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Die Seelentöter – Band 4: Das Mobbing beginnt

Meine Erfahrungen in der katholischen Kirche

von Bernhard Veil (Autor:in)
243 Seiten
Reihe: Die Seelentöter, Band 4

Zusammenfassung

Thomas will nach seinem Theologiestudium eigentlich Priester werden. Als er aber bemerkt, dass viele Priester sich nicht an ihr Zölibatsversprechen halten, lässt er sich zum Pastoralreferent ausbilden und arbeitet zunächst sieben Jahre in der Gemeindeseelsorge. Danach wechselt er in die Klinikseelsorge und arbeitet fünf Jahre zusammen mit einem Jesuiten-Pater im Zentralklinikum (Katharinenhospital) von Stuttgart. Als dieser von seinem Orden für eine andere Aufgabe abgezogen wird, folgt Arno Rappe, der nebenbei jedoch sehr gerne als Aushilfspriester in anderen Kirchengemeinden einspringt und privat sich zusätzlich um seine schwerkranke Mutter kümmern muss. Thomas bleibt daher nichts anderes übrig, als ihn bei seiner Abwesenheit ständig im Klinikum zu vertreten. Doch diese belastende Situation missfällt den evangelischen Pfarrern und Pfarrerinnen, sie lassen ihren Unmut aber nicht an ihrem katholischen Kollegen Arno aus, sondern vor allem an Thomas, der ihnen als Pastoralreferent nicht „ebenbürtig“ erscheint. Dadurch gerät Thomas zunehmend in eine jahrelange Mobbing-Situation, die sich immer mehr hochschaukelt, aus der er sich nicht mehr befreien kann.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort

Unter der Reihe „Die Seelentöter“ berichte ich von meinen Erfahrungen, die ich als Mitarbeiter in der katholischen Kirche erlebt habe. Damit der Focus der beschriebenen Personen nicht nur auf Priester, Pfarrer und sonstige Kleriker gerichtet ist, habe ich auch mehrere Episoden aus meinem Leben und Werdegang hinzugefügt.

Alle Namen der beschriebenen Personen wurden abgeändert, die angeführten Institutionen und Handlungsorte jedoch beibehalten, so dass jeder sich ein Bild darüber machen kann, was sich vor wenigen Jahren an diesen Schauplätzen ereignet hat. Die zitierten Schriftstücke sind im Originaltext wiedergegeben, lediglich die Namen wurden von mir abgeändert. Alle angeführten Briefe und schriftlichen Belege sind wortwörtlich zitiert, so dass der Leser erkennen kann, welche Konsequenzen die kirchlichen Entscheidungsträger aus den vorgegebenen Situationen gezogen haben. Um das Kostenrisiko in Grenzen zu halten, habe ich auf ein Lektorat verzichtet, sollten sich im Text jedoch Fehler eingeschlichen haben, dann bitte ich Sie, mir diese Mängel zur Berichtigung mitzuteilen.

E-Mail-Adresse: bernhardveil@web.de

Mein neuer Kollege Arno

Schon am ersten Tag, nachdem mein neuer Priesterkollege Arno Rappe offiziell in sein Amt im Katharinenhospital eingeführt wurde, lädt er mich zu einer Tasse Kaffee in der Cafeteria unseres neuen Funktionsbaues ein und sagt:

„Also ich bin Arno und ich fände es schön, wenn wir zueinander Du sagen könnten.“

Ich reiche ihm die Hand und stelle mich freundlich als „Thomas“ vor. Dann beginnt er, von sich zu erzählen, was er in letzter Zeit so alles gemacht hat und berichtet mit viel Witz und Humor einige Episoden aus seinem Leben. Seine Klinikseelsorge-Ausbildung absolvierte er wie sein Vorgänger Witt in Würzburg, wo er allerdings ständig unter großem Druck gestanden sei. Da seine Mutter auch während dieser Zeit pflegebedürftig in seiner Wohnung in Schorndorf ständig im Bett lag, musste sie von einem Pflegedienst und von seiner Schwester, die in der Nähe wohnt, betreut werden. Seine Mutter hatte ihm im Pfarrhaus den Haushalt geführt, bekam jedoch vor einem Jahr einen schweren Schlaganfall und ist seitdem kaum ansprechbar. Sie reagiert kaum noch und muss rund um die Uhr gepflegt und versorgt werden. Zwar ist er während seiner viermonatigen Klinikseelsorge-Ausbildung an jedem Wochenende nach Hause gefahren, um seine Schwester zu entlasten, hatte aber trotzdem immer ein sehr schlechtes Gewissen, weil die Mutter für ihn immer seinen Haushalt geführt hatte und er sie jetzt seiner Schwester überlassen musste. Überaus liebevoll erzählt er, wie er täglich seiner Mutter alles berichtet, was er tagsüber in seiner Abwesenheit getan habe und er hoffe, dass sie somit wieder lerne, ihn an seiner Stimme zu erkennen. Er wäre überaus glücklich, wenn er es noch einmal erleben könnte, dass sie irgendwie und irgendwann wieder auf seine Erzählungen reagieren würde. Manchmal, so habe er das Gefühl, könnte sie ihn ansatzweise wieder erkennen, wenn sie ihn lange anschaue. Er vermutet, dass sie ihn vielleicht irgendwann einmal sogar verstehen könnte, denn er würde ihr jeden Tag auch ein paar Liedchen vorsingen, damit ihre Sinne gestärkt werden. Doch ganz sicher sei er sich dabei allerdings nicht.

Ansonsten erzählt er mir die unterschiedlichsten Begebenheiten aus früheren Zeiten, unter anderem von seiner Kindheit, die er in Komotau in Tschechien verbracht hatte. Von dort wurde seine Familie bei Kriegsende nach Deutschland vertrieben und habe hier im Schwäbischen Wald eine neue Heimat gefunden. Deshalb sei er mit den verschiedensten Landsmannschaften der Heimatvertriebenen sehr verbunden und habe regelmäßig mit seiner Mutter an deren Heimattreffen teilgenommen. Mit anderen Priestern, die ebenfalls aus den ehemals ostdeutschen Gebieten vertrieben wurden, habe er zur Eröffnung dieser Heimattage immer die Festmessen zelebriert. Ich höre Arno sehr gerne zu, wenn er von seinen vielfältigen Aktivitäten erzählt, denn er strahlt trotz seiner Körperfülle mit seinen kurz geschorenen Haaren eine Lebendigkeit und Freundlichkeit aus und sein Erzählstil ist mit vielen humorvollen Einlagen gewürzt. Mit seiner charakterlichen Eigenart ist er gerade das Gegenteil von seinem steifen und äußerst zurückhaltenden Vorgänger Witt, der von seinem privaten Leben nie etwas preisgab.

Arno interessiert sich auch sehr dafür, was ich alles gemacht habe und wie mein bisheriger Lebensweg verlaufen ist. Er fragt, wie ich meine Freizeit gestalte, welche Interessen ich habe und weshalb ich den Beruf des Pastoralreferenten wählte und welche Erfahrungen ich in meinem Beruf bisher machte. Zunächst bin ich noch etwas zurückhaltend, da ich es nicht gewohnt bin, so unbeschwert von mir zu erzählen. Denn von all meinen bisherigen Priesterkollegen wurde ich nie danach gefragt, wofür ich mich außerhalb meines beruflichen Alltags auch sonst noch interessiere. Nichts, rein gar nichts wollten sie von mir wissen. Alle sahen in mir lediglich einen ihnen untergeordneten Mitarbeiter, einen „Laien“, der dazu da ist, sie in ihrem „priesterlichen Wirken“ zu unterstützen. Wichtig war für sie nur, dass ich funktioniere und meine Arbeit tue, ansonsten interessierte sie nichts.

Dieser neue Umgangsstil, den Arno einschlägt, hat natürlich nun auch Auswirkungen auf meine evangelischen Kollegen. Ich sehe es Stolzenburg deutlich an, dass er sich wundert, wenn Arno sich mir gegenüber nicht als mein Vorgesetzter oder Chef aufführt, sondern einen partnerschaftlichen Umgang mit mir pflegt. Das bringt er beiläufig zum Ausdruck, als er mich zufällig in unserem gemeinsamen Büro antrifft und gerne wissen möchte, wie ich denn mit meinem neuen Chef zufrieden sei. Zum wiederholten Male erkläre ich ihm, dass Arno nicht mein Chef sei, genauso wenig wie sein Vorgänger Witt nicht mein Chef war. Erneut mache ich ihm klar, dass der Domdekan von St. Eberhard mein Vorgesetzter ist, doch Stolzenburg will das einfach nicht akzeptieren. Zu gerne möchte er an der Version festhalten, die Witt hier von Anfang an in der ganzen Klinik verbreitet hatte, dass nämlich ich sein „Assistent“ und er mein „Vorgesetzter“ sei. Somit war es Stolzenburg ebenfalls möglich, sich mir gegenüber als evangelischer Pfarrer auch in gewisser Weise als Chef aufzuspielen und startete immer mal wieder den Versuch, mir kleine Anweisungen und Aufträge zu erteilen, um seine Vorrangstellung mir gegenüber zur Geltung zu bringen. Und das soll nun plötzlich vorbei sein? Stolzenburg scheint sich wohl nicht so schnell mit dieser für ihn neuen Sichtweise abfinden zu können. Die Akzeptanz, die Wertschätzung und die kollegiale Gleichbehandlung, die Arno mir im täglichen Umgang entgegenbringt, passt wohl ganz und gar nicht in Stolzenburgs bisheriges Konzept. Deshalb versucht er, das kollegiale Benehmen Arnos ihm eher als eine gewisse Schwäche anzulasten, als ob Arno sich mir gegenüber nicht durchsetzen könnte und keine guten Führungsqualitäten besitze. Trotzdem stelle ich fest, dass Stolzenburg nicht mehr so genau weiß, ob er seinen bisherigen, abgehobenen Kurs mir gegenüber beibehalten soll. Das zeigt sich besonders deutlich in unseren ökumenischen Teamsitzungen. Bisher wurden meine Diskussionsbeiträge von Witt und Stolzenburg schlichtweg ignoriert, denn mit dieser ignoranten Haltung konnten sie mir gegenüber ihre Überlegenheit am deutlichsten zum Ausdruck bringen. Nach Witts Denkweise ist er als katholischer Priester einem evangelischen Pfarrer ebenbürtig und deshalb nehmen sie sich gegenseitig ernst. Nun aber hebt Arno auch meine fachbezogenen Einwände und Vorschläge immer als bemerkenswerte Aspekte hervor, so dass die evangelischen Kollegen nun auch meine Diskussionsbeiträge zunehmend zur Kenntnis nehmen. Im vergangenen Jahr, als ich allein ohne Priesterkollegen die gesamte katholische Klinikseelsorge hier bewältigen musste, waren sie nicht bereit, mich als adäquaten Gesprächspartner zu akzeptieren. Deshalb mussten einige anstehende Entscheidungen vertagt werden, bis ein ihnen „adäquater“ katholischer Kollege hier ist. Daher stehen nun auf der Tagesordnung unseres Seelsorgeteams mehrere Angelegenheiten zur Klärung an. Zunächst soll für unseren Andachtsraum im neuen Funktionsbau eine neue Orgel angeschafft werden, außerdem ist die geplante Zimmeraufteilung unter den Klinikseelsorgern immer noch nicht geklärt und weil im Katharinenhospital eine neue Telefonanlage installiert wird, soll auch die Klinikseelsorge nun eine neue Telefonnummer bekommen. Zudem hat vor einigen Wochen ein neuer Verwaltungsdirektor die Leitung der Klinik übernommen, der sich demnächst bei uns Klinikseelsorgern vorstellen möchte. Da wir die Einführung unseres neuen Kollegen Arno abwarten wollten, damit der neue Verwaltungsdirektor das komplette Seelsorgeteam kennenlernen kann, steht auch diese Begegnung nun kurz bevor. Ebenso möchte der Redakteur unserer Klinikzeitung „KH-aktuell“ die Arbeit der Klinikseelsorger vorstellen, außerdem müssen noch andere anstehende Projekte nun schleunigst abgearbeitet werden. Wir beschließen daher, in den nächsten Wochen häufiger zusammenzukommen und später, wenn die dringendsten Aufgaben erledigt sind, wieder auf unseren monatlichen Rhythmus zurückzukehren. Auf Vorschlag der Kollegin Rallinger wird nun auch beschlossen, dass bei jeder Sitzung ein kurzes Sitzungsprotokoll erstellt werden soll, das reihum von einem der Kollegen verfasst werden muss. Ebenso soll die Leitung unserer Teamsitzung künftig jedes Mal ein anderer Kollege übernehmen, denn bisher hatten lediglich Witt und Stolzenburg sich gegenseitig abgewechselt, unsere Teamsitzungen zu leiten, um auch dadurch ihre Vorrangstellung den übrigen Kollegen gegenüber deutlich herauskehren. Witt verstand sich als Leiter der katholischen Klinikseelsorge, Stolzenburg als Leiter der evangelischen Klinikseelsorge und beide haben dies durch derlei feinsinnige Marotten uns deutlich spüren lassen.

