluchtsort für viele Menschen in Not erschaffen. Es ist nur fair, wenn wir unser Zuhause alle gemeinsam verteidigen.«

»Diese Bürde sollte nicht nur an den Männern hängen bleiben«, wandte ich weiterhin ein.

Eigentlich dachte ich dabei vor allem an Dorian. Wenn er nicht glauben würde, für unsere Sicherheit kämpfen zu müssen, könnte er bei mir sein. Ich wollte ihn an meiner Seite haben, genauso wie Marie sich bestimmt nach ihrem Mann sehnte. Vielleicht würde er sogar die Geburt seines zweiten Kindes verpassen.

Marie hatte sich jedoch bereits damit abgefunden. Sie kannte es nicht anders. Überall auf der Welt zogen Männer in den Krieg und ließen ihre Frauen zurück. Es war eine unumstößliche Tatsache und es brachte nichts, darüber zu klagen.

»Wir haben alle unser Päckchen zu tragen«, meinte sie. »Wenn du erst einmal dein Kind zur Welt gebracht hast, wirst du das Los der Männer weniger bemitleiden. Die Schmerzen einer Geburt sind mit nichts zu vergleichen.«

»Na, du machst mir aber Mut«, tadelte ich sie mit einem Grinsen. Mir erschien das Leben mit einem Kind noch in weiter Ferne. Auch wenn ich meine Tochter manchmal in mir spüren konnte, war es für mich kaum vorstellbar, dass ich sie in ein paar Monaten schon in meinen Armen halten könnte. »Gerade für unsere Kinder sollten wir doch aber einen Weg finden, um sie zu beschützen.«

Marie runzelte nachdenklich die Stirn. Sie merkte, dass mich das Thema nicht mehr losließ. »Denkst du da an etwas Bestimmtes?«

»Ich wurde von einer Hexe verflucht«, erinnerte ich sie. »Sie brauchte dafür keinerlei körperliche Stärke. Sie musste mich nicht einmal sehen. Könnten wir Magie nicht auch nutzen, um uns zu schützen?«

Marie sog scharf Luft ein. Wie die meisten Menschen ängstigte sie die Erwähnung von Hexerei. Bestimmt schüttelte sie den Kopf. »Magie hat immer ihren Preis.«

»Vielleicht ist er angemessen für das, was wir dafür bekommen würden. Sollte uns das Leben unserer Kinder nicht jeden Preis wert sein? Wer sagt außerdem, dass Magie immer schlecht sein muss? Wir könnten sie für etwas Gutes verwenden, ohne jemandem damit zu schaden.«

Marie blieb skeptisch und musterte mich kritisch. »Besitzt du denn Magie?«

»Nein«, seufzte ich. »Aber ich hatte gehofft, dass du mir helfen könntest. Du kennst die Bewohner Engellands viel besser als ich. Sie sprechen mit dir, während sie zu mir Abstand halten. Hast du je von jemandem gehört, der sich mit so etwas auskennen könnte?«

Sie sah mich lange an, ohne etwas zu sagen. Dann wandte sie den Blick ab. »Es gibt Gerüchte«, gab sie schließlich widerwillig zu. »Eine ältere Frau lebt angeblich allein im finstersten Teil des Waldes. Einige wollen gesehen haben, wie sie Pilze in Süßigkeiten verwandelt hat.«

Mein Interesse war sofort geweckt, was Marie mit einer erhobenen Hand sogleich abbremste.

»Je länger die Tage sind, desto geschwätziger sind die Leute. Vermutlich ist es einfach nur eine wirre Alte, die lieber für sich ist. Das Wenigste, für das die Menschen keine Erklärung haben, hat etwas mit Magie zu tun.«

»Es würde nicht schaden, wenn ich ihr einen Besuch abstatte«, entgegnete ich. »Selbst wenn sie keine Hexe ist, würde sie sich vielleicht über etwas Gesellschaft freuen.«

»Ich hätte es dir nicht erzählen sollen«, murrte Marie verärgert. »Du verrennst dich da in etwas.«

»Wenn sie keine Hexe ist, wie du sagst, droht mir doch auch keine Gefahr von ihr«, konterte ich leichthin. »Und wenn doch, komme ich immerhin zu ihr, um ihre Dienste in Anspruch zu nehmen. So oder so wird sie mir nichts tun.«

»Wirst du Dorian von dem Ziel deines Ausflugs erzählen?«, hakte Marie argwöhnisch nach, wobei sie die Antwort bereits kannte.

Natürlich würde ich es ihm nicht sagen. Er würde es mir genauso ausreden wollen wie Marie. Eher würde er selbst gehen, als mich zu einer zweifelhaften Alten im Wald zu lassen.

