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Tausche Alltag gegen Glück

Insel-Roman

von Anne Lux (Autor:in)
260 Seiten
Reihe: Cornwall, Band 2

Zusammenfassung

+++ Die Fortsetzung des Bestsellers "Tausche Alltag gegen Insel +++ Vivian Steiner hat es getan: Sie hat ihren Job als Lehrerin gekündigt, um ihr Leben neu zu gestalten. Nicht im heimatlichen München, sondern auf St. Maryʼs, einer kleinen Insel vor der Küste Cornwalls. Hier, in der »Südsee Englands«, will sie die Galerie ihres verstorbenen Vaters weiterführen und als freie Fotografin ihr Glück versuchen. Doch es ist nicht alles eitel Sonnenschein im Insel-Paradies, im Gegenteil. Zwar muss sie keine Schüler mehr bändigen und Lehrpläne befolgen, aber eine verrückte Praktikantin, eine verheerende Vernissage, fehlende Sicherheit und eine Fernbeziehung machen ihr den Alltag nicht gerade leicht. War sie zu naiv? Ehe Vivian sich versieht, ist sie auch in St. Maryʼs gefangen in Problemen – und der Traum vom Neubeginn droht zu platzen …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Kapitel 1

Der Händedruck fühlte sich klebrig und warm an, es schien mindestens eine nervöse Person mit schwitzenden Fingern im Spiel zu sein. Vivian seufzte innerlich. Sie wusste, dass sie diese Person war, denn Direktorin Marion Gabelsberg war wie immer die Ruhe selbst, freundlich, aufgeräumt und so unerschütterlich und klar wie das Fach Mathematik, das sie seit fast drei Jahrzehnten unterrichtete.

»Frau Steiner, ich wünsche Ihnen alles Gute für die nächsten … Monate … das nächste Jahr, wie lange es auch immer sein wird«, sagte sie und drückte ihre trockenen, kühlen Finger noch einmal auf Vivians feuchte. »Und ich würde mich freuen, wenn wir Sie eines Tages wieder zum Kollegium des Charlotten-Gymnasiums zählen könnten.«

Vivian wollte etwas erwidern, entschied sich dann jedoch nur für ein Lächeln, von dem sie hoffte, dass es selbstbewusst wirkte. Geredet hatte sie mit Frau Gabelsberg schon genug in den letzten Wochen. Ganz ohne Weiteres hatte die Direktorin sie nicht gehen lassen wollen, die »beste Kunstlehrerin der Schule«. Es gibt ja auch nur zwei, hätte Vivian fast geantwortet. Und bei der einen, die nicht ich bin, weinen die Unterstufler manchmal, nachdem sie die Bilder verbessert hat. In den Augen der Lehrkraft verbessert. Verschlimmbessert aus Sicht der Kinder, mit harten Schraffierungen und abstrakten Linien. Gefällt den Kleinen nicht. Gesagt hatte Vivian das natürlich nicht. Sie hatte sich darauf konzentriert, den betörenden Lobgesängen der Direktorin nicht zu erliegen, damit sie nicht doch wieder abkam von ihren Plänen. Von den Plänen, die ja nicht nur Frau Gabelsberg infrage stellte. Ihren Eltern war ebenfalls unbehaglich bei der Vorstellung, dass ihre zweiunddreißigjährige Tochter den sicheren Schuldienst quittierte (vorübergehend, wie sie hofften), um auf eine Inselgruppe vor der Küste Cornwalls zu ziehen. Wo sie als Fotografin arbeiten wollte, Hochzeiten und andere Familienfeste ablichten und Postkarten produzieren würde, um eine klitzekleine Galerie namens View Point am Laufen zu halten, die ihr verstorbener leiblicher Vater aufgebaut hatte. Dass Vivian auf lange Sicht plante, ausschließlich auf Reise- und Reportagefotografie zu setzen, was deutlich spannender und dementsprechend schwieriger war, hatte sie ihren Eltern gar nicht erst erzählt.

»Melden Sie sich jederzeit, wenn Sie uns vermissen und wiederkommen wollen, Frau Steiner, Sie sind hier immer willkommen.«

Vivians Lächeln vertiefte sich, als ihre schweißnassen Finger aus der Hand der Direktorin glitten. Ich muss hier weg, dachte sie. Bevor sie mich noch komplett einlullt. Hastig erzählte sie etwas von Schlüssel- und Wohnungsübergabe, bevor sie nach Jacke und Tasche griff und sich verabschiedete.

Inzwischen war es Nachmittag und der Flur der Schule lag verlassen vor ihr. Vivian berührte sanft einen Wasserfleck an der Wand, während sie Richtung Ausgang ging. Nach mehreren Jahren am Charlotten-Gymnasium waren ihr nicht nur viele der Schülerinnen und Schüler ans Herz gewachsen, sondern auch das im späten 19. Jahrhundert entstandene Gebäude, das ab Mai kernsaniert werden sollte. Der Schulbetrieb würde dann ausgelagert werden, was Vivians Entschluss noch einen gewissen Auftrieb gegeben hatte. Unterrichtsmief in einer Containerburg oder täglich der frische Duft nach Insel und Meer – eigentlich war die Entscheidung doch ganz einfach.

Eigentlich.

Sie blieb vor einem Bild stehen, das sie eigenhändig aufgehängt hatte, ließ ihren Blick entlang der Wand schweifen und seufzte erneut, diesmal laut. Das Projekt Selbstporträts. Die Köpfe ihrer Elftklässler aus dem vergangenen Schuljahr. Simon Winkelmann hatte nur Ziffern auf das A3-Papier gemalt, darunter einige mehrfach. Eine Art Malen nach Zahlen, aber was sich ergab, wenn man die Ziffern miteinander verband, wusste keiner. Vivian hatte damit gerechnet, dass spätestens nach zwei Tagen Mitschüler mit Edding über die Acrylglasscheibe fahren würden, um es herauszufinden, aber es war bis heute nicht passiert.

Vivian lächelte. Simon war immer einer ihrer Lieblingsschüler gewesen, auch wenn sie ihm das niemals sagen würde. Er hatte auch ohne Komplimente von ihr schon einmal mehr für sie empfunden, als für sie beide gut gewesen war. Wie lange das schon wieder alles her war. Inzwischen war Simon bereits seit knapp einem halben Jahr mit einem Mädchen aus seiner Parallelklasse zusammen.

Ein Räuspern hinter ihr riss Vivian aus ihren Gedanken, ließ sie herumfahren und dann grinsen. Wenn sie in jüngster Zeit unvermittelt auf ihren Kollegen Otto Hörmann traf, konnten ihre Mundwinkel gar nicht anders, als nach oben wandern. Bis vor Kurzem hatte Hörmann, der Geschichte, Erdkunde und Sport unterrichtete, nahezu täglich einen schmal geschnittenen Trainingsanzug getragen, der unbestätigten, aber hartnäckigen Gerüchten zufolge aus der Zeit der Olympischen Spiele stammte. Der Olympischen Spiele 1972 in München, wohlgemerkt. Aber seit einigen Wochen trug er bevorzugt eng anliegende, dunkelblaue Jeans und taillierte Hemden, gerne so weit geöffnet, dass ein Teil seines grauen Brusthaares sichtbar wurde.

»Nicht viele Männer Ende fünfzig können das tragen«, raunte Frau Siebert, Latein-Deutsch, wann immer sie ihn im Lehrerzimmer sah. »Dafür braucht man eine schlanke Taille.«

»Da ist eine Frau im Spiel«, pflegte Lilly zu antworten, Französischlehrerin und Vivians beste Freundin.

Vivian war es nicht wichtig, warum Otto Hörmann, genannt Ottomane, neue Outfits und seine früher nach hinten gegelten Haare jetzt modisch geschnitten trug. Sie freute sich einfach für ihn und über seine gute Laune. Er war für viele ein seltsamer Kauz, er schien seine Augen und Ohren überall zu haben, alles zu wissen, mischte sich in Situationen ein, die ihn nichts angingen, aber Vivian wusste, dass er ein gutes Herz hatte. Sie mochte Ottomane.

»Ein letzter Blick auf die Schönheitengalerie?«, fragte er.

Vivian wandte sich wieder den Porträts an der Wand zu. »Wer weiß, ob ich sie jemals wiedersehen werde.«

»Jetzt mal nicht so dramatisch. Wenn Sie die Schüler vermissen, dann …«

»Dann kann ich jederzeit wiederkommen. Ja, ich weiß.«

»Oder Sie laden Ihre ehemalige Elfte zu sich ein.« Er zwinkerte. »Ich wette, keiner von ihnen war je auf den Scilly-Inseln oder wird ohne Sie jemals dort hinkommen. Vielleicht ein kleines Englisch-Camp vor dem Abitur?«

Vivian lachte. »So weit geht die Liebe nicht. Aber Sie sind natürlich immer herzlich willkommen, Herr Hörmann. Allein oder … in Begleitung.«

Seine Lippen kräuselten sich leicht. »Passen Sie auf, Frau Steiner, sonst komme ich noch darauf zurück.«

»Nur nicht im Sommer, da könnte es schwierig werden mit einer Unterkunft.«

»Wann geht es los, Frau Steiner?«

»Morgen Abend.«

»Ostersonntag also schon auf der Insel.«

Vivian nickte. Sie wollte etwas sagen, aber ein dicker Kloß hatte sich urplötzlich in ihrem Hals gebildet und hinderte sie daran.

Otto Hörmann musterte sie aufmerksam. »Es gibt kaum etwas Schwierigeres als wache, wahre, kompromisslose Selbstverwirklichung, Frau Steiner«, sagte er dann leise. »Weil kaum etwas mehr Mut erfordert.«

Sie nickte stumm.

»Und eine gewisse Portion Egozentrik. Ich bin aber überzeugt davon, dass es sich lohnt«, fügte Hörmann noch leiser hinzu.

Vivian schluckte, um den Kloß zurückzudrängen, und drückte zum Abschied fest die Hand ihres Kollegen, die ebenfalls deutlich kühler war als ihre eigene.

In der kleinen Küche neben dem Lehrerzimmer platzierte sie die übrig gebliebenen Kuchenstücke auf einen Teller und stellte ihn in den Kühlschrank, dann räumte sie die Spülmaschine ein und wischte die Arbeitsfläche und den Tisch. Als sie begann, die Topfpflanzen auf dem Fensterbrett zu gießen, obwohl die Erde in den Töpfen noch feucht war, vibrierte ihr Handy.

Verlasse jetzt die Schule, Viv. JETZT. Du hast reichlich zu tun vor deiner Abreise. Das Charlotten-Gymnasium gibt es seit über hundert Jahren, es wird auch nach deiner Abreise ein Weilchen weiterexistieren. Es wird noch stehen, wenn/falls du zurückkommst, dann besteht noch genügend Gelegenheit, das Lehrerzimmer zu streichen.

Vivian straffte die Schultern und stellte die Gießkanne ab. Lilly kannte sie wirklich gut. Und sie hatte ja recht, sie musste noch so viel erledigen. Fertig packen, letzte persönliche Gegenstände in den Keller räumen, saugen, einmal durchwischen. Für ein Jahr hatte sie die Wohnung möbliert untervermietet, was danach passierte, wusste sie nicht. Oder davor, wenn sie früher zurückkehren würde.

Sie verließ die Küche, ging zu ihrem Platz im Lehrerzimmer, packte die Karte mit den Unterschriften in ihre Tasche, nahm den Blumenstrauß und verließ den Raum, ohne sich noch einmal umzusehen.

Er wartete bei den Fahrrädern, wie er es so oft tat. Sein Lächeln wirkte bemüht, und Vivian wusste, dass es nur ihren eigenen Gesichtsausdruck widerspiegelte. Das Fröhlichste an ihr waren im Moment die roten, gelben und violetten Tulpen in ihrem Arm.

»Alles gut?«, fragte er trotzdem.

Sie nickte. »Alles gut. Nichts wie weg hier.«

»Okay. Auf geht’s.«

Als er ihre freie Hand nahm, merkte sie, dass seine Finger so warm und feucht waren wie ihre, und sie wusste, dass dies nicht den ungewöhnlich milden Temperaturen geschuldet war.