Einer unserer ersten Tagesordnungspunkte in unserem Seelsorgeteam ist die Anschaffung einer neuen Orgel für unseren Andachtsraum. Um dafür Spenden zu sammeln, hat Stolzenburg bei der Verwaltung angefragt, ob er für diesen Zweck auch die Baufirmen anschreiben dürfe, die den neuen Funktionsbau erstellt haben. Er bekam von der Verwaltung eine Liste der beteiligten Firmen und verfasste zusammen mit einer Kollegin einen Bettelbrief, in dem er diese Firmen darum bittet, einen Beitrag für eine neue Orgel zu spenden. Diesen Brief liest er in unserer ökumenischen Teamsitzung vor und erhofft sich, dass für die Anschaffung dieses neuen Instruments ein Betrag in Höhe von rund 100.000 DM zusammenkommt, und vermutet, dass er das Geld in etwa einem Jahr eingesammelt habe. Ich wundere mich über diesen hohen Betrag, den er für unsere neue Orgel angesetzt hat, und bringe den Einwand, dass ein solch großes Instrument in diesem relativ kleinen Andachtsraum doch viel zu viel Raum einnehmen würde. Es wäre doch platzsparender, eine elektronische Sakralorgel aufzustellen, die weitaus leistungsfähiger und überdies gerade mal ein Zehntel einer althergebrachten Pfeifenorgel kosten würde. Da ich selbst Orgel spiele und zuhause in meinem Wohnzimmer eine Sakralorgel habe, weiß ich, welch wahre Klangwunder diese elektronischen Kirchenorgeln sind. Aufgrund ihrer vielfältigen technischen Möglichkeiten kann man auf diesen Instrumenten viel anspruchsvollere Orgelwerke spielen als auf einer kleinen herkömmlichen Pfeifenorgel. Durch die moderne Technik ist es möglich, eine elektronische Sakralorgel so zu programmieren, dass sie genau dieselben identischen Klangtöne einer real existierenden Kirchenorgel zum Klingen bringt. Auf diese Weise könnte zum Beispiel jeder einzelne Ton einer Pfeife von einer berühmten Kirchenorgel in eine Computerorgel einprogrammiert werden, so dass man dann seine Präludien quasi auf der einprogrammierten Passauer Domorgel oder auf einer Silbermannorgel hören könnte. Sind diese verschiedenen Register einer prestigeträchtigen Kirchenorgel und mehrere Manuale vorhanden, können sie somit auch zum Klingen gebracht werden. Das Tonrepertoire kann originalgetreu wiedergeben und außerdem kann der Klang und die Lautstärke während des Spielens perfekt an den jeweiligen Raum und die darin befindliche Personenzahl angepasst werden, was bei einer herkömmlichen kleinen Pfeifenorgel zum Beispiel gar nicht möglich ist. Auch ein eingebautes Schwellwerk in einer herkömmlichen Kirchenorgel kann die Möglichkeit der Lautstärkeveränderung einer elektronischen Orgel bei weitem nicht ersetzen. Da ich selbst schon in vielen Kirchen sowie in kleineren Kapellen und Andachtsräumen Orgel gespielt habe, weiß ich sehr gut über diese Problematik Bescheid. Denn oft ist es äußerst schwierig, durch eine richtige Registrierung die Lautstärke der Orgel entsprechend der Besucherzahl im Kirchenraum anzupassen. Je größer die Orgel ist und je mehr unterschiedliche Register zur Verfügung stehen, desto leichter kann diese Anpassung individuell vorgenommen werden. Doch bei einer kleinen Pfeifenorgel stehen meist nur wenige Register zur Auswahl, so dass es somit auch nur wenige Möglichkeiten gibt, die Lautstärke und die Klangqualität unserem Andachtsraum und der jeweiligen Situation im Gottesdienst entsprechend zu verändern. Für eine größere Anzahl von Registern und Orgelpfeifen ist der dafür notwendige Platz in unserem Andachtsraum aber schlichtweg nicht vorhanden. Somit wird es auch nicht möglich sein, mit solch einer Pfeifenorgel, die rund 100.000 DM kosten soll, anspruchsvolle Meisterwerke zu spielen, wie etwa von Bach, Telemann, Buxtehude und anderen namhaften Komponisten. Eine elektronische Sakralorgel aber, die gerade mal ein Viertel dieses Betrages kosten würde, könnte dagegen alle technischen Möglichkeiten einer großen Kirchenorgel bieten und wäre außerdem für die kommenden Jahre so gut wie wartungsfrei. Denn ein regelmäßiges zeit- und kostenaufwändiges Stimmen der Orgelpfeifen würde bei einer elektronischen Sakralorgel entfallen. Doch meinen Einwand fegt Stolzenburg einfach mit dem Argument hinweg, dass der Oberkirchenrat in der evangelischen Kirche eine Vorschrift erlassen habe, die besage, dass für die Kirchenräume in der Württembergischen Landeskirche lediglich Orgeln mit herkömmlichen Orgelpfeifen angeschafft werden dürfen. Dass diese Vorschrift für große Kirchenräume erlassen wurde, kann ich durchaus verstehen. Denn bei großen Orgeln können ja viele technische Möglichkeiten eingebaut werden, um anspruchsvolle Orgelwerke zu spielen. Doch im Laufe der Diskussion stellt sich heraus, dass weder Stolzenburg noch die anderen Kollegen eine Ahnung von den technischen Möglichkeiten einer Orgel haben. Außerdem stellen sie sich ständig das Klangbild einer modernen Hammondorgel vor, wenn ich von einer elektronischen Sakralorgel spreche. Obwohl ich ihnen mehrmals erkläre, dass eine Hammondorgel vor allem für Tanzmusik konstruiert ist, schauen sie mich an, als käme ich von einer anderen Welt. Wenn ich von einer elektronischen Sakralorgel rede, haben sie trotzdem immer die Klänge einer Hammondorgel im Kopf. Sie können sich einfach nicht vorstellen, dass eine Computerorgel ebenfalls Klangtöne hervorbringen kann wie eine Kirchenorgel, die mit Orgelpfeifen ausgestattet ist. Außerdem sind sie es seit Witt's Zeiten immer noch gewohnt, mir jegliche Fachkompetenz in allen Dingen abzusprechen und versuchen, meine Argumente schlichtweg zu ignorieren.

Da ich es nicht einsehe, dass rund 100.000 DM für ein Instrument investiert werden sollen, das einerseits als Pfeifenorgel für diesen kleinen Andachtsraum viel zu groß ist, auf dem man andererseits jedoch keine anspruchsvollen Orgelwerke spielen kann, überlege ich mir in den folgenden Tagen, was ich tun könnte, um meine Kollegen doch noch umzustimmen und ihnen zu zeigen, wie eine elektronische Sakralorgel funktioniert und welch brillantes Klangbild eine solche Orgel hervorbringen kann. Nach reiflicher Überlegung gehe ich zum Fuhrpark unserer Klinik und frage zwei Bedienstete, ob es möglich wäre, dass sie meine Orgel aus meiner Wohnung in Stuttgart-Botnang hierher in den neuen Andachtsraum transportieren könnten. Da für sie dieser Transport kein Problem ist, vereinbaren wir einen Termin, an dem ich meine Orgel von ihnen in den Andachtsraum bringen lasse. Den evangelischen Kollegen und Kolleginnen erlaube ich, dass sie mein Instrument auch bei ihren Gottesdiensten einsetzen und benützen können. Bald stellen sie fest, dass ihre Organisten durchweg positiv vom guten Klang der einzelnen Register überrascht sind. Vor allem sind sie von den vielfältigen Auswahlmöglichkeiten und Spielkombinationen begeistert, die ihnen dieses Instrument hier bietet. Doch trotzdem dauert es bei meinen evangelischen Kollegen und Kolleginnen immer noch einige Monate, bis sie tatsächlich davon überzeugt sind, dass eine Pfeifenorgel viel zu viel Platz benötigen und eine elektronische Sakralorgel sich für diesen kleinen Andachtsraum weitaus besser eignen würde.

Da es bei den evangelischen Klinikseelsorgern inzwischen personelle Veränderungen gab, hat sich mittlerweile unser Seelsorgeteam stark verändert. Als Nachfolgerin für Pfarrer Honold, mit dem ich sehr gerne zusammengearbeitet habe und während der Mittagspausen mitunter angenehme und interessante Gespräche führen konnte, ist nun eine junge Pfarrerin, Frau Rallinger, hier. Sie tritt äußerst forsch und selbstsicher auf und verschafft sich schnell den nötigen Respekt, indem sie einem ständig ins Wort fällt, alles besser weiß und somit automatisch eine gewisse Distanz erzeugt. Auch der evangelische Vikar, mit dem ich mich ebenfalls sehr gerne unterhielt, weil er bescheiden und zurückhaltend war, hat nun sein Krankenhauspraktikum beendet. Als Nachfolgerin kam eine junge Vikarin, die einen Teil ihrer pastoral-praktischen Ausbildung hier im Krankenhaus absolvieren will. Auch verließ uns die evangelische Pfarrerin Gmelin, die lediglich mit einem halben Dienstauftrag hier arbeitete. Ihre Nachfolgerin ist die neue Kollegin Koschinski. Bestand zu Beginn meiner Dienstzeit hier in der Klinik das Seelsorgeteam ausschließlich aus männlichem Personal, so hat sich diese Situation nun innerhalb eines Jahres stark verändert. Neben dem evangelischen Kollegen Stolzenburg sind jetzt drei sehr selbstbewusste evangelische Theologinnen hier, nämlich Pfarrerin Rallinger, Pfarrerin Koschinski und die Vikarin Rink, also insgesamt vier evangelische Klinikseelsorger, die uns beiden katholischen Kollegen im Seelsorgeteam gegenüberstehen. Eifrig diskutieren die drei Seelsorgerinnen gleich bei allen Problemen und anstehenden Aufgaben sehr dienstbeflissen mit, die wir in unserem ökumenischen Team zu bewältigen haben, ganz so als ob sie über alle organisatorischen Abläufe hier im Krankenhaus Bescheid wüssten. Äußerst ungern lassen sie sich über wichtige Hintergründe informieren und treffen ihre Entscheidungen oft in völliger Unkenntnis der vorgegebenen Sachverhalte. Mir wird bald klar, dass die evangelischen Kolleginnen sich vor unseren ökumenischen Teamsitzungen gegenseitig über die Tagesordnungspunkte absprechen oder von Stolzenburg entsprechend instruiert werden. Wie es den Anschein hat, teilt Stolzenburg ihnen vor den Teamsitzungen seine Interessen mit, um sie auf seine Linie einzustimmen, damit er bei den anstehenden Entscheidungen mit ihrer Zustimmung rechnen kann. Denn immer noch stehen dieselben Themen auf der Tagesordnung, in denen Stolzenburg selbstherrlich entscheiden wollte, solange kein katholischer Priester hier anwesend war, denn mich hatte er als katholischen Ansprechpartner ohnehin nie akzeptiert. Nun aber ist mein neuer Kollege Arno hier und seine drei evangelischen Kolleginnen, mit denen er sozusagen „adäquat“ verhandeln kann.

Als es bei unserer ökumenischen Teamsitzung um die Aufteilung der neuen Büroräume geht, bringt Stolzenburg nun überraschenderweise nicht mehr wie früher eine fiktive Sekretärin ins Spiel, da dieses Argument durch meinen Anruf beim Oberkirchenrat wohl abgeschmettert wurde. Durch eine Sekretärin wollte er nämlich seine wichtige Funktion unterstreichen, die er als Vorsitzender der evangelischen Krankenhausseelsorger innehat. Dies habe ich ihm jedoch vermasselt, indem ich beim Oberkirchenrat angerufen habe, um zu klären, ob Stolzenburg für seine Tätigkeit hier extra eine Sekretärin mit eigenem Bürozimmer benötige. Nun aber, da uns von der Verwaltung im Wirtschaftsgebäude vier Büroräume zugeteilt wurden, plädiert er jetzt dafür, dass den beiden katholischen Seelsorgern lediglich ein Raum zustehen solle, zwei Räume seien für die vier evangelischen Seelsorger vorgesehen und ein Raum solle für gemeinsame Besprechungen eingerichtet werden. Auch diesen Vorschlag lehne ich ab, da wir ja bereits einen gemeinsamen Besprechungsraum in der Nähe des Andachtsraumes im neuen Funktionsbau haben, in dem wir uns gerade befinden und der ohnehin wesentlich größer ist als diese vier Büroräume im Wirtschaftsgebäude. Jeder von ihnen wäre ja viel zu klein für sechs Personen. Auch dieser Vorschlag von ihm ist eindeutig wieder nur eine Finte, mit der er seinen ursprünglichen Plan umsetzen will, eben nur in abgewandelter Form, damit er für sich und seine evangelischen Seelsorgerinnen insgesamt drei Büroräume vereinnahmen kann, uns beiden katholischen Seelsorgern jedoch nur einen Raum zur Verfügung stellen möchte. Daher bringe ich folgenden Vorschlag: Jeder hauptamtliche Seelsorger, der mit einem vollen Auftrag von morgens bis abends hier in der Klinik arbeitet, benötigt tagsüber unbedingt eine Rückzugsmöglichkeit, einen eigenen Büroraum, in dem er außerdem in Ruhe seine schriftlichen Arbeiten und seine Vorbereitung für die Gottesdienste erledigen kann. Pfarrerin Koschinski, die lediglich mit einem halben Auftrag hier arbeitet, und die Vikarin Rink, die während ihrer Vikarsausbildung ohnehin oft auf Kursen und Fortbildungen wochenlang außer Haus ist, können hier für ihren Aufenthalt das gemeinsame Besprechungszimmer nützen. Hier halten wir ohnehin nur unsere monatlichen Teamsitzungen ab, ansonsten wird dieser Raum quasi als Sakristei für den Andachtsraum genutzt. Die meiste Zeit ist er gar nicht belegt. Mit diesem Vorschlag ist Stolzenburg absolut nicht einverstanden. Nun bringt er plötzlich wieder eine fiktive Sekretärin ins Spiel, die für ihn arbeiten werde, und möchte auf alle Fälle einen weiteren freien Raum zur Verfügung haben, falls der Oberkirchenrat für die evangelische Klinikseelsorge doch noch eine Sekretärin für ihn genehmigen sollte. Diesen Vorschlag finde ich jedoch geradezu absurd. Sich erst einmal einen Büroraum zu sichern, obwohl er noch gar nicht weiß, ob vom Oberkirchenrat die Gelder für eine Sekretärin bewilligt werden? Wieder wird lange diskutiert, geredet und argumentiert. Stolzenburg will partout nicht einsehen, dass seine Vorgehensweise unlogisch und anmaßend ist. Ich aber bleibe bei meiner Meinung und so beschäftigen wir uns in den folgenden vier Sitzungen immer und immer wieder mit demselben Tagesordnungspunkt, der da lautet: „Die Aufteilung der Büroräume unter den evangelischen und katholischen Klinikseelsorgern“. Bei all diesen Verhandlungen bleibe ich vor allem auch deswegen so hartnäckig, weil der Kollege Stolzenburg mich nie ernst genommen hat und immer nur das Eine im Sinn hatte, vor allem sich selbst mit seinen überzogenen Ansprüchen nach außen hin präsentieren zu können. Für ihn kommt ja ohnehin nicht in Frage, selbst als Klinikseelsorger etwas zu arbeiten und Kranke am Krankenbett zu besuchen.

Arno, der sich nicht mit den evangelischen Kollegen anlegen will, hält sich bei diesen Auseinandersetzungen vornehm zurück. Mir fällt er zwar nicht in den Rücken und lässt mich meinen Standpunkt eifrig vertreten, doch andererseits versucht er, versöhnlich auf Stolzenburgs Vorschlag einzuschwenken und einen Kompromiss herbeizuführen. So bringt er schließlich folgendes Angebot, wie wir diese vier Büroräume auf unsere sechs Klinikseelsorger am besten aufteilen könnten. Jeder der vier hauptamtlichen Seelsorger mit Vollzeitbeschäftigung bekommt einen Raum im Wirtschaftsgebäude, wie ich es vorgeschlagen habe. Er aber möchte auf seinen Raum zu Gunsten der beiden evangelischen Kolleginnen verzichten, die nur mit einem Teilauftrag hier beschäftigt sind, weil er ohnehin über die Mittagszeit nachhause fährt, damit er sich um seiner Mutter kümmern kann. Somit wären die evangelischen Seelsorgerinnen nicht auf dieses Besprechungszimmer beim Andachtsraum angewiesen, in dem wir unsere Teamsitzungen abhalten. Ihm würde es genügen, wenn er wie sein Vorgänger Witt sich mit mir zusammen einen Büroraum teilen könnte. Da alle Kollegen nach vier Teamsitzungen, in denen dieses Thema lang und breit behandelt wurde, nun endlich damit abschließen wollen, stimmen alle diesem Kompromissvorschlag zu. Allerdings lasse ich deutlich im Protokoll vermerken, dass diese Regelung nur so lange gültig ist, solange Arno und ich im Katharinenhospital zusammenarbeiten werden. Sobald aber ein Nachfolger von mir oder von Arno darauf bestehen sollte, dass er als vollzeitbeschäftigter Klinikseelsorger einen eigenen Büroraum beanspruchen möchte, muss die evangelische Klinikseelsorge diesen Raum wieder zurückgeben. Meine vorbehaltliche Zustimmung wird im Protokoll vermerkt und von allen akzeptiert.