Er würde es regeln, so wie er auch den Besuch bei der Erdenmutter auf sich genommen hatte. Genau das wollte ich nicht. Er hatte genug getan und nun wollte ich meinen Beitrag leisten. Im Gegensatz zu ihm hatte ich nicht einmal mehr eine Seele zu verlieren.

Im Finsterwald war es so düster, dass man selbst bei Tag eine Lampe hätte gebrauchen können. Die zahlreichen dunklen Schatten wirkten bedrohlich und jedes Rascheln oder Knacken ließ mich erschrocken zusammenzucken und die Umgebung absuchen. Es gab keinen Weg, nicht einmal einen Trampelpfad.

Ich musste mich praktisch blind durch das Unterholz vorkämpfen. Ohne meine treuen Wölfe hätte ich mich wohl gar nicht in den Wald gewagt, aus Angst, nicht wieder hinauszufinden. Sie spürten meine Furcht und blieben dicht bei mir.

Alles, was ich über die vermeintliche Hexe wusste, war nicht mehr als ein Gerücht. Vielleicht gab es sie nicht einmal. Die bloße Möglichkeit ihrer Existenz würde mich jedoch so lange nicht in Ruhe lassen, bis ich mich selbst davon überzeugt hatte.

Der Wald schien sich endlos hinzuziehen. Alles sah gleich aus und ich konnte nicht sagen, ob ich mich überhaupt fortbewegte oder womöglich die ganze Zeit im Kreis lief. An diesem dunklen Ort war die Sonne nicht zu sehen. Ihre Strahlen schafften es nicht durch die dichten Baumkronen. Es roch zudem modrig, als wäre ein Sumpf in der Nähe.

Plötzlich hielten die Wölfe inne, spitzten die Ohren und schnupperten in die Luft und über den Boden. Irgendetwas mussten sie wahrgenommen haben, denn sie wurden ganz unruhig und fiepsten leise, ehe sie mit aufgestelltem Fell vorsichtig weitergingen. Ihr ganzer Körper signalisierte Gefahr.

Ich verließ mich auf ihren Instinkt und folgte ihnen zwischen den Sträuchern und hohen Wurzeln hindurch, bis wir zu einer Lichtung kamen, auf der sich ein kleines Häuschen befand.

Das Wimmern der Tiere schwoll zu einem warnenden Knurren an. Der größte Wolf fletschte sogar seine Zähne.

Die Fassade des Hauses war so verwittert und von Pflanzen zugewuchert, dass man es für unbewohnt hätte halten können, wenn nicht dichter Rauch aus dem Schornstein aufgestiegen wäre. Ein seltsamer Geruch lag in der Luft. Es war eine Mischung aus verbranntem Fleisch und etwas, das ich nicht benennen konnte.

Ich ging an den Wölfen vorbei, die sich nicht näher an die Hütte herantrauten, als würde eine fremde Macht sie am Weitergehen hindern. Langsam näherte ich mich dem Gebäude und versuchte, durch die schmutzigen Fenster einen Blick in das Innere zu erhaschen. Doch sie waren so verdreckt, dass ich nicht einmal Gefahr lief, mich darin zu spiegeln.

Vorsichtig tastete ich mich weiter an dem Haus entlang. Dahinter befand sich so etwas wie ein Garten, nur dass dort keine Pflanzen wuchsen, sondern sich ein Käfig an den nächsten reihte. Sie waren unterschiedlich groß, selbst ein Bär hätte in manch einem davon Platz gefunden. Allesamt waren jedoch leer.

Außer den Käfigen entdeckte ich auch noch Statuen. Eine stellte eine junge Frau derart lebendig dar, dass man hätte meinen können, sie würde sich jeden Moment bewegen.

»Knusper, knusper, knäuschen, wer schleicht da um mein Häuschen?«, erklang es plötzlich krächzend hinter mir.

Erschrocken fuhr ich herum und rechnete damit, der Hexe direkt gegenüberzustehen, doch es war niemand zu erkennen. Alle Fenster der Hütte waren fest verschlossen und eine zweite Tür gab es auch nicht.

»Wer spricht da?«, fragte ich mit zittriger Stimme.

»Der Wind, der Wind, das himmlische Kind«, kam prompt die Antwort. Die Stimme, die zu mir sprach, klang alt, beinahe rostig.

Ich konnte niemanden sehen. Ängstlich ließ ich den Blick über die Umgebung gleiten, als ich auf einem tief hängenden Ast eines nahe stehenden Baumes einen Raben entdeckte. Er hatte den Kopf schief gelegt und beobachtete mich interessiert. Sein Krächzen klang höhnisch.

»Hast du mit mir gesprochen?«, fragte ich ihn, auch wenn ich mir dabei dumm vorkam. Immerhin wusste jedes kleine Kind, dass Tiere nicht sprechen konnten.

Kra, kra, kra, machte das Tier nur. Es schien mich auszulachen.