Jonas war aufgeregt. Er war genauso aufgeregt wie sie, weil sie ihn wieder verließ, nachdem sie sich endlich gefunden hatten.

Kapitel 2

Selbstverwirklichung war nicht nur schwierig, wie Herr Hörmann gesagt hatte, sondern gelegentlich auch verdammt nervig. Mit einem leisen Fluch zerrte Vivian ihren Koffer wieder von der Waage und zog ihn an den wartenden Menschen hinter ihr vorbei und zu einer Bank. Sie hatte keine Lust, dass die anderen Reisenden ihr dabei zusahen, wie sie ihr Gepäck öffnete. Dann lieber noch einmal anstellen, wenn sie sich um die paar hundert Gramm Übergewicht gekümmert hatte, die der Mitarbeiter der Fluggesellschaft nicht zu ignorieren bereit war.

Sie hob ihre sorgfältig übereinandergeschichteten Pullover an und zog ihre Outdoorjacke heraus, packte noch zwei Paar dicke Socken in ihre Handgepäckstasche und schloss den Koffer wieder. Als sie sich aufrichtete, stieß sie mit dem Rücken gegen eine andere Person und entschuldigte sich sofort. Doch der ältere Herr mit dem leicht abstehenden silbergrauen Haar lächelte sie nur milde an und wandte sich wieder der kleinen Menschenansammlung neben ihm zu, die sich gebildet hatte, als Vivian neben ihrem Koffer gekniet hatte.

Ihr Blick glitt rasch über die Luftballons, die über den Köpfen schwebten, das Schild mit der Aufschrift Gute Reise, das in die Luft gehalten wurde, die halb leeren Sektgläser in den Händen. Vivian sah die Frau, die etwa in ihrem Alter war und gerade umarmt wurde, und wandte sich rasch ab.

Eine Mischung aus Selbstmitleid, Wut und Trotz drohte sich über ihr zu ergießen wie ein Gewitter nach einem langen, schwül-heißen Sommertag. Als sie wieder in der Warteschlange anstand, versuchte sie sich zu beruhigen: Es war ihre Entscheidung gewesen, allein zum Flughafen zu fahren. Sowohl Jonas als auch ihre Eltern und Lilly mit ihrer Familie – alle hatten unzählige Male nachgefragt, ob sie wirklich sicher sei, nicht begleitet werden zu wollen. Und Vivian war sicher gewesen. Die Abschiedsparty mit Familie und Freunden, die letzte Nacht mit Jonas, das sollten die letzten Bilder aus München sein, die sie mitnahm. Sie wollte nicht, dass ein weinendes Abschiedskomitee die Erinnerung daran trübte.

Sie sah erneut zu der blonden Frau, die sich jetzt ebenfalls in der Schlange eingereiht hatte und der winkenden Gruppe immer wieder Handküsse zuwarf. An den Griff ihres Koffers hatte sie einen pinkfarbenen Ballon gebunden, der jedes Mal fröhlich hin und her sprang, wenn sie sich ein paar Schritte nach vorne bewegte.

»Was für eine kitschige, alberne Farbe«, sagte Vivian zu sich selbst und erntete verwunderte und mitfühlende Blicke des älteren Ehepaars, das vor ihr stand.

Der Schatten des Flugzeugs glitt noch eine Weile unter ihnen mit, flog im fahlen Sonnenlicht über die dunkelgrünen und braunen Felder, über das weiße Dach einer Fabrikanlage und wieder über Felder, bis er schließlich nicht mehr zu sehen war.

Vivian wandte den Blick verstohlen nach links. Die junge Frau saß auf der anderen Seite des Mittelganges. Sie hatte den Luftballon lautstark zum Platzen gebracht, bevor sie durch das Metalldetektor-Tor geschritten war, hatte das erschlaffte Stück Rosa mittlerweile in das Netz am Vordersitz gesteckt und öffnete seit dem Start einen Umschlag nach dem anderen, lächelte und schniefte abwechselnd und wischte sich ständig über die Augen.

Vivian unterdrückte den Impuls, wieder einen Kommentar abzugeben, lehnte sich zurück und betrachtete den dunklen Haarschopf des Mannes im Sitz vor ihr. Er hatte ungefragt geholfen, ihre Tasche im Gepäckfach zu verstauen, und die Art, wie ihm eine Haarsträhne in die Stirn fiel und er sie wegstrich, hatte sie an Jonas erinnert.

Vielleicht ist das alles eine Schnapsidee, dachte sie, und als sie erneut einen irritierten Blick auffing, dieses Mal von dem Mann im Anzug neben ihr, merkte sie, dass sie es laut ausgesprochen hatte. Sie lächelte wieder entschuldigend und sah rasch aus dem Fenster. Es stimmte ja, vielleicht war es eine Schnapsidee, eine Beziehung in eine Fernbeziehung zu verwandeln, gerade als sie nach all den Turbulenzen wieder auf die Beine gekommen war. Wackelige Beine zwar, aber immerhin.

Im November vorletzten Jahres hatte alles begonnen zwischen Jonas und ihr. Langsam und tastend hatten sie sich einander angenähert, bevor Jonas wieder davongestoben war, aus Angst, verletzt zu werden. Im selben Jahr war Vivians leiblicher Vater gestorben, zu dem sie viele Jahre keine Verbindung mehr gehabt hatte. Sie war auf St. Mary’s gereist, die größte der Scilly-Inseln vor der Küste Cornwalls, um an seiner Beerdigung teilzunehmen, und dann später noch einmal, weil es in München zu diesem Zeitpunkt nichts gab, was sie hielt. Bei diesem zweiten Besuch in Südengland hatte sie erst erfahren, dass ihr Vater auf der Insel, dem Ort seiner Kindheit und Jugend, seit vielen Jahren eine erfolgreiche kleine Fotogalerie geführt hatte. Die sie, seine Tochter, nun weiterführen würde. Sie, die seit ihrer Jugend Fotografin hatte werden wollen und diesen Wunsch nur aus Angst zugunsten einer sicheren Laufbahn als Kunstlehrerin aufgegeben hatte. Es war ein Geschenk, dass sie nun auf St. Mary’s, diesem bezaubernden Fleckchen Erde, ihren Traum verwirklichen könnte.

Eigentlich.

Vivian ächzte leise.

»Alles in Ordnung bei Ihnen?« In den besorgten Blick des Anzugträgers hatte sich eine gute Portion Irritation gemischt. »Wollen Sie vielleicht etwas trinken? Wasser oder …«, er wies mit dem Kopf in die Richtung der zwei Flugbegleiterinnen, die sich im Mittelgang mit dem Service-Wagen näherten, »etwas Richtiges, Wein oder Bier?«

»Nein, danke, alles gut.«

»Wirklich? Sie wirken etwas … angegriffen?«

»Okay, vielleicht einen Rotwein«, sagte Vivian und fügte schnell hinzu: »Damit ich ein bisschen dösen kann.« Bloß jetzt nicht weiter Konversation führen müssen, dachte sie.

Sie bestellte einen Wein und trank den Plastikbecher in wenigen Schlucken leer. Dann zog sie den Reißverschluss ihres Kapuzenpullis hoch, lehnte den Kopf an die Seitenwand und sah aus dem Fenster, unter dem sich inzwischen ein Wolkenteppich in verschiedenen Grauschattierungen ausgebreitet hatte.

Am Ende der Sommerferien war sie von ihrem zweiten Besuch auf St. Mary’s zurückgekehrt, mit so vielen Eindrücken und Erinnerungen und Fragen und Überlegungen, dass sie völlig geistesabwesend durch den Ankunftsbereich gestapft war und Jonas gar nicht bemerkt hatte, der dort auf sie wartete, verlegen die Haarsträhne aus der Stirn schob und Vivians Kopf noch mehr zum Schwirren brachte.

Jonas Berger, siebenunddreißig Jahre alt, einmal geschieden, aber dadurch dutzendfach verletzt, unterrichtete Deutsch und Sport, was ihn laut Lilly schon per se zu einer unfassbar guten Partie machte, denn nur wenige Männer hätten »Schiller im Kopf und ein Sixpack auf dem Bauch«. Aber das waren nicht die Gründe, warum Vivian sich im Jahr davor in ihn verliebt hatte. Zumindest nicht die einzigen.

Während sie noch überlegte, ob wohl ihre Mutter ihm ihre Flugdaten mitgeteilt hatte, war Jonas schon auf sie zugegangen und hatte sie wortlos umarmt und festgehalten. Minutenlang, was Vivian Zeit gegeben hatte, sich zu überlegen, wie sie es ihm erklären sollte. Warum sie seine Frage verneint hatte, die er ihr wenige Wochen zuvor gestellt hatte. Er hatte gefragt, ob er zu ihr auf die Insel kommen sollte, weil er nun doch sicher sei, dass er sie liebe.

Sie hatte nein gesagt. Nicht, weil sie überzeugt gewesen war, ihn nicht zu lieben, aber weil sie die Zeit gebraucht hatte, um über alles nachzudenken, was in den Monaten davor passiert war. Und was in den kommenden Monaten alles passieren, wie sie ihr kommendes Leben gestalten könnte.

Es gibt nichts Schwierigeres als Selbstverwirklichung.

»Noch einen Schluck?«, hörte sie den Mann neben sich fragen und wandte ihm langsam den Kopf zu. Als sie sah, dass er dieses Mal gar nicht sie, sondern die junge Frau mit den Karten und den Umschlägen und dem verschrumpelten Luftballon meinte, war sie fast enttäuscht. Vielleicht würde es ihr gut tun, mit jemandem zu plaudern, anstatt zu grübeln. Aber sie konnte den Mann verstehen. Die Frau wirkte glücklich, obwohl sie weinte, sie war offen und hielt ihm strahlend ihren leeren Pappbecher hin. Sie dagegen hatte eine Kapuze über den Kopf gezogen und vermutlich einen Gesichtsausdruck, der einen sofort in schlechte Stimmung versetzte.

In der Ferne sauste ein anderes Flugzeug in entgegengesetzter Richtung über den Wolkenteppich. Vivian stellte sich vor, dass sie darin saß, zurück nach München flog, dass alle Ereignisse der letzten vierundzwanzig Stunden in umgekehrter Reihenfolge noch einmal stattfanden und der Tag nicht mit dem Zubettgehen auf St. Mary’s in Cornwall enden würde, sondern mit Jonas, der sie sanft aus dem Schlaf küsste und sagte: »Wach auf, Vivi. Ab heute ändert sich alles, aber das Wichtigste nicht. Dass ich dich liebe.«

Vivian hatte seit Stunden nichts Ordentliches gegessen und spürte, wie der Alkohol rasch seine Wirkung entfaltete, sie beruhigte und schläfrig machte. Sie schloss die Augen, konzentrierte sich auf die Erinnerung an die letzte Nacht, schlief schließlich ein und wachte erst wieder auf, als die Reifen des Flugzeugs hart auf der Landebahn aufsetzten und kurz danach eine knackende Stimme sie in London Heathrow willkommen hieß.

Vivian gähnte und streckte sich und strich im Geiste einen der vielen Reiseabschnitte, die sie von München nach St. Mary’s brachten. Vor ihr lagen noch die Fahrt zum Bahnhof Paddington, die Zugfahrt nach Penzance, wo sie eine Nacht in einem Bed & Breakfast verbringen würde, um am nächsten Morgen mit der ersten Fähre des Tages nach St. Mary’s überzusetzen, die größte der Scilly-Inseln, die etwa fünfundvierzig Kilometer vom englischen Festland entfernt im Atlantischen Ozean liegen.

Kapitel 3

»Das sind die Aufträge für die nächsten …?« Vivian schob die Liste ein wenig von sich weg und sah Mabel mit hochgezogenen Augenbrauen an. Monate?, dachte sie und spürte, wie Nervosität in ihr hochstieg. Das nächste halbe Jahr? Das würde finanziell nie im Leben reichen.