Ein weiterer Diskussionspunkt in unseren Teamsitzungen ist die Anschaffung der Orgel. Zwar sind die evangelischen Kolleginnen und Stolzenburg mit dem Klang und der Variationsmöglichkeit meiner Sakralorgel durchaus zufrieden, die ich ihnen im Andachtsraum für ihre Gottesdienste zur Verfügung gestellt habe, allerdings meint Stolzenburg und die Kollegin Koschinski, dass ein Instrument mit echten Orgelpfeifen vielleicht doch etwas besser klingen und vor allem auch besser aussehen würde als dieses elektronische Instrument. Stolzenburg lässt sich nicht ganz davon überzeugen, dass eine herkömmliche Pfeifenorgel mit wenigen Registern für einen Organisten so ziemlich uninteressant ist, da man auf einem solchen Instrument keine anspruchsvollen Orgelstücke spielen kann. Er selbst kann ja kein Instrument spielen und weiß demnach auch gar nicht, wie eine Orgel funktioniert. Dass diese mit einer reichhaltigen Registratur und allerlei Variationsmöglichkeiten ausgestattet ist, kann er sich gar nicht vorstellen. Wie schnell aber ein Orgelbauer bei diesem kleinen Andachtsraum an die Grenzen seiner technischen Möglichkeiten gelangt, ist für ihn deshalb ein Rätsel. Somit müssen wir auch für diesen Tagesordnungspunkt mehrere Teamsitzungen aufwenden, bis wir endlich zu einem Ergebnis kommen. Nach langen Beratungen und nach vielen Rückfragen bei ihren Organisten, die meine Orgel nun über ein Jahr lang in ihren Gottesdiensten testen konnten, geben die evangelischen Kollegen mir schließlich den Auftrag, ein solches Instrument bei derselben Orgelbaufirma zu kaufen, wo auch ich meine Orgel erworben habe. Mit rund 30.000 DM kostet sie nun nicht einmal ein Drittel von dem, was Stolzenburg für seine Pfeifenorgel veranschlagt hatte, die viel zu wuchtig für unseren Andachtsraum gewesen wäre und viel zu viel Platz eingenommen hätte.

Der neue Verwaltungsdirektor hat seit längerer Zeit seinen Dienst im Katharinenhospital angetreten und möchte nun auch mit uns Klinikseelsorgern ins Gespräch kommen, um unsere Arbeitsweise kennenzulernen. Beim vereinbarten Treffen stellen wir uns ihm vor und auch er berichtet uns, dass er von Kindesbeinen an ebenfalls gute Kontakte mit der Kirche hatte, da sein Vater hauptamtlich als Organist und Kirchenmusikdirektor bei einer evangelischen Kirchengemeinde angestellt war. Somit bestehe eine gewisse Verbindung zu uns und wir könnten getrost davon ausgehen, dass er während seiner Amtszeit positiv unsere Arbeit begleiten werde. Anschließend kommt er auf den neuen Funktionsbau zu sprechen, der nun auch Auswirkungen auf den Organisationsablauf des gesamten Klinikums habe und immer noch sehr viel Arbeit mit sich bringe. So werde zum Beispiel demnächst die neue Telefonanlage installiert und im ganzen Haus neue Telefonapparate mit neuen Telefonnummern vergeben. Die neuen Telefone seien mit vielen speziellen Funktionen ausgestattet, so dass jeder Seelsorger sich seine eigene Telefonnummer mit Anrufbeantworter, Fernabfragefunktion, Gesprächsweiterschaltung, Konferenzschaltung und vielen nützlichen Raffinessen einrichten lassen könne. Auch mit dem Architekten müssen noch einige Änderungen abgeklärt werden, zum Beispiel die großzügige Gestaltung der Eingangshalle, die mit lebenden Bäumen ausgeschmückt werden soll und aufgrund der aufwändigen Pflege vielleicht doch durch Kunstbäume ersetzt werden müssten. Da diese Baumaßnahmen jedoch unter dem Etatansatz „Kunst am Bau“ abgerechnet werden können, wofür etwa 5 % der Gesamtkosten zur Verfügung stehen, könne man hier auch relativ variabel agieren und auch andere Posten mit einberechnen. Falls auf der einen Seite etwas eingespart werden kann, könnte man dafür auf der anderen Seite etwas mehr Geld ausgeben. So wäre es durchaus möglich, in diesem Etatbereich einige Anschaffungen für unseren Andachtsraum unterzubringen, da er ja ebenfalls für alle Patienten zugänglich ist und ansprechende Kunstobjekte sich ja durchaus positiv auf den Genesungsverlauf der Patienten auswirken würden. Insgesamt verläuft das Gespräch mit dem neuen Verwaltungsdirektor sehr positiv und wir freuen uns, dass er die Klinikseelsorge als wichtige Institution des Krankenhauses anerkennt und somit unserer Arbeit sehr wohlgesonnen ist.

In der folgenden Teamsitzung halten wir einen kurzen Rückblick auf das Gespräch, das wir mit dem Verwaltungsdirektor geführt haben. Alle Kollegen beurteilen dieses Treffen sehr positiv und jeder erwähnt einen anderen Aspekt, den er von dem neuen Klinikchef und von dem, was er uns vermittelt hat, für besonders interessant erachtet. Stolzenburg ist besonders beeindruckt von der Großzügigkeit dieses Mannes und greift erneut die Möglichkeit auf, nun doch eine handgefertigte, teure Pfeifenorgel von einem renommierten Orgelbaumeister anfertigen zu lassen. Die Kolleginnen sind der Auffassung, dass eine handgemalte russisch-orthodoxe Marien-Ikone für den Andachtsraum sehr schön wäre. Ich jedoch plädiere dafür, endlich unseren gemeinsamen Anrufbeantworter abzuschaffen und schlage vor, dass jeder Seelsorger die vielfältigen Möglichkeiten der neuen Telefonanlage nützen sollte, so dass die Patienten und das Pflegepersonal gleich den zuständigen Seelsorger direkt anrufen können. Außerdem können sie bei unserer Abwesenheit uns direkt eine Nachricht auf unserer Mailbox hinterlassen. Und falls einer von uns im Urlaub oder aus anderen Gründen abwesend ist, könnte er diese Gespräche ja dann auf einen anderen Kollegen umleiten. Den eigentlichen Grund meines Vorschlags nenne ich natürlich nicht, um keinen Streit zu entfachen. Es sind meine Erfahrungen mit Stolzenburg, der schon mehrmals Anrufe auf dem Anrufbeantworter gelöscht hatte, die mich betrafen, so dass ich die aufgesprochenen Besuchswünsche nicht erfüllen konnte. Dass Stolzenburg diese Telefonanrufe auch wirklich gelöscht hatte, hätte ich ohne weiteres durch einige Beispiele belegen können. Doch es wäre fraglich gewesen, ob die drei Kolleginnen und Arno dies auch akzeptiert hätten, wenn ich mit einem solch schweren Vorwurf den Kollegen Stolzenburg attackiert hätte. Schließlich sind Arno und die Kolleginnen noch nicht lange hier und sie können es sich sicherlich nicht vorstellen, wie Stolzenburg gegen andere vorgehen kann, wenn er jemanden als seinen persönlichen Gegner betrachtet oder ihn ganz einfach nicht leiden kann. Der zweite Grund, weshalb ich für die Abschaffung dieses gemeinsam genutzten Anrufbeantworters bin, ist die Bequemlichkeit Stolzenburgs, der sich stur darauf verlässt, dass alle anderen Kollegen sich für die Patienten verantwortlich fühlen und selbstverständlich alle Wünsche und Aufträge erledigen, die auch ihn und die Patienten auf seinen Krankenstationen betreffen. Da er sehr unregelmäßig in die Klinik kommt, profitiert er von der gemeinsamen Nutzung dieses Anrufbeantworters am meisten und lässt somit alle anderen in gewisser Weise für sich arbeiten. Für ihn scheint die ökumenische Zusammenarbeit vor allem darin zu bestehen, dass andere für ihn die Kleinarbeit erledigen, damit er sich damit begnügen kann, die gesamte ökumenische Klinikseelsorge im Katharinenhospital nach außen hin zu präsentieren.

Was mich aber nun völlig irritiert, ist sein Sinneswandel nach dem Gespräch mit dem neuen Verwaltungsdirektor. Als er nun gehört hat, dass vom Etatposten „Kunst am Bau“ des neuen Funktionsbaues auch Gelder für den Andachtsraum abgezweigt werden könnten, träumt Stolzenburg nun plötzlich wieder von einer teuren, handgefertigten Pfeifenorgel. Sein vordergründiges Bestreben nach Repräsentation tritt auch hier wieder ungezügelt zutage, denn diese Orgel im Andachtsraum soll seiner Ansicht nach vor allem gut aussehen, damit er als Initiator der Spendenaktion anschließend damit protzen kann. Auf eine gute Technik kommt es ihm gar nicht an, ebenso wenig auf die vielfältigen Möglichkeiten, die ein modernes digital-elektronisch gesteuertes Instrument einem Organisten bietet. Das alles interessiert ihn nicht, er hat davon auch keine Ahnung und will sich damit auch gar nicht befassen.

Ein anderes Projekt, das er in unserem ökumenischen Seelsorgeteam vorstellt, ist ein neues Faltblatt, in dem die Arbeit der Klinikseelsorge vorgestellt werden soll. Bei der Gestaltung dieses neuen Faltblattes werden wir beiden katholischen Kollegen von Stolzenburg gar nicht miteinbezogen, obwohl darin die Arbeit aller Seelsorger vorgestellt werden soll. Als er die fertige Broschüre, die mehrere Seiten umfasst, in unserem Seelsorgeteam präsentiert, finde ich es geradezu grotesk, dass auf den Bildern nur die evangelische Vikarin Rink dargestellt wird, wie sie hingebungsvoll an einem Krankenbett sitzt und milde lächelnd einem Patienten zuhört. Obwohl sie keine Klinikseelsorge-Ausbildung und von seelsorglicher Gesprächsführung keine Ahnung hat, präsentiert er sie als Aushängeschild für die Klinikseelsorge im Katharinenhospital. Doch sein Kalkül, das hinter Stolzenburgs Strategie steckt, ist mir sofort klar, denn sie trifft auch hier immer ins Schwarze. Da die Vikarin sich bei ihrer Präsentation in diesem Faltblatt von ihm sehr ernst genommen und sie sich durch diese Bevorzugung geehrt fühlt, wird sie bei ihrer Ausbildungsleitung im Oberkirchenrat selbstverständlich von ihrem großzügigen „Chef“ berichten, der sie nach Kräften gefördert habe. Dadurch werden ihm andererseits wieder neue Vikare zur Ausbildung zugeteilt, so dass er sein Renommee unter seinesgleichen noch steigern kann. Und die Vikarin Rink bekommt durch diese bevorzugte Behandlung natürlich einen mächtigen Auftrieb in ihrem Selbstbewusstsein und erfüllt ihm somit anstandslos all seine Wünsche. Da er sie überdies bei Patienten und Mitarbeitern des Katharinenhospitals sogar als Pfarrerin und Kollegin vorstellt, um ihre Person noch deutlich hervorzuheben und ihr auf diese Weise möglichst viel Wertschätzung entgegenzubringen, sichert er sich ihre Ergebenheit. Die Folge dieser Vorzugsbehandlung bekomme ich sehr unangenehm zu spüren. Mir gegenüber verhält sich diese Vikarin im Laufe der Zeit zunehmend schnippischer und wird immer frecher. Da sie von ihm ganz offiziell als „Pfarrerin“ vorgestellt wird, bekomme ich ihre Arroganz und Dreistigkeit deutlich zu spüren, denn sie ist ja Pfarrerin und ich nur ein „katholischer Laie“. Für mich ist es nur allzu verständlich, dass ihr hochnäsiges Verhalten auf den Einfluss ihres Gönners und Förderers Stolzenburg zurückzuführen ist. Es stellt sich für mich die Frage, ob ich ihre herablassenden Bemerkungen nun so einfach hinnehmen soll. Und wenn ich ihr Paroli bieten würde, was würde dann passieren? Wie schnell könnte es zu einem handfesten Streit kommen und ihr Ziehvater Stolzenburg, sowie ihre beiden evangelischen Kolleginnen Rallinger und Koschinski wären sogleich an ihrer Seite und würden schützend ihre Hand über sie halten. Ich rede mit Arno darüber, doch er kann gar nicht nachvollziehen, dass sie sich mir gegenüber so schnippisch benimmt. Er habe dies seiner Ansicht nach noch nicht mitbekommen und meint, dass sie sich ihm und auch den anderen Kolleginnen gegenüber sehr korrekt und angemessen benehme. Aus seiner Sichtweise ist dies ja auch sehr verständlich, da sie ohnehin allesamt Pfarrer beziehungsweise Pfarrerinnen sind, die sich gegenseitig akzeptieren, doch auf mich brauchen sie dabei ja nicht zu achten. Woche für Woche ertrage ich das freche Verhalten der Vikarin Rink und manchmal bekomme ich geradezu den Eindruck, als ob sie mich wegen irgendwelcher an den Haaren herbeigezogenen Lappalien gängeln will, um ihre Überlegenheit mir gegenüber herauszustellen. Es ist unübersehbar, dass Stolzenburg hinter ihren Attacken steckt. Vermutlich treiben ihn seine Rachegelüste zu diesen hinterhältigen Anfeindungen, weil ich ihm damals nachweisen konnte, dass er auf dem Anrufbeantworter Anrufe gelöscht hatte, die für mich bestimmt waren. Vielleicht befürchtet er sogar, dass ich dies publik machen könnte und tut nun alles, um mich bei seinen Kolleginnen ins schlechte Licht zu rücken. Denn zunehmend stelle ich fest, dass nun alles, was ich in unseren Teamsitzungen sage, vor allem von dieser Vikarin, die wohl unter seinem besonderen Schutz steht, sofort zurückgewiesen wird. Ich werde von ihr gegängelt, obwohl es gar nichts zu gängeln gibt, und werde nun mehr und mehr auch offen von ihr grundlos angefeindet. Zwar weise ich ihre Vorwürfe in einer Teamsitzung sachlich zurück und betone, dass sie nicht befugt sei, mir irgendwelche Anweisungen, Belehrungen oder Ratschläge zu erteilen. Doch sofort sind sich Stolzenburg und die evangelischen Kolleginnen einig und kontern mir mit dem Argument, dass auch die Vikarin Rink in unserer ökumenischen Zusammenarbeit durchaus eine persönliche Kritik mir gegenüber aussprechen dürfe. Stolzenburg lässt sie gewähren, während bei den beiden evangelischen Kolleginnen vor allem ein anderer Aspekt im Vordergrund steht. Sie stehen dieser Vikarin vor allem deshalb bei, weil sie es als Frau mir gegenüber, einem Mann in der männerdominierten katholischen Kirche, ohnehin sehr schwer habe, sich Gehör zu verschaffen. Damit ich von diesen drei Damen zum Thema „Frau in der Kirche“ in kein Streitgespräch verwickelt werde, schüttle ich nur lächelnd den Kopf und lasse sie reden. Mitunter versuche ich, ihnen mit Freundlichkeit, Gelassenheit oder auch mit entgegenkommender Hilfsbereitschaft zu begegnen, und zeige ihnen hiermit, dass ich eine gute Zusammenarbeit anstrebe. Doch Rinks schnippische Arroganz lässt jeden Versuch nur kläglich scheitern. Ein freundliches Gespräch kommt mit ihr einfach nicht zustande.