Sobald ich mich jedoch wieder dem Haus zuwandte, erklang erneut die unheimliche Stimme: »Ei, Königin, was treibt Euch dazu, mich an dem finstersten aller Orte aufzusuchen?«

Ich fuhr herum und da hockte der Rabe vor mir auf dem Boden. Seine schwarzen Augen funkelten mir herausfordernd entgegen.

»Orte machen mir keine Angst«, stieß ich aus und versuchte, meiner Stimme einen festen Klang zu verleihen. »Nur die Menschen, die sie bewohnen. Aber da du ein Rabe bist, brauche ich mich wohl nicht zu fürchten.«

Das Tier krächzte erneut, bevor es von schwarzem Rauch eingehüllt wurde. Federn flogen auf, als ich stolpernd zurückwich und gegen die Hauswand in meinem Rücken stieß. Einen Wimpernschlag später stand mir eine alte Frau gegenüber, deren Mund zu einem boshaften Lächeln verzogen war.

Sie hatte langes schwarzes Haar, das von grauen Strähnen durchzogen war. Ihre Augen waren so dunkel wie das Gefieder des Raben. Falten und Furchen zeichneten ihr Gesicht. Ihr magerer Körper war in ein schwarzes Kleid gehüllt. Über ihren Schultern trug sie eine gestrickte Decke.

»Komm nur herein, Königin«, lud sie mich ein. »Was man kennt, braucht man nicht zu fürchten.« Sie ging an mir vorbei, wobei sie einen Duft verschiedener Kräuter und Gewürze verströmte.

Als ich ihr nachging, zweifelte ich nicht länger daran, dass sie eine Hexe war. Aber das war gut, denn genau so jemanden brauchte ich, um Engelland vor Feinden schützen zu können. Dennoch hielt ich Abstand zu ihr und konnte nicht verhindern, dass mein Herz heftig in meiner Brust pochte. Ich hatte Angst vor ihr, aber noch mehr fürchtete ich Vlad Dracul.

Sie öffnete die Tür zu ihrer Hütte und hielt sie mir mit ihren langen, knochigen Fingern auf. Achtsam ging ich an ihr vorbei und trat in das Innere. Hier war der Geruch nach verbranntem Fleisch wieder wahrzunehmen. Mein Blick fiel auf einen großen Ofen, dessen Tür jedoch geschlossen war. Ich konnte ein Feuer darin knistern hören. Er produzierte eine derartige Hitze, dass mir der Schweiß auf der Stirn ausbrach, ohne dass ich auch nur die Tür hinter mir geschlossen hätte. Ich schnappte keuchend nach Luft und atmete tief ein und aus. Das half etwas.

Es war eine kleine Kammer voller Gerümpel und Spinnweben an der Decke. In einer Zimmerecke standen zwei Betten. Über einem lag ein roter Umhang, dessen Anblick mir einen kalten Schauer über den Rücken jagte.

»Wem gehört der?«, fragte ich die Alte, die mich lauernd musterte.

Wieder trat dieses eigentümliche Grinsen auf ihre schmalen Lippen. »Ihr kennt die Antwort.«

Sie hatte recht.

»Ihr seid der Tod?«, fragte ich ungläubig, da ich glaubte, einer jüngeren Frau begegnet zu sein. Zudem war sie schwanger gewesen. Aber meine Erinnerungen an jene Nacht waren verschwommen. Vielleicht hatte ich mich getäuscht.

Die Hexe winkte ab. »Ihr seid meiner Tochter begegnet«, meinte sie und setzte sich auf einen der beiden Stühle, die an einem schmalen Tisch standen. »Nehmt Platz«, forderte sie mich auf.

Die Wölfe mussten die Anwesenheit des Todes gespürt haben und hatten sich deshalb geweigert, mir zu folgen. Es gab nichts, das sie mehr fürchteten als den Tod.

»Eure Tochter ist der Tod?«, erkundigte ich mich, nur um sicherzugehen, dass ich sie wirklich richtig verstanden hatte. Die Hitze in der Hütte machte mir zu schaffen, sodass ich ganz froh war, mich setzen zu können.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739445571
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Juni)
Schlagworte
Grimm Rumpelstilzchen Schneeweißchen Hexe Märchenadaption Märchen Schneewittchen Rosenrot Fantasy düster dark Urban Fantasy Romance Episch High Fantasy

Autor

  • Maya Shepherd (Autor:in)

Maya Shepherd wurde 1988 in Stuttgart geboren. Zusammen mit Mann, Kindern und Hund lebt sie mittlerweile im Rheinland und träumt von einem eigenen Schreibzimmer mit Wänden voller Bücher. Seit 2014 lebt sie ihren ganz persönlichen Traum und widmet sich hauptberuflich dem Erfinden von fremden Welten und Charakteren.
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Titel: Dornen, Rosen und Federn