Mabel lächelte milde und schob ihre Lesebrille in das kurze graue Haar. Ihr genaues Alter kannte Vivian nicht, aber sie war eine gute Freundin von Violet Hunter gewesen, Vivians Großmutter väterlicherseits, also war sie vermutlich Anfang siebzig. Mabel Mallory, unverheiratet und kinderlos, war eigentlich Krankenschwester, arbeitete aber schon Jahrzehnte nicht mehr in ihrem Beruf und war seit ihrer Eröffnung fester Bestandteil der Galerie View Point: John Hunter hatte ihr eine Art Theke zimmern lassen, hinter der sie den Besuchern Kuchen, Scones, Croissants und vieles mehr anbot, alles selbst gebacken. Die Anzahl der Öffnungstage der Galerie und der Anwesenheitstage von Mabel war deckungsgleich, sie war nicht einmal krank gewesen, sie liebte ihren »Job«, wie sie es nannte, und war dankbar für das Zubrot, das er ihr einbrachte.

»Das sind nicht die Aufträge für das nächste halbe Jahr, Liebes«, sagte sie jetzt. »Das sind die Aufträge für die nächsten drei Wochen.«

»Aber …«

»Drei Hochzeiten, dazu eine Gruppe älterer Damen, die unbedingt hochwertige Fotos von ihrer Wandertour will, und eben dieser Hobbyfotograf, der hier mit professioneller Begleitung die Insel fotografieren will.«

»Ich dachte nur, es handelt sich um einen längeren Zeitraum. Weil Frühling/Sommer über der Liste steht.«

»Naja«, sagte Mabel achselzuckend, »Winter haben wir nicht mehr. Auch wenn man das noch denken könnte.«

Vivian sah nach draußen, wo sich Himmel und Meer im grauen Partnerlook präsentierten. Es war so trüb, dass North Hill und South Hill, die beiden Hügel auf der gegenüberliegenden Insel Samson, nicht einmal zu erahnen waren. Wenn das Wetter schön war, strömte ab frühem Nachmittag warmes Licht durch das Panoramafenster in den Galerieraum und ließ die Bilder an den Wänden strahlen. Heute aber war es düster im Erdgeschoss des kleinen Steinhauses oberhalb von Porthmellon Beach. Vivian schien es fast, als drücke das Wetter auch den Menschen auf den Fotos aufs Gemüt. War das Grinsen von Jack Hunter, das seine schiefen Zähne präsentierte, nicht noch viel breiter, wenn die Sonne schien? No Man is an Island war der Name der aktuellen Ausstellung, für die Vivian während ihres letzten Besuchs innerhalb einer Woche zwei Dutzend »Ureinwohner« von St. Mary’s abgelichtet hatte. Die Abgelichteten hatten die Texte zu ihren Porträts selbst geliefert, hatten über Heimat, Wurzeln, Fernweh geschrieben, über Familie, Freundschaft und Zusammenhalt auf einer knapp vier Kilometer langen und drei Kilometer breiten Insel im Atlantischen Ozean.

»Auch noch einen Cappuccino?«, fragte Mabel.

»Ja, gerne. Ich zahl auch dafür.«

»Untersteh dich.«

Vivian lachte, aber es war nur halb im Scherz gemeint. Letzte Nacht hatte sie überschlagen, wie viele Tassen Kaffee sie verkaufen mussten, um die Kosten für die neu angeschaffte Maschine wieder hereinzubekommen. Die Zahl hatte dafür gesorgt, dass sie erst Stunden später einschlafen konnte. No Man is an Island würde noch über den Sommer laufen, aber sie verlangten, wie es seit Öffnung der Galerie üblich war, keinen Eintritt und waren somit auf den Kuchen- und Heißgetränkekonsum der Gäste, den Verkauf von Postkarten, Postern und gerahmten Bildern und natürlich die Hochzeiten und andere Gelegenheiten angewiesen, zu denen sich Menschen fotografieren lassen wollten.

»Es wird schon alles gut werden, Vivi.« Von der Tasse, die Mabel neben sie auf den Tisch stellte, troff der Milchschaum.

»Es muss«, seufzte Vivian und wandte sich wieder der Liste zu. »Dieser Hobbyfotograf mit seiner professionellen Begleitung … Was steht da noch, AA? Ist er … bei den Anonymen Alkoholikern? Und das Wort dahinter … Ich kann deine Schrift so schlecht lesen … Zo-ne-n-was?«

»Zonensystem«, sagte Mabel und schob die Lesebrille wieder auf ihre Nase. »Nach Ansel Adams.«

»Oh wow … Es will … Da kommt ein Hobbyfotograf auf St. Mary’s, um mit mir nach dem Zonensystem von Ansel Adams fotografieren?«

»Ich habe ihn gefragt, ob ihn das interessieren würde.«

»Aber …«

»Er ist hier demnächst zu Besuch, fotografiert gern, ist auf die Seite der Galerie gestoßen, aber nicht schlau aus unserem Angebot geworden. Da habe ich das Zonensystem erwähnt.«

»Kannte er das?«

»Nein.«

»Weiß er, dass er dafür analog fotografieren, Schwarzweißfilme mitbringen und sie dann in einer Dunkelkammer entwickeln muss?

»Das habe ich ihm natürlich gesagt.«

»Und woher …«

»Woher ich das alles weiß? Nun, Vivi, ich habe lange genug mit deinem Vater zusammengearbeitet.«

»Das Zonensystem ist natürlich …«

»Nicht mehr ganz aktuell, ich weiß, aber kennst du es?«

»Ja, wir haben im Studium … Aber ich müsste mich schon noch einmal einarbeiten.«

»Mach das, er zahlt dreihundert Pfund für den halben Tag.«

Vivian ließ die Kaffeetasse auf halbem Weg wieder sinken. »Oh wow, Mabel, das ist …«

»Nicht schlecht, oder?« Mabel legte Vivian eine Hand auf die Schultern. »Vivi, so schnell lassen wir uns doch nicht unterkriegen. Wir sind ein Spitzenteam.«

»Apropos Spitzenteam«, sagte Vivian. »Wo bleibt eigentlich Paddy? Er wollte doch auch um elf hier sein.«

»Sein Auto steht schon lange vor dem Haus.«

»Hä? Wieso kommt er denn nicht rein?«

Mabel zuckte mit den Achseln. »Wartet vermutlich wieder auf Antworten seiner Holden. Neuerdings ist er bei so einer … Institution, bei der nur die Frauen entscheiden, ob man sich wiedersieht.«

»Davon hab ich gehört. Bimble, Bomble … wie hieß es gleich?«

»Das darfst du mich nicht fragen, Vivian, von solchen Dingen habe ich keine Ahnung. Ich habe meinen Verlobten damals bei einem Tanztee kennengelernt.«

»Und es hat trotzdem nicht so unfassbar gut geklappt danach«, sagte eine Stimme aus Richtung der Tür.

Vivian sah alarmiert zu Mabel, aber die warf Paddy nur lächelnd einen Luftkuss zu. Sie selbst würde sich niemals trauen, einen Scherz über Mabels Hochzeit zu machen, die einen Tag vor der Feier abgesagt werden musste, aus Gründen, die Vivian nicht kannte und nach denen sie auch nicht fragen würde. Auch wenn das alles Jahrzehnte zurücklag. Jahrzehnte, in denen Mabel nie mehr einem Mann ihr Herz geschenkt hatte, das wusste sie von Paddy.

Sie betrachtete die beiden, die sich bei jedem Treffen umarmten, als hätten sie sich wochenlang nicht gesehen. Es gab eine so tiefe Übereinstimmung zwischen Mabel und Paddy, dass Vivian überzeugt war, dass sie das Paar des Jahrtausends bilden würden, wenn nicht mehrere Jahrzehnte sie voneinander trennen würden.

»Hmm, hast du abgenommen, Mabel?«, murmelte Paddy. Er drückte die deutlich kleinere Frau fest an sich und legte sein Kinn auf ihren Scheitel. »Sonst spüre ich deine üppigen Formen immer viel deutlicher.«

Mabel kicherte nur. Vivian spürte, wie eine große Freude sie durchströmte.

Paddy Mitchell. Sechsunddreißig, Insel-Urgestein, seine Familie lebte seit Generationen hier. Er war Pilot bei der kleinen Airline, die Touristen von Penzance, Newquay und Exeter zum Flughafen auf St. Mary’s und wieder zurück flog. Aber Paddy war viel mehr als das. Er hatte einen Angelschein und fischte leidenschaftlich gerne, er konnte so gut wie alles reparieren und er betätigte sich auf Anfrage auch als Schreiner. Die Theke, hinter der Mabel ihre Köstlichkeiten verkaufte, hatte der blutjunge Paddy gezimmert, der seitdem, trotz des Altersunterschiedes von fast zwanzig Jahren, sehr gut mit Vivians Vater John Hunter befreundet gewesen war. Vor allem aber war Paddy mit dem Suchen und Finden der Liebe beschäftigt, die er vor einigen Jahren verloren und nun wiederfinden wollte, mit vollem Einsatz auf sämtlichen Datingplattformen, die das Königreich England zu bieten hatte.

»Hi, Charmebolzen«, sagte Vivian. Sie stand auf und ging mit ausgestreckten Armen auf die beiden zu. »Darf ich auch noch meinen Busen dazudrücken?«

»Klar, Fräulein, komm nur her.« Eine rotblonde Haarsträhne fiel Paddy in die Stirn und er pustete sie energisch weg. Seine blauen Augen blitzen, zwinkerten ihr zu. An Paddy war immer alles wie elektrisch aufgeladen, er war, wie Mabel sagte, die »einzige Naturkatastrophe, die Positives bewirkt«. Trübe Gedanken schwemmte er mit mitreißender Zuversicht davon, Zweifel blies er mit orkanartigem Optimismus so weit weg, dass sie keine Rolle mehr spielten.

Vivian legte ihre Stirn an Paddys Schlüsselbein, roch das Meer an seinem T-Shirt und den Duft nach Lavendel, Zitronen und Kaffee, der von Mabel ausging.

»Spitzenteam«, sagte Mabel erneut, und Paddys Arm verstärkte seinen Druck auf Vivians Rücken.

»Wollen wir es ihr sagen?«, murmelte er.

»Was?«, fragte Vivian, ohne ihre Haltung zu verändern. »Dass du dir eine junge, schöne, kinderlose, reiche Witwe angebimbelt hast, die bald in deine Hütte zieht und ihr Erbe in unsere Galerie steckt?«

Mabel kicherte erneut.

»Mmm«, machte Paddy, »Jung, schön, kinderlos bist du doch schon, Viv, da muss ich mir nichts anderes mehr suchen.«

Mabel prustete leise.

»Und Erbin bist du auch.« Er richtete sich abrupt auf und nahm Vivians Hand. »Komm mit, Viv. Mabel und ich müssen dir etwas zeigen.«

Der Wind hatte aufgefrischt, die Azaleenbüsche vor dem Haus wiegten sich ruckartig hin und her. Die dichte Wolkendecke war an einigen Stellen aufgerissen und gab den Blick auf einen opalblauen Himmel frei, der sich laut Wetterbericht in den nächsten Tagen wieder in seiner ganzen Pracht zeigen sollte.

»Wo gehst du hin?«, rief Vivian Paddy nach, doch statt einer Antwort gab er ihr lediglich mit einem Handzeichen zu verstehen, ihm zu folgen. Er ging ein paar Meter auf dem Weg, der zum Haus führte, und wandte sich dann um. »Kommt schon«, rief er. »Bevor es wieder zu regnen anfängt.«

»Geh ruhig allein, Vivian«, sagte Mabel und zog ihren Cardigan fester um sich. »Ich müsste mir andere Schuhe anziehen, das dauert zu lange.«

Paddys Grinsen wurde mit jedem Schritt breiter, den Vivian auf ihn zukam. Als sie nahe genug bei ihm war, fasst er sie an der Hüfte und zog sie zu sich, doch bevor sie sich an der Taille berührten, drehte er sie schwungvoll herum, sodass Vivian wieder in Richtung Haus sah.