Dass die Vikarin jederzeit mit der vollen Unterstützung von Stolzenburg rechnen kann, wird in seinem nächsten Projekt deutlich erkennbar, das er in unserer Teamsitzung vorstellt. Der Klinik-Redakteur möchte in unserer Hauszeitschrift „KH-aktuell“ mal wieder einen Artikel über die Klinikseelsorge bringen. Darin soll erneut die Arbeit der Klinikseelsorge vorgestellt werden, damit die Patienten auf unsere Arbeit aufmerksam werden und sie die Seelsorger bei Bedarf anrufen können, falls sie längere Zeit im Krankenhaus verweilen müssen. Dieser Bericht soll diesmal in Form eines Interviews erscheinen, wobei der Redakteur die Fragen an die Seelsorger richtet, die darauf antworten sollen. Im Seelsorgeteam schlägt Stolzenburg vor, dass er zusammen mit der Vikarin dieses Interview gestalten möchte. Deshalb möchte er zuvor hier in unserer Runde von uns verschiedene Probleme und Fallbeispiele sammeln, die er mit seiner Vikarin bei diesem Interview vorstellen kann. Seine Vorgehensweise ist wieder typisch Stolzenburg! Da er selbst die Patienten äußerst selten besucht und auch die Vikarin bisher kaum eigene Erfahrungen in der seelsorglichen Arbeit mit Patienten gesammelt hatte, möchte er nun von uns wissen, welche Themenbereiche und Problemfälle er in diesem Interview ansprechen und aufzeigen könnte. Daher bringe ich den Einwand, dass der Redakteur doch mit uns dieses Interview führen solle und nicht ausgerechnet mit Kollegen, die am wenigsten mit den Patienten Kontakt haben. Außerdem sei die Vikarin doch gar nicht geeignet, im Bereich der klinischen Seelsorge ein solches Interview zu geben und deshalb fände ich es angemessen, wenn ein katholischer Seelsorger bei diesem Interview dabei wäre, damit in der Hauszeitschrift „KH-aktuell“ auch die katholische Seelsorge zum Zuge komme und nicht nur die evangelische Seite sich darstellen würde. Denn nur so könnte auch die ökumenische Zusammenarbeit beider Konfessionen sichtbar werden. Sogleich stimmt Arno mir zu und schlägt vor, dass ich als zusätzlicher Interviewpartner hinzugenommen werde, da ich nach Stolzenburg mit meiner nun siebenjährigen Klinikerfahrung am längsten hier im Krankenhaus arbeite und somit das meiste Erfahrungswissen einbringen könnte. Doch dieses Argument lässt Stolzenburg nicht gelten. Er plädiert dafür, dass bei einem solchen Interview vor allem junge Mitarbeiter zur Sprache kommen müssten. Außerdem lehne er einen dritten Interviewpartner ab, weil dadurch dieser Artikel zu unübersichtlich und sehr verwirrend wirken könnte. Da ich aber aufgrund meiner vielen Patientenbesuche ohnehin mehr als genug zu tun habe und ich diese ohnehin schon miserable Zusammenarbeit mit den evangelischen Kollegen nicht noch weiter strapazieren will, gebe ich meinen Einwand auf und lasse Stolzenburg und die Vikarin gewähren. Was kann man in solch einer Situation schon machen, wenn gewisse Kollegen nur Eines im Sinn haben, nämlich sich ständig selbst in den Vordergrund zu drängen, obwohl sie in Wirklichkeit am wenigsten tun? Sie wollen sich doch nur sooft wie möglich in der Öffentlichkeit präsentieren, in der realen Seelsorge aber leisten sie so gut wie nichts.

Ähnlich ist es bei unseren großen ökumenischen Klinikseelsorger-Konferenzen, bei denen sich einmal im Jahr alle katholischen und evangelischen Klinikseelsorger aus dem Großraum Stuttgart treffen. Dort bemerke ich, wie unser katholischer Vorsitzender Sauer sich nun ebenfalls wie der evangelische Kollege Stolzenburg einen kleinen „Hofstaat“ zugelegt hat. Auch er hat sich nun einige junge Kollegen und Kolleginnen um sich geschart, mit denen er vor allem deshalb gerne zusammenarbeiten will, weil sie ihm besonders willfährig sind und noch sehr nach Akzeptanz und Anerkennung streben. Er beauftragt sie regelmäßig, für die anstehenden Tagesordnungspunkte kleine Statements vorzubereiten, die sie zu Beginn der einzelnen Diskussionspunkte vortragen dürfen. Somit können alle anderen Kollegen erkennen, dass er diese jungen Klinikseelsorger zu seinem „erlauchten Kreis“ erkoren hat, obwohl sie zu der vorgetragenen Materie zumeist kaum eigene Erfahrungen mit einbringen können. Für Arno und mich, die natürlich nicht zu dieser „Sauer-Clique“ und zum „auserwählten Kreis“ gehören, ist dieses Szenario zumeist sehr amüsant. Denn manchmal referieren die jungen und unerfahrenen Kollegen über Themen, von denen sie tatsächlich keine Ahnung haben und die völlig neu für sie sind. Doch Sauer und Stolzenburg geht es bei der Auswahl ihrer Mitstreiter vor allem darum, dass sie ihre Schützlinge sogleich von vornherein an sich binden, damit ihre eigene Hausmacht in der Konferenz gestärkt wird. Auf diese Weise fällt es den beiden Vorsitzenden um so leichter, andere Kollegen, die manchmal kritische Anfragen stellen, auszugrenzen oder schlichtweg zu übergehen. Natürlich frage ich mich dabei selbst, ob ich möglicherweise eifersüchtig oder neidisch auf diese neuen Kollegen und Kolleginnen bin, wenn sie von Sauer und Stolzenburg so bevorzugt und hofiert werden. Denn schließlich könnten doch andere Kollegen weitaus mehr Fachwissen und Erfahrungen vorweisen als diese jungen Mitarbeiter! Doch dieses „Ränkespiel“ berührt mich herzlich wenig, zumal ich mit meiner Arbeit derart ausgelastet bin, dass ich kaum Zeit habe, mich mit diesen Sperenzchen zu belasten.

Ebenso versuche ich, mich nicht einzumischen, als die evangelische Kollegin Rallinger in unserem Seelsorgeteam den Vorschlag einbringt, im neuen Andachtsraum ein Marienbild anzubringen. Zwar wundere ich mich, dass ausgerechnet sie als evangelische Pfarrerin einen solchen Vorschlag macht, obwohl es in den evangelischen Kirchen doch so gut wie keine Marienfiguren und Madonnendarstellungen gibt. Sie aber argumentiert im „ökumenischem Sinne“, dass dieser Raum doch von vielen Katholiken frequentiert werde und deswegen auch ein Marienbildnis angebracht wäre. Die Katholiken seien es in ihren Kirchenräumen ja gewohnt, einen Marienaltar vorzufinden und so könnte man doch auch hier in unserem Andachtsraum ebenfalls eine Madonna oder eine Marienfigur aufstellen. Doch bald bemerke ich, dass es bei diesem Gesprächspunkt der Kollegin Rallinger und ihren beiden Kolleginnen eher um etwas anderes geht. Denn hinter Rallingers Vorschlag steht vor allem die feministische Theologie, wodurch sie das Mitwirken der Frau schlechthin im göttlichen Heilsgeschehen betonen will. Dieser Aspekt soll den Gläubigen durch das Aufstellen einer Marienstatue besser ins Bewusstsein gerückt werden. Aber gerade die feministische Theologie wird von unseren evangelischen Kolleginnen sehr standhaft vertreten. So soll in Gestalt der Gottesmutter Maria für alle sichtbar die Frau ihren ebenbürtigen Platz in unserem Andachtsraum bekommen. Im Grunde genommen rennen die evangelischen Kolleginnen mit diesem Vorschlag bei uns katholischen Seelsorgern offene Türen ein, da die Mutter Jesu in der katholischen Kirche schon immer hochverehrt wurde. Rallinger hat sich bei ihrem Vorschlag im Vorfeld dieser Sitzung bereits mit ihren Kolleginnen abgesprochen und festgelegt, dass sie uns bei der Auswahl der Madonnendarstellung keinerlei Mitsprachemöglichkeit einräumen will. Sie besteht strikt darauf, dass für unseren Andachtsraum nur eine russische Marien-Ikone in Frage käme. Alles andere sei dann doch wiederum zu sehr katholisch und wäre für die evangelischen Gottesdienstbesucher nicht hinnehmbar.

Trotz dieser strikten Festlegung will ich diese Entscheidung nicht ganz ohne jeglichen Einwand den evangelischen Kolleginnen überlassen, da ich mir kaum vorstellen kann, dass sich evangelische Gläubige in ihren persönlichen Anliegen und Nöten an die Mutter Jesu wenden und irgendwelche Bittgebete an sie richten werden. Deshalb bringe ich den Hinweis, dass eine „Pieta“ doch durchaus eine gute Muttergottesdarstellung wäre und hier in unserem Andachtsraum in Frage kommen könnte. Denn eine Muttergottes-Darstellung, die ihren toten Sohn in den Armen hält, versinnbildlicht vor allem das menschliche Leid und könnte somit vielen Patienten in ihrer Not einen besonderen Trost bieten und sie gut in ihrer hilfsbedürftigen Befindlichkeit ansprechen. Die Kranken und vor allem die trauernden Menschen könnten sich dann in ihrer Trauer von solch einer trauernden Mutter verstanden fühlen und könnten sich vertrauensvoll im Gebet an sie wenden. Doch eine derartige Darstellung lehnt Rallinger rigoros ab. Dass die Gläubigen sich mit ihren Anliegen an die Mutter Jesu wenden, kann sie sich gar nicht vorstellen. Wie ich im Laufe des Gesprächs bald feststellen muss, geht es Rallinger bei dieser Marien-Ikone nun keineswegs darum, den Hilfesuchenden die göttliche Botschaft in der Gestalt von Mitgefühl, Trost, Liebe, Zuwendung, Geborgenheit und Angenommen-Sein zu vermitteln, sondern vor allem darum, dass in der von Männern dominierten Kirche auch eine Frau im Altarraum zur Geltung kommt. Nun kann ich auch verstehen, weshalb sie immer so kurz und barsch mit mir umgeht. Sie scheint geradezu darauf programmiert zu sein und nur das eine Ziel im Blick zu haben, der Frau schlechthin mehr Einfluss zu verschaffen - und das auf allen Gebieten unserer Gesellschaft und vor allem in der Kirche. Ihre ganze ökumenische Teamarbeit besteht in unserer Runde nur darin, dass sie als Frau in einer von Männern regierten Gesellschaft besser zur Geltung kommen kann. Zunehmend muss ich aber auch feststellen, dass sie es dabei vor allem auf mich abgesehen hat. Denn ich, der ich von einer Kirche angestellt bin, die sämtliche Frauen von ihren Ämtern ausschließt, bin für sie geradezu ein leichtes Opfer, ihren Feldzug gegen diese frauenfeindliche Gesellschaft zu führen. Meinen Kollegen Arno dagegen kann, oder besser gesagt, will sie vor allem deshalb nicht angreifen, da er ja ebenfalls Pfarrer und damit ein ihr ebenbürtiger Kollege ist, mit dem sie ja mehr oder weniger gut zusammenarbeiten muss. Ich jedoch, der in dieser katholischen Männerkirche ohnehin nichts zu melden habe und sogar als „Laie“ bezeichnet werde, an mir kann sie all ihren angestauten Frust hemmungslos abreagieren.

Nachdem sie meinen Vorschlag recht unwirsch abgeschmettert hatte, erinnere ich mich wieder an die Situation, als ich ihr zum ersten Mal begegnet bin. Schon damals brachte sie spürbar zum Ausdruck, welchen Stellenwert ich bei ihr habe. Es war kurz vor dem Mittagessen, ich hatte meine Patienten auf den Krankenstationen besucht und höre in unserem gemeinsamen Büro den Anrufbeantworter ab. Da geht die Tür auf und es kommt eine sehr selbstbewusste Frau herein. Sie scheint etwas jünger zu sein als ich, ihre sehr kurz geschnittenen Haare leuchten kastanienrot. Durch ihre pralle Körperform und ihren sehr eng geschnittenen, kurzen Rock erhält ihr Erscheinungsbild eine auffallend strenge Note. Ihre Lippen sind dunkelrot, fast schwarz geschminkt, ein zartes Rouge bedeckt ihre rundlichen Wangen. Forsch begrüßt sie mich und blickt mich mit ihren stechenden Augen an, die von einer kräftig bläulich-violetten Schattierung umrandet sind.

„Ich bin Pfarrerin Rallinger, die Nachfolgerin von Pfarrer Honold“, sagt sie wenig galant und streckt mir ihre Hand entgegen.

„Mein Name ist Thomas Zeil“, antworte ich freundlich.

„Ich habe schon von Ihnen gehört. Wie lange sind Sie jetzt hier?“, will sie wissen.

„Etwa sieben Jahre“, antworte ich brav.

„Und was haben Sie vorher gemacht, bevor Sie hierher kamen?“ fragt sie barsch.