»Paddy, es muss nicht immer alles so dynamisch geschehen, ich kann mich auch selbst …«

»Nicht reden, Viv, schauen!«

»Ich schaue ja. Habt ihr den Efeu am Haus geschnitten, es sieht so …«

»Direkt hier, Viv! Bei den Büschen.«

»Habt ihr neue … Oh.« Vivian verstummte. Nur der Wind war einen Moment zu hören, der das Gras, die Ginsterbüsche und das Heidekraut streichelte.

Vivian hatte das weiße Holzschild zum ersten Mal während ihres zweiten Besuchs gesehen. Als Mabel ihr die Galerie gezeigt hatte. View Point hatte schlicht darauf gestanden, im gleichen Türkis, in dem auch Fensterrahmen, Tür und Dachrinne des Hauses gestrichen waren. Jemand hatte die Buchstaben mit frischer Farbe nachgezogen und einige Worte ergänzt. View Point stand noch immer auf dem Schild. Und darunter: Founded by John Hunter, now run by his daughter Vivian Steiner.

Vivian schluckte und fuhr sich über die Augen.

»Nur der Wind …«, sagte sie rasch, als Paddy ihr ein Taschentuch reichte, dann nahm sie es doch und schnäuzte so laut, dass sie beide lachen mussten.

»Gefällt es dir, Viv?«

Sie nickte, umarmte ihn rasch und warf Mabel, die von der Tür aus winkte, eine Kusshand zu.

Es wird schon alles gut werden, hatte Mabel gesagt, und in diesem Moment war auch Vivian zum ersten Mal hundertprozentig davon überzeugt, dass sie recht hatte. Sie würde View Point, die Galerie ihres verstorbenen leiblichen Vaters John Hunter, in seinem Sinne weiterführen.

Kapitel 4

Wie bei ihren vorangegangenen Besuchen zog Vivian wieder in Mabels Haus in der Straße namens Sally Port, hinter der sich die Mauern der ehemaligen Festung von Hugh Town, der Inselhauptstadt, erhoben. Solange sie noch kein eigenes Heim hatte, ein kleines Cottage vielleicht, in dem auch Jonas Platz finden würde, wenn er da war, würde sie hier bleiben, in dem gemütlichen Zimmer im ersten Stock.

Jeden Morgen nach dem Aufstehen lehnte sich Vivian aus dem Fenster, sah über die Dächer Hugh Towns und über die unzähligen Schornsteine, die hier deutlich weniger eingesetzt wurden als in vielen Teilen Englands, denn der Golfstrom sorgte ganzjährig für mildes Klima auf den Scilly-Inseln.

Wenn Vivian den Kopf nach rechts wandte, sah sie Porthcressa Beach, dahinter das Meer und den Himmel, die an manchen Tagen so nahtlos ineinander übergingen, dass Vivian nicht wusste, wo das Wasser endete und die Luft begann. Links waren der Hafen von Hugh Town und die vielen Segel-, Ruder- und Fischerboote zu sehen, ein farbenfrohes Durcheinander, das beschwingt auf den Wellen schaukelte.

Hatte Vivian sich versichert, dass der Anblick über Nacht unverändert geblieben war, dass es hier wirklich immer noch genauso schön aussah wie am Vortag, stieg sie unter die Dusche. Wenn sie nach unten kam, war das Erdgeschoss erfüllt vom Duft nach Kaffee und frischem Kuchen, die Mabel an jedem Öffnungstag der Galerie buk. Sie frühstückten zusammen, oft Rühreier mit Tomaten, Eggs Benedict oder Porridge mit Beeren, besprachen bei mehreren Tassen Cappuccino die Aufgaben des Tages, während Mabels Katzen Marks und Spencer um ihre Beine strichen.

Wenn Vivian später auf die ersten Wochen zurückblickte, konnte sie nicht umhin, als diese als perfekt zu bezeichnen. Sie hatte kein Wochenende frei und arbeitete an keinem Tag weniger als zehn Stunden, aber sie hatte sich nie wohler gefühlt, auch wenn es Hochzeiten waren, die sie fotografierte, und keine Reportagen von Getreide anbauenden Grönländern oder Kamelmilch melkenden Beduinen im Wadi Rum. Aber man konnte auch Hochzeiten ausgefallen, ohne Kitsch fotografieren und dennoch die Romantik und Freude dieses Tages einfangen und das Glück, das in diesen wenigen Stunden so verschwenderisch von allen Seiten stob wie Konfetti an Karneval.

Paddy gab bei allen drei Hochzeiten, die Vivian in den ersten Wochen fotografierte, einen tadellosen Assistenten. Anders als bei ihrem ersten gemeinsamen Einsatz im vergangenen Jahr verlor er nicht nach kurzer Zeit das Interesse an ihrem eigentlichen Auftrag, fokussierte sich nicht mehr auf hübsche, junge, weibliche Gäste, sondern ausschließlich darauf, dass Vivian stets das richtige Objektiv zum richtigen Zeitpunkt in der Hand hatte und bei Gruppenbildern alle im selben Moment auf seinen erhobenen Zeigefinger blickten. Und dazu eine Miene aufsetzten, die ihnen später auch noch auf dem Foto gefiel. Das war sein großes Talent, das Vivian nicht hoch genug schätzen konnte: Paddy gewann selbst wildfremde Menschen innerhalb von Minuten für sich, disziplinierte sie anschließend mit milder Strenge, sodass selbst Aufnahmen mit über dreißig Personen nach wenigen Auslösern im Kasten waren. Vivian hatte gelesen, dass der Fotograf, der das Gruppenfoto bei der Hochzeit von Meghan Markle und Prince Harry aufgenommen hatte, nur etwa zwanzig Minuten Zeit dafür bekommen hatte. Das Brautpaar, die Queen, ihr Gatte, all die Erwachsenen waren sicher kein Problem, sie waren Termine gewohnt und konnten ihre Fotomienen mit Sicherheit im Schlaf aufsetzen, aber zehn Blumenkinder zu disziplinieren, war etwas ganz anderes. Mit Paddy, da war sich Vivian jedoch inzwischen sicher, würde sie auch jeden Fotoauftrag der britischen Königsfamilie problemlos meistern.

Die Tatsache, dass er sich während der Hochzeiten disziplinierte, bedeutete nicht, dass Paddy sich ansonsten verändert hatte. Er wollte lieben und geliebt werden und das beides wahrhaftig. Weil sich aber – anders als der Sonnenauf- und -untergang, das Frühstücksfernsehen, die Acht-Uhr-Nachrichten, das Gefühl von Hunger und Durst – nicht jeden Tag die große Liebe verlässlich präsentierte, hatte Paddy schon vor geraumer Zeit beschlossen, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und die Frequenz der Begegnungen mit dem weiblichen Geschlecht zu erhöhen. Signifikant zu erhöhen, wenn auch eben nicht mehr auf beruflichen Terminen. Oder nicht mehr auf jedem.

Bei dem Treffen mit der Wandergruppe, die Vivian bei ihrer Tour über St. Mary’s und die Nachbarinsel St. Martin’s fotografieren sollte, wurde er jedoch wieder schwach. Die »fünf älteren Damen«, wie Mabel es verstanden hatte, waren keineswegs im Seniorenalter, sondern alle um die fünfzig und schienen die Zeit ihres Lebens zu haben.

»Wir kennen uns seit der Vorschule«, erklärte einen von ihnen, die sich als Stacey vorgestellt hatte. »Und wir feiern heute unsere letzte Scheidung.« Als Vivian sie fragend ansah, fügte sie fröhlich hinzu: »Die Letzte von uns lässt sich gerade scheiden, die anderen sind schon durch. Ich am längsten.«

Paddy lachte hinter ihnen und umgarnte Stacey, die wie ihre Freundinnen sehnig und durchtrainiert war, während des ganzen Trips. Als er sie mit seinem Fischerboot von St. Martin’s in den Hafen von Hugh Town zurückfuhr und Stacey etwas zuraunte, die sich neben ihn gesetzt hatte, war Vivian klar, wie der Abend für die beiden enden würde.

Zwei Tage später hatte er Vivian nach Exeter geflogen, wo sie den Geschäftsführer einer kleinen Web-Agentur treffen wollte, die möglicherweise die neue Internetseite der Galerie gestalten würde. Beim Hinflug hatte Paddy intensiven Rasierwasserduft verströmt und genauso viel Euphorie und hatte von Melanie geschwärmt, die er gleich treffen würde. Auf dem Rückweg war er schweigsam gewesen und hatte mehr nach Schweiß denn nach Odeur gerochen.

»Durchgeknallt, absolut durchgeknallt«, hatte er nur gemurmelt, als Vivian ihn nach seinem Date gefragt hatte.

»Armer Kerl, mir wäre das ja alles viel zu anstrengend«, meinte Jonas bei einem ihrer abendlichen Telefonate, und Vivian fühlte sofort einen Anflug von schlechtem Gewissen, weil sie intime Details aus Paddys Privatleben ausgeplaudert hatte. Paddy war der Grund, warum sie es noch einmal mit Jonas versuchte, und der Grund, warum sie hier auf St. Mary’s war. Letztes Jahr im Sommer, als sie die Insel zum zweiten Mal besuchte hatte, war Paddy es gewesen, der sie bei vielen Spaziergängen und einem halben Dutzend Flügen über das Meer davon überzeugt hatte, dass sie beides wagen sollte: die Übernahme der Galerie ihres Vaters und die Beziehung zu Jonas, auch wenn beides Hunderte Kilometer auseinanderlag. Er war ihr ein lieber Freund geworden, der ihr viel über ihren leiblichen Vater erzählte und sie und Mabel in seiner freien Zeit tatkräftig bei allem unterstützte, was die Galerie betraf, beim Dachdecken, bei der Buchhaltung, beim Streichen der Fensterrahmen. Er schraubte Glühbirnen ein, reparierte kaputte Spülkästen und hatte auf dem Gepäckträger von Vivians Fahrrad eine Weinkiste befestigt, in die ihr Fotorucksack passte.

»Vielleicht sagst du ihm mal, dass er vor lauter Online-Dating das wahre Leben verpasst und dadurch vielleicht auch die Frau seines Lebens«, sagte Jonas noch. »Er ist doch so ein guter Typ, wie du immer betonst.«

»Ja, sag ich ihm vielleicht mal«, sagte Vivian rasch und dachte an den Abend vor zwei Tagen, als sie und zwei Cousins ihres Vaters, Jack und Henry, im Mermaid Inn Tränen gelacht hatten angesichts zweier Tinder-Chats, die Paddy ihnen laut vortrug. Danach hatten sie ihn beim nach links und rechts Wischen angefeuert und potenzielle Profilfotos von ihm geschossen. Natürlich hatte Jonas recht, es war ein anstrengendes, ein zeitaufwendiges Hobby. Aber da noch etwas anderes, was Vivian verspürte. Paddy tat ihr leid. Sie war froh, nicht in seiner Haut zu stecken, sich immer wieder neuen Menschen öffnen zu müssen, in der Hoffnung, in ihnen vielleicht einen Seelenverwandten fürs Leben zu finden. Paddy schien so fern von jeder Beziehung, dass es Vivians Fernbeziehung geradezu paradiesisch erscheinen ließ. Seine Lage wertete ihre eigene auf. Warum ihr das wichtig war? Vivian zuckte im Geiste die Achseln. Weil sie wusste, dass es nicht einfach werden würde.

»In wie vielen Tagen kommst du endlich?«, fragte sie Jonas.

»Hmm.« Er überschlug rasch die Zeit bis zu den Pfingstferien. »Knapp vier Wochen.«

»Gott sei Dank. Ich vermisse dich.«

»Und ich dich erst, Vivian, ich kann es kaum erwarten.«

Vivian versuchte regelmäßig am frühen Abend mit Jonas zu telefonieren, meistens während einer Pause in der Galerie, ansonsten hatte sie lediglich über Kurznachrichtendienste Kontakt nach München. Sie schickte Bilder von Sonnenuntergängen, blühenden Blumen oder ihren Fußabdrücken im Strand an ihren Eltern, an Tim oder Lilly und versuchte, sie zumindest oberflächlich auf dem neuesten Stand zu halten. Immer wieder tauchten Bilder aus der alten Heimat vor ihrem inneren Auge auf, verharrten dort kurz wie Wellen, die auf dem Strand ausrollten, um sich sofort wieder zurückzuziehen. Die Erinnerung an München und die Menschen dort, an die Schülerinnen und Schüler, das Charlotten-Gymnasium, ihre Wohnung, all das spielte gerade keine große Rolle, weil sie so viel zu tun hatte. Wenn sie kurz vor Mitternacht ins Bett kroch, war sie so müde, dass sie binnen Minuten einschlief und während der Nacht auch kein einziges Mal aufwachte und Gedanken wälzte, wie sie es in München so oft getan hatte. Ihr altes Leben verblasste Tag für Tag mehr, während ihre Haut einen leicht dunkleren Ton annahm, ihre Sommersprossen sich rasant vermehrten und der Rotstich in ihren braunen Haaren so glänzend wurde wie noch nie.

Der 300-Pfund-Workshop, den Mabel organisiert hatte, verlief ähnlich erfolgreich wie die Hochzeiten und die Wandertour, nur hatten dieses Mal Vivians sorgfältige Vorbereitungen nichts damit zu tun.

Mr. Gary Chapman kam aus Harlow, einer Kleinstadt nördlich von London, und erschien pünktlich um neun Uhr morgens am Hafen, wo sie ihre vierstündige Tour starten wollte. Mr. Chapman hatte weder eine Analogkamera dabei, noch war er jemals in einer Dunkelkammer gewesen. Als Vivian ihn darauf hinwies, dass das Zonensystem nach Ansel Adams mit einer digitalen Kompaktkamera nicht umzusetzen war, strich er sich kurz über seinen grauen Bart und zuckte dann mit den Achseln.

»Dann machen wir etwas anderes.«

»Ich dachte, Sie hätten mit Mabel Mallory vereinbart, dass wir …«

»Ich habe ehrlich gesagt gar nicht verstanden, was die nette Dame mir erzählt hat. Ich fände es schön, wenn Sie mich an ein paar geeignete Stellen führen, wo ich einfach schöne Bilder machen kann. Zeigen Sie mir Perspektiven, ein paar Einstellungen, geben Sie mir ein paar Anregungen, damit ich nicht immer im Automatikmodus fotografieren muss.«

»Okay, dann …«

»Meine Enkel haben mir diese Kamera zu Weihnachten geschenkt, aber …« Er zuckte erneut mit den Achseln. »Viel mehr als Anmachen und Draufdrücken kann ich nicht.«

Vivian dachte an die vielen Stunden, in denen sie sich für diesen Auftrag mit Ansel Adams’ Belichtungssteuerung auseinandergesetzt hatte, mit Dichteunterschieden und Prävisualisierung. Dann sah sie die Hand von Mr. Chapman, mit der er die Kamera ein wenig in die Höhe hielt und die von hervorstehenden blauen Adern zerfurcht war, übersät von Altersflecken, und die leicht zitterte.

»Das ist gar kein Problem, Mr. Chapman«, sagte sie rasch. »Waren Sie denn schon einmal auf St. Mary’s?«

Seine hellblauen Augen schimmerten, als er sie ansah. »Seit einundfünfzig Jahren komme ich hierher. Immer mit Joanie, meiner Frau. Diesen Frühling bin ich das erste Mal allein hier.«

»Ist sie … Oh, das tut mir so leid, Mr. Chapman, ich … Einundfünfzig Jahre.«

»Ja, nicht wahr?« Er holte tief Luft. »Einundfünfzig Jahre mit derselben Frau in den Urlaub fahren, das schaffen heute die wenigsten.«

»Sie müssen die Insel ja in- und auswendig kennen.«

»Das stimmt. Aber ob Sie es glauben oder nicht, ich habe nie auch nur ein einziges Foto gemacht.«

Vivian lächelte. »Vermutlich hatten Sie Besseres zu tun, als immer alles zu knipsen.«

»Ja, vermutlich. Aber jetzt …«, Mr. Chapman betrachtete die Kamera in seiner Hand. »Jetzt ist dies vermutlich mein letzter Besuch auf St. Mary’s und ich möchte Bilder, eigene Bilder haben für die Zeit, wenn ich nicht mehr hierherkomme.«

»Sie werden mit wunderbaren Bildern zurückkehren«, sagte Vivian. »Das verspreche ich Ihnen.«

Die Galerie hatte bereits geschlossen, als sie am frühen Abend zurückkehrte. Vivian schloss die Tür auf, trat in den Ausstellungsraum und lauschte eine Weile in die Stille hinein. Mabel hatte ihr vor etwa einer Stunde geschrieben, dass die Saison wohl endgültig begonnen habe und es ein sehr guter Tag gewesen sei, mit vielen Besuchern, die die Ausstellung angesehen hatten, und vielen Tassen Kaffee, Kuchenstücken und Postkarten, die über den Ladentisch gewandert waren.

Vivian stieg langsam die Treppe in den ersten Stock hinauf, ließ sich im Arbeitszimmer in den Bürostuhl fallen, fuhr den Rechner hoch und schob die Speicherkarte aus Mr. Chapmans Kamera in das Speicherkartenlesegerät. Aus den geplanten vier Stunden waren neun geworden. Und über zweitausend Bilder. Die dreihundert Pfund hatte Vivian nicht angenommen.

»Kaufen Sie sich dafür ein Weitwinkelobjektiv, Mr. Chapman«, hatte sie gesagt und den alten Mann lange umarmt, der vor Rührung kein Wort herausbrachte. »Damit Sie auch in Harlow coole Bilder machen können.«

Als er schließlich zu seiner Unterkunft in der Silver Street aufgebrochen war, mit kleinen, trippelnden Schritten und vornübergebeugt, hatte sich Vivian verstohlen über die Augen gewischt.

Sie legte einen Ordner namens Chapman an und kopierte die Bilder von der Speicherkarte hinüber. Weil die Menge so überwältigend war, hatte sie Mr. Chapman angeboten, die Bilder durchzusehen und ihm morgen eine bearbeitete Auswahl zu bringen.

Während die Übertragung lief, stand sie auf und ging in den kleinen Archivraum nebenan, stellte sich vor das Regal mit den Notizbüchern und fuhr mit den Fingern über die blauen Rücken. Die Aufzeichnungen ihres Vaters. Seit er nach der Trennung von ihrer Mutter nach England zurückgekehrt war, hatte er alles über Vivians Leben aufgeschrieben, was er aus der Distanz mitbekommen hatte. Vivian hatte noch längst nicht alle gelesen, sie tat es nur gelegentlich, denn es war schmerzhaft, noch einmal schwarz auf weiß zu lesen, was er alles verpasst hatte.

Das Klingeln des Handys riss sie aus ihren Gedanken.

»Mabel, hallo«, sagte sie und setzte sich wieder an den Schreibtisch im Arbeitszimmer. »Geständnis gleich zu Beginn: Das mit den dreihundert Pfund ist nichts geworden, dafür hatte ich einen der schönsten Tage seit Langem, mit einem der süßesten alten Männer, die ich jemals getroffen habe.« Sie klickte eines von Mr. Chapmans Bildern groß, eine Ansammlung von kleinen Muscheln, die sie ihm in ihrer Hand entgegenhielt.

»Vivi, das freut mich sehr. Du, es …«

»Am Ende durfte ich ihn mit meiner Kamera fotografieren, hinten beim Leuchtturm bei Penninis Head. Ich glaube, das ist eines der besten Porträts geworden, das ich jemals gemacht habe, und dass ich hierhergekommen bin, stellt sich allmählich wirklich als die beste Entscheidung meines Lebens heraus.«

»Vivi, wir müssen …«

»Eventuell könnten wir auf unsere Homepage ab jetzt wirklich regelmäßig Workshops für Hobbyfotografen anbieten, speziell für Senioren, ich habe gemerkt, dass ich das ganz …«

»Vivi!«

Vivian hielt inne. Es kam selten vor, dass Mabel die Stimme erhob.

»Du musst sofort nach Hause kommen, Vivi.«

»Du hörst dich seltsam an, Mabel, ist etwas passiert?« Ein heißer Schauer überkam sie. »Ist etwas mit Paddy?«, fragte sie hastig.

»Komm schnell nach Hause, dann können wir …«

»Ist etwas mit Paddy, Mabel?«

Ein paar Sekunden war es still in der Leitung.

»Nein, Vivi«, sagte Mabel dann, und Vivian hörte, dass sie irritiert war. »Wieso Paddy? Nein, mit Paddy ist alles in Ordnung. Komm bitte schnell, es ist besser, wenn wir das persönlich besprechen.«

Das Freizeichen ertönte, noch bevor Vivian etwas erwidern konnte.

.

Kapitel 5

Vivian hörte Stimmen aus der Küche, als sie leise in den Hausflur trat. Mabel sprach in deutlich höherer Tonlage als sonst, ihr antwortete ein gelassener Bass, auf den wieder Mabels schriller Sopran folgte. Vivian sah ihr eigenes ratloses Gesicht im Spiegel an der Wand und schlüpfte lautlos aus der Jeansjacke. Als sie sich auf der Treppe niederließ, um ihre Schuhe auszuziehen, knarzte das Holz. Die Stimmen in der Küche verstummten. Vivian löste die Schnürsenkel ihrer Sneaker, richtete den Blick auf die Tür und zuckte dennoch zusammen, als sie schwungvoll aufgerissen wurde.

»Vivian, gut, dass du hier bist.«

Sie kannte Mabel mittlerweile gut genug, um anhand des Rottons auf ihren Wangen ihren Gemütszustand einschätzen zu können. Ein zartes Perlrosa bedeutete, dass sie sich über etwas freute oder leicht nervös war. Perlrosa waren ihre Backen, wenn sie Paddy umarmte oder einen ihrer eigenen Kuchen testete. Korallrot bedeutete: Alles in Ordnung, aber lasst mich jetzt mal machen. Korallrot trat zum Beispiel in Erscheinung, wenn mehr als fünf Leute an der Theke der Galerie warteten, war aber noch nicht alarmierend. Erst dunklere Schattierungen wiesen darauf hin, dass sie sehr gestresst war. Jetzt waren ihren Wangen fast violett.

»Gregory Mortimer ist spontan zu Besuch gekommen, der alte Freund deines Vaters«, raunte sie. »Ich habe ihn schon ewig nicht mehr gesehen.« Lauter und übertrieben fröhlich fügte sie hinzu. »Ich habe eine schnelle Pasta mit Pesto gemacht, komm, wir haben gerade erst angefangen.« Ihr glühender Kopf verschwand wieder in der Küche.

Umständlich zog Vivian einen Turnschuh von ihrem Fuß. Ihr Herzschlag, der gerade noch normal gewesen war, nahm langsam an Fahrt auf. Gregory Mortimer? Er war spontan in Hugh Town aufgetaucht? Er hatte sich, das wusste Vivian von Paddy, in den letzten Jahren kein einziges Mal auf St. Mary’s blicken lassen, dabei gehörten ihm sowohl das Haus, in dem sich die Galerie befand, als auch das Grundstück, auf dem sie stand. Er lebte in Penzance, hätte also jederzeit, jeden Tag, kommen können. Aber er gefiel sich ganz gut, das wiederum hatte Mabel erzählt, in der Rolle des Kunstmäzens im Hintergrund, der eine kleine Galerie unterstützte, indem er von ihren Betreibern seit jeher eine eher symbolische Miete verlangte. Gregory Mortimer hatte ihren leiblichen Vater John Hunter lange gekannt, das wusste Vivian auch noch. Und er hatte Kinder. Vivian hielt inne. Erwachsene Kinder, die er, sie erinnerte sich an Mabels Worte, finanziell unterstützen wollte, wenn sie eine eigene Familie gründen, eine Wohnung oder ein Haus bauen wollten. Dann würde er, der kein reicher Mann war und das Grundstück von seinen Großeltern geerbt hatte, das Geld brauchen. Und Geld gab es, wenn … Vivian stand abrupt auf, als habe sich die Holzstufe von einer Sekunde auf die andere in eine kochend heiße Herdplatte verwandelt … Geld gab es, wenn er das Grundstück oberhalb von Porthmellon Beach verkaufte, von dem aus man über das Meer blicken konnte, über den Hafen, hinüber zu den Inseln Samson, Tresco und St. Martin’s. Die perfekte Lage für ein kleines Hotel, eine Pension oder zwei, drei Cottages, die für gutes Geld an Touristen vermietet werden konnten. Die Scilly-Inseln waren kein günstiges Urlaubsziel, und gerade im Sommer war der Tourismus eine sprudelnde Einnahmequelle für die Insulaner, die wenigen Unterkünfte musste man monatelang im Voraus buchen.