„Ich war vorher in Ludwigsburg in einer Kirchengemeinde und war dort für die Jugendarbeit und Erwachsenenbildung zuständig. Davor war ich in …“, doch weiter komme ich nicht, denn schon werde ich mit ihrer nächsten Frage konfrontiert:

„Ach, da Sie gerade hier sind, können Sie mir kurz erklären, wie man diesen Anrufbeantworter bedient.“

„Gerne, ich wollte ihn sowieso gerade abhören“, und wende mich dem Gerät auf dem Schreibtisch zu:

„Hier ist der Knopf, den man drücken muss, wenn man die aufgesprochenen Anrufe abhören will“, beginne ich mit meiner Instruktion und bin gerade dabei, diesen Knopf zu drücken. Doch schon stoppt sie mich und ruft:

„Halt, lassen Sie mich das selbst machen. Wenn ich es mache, kann ich es mir besser merken.“

Ich lasse sie an das Gerät und die aufgesprochenen Wünsche werden abgespult. Auf verschiedenen Zetteln notiere ich die Nachrichten und lege sie den Kollegen ins Fach.

„Was muss ich jetzt tun, um diese Mitteilungen zu löschen?“

Ich zeige es ihr und versuche, ihre weiteren Fragen korrekt zu beantworten. Doch kaum will ich ihr die Bedeutung der einzelnen Knöpfe erklären, unterbricht sie mich und tut, als ob sie auch ohne meine Erklärungen schon alles wüsste. Obwohl ich ihr die Funktionsweise des Gerätes geduldig erkläre und dabei großzügig über ihr besserwisserisches Verhalten hinwegsehe, scheint sie mit meiner Einführung nicht zufrieden zu sein. Sie bedankt sich nicht und geht stracks wieder zur Tür hinaus mit dem Wunsch:

„So, jetzt haben wir uns ja kennengelernt. Also, dann auf eine gute Zusammenarbeit!“

Nach dieser Begegnung kam ich mir wie ein Schuljunge vor, der von einer Oberlehrerin examiniert und zusätzlich noch abgekanzelt wird. Und jetzt hat sie mich wieder vor allen anderen schnippisch zurückgewiesen, als ich hier in unserem ökumenischen Team meinen Vorschlag zur Marienstatue in unserem Andachtsraum eingebracht habe. Es scheint tatsächlich so zu sein, dass sie nur ihre eigenen Vorstellungen gelten lassen kann und alles, was andere sagen, gleich von vornherein ablehnt. Als unsere Teamsitzung zu Ende ist und ich hinüber ins Wirtschaftsgebäude gehe, um in unserem Büro noch einiges zu erledigen, gehen mir viele Eindrücken durch den Kopf. Schon damals, bei der ersten Begegnung hatte ich kein gutes Gefühl. Nun bin ich wirklich gespannt darauf, wie sich unsere künftige Zusammenarbeit entwickeln wird.

Wenige Tage später steht bei mir eine Unterrichtseinheit in der Krankenpflegeschule an. Ursprünglich hatte mein Kollege Witt sich diese Aufgabe mit dem Kollegen Stolzenburg geteilt, doch als er Administrator von St. Eberhard wurde, gab er diese Aufgabe an mich ab. Als er das Katharinenhospital verließ, musste ich weiterhin diese Unterrichtseinheiten gestalten, weil mir mein neuer Kollege Arno gleich von vornherein signalisierte, dass er an dieser Herausforderung nicht interessiert sei und er sehr froh wäre, wenn er sich mit den kritischen Fragen der Pflegeschüler erst gar nicht auseinandersetzen müsste.

Ganz anders reagiert dagegen die neue evangelische Kollegin Rallinger. Sie zeigt großes Interesse an diesem Unterricht und als sie erfährt, dass ich von der Krankenpflegeschule für den Ethik-Unterricht angefragt werde, macht sie sogleich den Vorschlag, diese Lehreinheit im ökumenischen Sinne gemeinsam zu gestalten und fragt mich, ob wir diesen Unterricht nicht gemeinsamen abhalten könnten. Außerdem könnte sie bei dieser Gelegenheit die Unterrichtsräume und das ganze Prozedere drumherum kennenlernen. Ich gehe auf ihren Vorschlag ein und möchte mit ihr einen Termin vereinbaren, bei dem wir den Ablauf der gemeinsamen Unterrichtseinheit besprechen könnten. Doch sie schlägt sofort vor, dass ich doch bis dahin erst einmal selbst die Lehreinheiten so vorbereiten solle, wie ich sie auch ohne ihr Beisein durchführen würde. Dann könnten wir ja in einem zweiten Schritt bei der gemeinsamen Besprechung die jeweiligen Inhalte und Abschnitte so zwischen uns aufteilen, dass jeder von uns einen Teil des Unterrichts abwechslungsweise übernimmt. Ich stimme ihr zu und bereite also den bevorstehenden Unterricht alleine vor, da ich ihn ja auch ohne ihr Mitwirken hätte durchführen müssen. Bei unserem vereinbarten Termin in unserem gemeinsamen Büro teilen wir dann die einzelnen Themenabschnitte unter uns auf und ich übergebe ihr die Kopien meiner Unterrichtsvorbereitungen.

Als wir uns in der Krankenpflegeschule treffen, stelle ich vor Unterrichtsbeginn den Schülern die neue Kollegin Rallinger vor und erteile ihr das Wort, dass sie selbst noch einiges zu ihrer Person hinzufügen kann. Sie erklärt mit ein paar Sätzen ihren bisherigen Werdegang und erläutert, weshalb sie künftig als Klinikseelsorgerin hier arbeiten möchte. Danach beginne ich mit dem ersten Themenbereich, wie ich es mit ihr abgesprochen habe. Nach diesem ersten Unterrichtsabschnitt übergebe ich gerne an sie, denn bereits bei meinen ersten Ausführungen hatte sie mich zwischendurch schon zweimal unterbrochen, um einiges aus ihrer Sicht zu ergänzen. Es scheint, dass sie es kaum erwarten kann, bis sie selbst an der Reihe ist. Lang und breit holt sie nun aus, um die Pflegeschüler in ihren Themenabschnitt einzuführen. Als sie nach einer Weile merkt, dass einige der Schüler bereits unruhig werden und sich gelangweilt leise miteinander unterhalten, schaut sie auf das Konzept, das ich vorbereitet habe und leitet kurzerhand auf das darauffolgende Thema über. Nach unserer Absprache hätte eigentlich ich diesen Abschnitt unterrichten sollen. Deshalb versuche ich zu intervenieren und will sie darauf aufmerksam machen, dass sie bereits dabei sei, meinen Unterrichtsabschnitt durchzunehmen. Doch mit einer kurzen Handbewegung weist sie mich zurück und lässt sich nicht in ihren Ausführungen bremsen. Auch in diesem Themenbereich kann sie kein Ende finden und beginnt nun, auch meinen Unterrichtsteil so detailliert zu erläutern, dass es den meisten Pflegeschülern stinklangweilig wird. Aufgrund ihrer eintönigen Vortragsweise werden sie unruhig. Manche geben schon leise Unmutsäußerungen von sich und als ich erneut einschreiten will, um sie darauf hinzuweisen, dass dieser Themenbereich entsprechend unserer Absprache von mir vorgetragen werden sollte, unterbricht sie mich wieder, und zwar sehr unwirsch und sagt:

„Ja, ja, Sie kommen schon noch dran!“

Danach erläutert sie stur in aller Ausführlichkeit vollends auch meinen Teil, wobei sie sich in ihren Erläuterungen ständig wiederholt. Immer wieder erzählt sie dieselben Inhalte, weil ihr nichts mehr Neues dazu einfällt und verwendet lediglich bei der Behandlung der Materie unterschiedliche Formulierungen. Doch die Schüler haben inzwischen schon auf den Streikmodus umgeschaltet und beginnen, sich demonstrativ miteinander zu unterhalten. Wieder versuche ich, die Kollegin Rallinger zu unterbrechen. Doch diesmal fährt sie mich derb an und faucht:

„Ich habe doch schon gesagt, dass Sie gleich drankommen werden! So viel Geduld müssen Sie schon noch aufbringen, bis ich alles auch richtig erklärt habe!“

Als sie schließlich nun auch meinen Unterrichtsteil in aller Ausführlichkeit dargelegt hat und zu dem Abschnitt kommt, den entsprechend unserer gemeinsamen Absprache nun sie wieder übernehmen sollte, fällt ihr jetzt erst auf, dass sie bereits meinen Unterrichtsabschnitt durchgenommen hatte. Doch nun will sie mich in ihren Unterrichtsteil quasi integrieren und fragt, ob ich zu dem, was sie bereits gesagt habe, noch etwas hinzufügen möchte? Da ich aber nun nicht so genau weiß, was ich bei diesem Durcheinander noch ergänzen soll, erläutere ich entgegenkommenderweise einige wenige Punkte, die ich hätte eigentlich ausführen sollen. Doch sofort unterbricht sie mich wieder und weist darauf hin, dass sie diese Aspekte jetzt gleich sowieso behandeln werde. Schließlich führt sie die Unterrichtseinheit vollends zu Ende, ich gebe frustriert auf und setze mich auf einen freien Stuhl zu den Schülern. Enttäuscht lasse ich sie gewähren und denke dabei:

„Wenn das die ökumenische Zusammenarbeit ist, die sie jetzt hier allen dokumentieren will, kann ich mich ja in Zukunft auf etwas gefasst machen!“

Ihren Unterricht beendet sie, indem sie die Schüler mit wohlwollenden Worten verabschiedet und lobt dabei zum Schluss vor allem sich selbst, weil sie zu dem Ergebnis gekommen sei, dass dieser ökumenisch gestaltete Unterricht doch eine gute Möglichkeit wäre, die Zusammenarbeit mit mir weiterhin auf diese Weise zu gestalten, was uns doch außerordentlich gut gelungen sei. Total verblüfft über ihr Eigenlob, verabschiede ich mich ebenfalls von den Schülern und frage anschließend die Kollegin Rallinger, ob wir nicht eine kurze Nachbesprechung über diese Unterrichtseinheit anfügen könnten. Rigoros wie immer wehrt sie diesen Vorschlag ab und fragt:

„Warum denn? Es ist doch alles wunderbar gelaufen!“

Dieser gemeinsame Unterricht mit der Kollegin Rallinger war meine erste Erfahrung, bei der ich ihre Art und ihre Auffassung von kollegialer ökumenischer Zusammenarbeit so richtig kennenlernen konnte. Sie unterscheidet sich dabei in keiner Weise von der ihres Kollegen Stolzenburg und übrigens auch nicht von der meines früheren Kollegen Witt. Mir wird klar, was das für mich künftig bedeutet! Ich soll die Vorbereitungen liefern und sie sorgt für die offizielle Umsetzung meiner Unterrichtsvorbereitungen! In ihrem ganzen Auftreten zeigt sie dieselben Verhaltensmuster, die sämtliche Pfarrer mir gegenüber während meiner kirchlichen Laufbahn an den Tag gelegt haben. Nur ein kleiner Unterschied ist bei ihr noch festzustellen. Ihre männlichen Kollegen haben mich wenigstens zwischendurch auch einmal ausreden lassen. Rallinger dagegen fällt mir grundsätzlich ins Wort und zeigt mir ganz deutlich, dass sie sich nichts, aber auch gar nichts von mir sagen lässt. Zu allem hat sie bereits eine vorfertige Meinung und geht nie auf meine Vorschläge ein. Es scheint, als schöpfe sie sofort den Verdacht, dass jeder, der ihr etwas vorschlägt, ihr irgendwelche Vorschriften machen wolle. Deshalb ist sie von vornherein auch gar nicht bereit, mir zuzuhören. Bei unseren Teamsitzungen kommt es daher oft zu heftigen Auseinandersetzungen, weil sie es bei unseren Kollegen ebenfalls nie aushalten kann, andere Argumente geduldig anzuhören und zu akzeptieren. Manchmal habe ich bei ihr den Eindruck, dass es bei vielen Tagesordnungspunkten ihr gar nicht um die Sache an sich geht, sondern vor allem darum, wer von den Kollegen etwas sagt. Werden die Personen, die etwas vorbringen, von ihr akzeptiert, so werden von ihr auch deren Beiträge für gut befunden. Werden von ihr jedoch bestimmte Kollegen nicht akzeptiert, so wird alles grundsätzlich von ihr sofort abgelehnt, was diese Kollegen äußern. Inhalte scheinen bei ihr keine Rolle zu spielen, bei ihr geht alles nur um Sympathie oder Antipathie. Dabei ist sie in der Aufteilung von sympathischen und unsympathischen Personen in einer sehr einfachen Weise festgelegt. Alle Kolleginnen sind ihr grundsätzlich sympathisch, alle männlichen Kollegen dagegen scheinen ihr äußerst suspekt und unsympathisch zu sein. Sicherlich, nicht allen männlichen Kollegen in unserer Runde lässt sie ihre Abneigung so deutlich spüren wie mir. Doch wer zwischen den Zeilen ihres Wortschwalls lesen kann, bekommt sofort mit, wie sie alle Beiträge gleich von vornherein ablehnt, die ein männlicher Kollege von sich gibt. Sie hält auch weiter daran fest, mich per „Sie“ anzureden und in einem hochnäsigen, etwas erhöhten Tonfall „Herr Zeil“ zu mir zu sagen.

In dieser Beziehung ist Arno ganz anders. Sogleich bei seinem Dienstantritt bot er mir das „Du“ an. Die evangelischen Kollegen halten jedoch weiterhin am „Sie“ zu mir fest, wie sie es seit meinem Kollegen Witt eben gewohnt sind. So duzen sich in unserem ökumenischen Seelsorgeteam nun alle gegenseitig, nur mit einer Ausnahme, und die bin ich. Gerne hätte ich auch ihnen das „Du“ angeboten, denn es ist ja nicht gerade angenehm, ständig wie eine ihnen untergebene Person gesiezt zu werden. Doch es scheint, dass sie gerade dadurch einen gewissen Abstand zu mir aufbauen und ihren vermeintlichen Rangunterschied deutlich machen können. Hätte ich ihnen jedoch angeboten, dass wir uns duzen, so wäre sicherlich mein Angebot vom Kollegen Stolzenburg sofort abgelehnt worden, da er ja ständig darum bemüht ist, sich als Chef aufzuspielen, um sich so von den übrigen Seelsorgern abzuheben. Wie aber die evangelischen Kolleginnen auf ein solches Angebot reagieren würden, kann ich nicht genau einschätzen. Weil die Kollegin Rallinger jedoch ohnehin alles ablehnt, was von mir kommt, würde es sowieso nichts bringen, ihr ein derart kollegiales Angebot zu machen.

Da es mittlerweile in unserem ökumenischen Seelsorgeteam mitunter heftig zur Sache geht und sehr eifrig diskutiert wird, kommt es dabei häufig vor, dass Stolzenburg oder die Kollegin Rallinger im Eifer des Gefechts mich ebenfalls unabsichtlich duzen, weil ja alle Pfarrer und Pfarrerinnen untereinander per „Du“ sind. Zwar entschuldigen sie sich daraufhin, wenn sie es selbst bemerken, dass sie mich versehentlich mit Du angeredet haben, kehren aber sofort wieder zu ihrer üblichen distanzierten Anredeweise zurück. Als bei unseren Sitzungen um die Anschaffung der neuen Orgel heftig gestritten wird, kommt es bei diesen Diskussionen gelegentlich zu einem großen Durcheinander. Immer wieder duzen sie mich versehentlich im Eifer des Gefechtes und entschuldigen sich wieder, bis Arno dann schließlich vorschlägt, dass wir uns in unserem Team doch am besten alle einander duzen könnten. Sofort nehme ich seinen Vorschlag an und antworte darauf:

„Gerne Arno, wie ihr ja alle wisst, ich heiße Thomas.“

Nach kurzer Schockstarre zeigt sich auch Stolzenburg gnädig und bemerkte herablassend:

„Also gut, ich bin Peter.“

Kurz danach schließen sich auch die evangelischen Kolleginnen an und erlauben mir, auch sie mit ihrem Vornamen anzureden und zu duzen.

Es hat also über sieben Jahre gedauert, bis von den evangelischen Kollegen und Kolleginnen mir ebenfalls das Du angeboten wurde, obwohl sie sich gegenseitig alle gleich von vornherein geduzt hatten. Ob Arno mit seinem Vorschlag mir möglicherweise einen Bärendienst erwiesen hat, wird sich noch zeigen. Da die evangelischen Kolleginnen sich in gewisser Weise von Arno gedrängt fühlten und mir in diesem Punkt nicht ganz freiwillig entgegengekommen sind, stellt sich die Frage, ob sie ihren vermeintlichen Rangunterschied zwischen „Pfarrer“ und „Nichtpfarrer“ in Zukunft nun auf einer anderen Ebene austragen werden.

Verleihung des päpstlichen Ehrenkreuzes

Wenn ich abends vom Katharinenhospital nachhause komme und meinen Anrufbeantworter abhöre, habe ich oft ein unangenehmes Gefühl. Zwar melden sich zumeist sehr nette Bekannte und Freunde und sprechen mir irgendwelche Mitteilungen und Grüße aufs Band, weil sie mich nicht erreichen konnten. Doch oft kommt es auch vor, dass ich kaum die Klinik verlassen habe und schon von den Pflegekräften dringend ein Seelsorger gesucht wird, die mich dann eben zuhause anrufen. Dass ich von ihnen so häufig angefordert werde, mag wohl daran liegen, dass ich für sie am leichtesten erreichbar bin und ich sofort die Patienten oder ihre Angehörigen besuche. Außerdem kennen mich die Pflegekräfte vom ganzen Katharinenhospital recht gut, weil ich nach dem Ausscheiden meines Priesterkollegen Witt für die katholischen Patienten im ganzen Krankenhauses zuständig war. Je nachdem, wie dringend ein solcher Notruf ist, esse ich dann schnell noch ein belegtes Brot, da ich ja nie vorher genau weiß, wie lange ich bei einem Notfall bleiben muss. Außerdem kann mein knurrender Magen bei meinen seelsorglichen Gesprächen sehr peinlich und störend sein, zumal meine Konzentrationsfähigkeit nach einem anstrengenden Arbeitstag ohnehin bereits sehr strapaziert ist. Bei einem Notruf geht es ja meistens um Schwerstarbeit, bei der eine langwierige seelsorgliche Sterbebegleitung oder die Betreuung der Angehörigen zu bewältigen ist, die psychisch oft sehr belastend und daher sehr anstrengend ist. Doch heute haben sich auf meinem Anrufbeantworter lediglich einige Freunde und Bekannte gemeldet, die einfach mal wieder mit mir reden wollten. Interessanterweise hat Frau Ecker aus Ludwigsburg einen kurzen Gruß hinterlassen und wünscht dringend um einen Rückruf. Es kommt ab und zu noch vor, dass sich ehemalige Gemeindemitglieder aus Ludwigsburg bei mir melden, um ihre Probleme und Sorgen mit mir zu besprechen. Frau Ecker arbeitete ehrenamtlich in der Erwachsenenbildung mit und hatte sich auch sonst immer sehr in der Kirchengemeinde engagiert. Sie war bei vielen Bildungsreisen und anderen Veranstaltungen mit dabei, die ich damals in der Gemeinde angeboten hatte. Aus diesem ehrenamtlichen Engagement heraus erwuchs in ihr der Wunsch, sich zur Katechetin ausbilden zu lassen und durfte somit in der Grundschule Religion unterrichten. Da ich ihr bei dieser Ausbildung oft behilflich war und ihr manche theologische Fragen und historische Hintergründe ausführlich erklärte, lernte sie mich auch persönlich gut kennen. Als ich noch in Ludwigsburg war, schilderte sie mir ihre Probleme in ihrer Ehe und den Psychoterror, den sie zuhause durchmachen musste. Die Affären ihres Mannes setzten ihr gewaltig zu und oft schüttete sie völlig entnervt und aufgerieben von den häuslichen Zwistigkeiten ihr Herz bei mir aus. Ihr Ehemann war ebenfalls bei der katholischen Kirche angestellt und hatte einen hohen Posten bei einer kirchlichen Behörde in Stuttgart. Dort lernte er eine Frau Schwarz kennen, die Hauswirtschafterin in der Diözesanakademie in Stuttgart-Hohenheim ist und schließlich seine Geliebte wurde. In vielen langwierigen Gesprächen hörte ich Frau Ecker zu, wie sie zuhause einen zermürbenden Kleinkrieg mit ihrem Mann führte, um ihre Ehe zu retten und nicht in die Brüche gehen zu lassen. Doch all ihre Bemühungen nützten nichts, die Ehe wurde geschieden.

Und jetzt hat sie sich nach langer Zeit wieder gemeldet und bittet mich um einen Rückruf. Schnell ziehe ich bequeme Hauskleidung an, richte mir in der Küche mein Abendessen zurecht und trage es ins Wohnzimmer, um es mir beim Essen gemütlich zu machen. Danach rufe ich sie an und sogleich erzählt sie mir wutentbrannt, dass sie zufällig im „Katholischen Sonntagsblatt“ gelesen habe, dass diese Frau Schwarz in der Katholischen Akademie in Hohenheim das Päpstliche Ehrenkreuz „Pro Ecclesia et Pontifice“ verliehen bekommen habe. Die schmerzlichen Wunden ihrer langwierigen Ehescheidung sind nun jäh wieder aufgebrochen und sie braucht jetzt unbedingt jemanden, mit dem sie darüber reden kann. In ihrem Wortschwall lässt sie sich nicht unterbrechen, sie schimpft auf all diese Priester, die ihr damals während ihrer Eheprobleme nicht geholfen haben. Sie wettert über die Prälaten im Ordinariat, weil auch diese ihre Bittschreiben ignoriert hatten, welche sie damals an sie richtete, denn sie waren die Vorgesetzten ihres Mannes. Inständig habe sie diese Prälaten darum gebeten, dass sie sich doch bitte einschalten mögen, um auf ihren Mann dahingehend einzuwirken, dass er von dieser ebenfalls verheirateten Frau ablassen solle. Frau Ecker ist immer noch der festen Überzeugung, dass ihre Ehe weiterhin bestehen würde, wenn sich diese Herren im Ordinariat auf ihre Bitten hin um sie bemüht hätten und sie nicht alles geduldet und zugelassen hätten. Nach dieser empörenden Begrüßung beginnt sie, mir diesen Artikel vorzulesen, der mit der Überschrift „Papstorden für Veronika Schwarz“ tituliert ist:

„Stellvertretend für alle, die in der Diözese in aller Stille hauswirtschaftliche Dienste leisten und unter anderem für das leibliche Wohlergehen vieler Menschen verantwortlich sind, ist in diesen Tagen Veronika Schwarz, Hauswirtschaftsleiterin im Tagungshaus der Akademie der Diözese in Stuttgart-Hohenheim, mit dem päpstlichen Ehrenkreuz „Pro Ecclesia et Pontifice“ ausgezeichnet worden. Seit 1964 gestaltet die staatlich geprüfte Wirtschaftsleiterin „mit glücklicher Hand geschmackvolle Akzente“, wie Akademiedirektor Reinhard König bei der Verleihung der Auszeichnung zu würdigen wusste, den äußeren Rahmen des Tagungsbetriebes und trägt damit zu einer „kultivierten Atmosphäre“ bei. In seinem Glückwunschschreiben lobte Bischof Natter Frau Schwarz als eine Frau, die durch ihre Art der Führung des hauswirtschaftlichen Bereiches „die christliche Tugend der Gastfreundschaft verwirklicht“ habe. „Damit“, so der Bischof wörtlich, „haben Sie auf Ihre Weise christliche Verkündigung geleistet und unserer Kirche ein menschenfreundliches Gesicht gegeben.“ Die Akademie nahm die Ordensverleihung durch Domkapitular Herbert Müller zum Anlass, zu einem Empfang einzuladen. Frau Schwarz konnte dabei Glückwünsche von zahlreichen Gästen entgegennehmen, die als Besucherinnen und Besucher von Akademieveranstaltungen ihre entgegenkommende und behutsam sorgende Art zu schätzen gelernt haben.“

„Das ist doch unmöglich!“, ereifert sich Frau Ecker am Telefon und poltert erneut lautstark darauflos, „wie kann man einer solchen Ehebrecherin auch noch das päpstliche Ehrenkreuz verleihen! Die haben doch alle mitbekommen, dass sie ein Verhältnis mit meinem Mann hat! Schließlich habe ich im Ordinariat und auch in der Akademie viele Vorgesetzte meines Mannes angerufen und habe über diese Frau geschimpft, was das Zeug hält, um meine Ehe zu retten. Und jetzt muss ich aus dem Sonntagsblatt erfahren, dass sie diesem liederlichen Weib auch noch einen päpstlichen Orden verliehen haben! Das schlägt doch dem Fass den Boden aus! Dieser Akademiedirektor König ist doch keinen Pfifferling wert! Der weiß doch ganz genau, was dieses Schindluder in ihrer Freizeit getrieben hat. Und dann lässt er auch noch so etwas zu! Wer weiß, vielleicht hat möglicherweise sogar dieser Akademiedirektor dieses Weib für solch eine Auszeichnung vorgeschlagen? Jedenfalls, ich bin fertig mit dieser katholischen Kirche!“

Als sie sich wieder einigermaßen beruhigt, fragt sie mich, ob sie mit mir über die ganze Angelegenheit in den nächsten Tagen ausführlich reden könnte. Denn die ganze Problematik sei wieder so sehr in ihr hochgekommen, dass sie unbedingt jemanden bräuchte, um darüber zu reden. Wir vereinbaren einen Termin und sie lädt mich zum Abendessen in ihre Wohnung in Ludwigsburg ein, um anschließend in aller Ruhe über diese ganze Misere zu sprechen.

Als ich sie einige Tage später in ihrer Wohnung besuche, hat sie ein köstliches Abendessen vorbereitet und während ich es mir schmecken lasse, erzählt sie von der Dreieinigkeitsgemeinde. Alle Aktivitäten haben drastisch nachgelassen, seit ich die Gemeinde verlassen habe. Das umfangreiche Programm in der Erwachsenenbildung und viele Veranstaltungen hätten sie ohne mich nicht mehr durchführen können und mein Nachfolger habe sich um diese Aufgabe gar nicht gekümmert. Er habe ganz andere Schwerpunkte in der Kirchengemeinde gesetzt und somit sei das ganze Gemeindeleben so ziemlich eingeschlafen. Mit einer Kirchengemeinderätin und einigen ehrenamtlichen Mitarbeitern habe sie zwar noch versucht, ebenfalls eine mehrtägige Bildungsreise anzubieten, doch leider seien viel zu wenige Teilnehmer zusammengekommen, so dass sie die Reise dann hätten absagen müssen. Einige Gemeindemitglieder hätten den Kochkurs im Gemeindehaus, die Gymnastikgruppe und die Spieleabende noch eine Zeitlang fortgeführt, die vielen übrigen Angebote aber hätten sie nicht mehr auf die Beine stellen können, weil die ganze Organisation dieser Gruppen einfach mit viel zu viel Arbeit verbunden war. Mit all den vielen ehrenamtlichen Mitarbeitern die notwendigen Kontakte zu halten, um ein gutes Programm zu gestalten, habe sie einfach überfordert. Erst als ich weg gewesen sei, hätten sie gemerkt, wie viel Arbeitsaufwand dafür notwendig sei, um ein solch umfangreiches Halbjahresprogramm aufzustellen und tagtäglich auch durchzuführen.

Sie bedauert außerdem, dass dieses lasche Gemeindeleben in der Dreieinigkeitsgemeinde sich inzwischen auch sehr stark beim Gottesdienstbesuch bemerkbar mache. Früher habe man wenigstens noch gewusst, wenn der Chor der Dreieinigkeitskirche eine Orchestermesse aufführte, dass ich dann vom Pfarrer als Prediger eingesetzt wurde, und dieser Gottesdienst von vielen Katholiken aus der ganzen Stadt gut besucht wurde. Auch beim Gemeindefasching im Gemeindehaus waren früher alle drei Säle gerammelt voll und es wurde bis zum Morgengrauen fröhlich gefeiert. Dagegen werde jetzt aufgrund der schwachen Beteiligung die Faschingsveranstaltung schon abends um 11:00 Uhr beendet. Ich muss gestehen, dass ihr Bericht mir einerseits innerlich gut tut, wenn ich höre, dass meine Arbeit in der Dreieinigkeitsgemeinde im Nachhinein immer noch sehr geschätzt wird, andererseits bedaure ich es, dass diese gemeinschaftsbildenden Aufgaben von meinem Nachfolger nicht übernommen wurden und inzwischen eingeschlafen sind. Bei ihren Ausführungen muss ich sie allerdings nun dahingehend berichtigen, dass nicht der Pfarrer mich für die Predigt eingesetzt habe, wenn der Chor die musikalische Gestaltung der Gottesdienste übernahm, sondern dass der Chorleiter von Zeit zu Zeit ins Pfarrbüro kam und sich von der Sekretärin den Predigtplan geben ließ. Dann setzte er seine Orchestermessen immer auf diese Sonntage, an denen ich zum Predigtdienst eingeteilt war.

„Das war aber clever“, zieht sie überrascht über die Terminplanung des Kirchenmusikers ihre Schlüsse, „dann hat also der Chorleiter dafür gesorgt, dass seine Zuhörer bei seinen musikalischen Aufführungen gleichzeitig auch eine gute Predigt mitgeliefert bekamen? Das nenne ich Timing! So hat ja dann auch alles immer gut zusammengepasst! Gute Musik, gute Predigt, volles Haus!“, kommentiert sie diese schönen Erinnerungen an unsere vergangenen Zeiten. Doch nun leitet sie über auf ein ernsteres Thema:

„Ich hoffe, es hat dir geschmeckt? Dann wollen wir doch gleich an die Arbeit gehen.“

Schnell räumt sie das Geschirr auf ein Tablett und trägt es in die Küche hinaus. Als sie zurückkommt, holt sie das “Katholische Sonntagsblatt“ hervor, in dem von der Verleihung des päpstlichen Ehrenkreuzes an Frau Schwarz berichtet wurde.