Vivian sah auf ihr Spiegelbild, das mit weit aufgerissenen Augen zurückstarrte. Ihre Wangen waren ähnlich rot wie die von Mabel. Gregory Mortimer war hier, um ihnen mitzuteilen, dass er das Grundstück verkaufen wollte. Oder die Miete so erhöhen müsste, dass sie nach wenigen Monaten zur Aufgabe gezwungen waren. Vivian blätterte im Geiste rasch ihre letzten Kontoauszüge durch. Sie hatte etwas Geld zurückgelegt, natürlich. Aber es war kein üppiges Polster, allein die Miete für ihre Dreizimmerwohnung in München, aus der sie nach der Trennung von Ben nie ausgezogen war, hatte jeden Monat eine größere Summe verschlungen. Es war München und München war teuer, so teuer, dass Vivian irgendwann angefangen hatte, neben der Arbeit als Lehrerin auch noch zu kellnern, um sich nicht nur das Wohnen, sondern auch weiterhin ihr Auto und zumindest einmal im Jahr einen Urlaub leisten zu können.

Sie hörte wieder die Stimmen aus der Küche, der Bass sagte etwas, worauf Mabel Sopran-Gelächter erklingen ließ. Mabel verfügte auf jeden Fall nicht über finanzielle Rücklagen. Als ehemalige Krankenschwester, die krankheitsbedingt aufgehört hatte zu arbeiten, verfügte sie höchstens über eine Mini-Pension, die sie mit ihrer Arbeit in der Galerie ein wenig aufstockte. Und Paddy? Vivian schüttelte langsam den Kopf. Nein. View Point war eine Herzensangelegenheit von ihr und Mabel. Und Paddy war erstens ebenfalls nicht wohlhabend und zweitens mehr auf der Suche nach der großen Liebe als nach einer Möglichkeit, seine bescheidenen Ersparnisse zu investieren.

»Vivi?«

Wenn das jetzt das Ende war? Dann musste sie zurück nach München, wieder bei ihren Eltern einziehen oder sich ein paar Quadratmeter in Jonas’ Einzimmerwohnung sichern, solange ihre eigenen vier Wände untervermietet waren. Sie würde ab September bis zu dreißig Schüler in Containern unterrichten, in denen es im Sommer zu heiß und im Winter zu kalt und immer stickig sein würde und –

»Vivian!«

Mabel stand wieder in der Tür. Der Mann, der ihr über die Schulter blickte, war höchstens Anfang fünfzig, deutlich jünger, als Vivian sich ihn vorgestellt hatte.

»Vivian Steiner«, sagte er mit seiner tiefen Stimme. »Sie sind ja wahrhaftig das Ebenbild Ihres Vaters.«

»Ich … «

»Jetzt kommen Sie schon«, sagte Gregory Mortimer und wurde ernst. »Ich beiße nicht. Bringen wir es hinter uns!«

Vivian schob sich an den beiden vorbei in die Küche und ging zum Waschbecken. Während sie warmes Wasser über ihre Hände laufen ließ, überlegte sie fieberhaft, wie sie sich taktisch am besten verhalten sollte.

»Willst du Parmesan über deine Nudeln, Vivi?«

»Ähm, ja, ein bisschen, danke.«

Sie trocknete sich ab, wandte sich dann entschlossen um und streckte Gregory Mortimer die Hand entgegen.

»Ich wollte Sie nicht mit schmutzigen Fingern begrüßen«, sagte sie leichthin. »Freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Mr. Mortimer, was verschafft uns denn die überraschende Ehre?« Sie warf einen schnellen Blick auf Mabel, die kaum sichtbar mit den Schultern zuckte.

Bevor er antwortete, gab er ihr die Hand und setzte sich erst, als Vivian Platz genommen hatte. Während er bedächtig seine Spaghetti mit dem Mandel-Minz-Pesto zu vermengen begann, lobte er das gute Wetter, die Fährüberfahrt, Mabels Kaffee und die knackige Konsistenz der Nudeln. Als Vivian ihre Frage schon wiederholen wollte, weil sie annahm, er habe sie vor lauter Konzentration auf die Pasta nicht gehört, legte er die Gabel zur Seite und sah sie direkt an.

»Ich war nicht einmal bei der Beerdigung Ihres Vaters, Vivian, ich war damals im Ausland. Und auch danach bin ich nicht mehr hierhergekommen, ich habe an vielen Orten getrauert, nur nicht hier. Aber jetzt, nach anderthalb Jahren, wollte ich endlich sehen, was aus View Point geworden ist, wie die Galerie meines Freundes John läuft.« Er griff wieder nach der Gabel und wickelte geschickt einige Nudeln auf. Den Löffel, den Mabel ihm ebenfalls hingelegt hatte, rührte er nicht an.

Vivian spürte einen Kloß in ihrem Hals. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie sich Mabel verdächtig lange mit der Serviette im Gesicht herumtupfte.

»Die Galerie, an der ich ja auch einen gewissen Anteil habe«, fügte Gregory Mortimer mit vollem Mund hinzu, und Vivians Rührung verpuffte so schnell, wie sie gekommen war. Arroganter Fatzke, dachte sie.

»Wann wollen Sie denn morgen vorbeischauen?«, fragte sie und wusste, dass sie zu kühl klang. »Mabel und ich zeigen Ihnen gerne alles.«

»Oh, ich war heute Vormittag schon da«, sagte Mortimer. »Das Pesto schmeckt übrigens ganz hervorragend!«

Mabel nickte lächelnd, runzelte aber im selben Moment die Stirn. »Du warst heute Vormittag in der Galerie, Gregory?«

»Ja, ich habe mich sozusagen unters Volk gemischt.«

»Ich habe dich gar nicht gesehen.«

»Ich habe mich auch nicht bemerkbar gemacht.«

»Oh, hättest du aber, ich hätte dich gerne herumgeführt und dir alles gezeigt.«

Mortimer wiegte den Kopf hin und her. »Es hatte nicht den Anschein, als hättest du noch zeitliche Kapazitäten, Mabel.«

Das Violett auf Mabels Wangen wurde noch eine Spur dunkler.

»Ja, genauso sahst du vorhin aus.« Mortimer lachte.

Vivian hielt inne und bewegte ihre Gabel in langsamen Kreisen in der Luft. Der Mann war ihr unsympathisch. Er erinnerte sie an die Hauptfigur einer Serie, die sie vor Kurzem gesehen hatte: Ein vierfacher Familienvater betrügt seine Frau mit einer deutlich jüngeren Kellnerin und löst dadurch eine menschliche Tragödie nach der anderen aus. Mortimer hatte wie der Schauspieler leicht gewelltes, braunes Haar, das an den Schläfen schon den Rückzug angetreten hatte. Seine braunen Augen waren umgeben von Lachfalten und seine vollen Lippen kräuselten sich ständig, weil ihr Besitzer Mabel und sie vermutlich wahnsinnig amüsant fand.

»Du warst vollauf hinter der Theke beschäftigt«, sagten die vollen Lippen jetzt.

»Ja, heute war ein guter Tag, aber du hättest dennoch …«

»Das freut mich. Läuft es immer so gut?«

Vivian ließ ihre Gabel so rasch sinken, dass sie klirrend an den Tellerrand stieß. »Wollen wir es nicht alles schnell hinter uns bringen?«

»Vivian!« Mabel sah sie vorwurfsvoll an, doch Gregory Mortimer lachte nur.

»Es ist gut, Mabel, sie hat ja recht. Ich würde nur noch gern die köstliche Pasta essen, dann komme ich gleich zur Sache. In Ordnung, Vivian?«

Sie aßen schweigend weiter, nur das Klappern des Bestecks war zu hören. Vivians Wangen brannten. Sie wünschte sich Paddy herbei, der die Situation mit ein paar lockeren Sprüchen entspannen würde. Noch besser wäre Jonas, der keine Witze, aber klarmachen würde, dass jetzt jeder erst einmal, ohne von den anderen unterbrochen zu werden, sagte, wie er die Situation empfinde. So hatte er es schon immer mit seinen Schülern gemacht, aber nach seiner Mediatoren-Fortbildung war er ein wahres Ass in der Streitschlichtung.

Schließlich legte ihr Gast die Gabel zur Seite, trank etwas Wein, fuhr sich mit der Serviette über den Mund und lehnte sich zurück.

»Ich bin deswegen an eurem Arbeitsaufkommen interessiert, weil ich mich frage, ob ihr noch eine helfende Hand gebrauchen könnt.«

Mabel und Vivian sahen erst sich, dann Gregory Mortimer verunsichert an.

»Wollen Sie …?« Vivian räusperte sich. »Wollen Sie hier bei uns …?«

»Nein.« Mortimer nahm einen weiteren Schluck Wein, bevor er weitersprach. »Es geht um Polly, meine Tochter. Sie … Sie muss mal eine Weile raus aus London. Das Großstadtleben ist aufregend, kann aber auch … mal belastend sein, Sie kennen es ja sicher aus München?«

Vivian wiegte den Kopf hin und her. Sie würde die Stadt an der Isar nicht unbedingt mit der Metropole an der Themse vergleichen.

»Was macht Polly denn in London?«, fragte Mabel.

»Sie studiert Grafikdesign und belegt da auch Kurse in Fotografie. Ich habe mich gefragt, ob sie einige Zeit, vielleicht ein paar Wochen, hier auf St. Mary’s verbringen kann. Sie würde überall anpacken, wo sie gebraucht wird.«

»Quasi ein Praktikum«, sagte Vivian, der ein erster großer Stein vom Herzen fiel.

Jetzt wiegte Mortimer den Kopf hin und her. »Ja. Nein. Mir wäre wichtig, dass sie einfach mal einen Tapetenwechsel hat. Eine … Auszeit, in der sie … sich einfach mal darüber klarwerden soll, was …« Er trank das Weinglas in einem Zug leer, stellte es ruckartig ab und fuhr sich fahrig mit der Hand durch sein Haar. »Was sie mit dem Rest ihres Lebens anfangen will.« Als er die fragenden Mienen von Vivian und Mabel sah, fügte er schnell hinzu: »Sie soll natürlich in erster Linie etwas lernen. Ein Praktikum, genau.«

Vivian sah zu Mabel, die dasselbe zu denken schien wie sie. Ihre Wangenfarbe hatte sich bei einem strahlenden Pink eingependelt, das hieß, sie war nicht mehr so gestresst wie vor einer halben Stunde, sondern schien sich lediglich ausgiebig zu freuen. Als sie Vivians Blick auffing, nickte sie leicht.

Gregory Mortimer schenkte sich einen weiteren Wein sein, seine Lippen waren zum ersten Mal an diesem Abend verkniffen, als er sie an den Rand des Glases führte.

»Und deswegen sind Sie hierhergekommen?«, fragte Vivian. »Um einfach mal zu sehen, ob Sie Ihre Tochter für die …produktive Auszeit mit gutem Gewissen hierherschicken können?«

Mortimer nickte, ohne das Glas von seinem Mund zu nehmen.