„Ich habe mich fest dazu entschlossen, gegen diese himmelschreiende Ungerechtigkeit vorzugehen! Das lasse ich mir von diesen Prälaten im Bischöflichen Ordinariat nicht bieten!“, beginnt sie mit ihrem Vorhaben, bei dem ich ihr nun helfen soll, und erklärt, „ich habe mir auch schon ein paar Stichworte aufgeschrieben, denn ich möchte dem Bischof Natter einen Brief schreiben. Er soll nämlich wissen, was für Leute er in seiner ehrenwerten Kirchenbehörde hat, die wohl alle Ungerechtigkeiten dieser Welt so einfach hinnehmen und wegstecken. Schließlich kann es doch nicht sein, dass man einer Hauswirtschaftsleiterin der Diözesanakademie, einer Ehebrecherin, dass man der auch noch einen päpstlichen Orden verleiht! Diese Person hat doch nicht nur meine Ehe und meine Familie zerstört, sondern hat dazu noch ihre eigene Ehe gebrochen. Und solch eine Person hat jetzt von der katholischen Kirche diesen päpstlichen Orden bekommen? Das päpstliche Ehrenkreuz! Das ist doch nicht zu fassen! Zu Kreuze soll sie kriechen und diese ganze bischöfliche Bagage mit ihr! Diese scheinheilige Klerikerbande!“, ereifert sich Frau Ecker und liest mir nochmals den Passus vor, den sie unterstrichen hat:

„Stellvertretend für alle, die in der Diözese in aller Stille hauswirtschaftliche Dienste leisten und unter anderem für das leibliche Wohlergehen vieler Menschen verantwortlich sind“.

„Da hätte man doch auch jede andere Hauswirtschafterin in der Diözese nehmen können und nicht ausgerechnet dieses liederliche Frauenzimmer, die rücksichtslos nur ihre eigenen Interessen verfolgt. Aber warte! Denen werde ich es zeigen, und sie, lieber Herr Zeil, werden mir dabei helfen“, sagt sie fest entschlossen in ihrer charmant resoluten Art und fügt sogleich fragend und zugleich fordernd hinzu: „Das hoffe ich doch, oder nicht?“

„Aber ja doch“, füge ich lächelnd hinzu, „deswegen bin ich ja auch hier. Nur muss ich noch genau wissen, was ich eigentlich tun soll.“

„Warten Sie es ab“, spannt sie mich weiterhin auf die Folter, „diese Ehebrecherin wird also stellvertretend ausgezeichnet für andere, die in aller Stille ein geordnetes Leben führen? Vermutlich haben viele andere mindestens genauso viel, wenn nicht noch mehr geleistet als diese Frau Schwarz. Nach meinem Rabatz, den ich damals im Bischöflichen Ordinariat gemacht habe, müssen alle, aber restlos alle davon erfahren haben, einschließlich der Akademiedirektor König, dass diese Frau Schwarz eine außereheliche Beziehung mit meinem Mann unterhält. Ich bin mir ganz sicher, dass alle von ihrem Techtelmechtel gewusst haben! In diesem Tratschverein spricht sich doch so etwas ohnehin sehr schnell herum. Aber wenn es dann ums Pöstchengeschacher geht und um Ehrungen, dann kennen diese scheinheiligen Herren ja keine Grenzen. Sollen sie doch wenigstens solche Frauen auszeichnen, die wirklich 'in aller Stille' gute Arbeit leisten und nicht ausgerechnet dieses Weibsbild. Aber denen in der Akademie geht es doch bei ihren Ordensverleihungen nur darum, dass sie selbst bei solch einer Veranstaltung ebenfalls immer im Rampenlicht stehen. Und dazu eignet sich dann doch eine Hauswirtschafterin der Diözesanakademie wesentlich besser als eine von einem kleinen Tagungshaus auf der Schwäbischen Alb oder im Oberland. Lieber Herr Zeil, deshalb habe ich einen Brief an den Bischof vorbereitet, den Sie am besten jetzt mal in aller Ruhe durchlesen, solange ich in die Küche gehe und dort vollends aufräume.“

Sie gibt mir das Schreiben, das von ihr bereits in Maschinenschrift geschrieben wurde und zieht sich in die Küche zurück. Ich gehe in ihrem Wohnzimmer zur Sitzgruppe, setze mich in einen Sessel und lese ihren Brief, den sie an den Bischof adressierte. Dabei korrigiere ich einige Sätze, ergänze manches, um es noch etwas verständlicher zu formulieren, ohne zu sehr ihren Stil und ihre Ausdrucksweise zu verändern. Nach einer Weile kommt Frau Ecker aus der Küche und bietet mir etwas zu trinken an. Anhand ihrer Stichworte, die sie auf einem Zettel notiert hatte, nehmen wir die einzelnen Inhalte des Briefes nochmals durch und ergänzen ihn in einigen Punkten, wo sie sich unsicher war, ob sie solche Forderungen überhaupt stellen kann. Ich aber mache ihr Mut und ermuntere sie, vor nichts mehr zurückzuschrecken. Da sie sich selbst ja nichts zu Schulden kommen ließ und ihre Anklage berechtigt ist, könne sie aufgrund des Versagens der kirchlichen Behörden auch entsprechend auftreten. Erneut formulieren wir einige Sätze um und zum Schluss lasse ich sie den Brief nochmals vorlesen:

Betr.: Verleihung des päpstlichen Ehrenkreuzes „Pro Ecclesia et Pontifice“ an Frau Veronika Schwarz, Akademie Hohenheim

Sehr geehrter Herr Bischof Dr. Natter,

mit Erstaunen las ich den Artikel über die Verleihung des päpstlichen Ehrenkreuzes an Frau Schwarz im Sonntagsblatt, den ich erst Ende Januar dieses Jahres in die Hände bekam.

Anfrage: Wer ist für die Vergabe dieser päpstlichen Auszeichnung verantwortlich? Wer schlägt die auszuzeichnenden Personen vor?

Es ist wirklich paradox, dass auf der einen Seite unser Heiliger Vater die Moral über alles stellt (besonders, was die Unantastbarkeit der Ehe als Sakrament betrifft), und auf der anderen Seite wird eine Ehebrecherin in seinem Namen ausgezeichnet. Auch wenn diese Auszeichnung in erster Linie die Arbeit von Frau Schwarz würdigt, sollte doch in einem christlichen Hause das Umfeld dieser Frau nicht außer Acht gelassen werden. Ich glaube nicht, dass „die christliche Gastfreundschaft“ auch die Privatsphäre anderer kirchlicher Mitarbeiter mit einbezieht. Denn als mein Mann beruflich in der Akademie zu tun hatte, wusste Frau Schwarz sehr geschickt in meine Ehe einzubrechen. Es ist ja auch relativ einfach, sich in eine stark kriselnde Ehe einzuschleichen und unter christlichem Aspekt die Rolle der Trösterin zu übernehmen.

Als ich selbst die Dienste dieses gastlichen Hauses in Anspruch nehmen wollte, wurde ich durch Zufall mit der Tatsache konfrontiert, dass sich zu diesem Zeitpunkt Frau Schwarz mit meinem Mann im Bayerischen Wald im Urlaub befand. Ob die beiden im gemeinsamen Apartment nur Händchen gehalten haben?? Das wage ich doch stark zu bezweifeln, denn dazu kenne ich meinen Mann zu gut.

Mich wundert es inzwischen auch nicht mehr, dass Frau Schwarz offiziell immer noch mit ihrem Ehemann auftritt, denn sonst kommt man ja nicht so zu Ruhm und Würden!!

Im Leben der Familie meines Mannes, meiner Kinder und ehemaliger Nachbarn ist Frau Schwarz allerdings Realität geworden.

Wegen dieser Frau betrieb mein Mann über Monate hinweg „Psychoterror“ mit mir, so dass ich schließlich, um zu überleben, gesundheitlich völlig am Ende das Feld räumen musste.

Ich verlor nicht nur meine Familie, mein Zuhause, sondern auch meinen Beruf als Katechetin, den ich mir über den zweiten Bildungsweg mit 40 Jahren ermöglichte.

Da ich von 670 DM netto im Monat nicht leben konnte und mein Mann nicht bereit war, mir Unterhalt zu zahlen, musste ich nach 25 Jahren in meinen früheren Beruf, den ich bei der Geburt meines ersten Kindes aufgab, zurück. Was das heißt, brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen.

Weder mein Gemeindepfarrer, mein Schuldekan, meine für mich zuständige Diözesanreferentin noch das Bischöfliche Schulamt in Rottenburg waren bereit, mir zu helfen – allen war aber diese prekäre Situation bekannt. Selbst Herr Prälat Riefenbucher (ehemaliger Chef von Frau Schwarz, dann Chef meines Mannes) hat nichts unternommen, obwohl ich ihm in einem persönlichen Gespräch meine Misere schilderte.

Ich weiß, dass unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit in unserer Kirche einiges möglich ist. Ich aber war wohl nicht „sündig“ genug, damit mir Hilfe zuteil werden konnte??

Ich erwarte innerhalb von vier Wochen eine Antwort von Ihnen, ansonsten werde ich die Öffentlichkeit über diesen Vorfall informieren, denn nun ist das Maß des Erträglichen voll.

Mit freundlichen Grüßen,

Hildegard Ecker

Um ihrer Sache Nachdruck zu verleihen, schickt Frau Ecker diesen Brief nicht nur an Bischof Natter in Rottenburg, sondern auch an den deutschen Kardinal Benzinger in Rom. Ob sie eine Abschrift auch an weitere kirchliche Würdenträger gesandt hat und ob sie jemals von ihnen eine Antwort bekam, entzieht sich meiner Kenntnis. Denn mit meiner Arbeit bin ich im Katharinenhospital genug ausgelastet und habe keine Zeit mehr dafür, mich über diese pikante Angelegenheit von Frau Ecker zu erkundigen.

Vorsorglich hatte ich ihr jedoch keine großen Hoffnungen gemacht, dass sie auf ihren Brief vom Bischöflichen Ordinariat eine nennenswerte Reaktion erhalten würde. Denn wie ich von vielen anderen ähnlich gelagerten Fällen gehört habe, gehen die Herren im Bischöflichen Ordinariat auf derart unangenehme Schreiben nicht sonderlich ein oder antworten erst gar nicht darauf. Vor allem dann nicht, wenn das Handeln ihrer eigenen Würdenträger kritisiert wird. Denn durch ein Antwortschreiben wäre zumindest ja der Beweis schon geliefert, dass die geäußerte Kritik bei ihnen angekommen ist und sie diese somit zur Kenntnis genommen haben. Um sich mit derart unangenehmen Dingen aber erst gar nicht auseinandersetzen zu müssen, werden von ihnen solche Schreiben geflissentlich ignoriert, bis der ganze Unmut verpufft und der Protest ins Leere gelaufen ist. Außerdem kenne ich Pfarrer Fauser und den kirchlichen Schuldekan Krätzer sehr gut, ebenso Prälat Riefenbucher, die damals wohl viel zu feige waren, ihr zu helfen. Die Strategie des Ordinariats bestand zu dieser Zeit ja darin, möglichst viele Katechetinnen lediglich mit einem kleinen Deputat von etwa zehn Religionsstunden zu beschäftigen, damit man sie nicht nach einer gewissen Zeit, wie es der Gesetzgeber vorschreibt, als Vollzeitkraft übernehmen muss, und sie somit auch jederzeit wieder problemlos entlassen konnte. Doch von einem solch kleinen Gehalt konnte Frau Ecker ja nicht leben, als sie geschieden wurde. Deshalb ging sie zu Pfarrer Fauser, ebenso zum kirchlichen Schulrat, sprach auch mit der zuständigen Diözesanreferentin und zusätzlich noch mit Prälat Riefenbucher, um sie dringend um einen vollen Lehrauftrag in der Schule zu bitten. Allen hatte sie ihre ausweglose Situation geschildert. Niemand von ihnen ist ihr zur Seite gestanden, obwohl sie sich seit vielen Jahren sehr stark in der Dreieinigkeitsgemeinde engagiert hatte. Pfarrer Fauser hielt zwar immer brav seine Gottesdienste, Beerdigungen, Trauungen, Taufen und Gemeinderatssitzungen ab, jedoch in außergewöhnlichen Situationen, in denen kreatives Denken und Handeln gefordert ist, reagierte er äußerst unsicher und konnte nie handfeste Entscheidungen treffen.

Ebenso der Schulrat, der mir gleich zu Beginn meiner Zeit in Ludwigsburg mit seinem ausgesprochen mangelhaften Organisationstalent aufgefallen war. Auch er war sehr unflexibel und reagierte äußerst unbeholfen. Obwohl er schon lange wusste, dass ich als Pastoralreferent nach Ludwigsburg kommen würde, schob er mir einfach die restlichen Religionsstunden zu, die er anderweitig nicht mehr unterbringen konnte. So hatte ich damals acht Religionsstunden in der Elly-Heuss-Knapp-Realschule, zwei im Schiller-Gymnasium und zwei in der Uhland-Grundschule abzuhalten und zwar alle Stunden derart auseinandergerissen, auf morgens und nachmittags verteilt, die ganze Woche über, so dass ich zwischen den einzelnen Schulstunden immer mehrere Stunden frei hatte und in der ganzen Stadt ständig kreuz und quer von der einen Schule zur anderen gehen musste. Dass ein solcher Schulrat nicht auf die persönlichen Anliegen einer Katechetin eingehen kann, um ihr einen vollen Lehrauftrag zu verschaffen, kann ich bestens verstehen.

Und Prälat Riefenbucher? Schon damals konnte ich im Bischöflichen Ordinariat beobachten, wie er unterwürfig und ehrerbietig um den Bischof Natter herum schwänzelte, als ich als Vorstand unseres Berufsverbandes darum kämpfte, damit uns die Predigterlaubnis in den Sonntagsmessen nicht entzogen werde, wie es vom Vatikan gefordert wurde. Unzählige Male hat Riefenbucher sich vor dem Bischof verbeugt und ist um ihn herumgeschlichen wie ein feiger Hund, der Angst hat. Aus seinem devoten Verhalten konnte ich bestens ablesen, dass für Riefenbucher nur solche Menschen wichtig sind, die Macht und Ansehen genießen. Alle anderen sind für ihn bedeutungslos und sind es nicht wert, dass er sich um sie bemüht.