»Das kann ich gut verstehen«, sagte Vivian. Die letzten Steine hüpften von ihrem Herzen, das sich plötzlich wieder so leicht anfühlte wie nach dem heutigen Workshop mit Mr. Chapman. »Das kriegen wir hin, oder, Mabel?«

Mabel nickte. »Wir können gut und gern noch eine tüchtige Hand gebrauchen, die mit anpackt.«

»Ja, vor allem für die Überlegungen zu der neuen Website. Dafür wäre Polly als Grafikerin ja ideal. Wir können halt nur … nichts bezahlen. Oder zumindest nicht sehr viel. Ich weiß nicht, was für Vorstellungen Polly in dieser Hinsicht …«

Gregory Mortimer winkte ab. »Macht euch darüber keine Gedanken. Das übernehme alles ich.«

»Na dann …«

»Das Geld spielt jetzt auch keine Rolle mehr.«

Mabels Wangen nahmen wieder einen intensiveren Ton an. Vivian griff rasch nach der Weinflasche und hielt sie hoch.

»Dann stoßen wir doch an, oder? Auf Pollys Praktikum.«

Mortimer trank sein Glas erneut in einem Zug leer und hielt es dann Vivian entgegen. »In der Tat. Lasst uns aufstoßen!« Seine Stimme eierte von Silbe zu Silbe, seine Augen hatten einen glasigen Schimmer angenommen. »Auf Pollys Praktikum. Möge es sie endlich zur Vernunft bringen!«

Kapitel 6

»Und diese Polly zieht jetzt auch erst mal zu Mabel?«

Vivian schreckte aus ihren Gedanken hoch. Seitdem sie den Hafen verlassen hatten, war kein Wort zwischen ihr und Paddy gefallen. Nur die Wellen, die gegen das Boot klatschten, waren zu hören gewesen, die gelegentlichen Schreie der Möwe, das Knarzen der Holzplanken. Paddys Hund Tesco, der wie die Katzen von Mabel den Namen einer britischen Handelskette trug, lag zu ihren Füßen.

»Ja«, sagte sie. »Polly zieht erst einmal in das Zimmer neben meinem.«

»Und wie sieht sie aus?«

»Polly?«

»Ja.«

Vivian zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht. Ein Foto hat sie nicht vorab geschickt.«

»Nicht gegoogelt?«

»Nein, Paddy. Mir persönlich ist egal, wie sie aussieht.«

»Okay.« Paddy drehte sich wieder weg und wandte ihr den Rücken zu. Sein rotblondes Haar flatterte im Wind.

»Wenn ich mir ihren Vater anschaue, bin ich aber sicher, dass sie sehr hübsch ist«, sagte Vivian und hob ihre Kamera. Paddy bewegte den Kopf leicht in ihre Richtung. Vivian lächelte. Wäre Paddy ein Hund, wären seine Ohren jetzt in konzentrierter Alarmbereitschaft aufgerichtet.

»Ihr Vater sieht ziemlich gut aus, da ist seine Tochter vermutlich auch süß.« Sie legte ihren Zeigefinger auf den Auslöser. »Und wenn sie so lange hierherkommen will, dann hat sie vermutlich keinen Freund … Vielleicht, Paddy, vielleicht kommt die große Liebe gar nicht über Tinder oder zu dir angebumbelt, sondern ganz analog mit der Fähre! Übermorgen, Paddy! Pünktlich zum Wochenende!«

Ruckartig wandte Paddy jetzt seinen Kopf zu ihr, die Zunge herausgesteckt und laute Hechelgeräusche in den Wind stoßend. Dann grinste er und legte die Haut um seine Augen in tausend Fältchen. Das Foto, das Vivian von ihm schoss, würde unscharf werden, weil sie lachen musste und sich zu stark bewegte.

Sie war nicht das erste Mal mit Paddy frühmorgens auf das Meer gefahren, um ihm beim Fischen zuzusehen und das Schauspiel zu bewundern, wenn der Himmel langsam heller wurde, die Sonne ihre pastellfarbenen Boten vorausschickte und schließlich selbst über den Horizont rutschte. Mehrere Postkartenmotive waren in diesen Stunden schon entstanden, aber gefangen hatten sie zusammen noch nichts. Er habe eine Fang-Flaute, seitdem Vivian auf St. Mary’s angekommen sei, sie sei kein Glücksbringer für ihn, behauptete Paddy. Vivian war allerdings überzeugt davon, dass es an Tesco lag, der aufgrund seines fortgeschrittenen Alters neuerdings ständig seekrank wurde und mit seinen Absonderungen in das Meer vermutlich Fische im Umkreis von mehreren Kilometern verscheuchte.

»Das wird ein aufregendes Wochenende«, sagte Paddy jetzt und kontrollierte die Angelrolle zum wiederholten Mal. Dann starrte er wieder der Schnur hinterher, die einige Meter vom Boot entfernt im Meer verschwand.

Vivian schraubte das Objektiv ab und seufzte. »In der Tat. Ankunft Jonas am Freitag. Ankunft Polly am Sonntag. Dazwischen der Auftrag auf St. Martin’s.«

»Ich würde übrigens gerne noch jemanden mitnehmen, in das Boot passen ja vier.«

»Ein Date?«

»Liv.«

»Also ein Date.«

»Jein.«

»Wieso jein? Hast du sie nicht online kennengelernt?«

»Doch, aber schon vor Monaten. Meine Dates treffe ich im Schnitt nach weniger als zwei Wochen. Aber mit Liv schreibe und telefoniere ich seit Monaten.«

»Hast du gar nicht erzählt.«

»Weil ich dem Ganzen mehr … Es ist tatsächlich …« Paddy holte tief Luft und hielt sein Gesicht in das Licht der aufgehenden Sonne. »Du wirst lachen, aber ich habe zum ersten Mal seit zwei Jahren das Gefühl, dass es dieses Mal etwas anders ist als sonst.«

»Warum? Weil du mehr mit ihr kommuniziert hast als mit den anderen?«

»Ja, vielleicht. Weil ich das Gefühl hatte, sie nicht gleich treffen zu wollen, weil ich sonst etwas Zartes, Kostbares kaputt mache, was gerade dabei ist, sich zu entwickeln. Verstehst du?«

Vivian nickte.

»Bei dir und Jonas war es doch auch so. Das war doch auch fragil am Anfang.«

»Das ist es im Grunde immer noch«, sagte Vivian leise, während eine Welle lautstark an das Boot schwappte.

»Was meinst du?«

»Liebe ist immer fragil. Du musst sie pflegen.«

»Das waren auch stets die Worte meiner Oma.«

»Na dann.« Vivian verstaute Kamera und Objektiv und wühlte in ihrer Fototasche, als suche sie etwas »Schläft Liv bei dir?«, fragte sie, ohne aufzublicken.

Paddy lachte. »Nein. So weit ist es dann auch wieder nicht. Bei mir übernachten wird erst wieder meine feste Freundin. Bis dahin schlafen die Damen im Star Castle.«

»Dass sich das alle immer leisten können …«

»Können Sie nicht.« Wieder Tausende Lachfältchen um seine blauen Augen, die sie betrachteten. »Ich bekomme da einen Sonderpreis vom Besitzer.«

»Aha, Mengenrabatt also.«

»Mach dich nur lustig, Vivian, am Ende heirate ich noch vor dir und …«

»Paddy …«

»… bekomme drei Kinder in drei Jahren und …«

»Kümmere dich erst einmal um deine Angel, Paddy!«

»Wieso, haben wir …?«

»Ja, wir haben … Sie ist total gespannt!«

»Oh holy shit.« Er nahm die Rute aus der metallenen Verankerung an Deck, die Angel neigte sich so stark, dass Vivian glaubte, sie würde brechen. Paddy hantierte an der Kurbel, rollte Schnur ein, ließ wieder etwas nach, rollte die Schnur weiter auf. »Meine Pechsträhne, sie ist endlich vorbei!«

»Zieh ihn raus, Paddy!«

»Was glaubst du, was ich hier mache, Viv? Hab ich den Angelschein oder du?«

»Du … aber du wirkst so … so eingerostet.«

»Setz dich doch einfach wieder auf deine Bank, Viv. Das Boot schaukelt auch so schon genug.«

»Zieh, Paddy!« Vivian setzte sich und legte eine Hand auf den Rücken von Tesco, der seinen Kopf unter seinen Pfoten vergraben hatte.

»Nimm den Kescher, Vivian!«

»Den was?«

»Unter der Bank! Das Netz! Ich brauche deine Hilfe, der Kerl ist riesig.«

Vivian nahm den Kescher an der langen Stange und schob ihn in die Wellen.

Paddy jaulte leise auf.

»Näher zu mir, Viv, und tiefer. Jetzt hochziehen, gleich hast du ihn!«

Obwohl Paddy gleichzeitig an seiner Angel zog, hatte Vivian Mühe, den Kescher in das Boot zurückzuhieven. In ihm wand sich ein Fisch, dessen feuchte Schuppen silbern im Morgenlicht glänzten.

„Eine Merräsche!“, rief Paddy. »Sehr schmackhaft und schwer zu fangen.”

Vivian setzte sich wieder auf die Bank, streichelte Tesco und sah Paddy dabei zu, wie er den immer noch zappelnden Fisch in der Hand abwog und anerkennend den Mund verzog. Als sein Blick den ihren traf, sah sie rasch auf ihre Hände.

»Viv«, sagt er lauernd. »Alles klar?«

»Alles klar, ja.«

»Ich werde den Fisch jetzt erlegen und dann in den Eimer betten, in Ordnung?«

Als Vivian schwieg, seufzte er. »Was soll ich machen, Viv?«

»Ich weiß nicht. Er … Er ist so hübsch.«

»Der Fisch?«

»Ja, er ist … Sorry, Paddy, ich hab mich so gefreut, als einer am Haken war, aber jetzt tut er mir … irgendwie total leid.«

»Verdammt, Viv!«

»Aber ignorier mich einfach, Paddy, ich esse ja Fisch, also kann ich jetzt nicht mit der Moralkeule ankommen und –«

Es klatschte.

In einem hohen Bogen hatte Paddy die Äsche zurück ins Meer geworfen. Er holte die Angel ein, setzte sich und warf den Außenbordmotor an. Erst nach einer Weile drehte er sich kurz um.

»Er war tatsächlich sehr hübsch, Viv.«

»Und du warst mein Held, Paddy«, sagte sie, tätschelte mit der Hand seinen Rücken und ließ sie dort ein paar Sekunden liegen. »Und Tesco hat gar nicht gekotzt, das ist auch ein Fortschritt, oder?«

Als der Hafen von Hugh Town wieder in ihr Blickfeld kam, wandte sich Paddy erneut um. Er lächelte. »Mit deinem Vater war das Fischen auch immer so, Vivi. Mit ihm habe ich ungelogen keinen einzigen Fisch gefangen, weil ich sie immer wieder ins Meer geworfen habe.«

Am frühen Nachmittag legte Vivian ein zweites Kopfkissen in ihr Bett bei Mabel und eine leichte Decke dazu. Jonas hasste warmes Bettzeug, er nahm die Temperaturen einer Wärmflasche an und trat im Schlaf um sich, wenn Decken zu dick waren. Als sie fertig war, stellte sie ihren Fuß auf den Stuhl ab, krempelte ihre Jeans hoch und befühlte ihre Wade.

»Oje …«

Stoppelig war schon kein Ausdruck mehr für den momentanen Zustand. Sie müsste sich dringend noch rasieren, bevor Jonas kam. Seufzend ließ sie sich längs auf das Bett fallen. Der spontane Kurzbesuch war ihm nicht auszureden gewesen. Als er gehört hatte, dass Vivian die Narzissenernte auf der Nachbarinsel St. Martin’s fotografieren sollte, hatte er kurz geschwiegen, dann gesagt, er müsse dringend etwas erledigen, aufgelegt und nach zehn Minuten wieder angerufen.

»Ich habe einen Flug nach London gebucht und komme am Freitag«, verkündete er.

»Aber wenn du erst nach der Schule losfliegst, bist du so spät hier, dass wir …«

»Ich fliege nicht nach der Schule los.«

»Sondern?«

»Ich werde an diesem Freitag krank sein. Am besten schon am Donnerstag.«

»Jonas, du sollst nicht wegen mir …«

»Vivian, wenn du zum ersten Mal für ein Magazin fotografierst, dann will ich dabei sein. Außerdem …«, fügte er hinzu, »… ist es mir zu lang hin bis zu den Pfingstferien.«

»Jonas«, versuchte Vivian es noch einmal. »Du wirst am Freitag über zehn Stunden anreisen und am Sonntag über zehn Stunden zurückreisen und bist dazwischen einen Tag da. Willst du dir das wirklich antun? Ich bin dir absolut nicht böse, wenn du …«

»Vivian, du trittst mit diesem Auftrag nicht nur in die Fußstapfen deines Vaters, du wirst eigene Fußstapfen hinterlassen, das möchte ich sehen, da ist es mir egal, wie lange ich anreisen muss. Außerdem …«, er lachte und senkte dann die Stimme, als könnte jemand sie belauschen, »ist es mir zu lang hin bis zu den Pfingstferien, ich wiederhole es gerne. Oder anders gesagt: Als Mann habe ich auch so meine Bedürfnisse.«

»Ich dachte, du kommst, um mich als Künstlerin zu unterstützen.«

»Als Künstlerin unterstützen, als Frau befriedigen, als Mensch bewundern.«

»Hilfe!«

»Sie sind eine faszinierende Frau, Vivian Steiner.«

»Hast du was getrunken?«

»Ja, vom Trunk der Liebe.«

»Ein bisschen zu viel, scheint mir.«

»Ich kann also kommen?«

»Mehrmals, wenn du erst einmal da bist.«

»Hui.«

»Zu schlecht?«

»Ja. Aber ich liebe dich trotzdem.«

Sie hatte Jonas nicht darauf hingewiesen, dass ihr Auftrag nicht mit dem ihres Vaters vor über zwanzig Jahren zu vergleichen war. Er hatte damals für National Geographic alle fünf bewohnten Scilly-Inseln – St. Mary’s, Tresco, St. Martin’s, St. Agnes und Bryher – fotografiert. Sie dagegen würde am Samstag – für eine deutsche Frauenzeitschrift, die in den letzten Jahren immer wieder vor dem Konkurs gestanden hatte – lediglich St. Martin’s ansteuern, um dort die Churchhouse Farm zu fotografieren. Dort wurden am Wochenende die letzten Duftnarzissen der Saison geerntet, verpackt und auf die Reise geschickt. Normalerweise geschah dies deutlich früher im Jahr, aber weil der April so unbeständig gewesen war, hatte sich der Prozess nach hinten verschoben. Was sich als Glücksfall für Vivian entpuppt hatte. Denn letzte Woche hatte sich Suse gemeldet, eine ehemalige Kommilitonin von Lilly und freie Bildredakteurin bei besagter Frauenzeitschrift. Sie hatte angefragt, ob Vivian kurzfristig die Besitzerin der Churchhouse Farm fotografieren könne. Eine alleinerziehende Mutter und ausgebildete Juristin, die mit ihren zwei Töchtern auf die drittgrößte der Scilly-Inseln gezogen war und die Narzissenfarm von den alten kinderlosen Besitzern übernommen hatte. Das Porträt – linke Seite ein ganzseitiges Foto, rechts eine Seite Text – sollte in einer wiederkehrenden Rubrik erscheinen, die erfolgreiche Quereinsteigerinnen vorstellte.

Als Vivian die Farmbesitzerin anrief, um einen Termin auszumachen, erfuhr sie, dass die Ernte der Duftnarzissen noch im vollen Gang war. Prompt erweiterte die Suse den Auftrag: Vivian sollte nicht nur ein Porträt liefern, sondern eine ganze Reportage über die Menschen, die Arbeitsabläufe und das Leben auf der Farm. Ob sie auch Text …? Ja, antwortete Vivian rasch. Das würde sie schon hinbekommen, dachte sie sich, zumal sie alles von Jonas überarbeiten lassen konnte. Jetzt kam er sogar mit und konnte sich eigene Notizen machen.

Vivian stützte sich auf die Ellenbogen und griff nach ihrem Telefon auf dem Nachttisch, das eben vibriert hatte. Eine Nachricht von Mabel, die sich entschuldigte, Vivian an ihrem ersten freien Tag seit ihrer Ankunft jetzt doch bitten zu müssen, in die Galerie zu kommen. Es seien zwei Wandergruppen hereingeschneit und sie wäre überfordert mit Bedienen und Verkauf. Wird Zeit, dass Polly kommt, schrieb sie am Ende noch.

Vivian stieg seufzend aus dem Bett. Bevor sie die Treppe hinunterlief, stieß sie vorsichtig die Tür zu dem Zimmer auf, das sie mit Mabel bereits für die Ankunft Pollys vorbereitet hatte. Die Fenster waren geputzt, es war gesaugt, der schmale Schrank ausgewischt, und sie hatten mit Paddys Auto einen Stuhl und einen kleinen Tisch aus der Galerie hierhergebracht und dafür Kisten mit ausrangiertem Haushaltskram im dortigen Archivraum verstaut. Spätestens am Sonntagmorgen würde Mabel das Bett frisch beziehen und einen Stapel Handtücher auf den grün gestrichenen Stuhl neben der Tür legen. Das Zimmer würde Polly mit dem Duft nach Lavendel empfangen, und abends im Bett würde sie darüber staunen, wie ruhig und dunkel es hier war, so anders als in London, wo der Himmel durch die Lichter der Stadt immer erleuchtet ist und die Geräuschkulisse niemals ganz erstirbt.

Vivian stieg langsam die Stufen hinunter. Sie hatte Mabel nichts von den Nachrichten erzählt, die sie von Polly erhalten hatte. Lange, mit Schreibfehlern gespickte Nachrichten, alle mitten in der Nacht abgesetzt. Trotz des konfusen Schreibstils hatte Vivian herausgelesen, dass sich Polly schon irgendwie auf den Aufenthalt auf St. Mary’s freue, aber ihren Vater dafür verachte, dass er sie wie ein Kleinkind behandle, aber auch sehr liebe, und auch Pete sehr liebe, auch wenn er ein Arschloch sei und sie ihn hasse und überhaupt. Vivian wollte Mabel nicht beunruhigen. Vielleicht war es so, wie Gregory Mortimer sagte, und seine Tochter war einfach sehr ausgelaugt von der Großstadt und dem Stress an der Universität. Vielleicht würde all der Stress von ihr abfallen, wenn sie erst einmal die Fähre verlassen und die Insel betreten hatte, wo es keinen Vater gab, der sie wie ein Kleinkind behandelte, und kein Arschloch Pete, das sie liebte oder auch nicht. Vielleicht. Vivian hoffte es, und solange diese Hoffnung nicht zerstört war, würde sie weder mit Mabel noch mit Paddy darüber reden.

Kapitel 7

Jonas kapitulierte am Freitagabend nach dem Hauptgang, einem Hackfleischauflauf mit Kartoffelhaube und Cheddar. Er hatte die Nacht zuvor durchkorrigiert, war frühmorgens aus dem Haus und hatte St. Maryʼs schließlich nach einer Zwölf-Stunden-Odyssee erreicht. Er versprach, von dem Apple Pie am nächsten Tag zu kosten, und ging nach oben. Vivian aß hastig ein kleines Stück Kuchen, um Mabel nicht zu enttäuschen, half ihr noch beim Abwasch und Aufräumen. Als sie eine halbe Stunde nach Jonas in ihr Zimmer kam, lag er bereits im Bett und atmete tief und regelmäßig. Die Anreise verlangte ihren Tribut. Vivian lupfte kurz die Decke und lächelte. Jonas war nackt, er hatte sich vermutlich ausgemalt, dass sie ihm gleich folgen und seine Kraft noch dafür reichen würde, dass sie sich liebten. Auch der beschlagene Badezimmerspiegel wies darauf hin, dass er sich noch für eine Zeit der Zweisamkeit vorbereitet und eine schnelle warme Dusche genommen hatte.

Vivian schwappte sich ein wenig Wasser ins Gesicht, zog sich ebenfalls komplett aus und schlüpfte unter die Decke. Morgen um halb fünf würde der Wecker klingeln, sie war erschöpft vom Tag, es gab keinen Grund, nicht auch ganz früh die Segel zu streichen. Sie kroch nah an Jonas heran und schlang einen Arm um seine Taille, lauschte dem Regen, der sanft an die Fensterscheibe prasselte. Jonas’ Nacken roch nach Duschgel, Schweiß und ein bisschen nach Mabels Shepherd’s Pie von eben. Sie fuhr mit der Hand über seinen Unterarm, wo die Adern hervortraten, wenn er mit dem Rotstift energisch Kommentare an den Rand einer Deutscharbeit schrieb oder Klimmzüge am Türrahmen machte. Ihre Finger glitten weiter, berührten seinen Bizeps, die Kuhle zwischen Hals und Schlüsselbein, das Muttermal hinter seinem Ohr, die dichten braunen Haare, die er im Frühling und Sommer immer kürzer trug, blieben schließlich auf seiner Stirn liegen, wo ebenfalls öfter eine Ader hervortrat. Wenn er wütend war oder seine Wut zu unterdrücken versuchte. Wie letztes Jahr, als Vivian ihm erzählt hatte, dass sie ihre Arbeit als Lehrerin aufgeben und auf die Scilly-Inseln zurückkehren wolle. Nach ihrem letzten Wort war Jonas’ Ader so angeschwollen gewesen, dass Vivian einen Moment dachte, sie würde platzen. Sie verschwand auch nicht. Nicht als Vivian erklärte, dass sie als angestellte Lehrerin weder Beamtenstatus noch alle damit verbundenen Annehmlichkeiten verlieren würde und mit Sicherheit wieder Arbeit an einer Schule fände, wenn sie das wollte. Nicht als sie beteuerte, regelmäßig nach München kommen zu wollen. Erst als Vivian schließlich vehement betonte, dass es in einer Beziehung nicht darauf ankäme, dass man jeden Abend zusammen auf der Couch säße, sich Chips reinstopfe und Reality-Shows anglotze, schwoll die Ader ab. Jonas’ Mundwinkel zuckten.

»Was?«, schnaubte Vivian.

»Wir haben noch nie auf der Couch gesessen, uns Chips reingestopft und Reality-TV geguckt«, sagte er.

Sie mussten beide lachen. Jonas nahm Vivian in den Arm und sagte, dass sie nicht regelmäßig nach München kommen brauche, sondern dass er in allen Ferien nach St. Mary’s kommen würde. Und vielleicht auch mal dazwischen, wenn es sich ausginge. Zumindest das erste Jahr. Danach müssten sie sich aber einmal zusammensetzen und gemeinsam überlegen, wie es weitergehen könnte.

»Gemeinsam«, wiederholte er und fügte leiser hinzu: »Nicht du allein.«

Das Trommeln des Regens an der Scheibe wurde lauter. Für den kommenden Tag versprach der Wetterbericht strahlenden Sonnenschein auf St. Martin’s und Vivian hoffte inständig, er möge Recht behalten. Bei Regen würde der gesamte Auftrag ins Wasser fallen. Das Geräusch wurde lauter und eindringlicher. Vivian stützte sich auf den Ellenbogen und lauschte in die Dunkelheit. Es war nicht nur der Regen, der gegen das Fenster klopfte. Jemand klopfte auch an die Tür. Vivian schwang die Beine aus dem Bett und schlang die Decke um sich.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739425160
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (August)
Schlagworte
Liebesroman Cornwall Glück Abenteuer Neubeginn England Familie Reise Liebeskummer Insel

Autor

  • Anne Lux (Autor:in)

Anne Lux lebt und arbeitet in München. Neben ihrem Hauptjob im Kulturbereich schreibt sie regelmäßig Romane. Ihre Liebes-Trilogie und die zwei Cornwall-Bücher "Tausche Alltag gegen Insel" und "Tausche Alltag gegen Glück" standen wochenlang in den Bestseller-Listen.
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Titel: Tausche Alltag gegen Glück