Doch nun hat sich die Lage bei Frau Ecker gründlich geändert. Nach der Scheidung von ihrem Mann ist sie in ihren früheren Beruf zurückgegangen und erhielt bei ihrem ehemaligen Betrieb, in dem sie viele Jahre gearbeitet hatte, wieder eine Vollzeitstelle. Von der Kirche ist sie jetzt unabhängig, weshalb sie nun frei und selbstbewusst den Herren im Bischöflichen Ordinariat gegenübertreten kann. Diesen Vorteil gilt es nun auszuspielen. Sie kann dem Bischof nun auch damit drohen, mit ihrem Wissen über die privaten Verhältnisse von Frau Schwarz an die Öffentlichkeit zu gehen. Dadurch könnte sie die öffentliche Auszeichnung einer Ehebrecherin mit dem päpstlichen Ehrenkreuz zur Farce und möglicherweise sogar zu einem handfesten Skandal werden lassen. Denn nun ist sie nicht mehr als Katechetin mit einem Teilzeitjob im Dienste der Kirche beschäftigt, sondern arbeitet wieder in einem Beruf in der freien Wirtschaft.

Wenige Wochen später ruft Frau Ecker mich erneut an. Das Problem, das ihr jetzt zu schaffen macht, ist die Nachricht, die sie von ihrer Firma erhalten hatte. Die Ludwigsburger Filiale, in der sie jetzt arbeitet, wird nach Heilbronn verlegt. Da sie aber Ludwigsburg nicht verlassen will und nicht täglich bis nach Heilbronn zur Arbeit pendeln möchte, kommt ihr nun wieder ihre Ausbildung als Katechetin in den Sinn, jedoch nur unter der Bedingung, dass sie diesen Beruf in einem Vollzeitjob ausüben kann. Immer noch schwärmt sie von ihren Kindern im Religionsunterricht, denn das war ihr Traumberuf, dem sie sehr gerne nachging. Den Beruf, als Katechetin zu arbeiten, liebt sie immer noch über alles.

Damit sie ihr Ziel aber erreichen kann, gebe ich ihr den Rat, es tunlichst zu vermeiden und irgend jemandem in ihrer Umgebung davon zu erzählen, dass die Filiale, in der sie jetzt arbeitet, demnächst geschlossen werden soll. Denn das dürften keinesfalls die Herren im Ordinariat erfahren, da ansonsten ihr Verhandlungsspielraum sehr eingeschränkt wäre. Würde das Bischöfliche Ordinariat nämlich tatsächlich auf ihren Brief reagieren und ein Referent oder Prälat sich bei ihr telefonisch melden, dürfe sie keinesfalls als Bittstellerin auftreten und untertänigst um eine Stelle bitten, sondern dann müsse sie unbedingt strikt ihren Wunsch einfordern. Doch wie viele gutgläubige katholische Kirchgängerinnen ist Frau Ecker von Kind auf äußerst obrigkeitshörig erzogen worden. Deshalb hat sie die Angewohnheit, allen kirchlichen Würdenträgern sehr ehrlich und respektvoll gegenüberzutreten. Als ich ihr diese Konsequenzen klarmache, reagiert Frau Ecker äußerst ängstlich und fürchtet jegliche persönliche Konfrontation mit einem Vertreter des Ordinariats. Sie bittet mich inständig, dass ich doch bitte diese Aufgabe für sie übernehmen solle, da ich mit diesen Herren doch viel besser umgehen könne. Zaghaft stammelt sie ins Telefon:

„Mit diesen Herren kann ich doch nicht reden! Das kann ich nie, mit solch hohen Herren zu verhandeln, das ist für mich ja ein Alptraum! “

Vehement sträubt sie sich, als sie nun die Konsequenzen ihres Briefes erkennt. Doch ich erkläre ihr, dass es jetzt vor allem von ihrem Verhandlungsgeschick abhänge, ob sie in der Kirche eine volle Arbeitsstelle bekommen werde oder nicht. Sie müsse das eben nur wollen. Um sie zu beruhigen, verspreche ich ihr, dass ich ihr helfen und sie auf das Gespräch mit dem Referenten vom Bischöflichen Ordinariat vorbereiten werde, falls ihr tatsächlich ein Gespräch in Aussicht gestellt werden sollte. Somit könne sie sich schon einmal mental besser darauf einstellen und wisse, was für sie verhandelbar ist und was nicht. Wir verbleiben dabei, dass sie mich verständigen solle, sobald sich jemand vom Bischöflichen Ordinariat bei ihr meldet. Einigermaßen beruhigt verabschieden wir uns und ich hoffe, dass sich diese Angelegenheit bald zum Positiven wendet.

Bibelkästen-Aktion

Wieder einmal sitzen die evangelischen Kollegen mit Arno und mir zusammen, um in unserer ökumenischen Team-Besprechung über einige Punkte zu beraten. Als ich vor rund sieben Jahren ins Katharinenhospital kam, gab es über Jahre hinweg auf evangelischer Seite ebenfalls nur zwei Seelsorger. Stolzenburg aber verdoppelte seinen Mitarbeiterstab mit einer Vikar-Stelle, die jährlich neu besetzt wird, außerdem ließ er sich eine weitere halbe Pfarrstelle genehmigen mit der Begründung, dass er als Vorsitzender der evangelischen Klinikseelsorger und als Ausbilder dieser Vikarin unbedingt eine weitere Unterstützung benötige, obwohl sie wochenlang auf irgendwelchen Fortbildungen ist. Was sein Vorgänger so nebenher bewältigte, muss Stolzenburg nun delegieren. Deshalb ist er ständig darum bemüht, möglichst viele Mitarbeiter um sich zu scharen, damit er sie mit Aufgaben beschäftigen kann, die er eigentlich selbst tun könnte. Für dieses Rekrutieren von Mitarbeitern investiert er unendlich viel Zeit. So hält er regen Kontakt zu den verschiedensten Prälaten im Oberkirchenrat und nimmt an vielen Sitzungen auf Dekanatsebene teil, ebenso hat er ständig Termine in der Kirchenpflege und im Oberkirchenrat. Denn so, wie er sich in der Kantine des Katharinenhospitals beim Mittagessen immer an den Tisch der Chefärzte setzt, um mit ihnen quasi „standesgemäß“ zu speisen und gute Beziehungen zu ihnen zu pflegen, so sieht er es als seine Hauptaufgabe an, gute Kontakte zu wichtigen Persönlichkeiten und zu allerlei Gremien in seiner evangelischen Landeskirche zu pflegen. Nicht die Seelsorge an sich ist ihm wichtig, sondern vor allem das Netzwerk in der Gesellschaft, wo er mit möglichst vielen Menschen in Kontakt kommen möchte, um bei Bedarf auf sie zurückgreifen zu können. Wie ich schon oft vom Pflegepersonal gehört habe, sei es nicht seine Stärke, die Patienten in ihren Zimmern zu besuchen und sie in ihrer Not oder beim Sterben zu begleiten. Oft werde ich vom Pflegepersonal zu einem Sterbenden gerufen und muss dann am Krankenbett feststellen, dass der Patient evangelisch ist. Wenn ich die Pflegekräfte nach diesem Krankenbesuch dann höflich darauf hinweise, dass für diesen Patienten doch der Kollege Stolzenburg zuständig gewesen wäre, bekomme ich häufig zur Antwort:

„Ach der! – Der hält ja drei Meter Abstand von jedem Patienten! Bei dem hat man doch den Eindruck, dass er sich überall nur wichtig machen will und dann sofort wieder so schnell wie möglich aus dem Krankenzimmer verschwindet. Da rufen wir doch lieber Sie an, dann sind wir sicher, dass die Schwerkranken und die Angehörigen auch gut betreut werden.“

Jetzt aber sitzen wir wieder in unserem ökumenischen Seelsorgeteam zusammen, um die neuesten Veränderungen in unserer Klinik zu besprechen. Diesmal bringt Stolzenburg einen Vorschlag, den er auf einer Tagung von einem Kollegen gehört habe. Dieser ließ angeblich in seinem Krankenhaus auf jeder Krankenstation auf dem Flur ein kleines Holzkästchen an der Wand anbringen, um darin Bibeln und andere besinnliche Bücher für die Patienten auszulegen. Dieses Angebot fände er für unsere Patienten ebenfalls nachahmenswert und plädiert nun in unserer Runde dafür, dass wir hier im Haus ebenfalls solche Kästchen in den Krankenstationen anbringen lassen sollten. Er habe mit vielen Chefärzten bereits gesprochen, die damit einverstanden wären, so dass wir nur noch die entsprechende Literatur bestellen müssten. Die Bibeln, die er bereits bestellt habe, seien jedoch alle in Leinen gebunden und müssten aus hygienischen Gründen mit einer abwaschbaren Selbstklebefolie eingebunden werden. Er schlage deshalb vor, dass wir wie üblich die Kosten für die Anschaffungskosten der Bücher je zur Hälfte zwischen der evangelischen und katholischen Klinikseelsorge aufteilen sollten. Ebenso müsste der Arbeitsaufwand zum Einbinden der Bibeln mit Selbstklebefolie je zur Hälfte zwischen der katholischen und evangelischen Seelsorge aufgeteilt werden.

Obwohl ich mir bewusst bin, dass mit dieser Aktion wieder viel Arbeit auf mich zukommen wird, halte ich mich bei dieser Diskussion zurück, da ich unsere nicht gerade angenehme Zusammenarbeit in unserem Team nicht noch weiter verschlechtern möchte. Wie es aussieht, hat Stolzenburg vor dieser Sitzung auch diese Aktion wieder mit seinen Kolleginnen abgesprochen, so dass wir von der katholischen Seite nicht mehr viel entgegensetzen können. Die Kosten und der Arbeitsaufwand werden wie üblich je zur Hälfte zwischen der katholischen und evangelischen Seelsorge aufgeteilt und wie es bei Arno meistens bei unseren Team-Sitzungen der Fall ist, kann er auch diesmal bis zum Schluss nicht hierbleiben, da er schnell zum Hauptbahnhof eilen muss, um rechtzeitig seine S-Bahn nach Schorndorf zu erreichen. Schließlich muss er seine Mutter mit dem Mittagessen versorgen und das erfordert auch von uns eine gewisse Rücksichtnahme. Im Anschluss dieser Team-Sitzung übergibt mir die Kollegin Rallinger drei Kartons mit rund dreißig Bibeln, die Arno und ich mit der beigefügten selbstklebenden Klarsichtfolie einbinden sollen. Ich trage die drei Kartons in unser Büro hinüber, das ich mit Arno teile, und nehme mir vor, die Arbeit in den nächsten Tagen zu erledigen.

Am nächsten Morgen zeige ich Arno, welche Arbeit wir aufgrund unseres gestrigen gemeinsamen Beschlusses uns aufgeladen haben. Als Arno die drei Kartons mit den rund dreißig Bibeln sieht, will er nun von der bevorstehenden Arbeit nichts mehr wissen. Mit dem Argument, dass er total überlastet sei, weil er in anderen Gemeinden noch einige Gottesdienste übernehmen und zu Hause seine Mutter pflegen müsse, könne er beim besten Willen nicht noch zusätzlich diese Bibeln in Klarsichtfolie einbinden. Dieses Verhalten ist wieder typisch Arno. Bei einem Beschluss, der viel Arbeit mit sich bringt, erst zustimmen, sich dann aber wegen anderer Verpflichtungen aus dem Staub machen. So sehr mir seine Drückebergerei auch gegen den Strich geht, um des lieben Friedens willen übernehme ich in den kommenden Wochen auch seinen Arbeitsanteil und binde abends nach meinen Patientenbesuchen, wenn ich noch Zeit dafür habe, unseren katholischen Anteil der Bibeln ein, für den wir laut Team-Beschluss zuständig sind. Die evangelischen Kollegen können diese zusätzliche Arbeit sehr leicht zu viert bewältigen, ich dagegen muss alles alleine machen und sitze viermal länger an dieser stupiden und langwierigen Einbinderei als mein Kollege Stolzenburg mit seinen drei Kolleginnen von der anderen Fakultät. Und Arno, der vom Umfang her genau die gleiche Patientenanzahl zu versorgen hat wie ich, klinkt sich bei solchen Arbeiten mit allerlei Ausreden einfach aus, obwohl er beim Beschluss zu dieser Aktion genau wie alle anderen zugestimmt hatte.

In den folgenden Tagen treffe ich nun ständig die drei evangelischen Kolleginnen in unserem gemeinsamen Büro an, wenn ich den Anrufbeantworter abhören muss. In gemütlicher Runde sitzen sie beisammen, trinken nebenbei Kaffee oder Tee und binden ihre Bibeln ein. Bereits nach wenigen Tagen sind sie fertig, lediglich sieben Bibeln lassen sie in einem Karton neben dem Schreibtisch stehen, es ist der Anteil, den Stolzenburg noch einbinden muss. Nach etwa drei Wochen bin ich mit meinem Anteil ebenfalls fertig und stelle die eingebundenen Bibeln zu den anderen hinzu, die in unserem gemeinsamen Seelsorgezimmer von den Kolleginnen eingebunden wurden. Der Karton aber mit den sieben unbearbeiteten Bibeln steht weiterhin wochenlang unberührt neben dem Schreibtisch. Doch eines Tages steht er auf dem Schreibtisch, ist mit einem Zettel versehen, worauf die Kollegin Rallinger handschriftlich dem Kollegen Stolzenburg Folgendes mitteilt:

„Lieber Peter, wir haben unseren Teil der Bibeln eingebunden, den Rest musst du machen.“

Doch der Karton bleibt weiterhin mitten auf dem Schreibtisch stehen. Stolzenburg scheint nicht daran zu denken, sich an die Arbeit zu machen und seinen Teil der Bibeln einzubinden, obwohl er diese Aktion initiiert hatte. Nach einigen Tagen rücke ich den Karton ein bisschen auf die Seite, damit ich besser die Mitteilungen auf dem Schreibtisch notieren kann, die ich vom Anrufbeantworter abhöre. Weiterhin bin ich aber gespannt, wie diese Sache mit dem Bibel-Karton weitergehen wird. Unverrichteter Dinge bleibt er wochenlang stehen, der Zettel wird irgendwann entfernt und nach wenigen Tagen durch einen neuen ersetzt. Doch der Karton bleibt wie angewurzelt auf dem Schreibtisch und scheint für alle der sichtbare Ausdruck einer kleinen Machtprobe zu sein, die sich zwischen den evangelischen Kolleginnen und dem evangelischen Kollegen Stolzenburg angebahnt hat. Auch Arno ist gespannt, wie dieses Spielchen weitergeht und grinst mir vielsagend zu, wenn wir uns zufällig in unserem gemeinsamen Büro begegnen. Auch den evangelischen Kolleginnen bleibt nicht verborgen, dass wir katholische Kollegen durchaus mit Interesse dieses Machtspielchen beobachten. Sie lassen ungebremst ihren Unmut über ihren Kollegen Stolzenburg heraus und zeigen mit ihren aggressiven Blicken, dass diese frauenfeindliche Männergesellschaft in der Kirche hier an diesem Karton mal wieder deutlich sichtbar wird. Deshalb behandeln sie auch mich und Arno ebenfalls äußerst schnippisch, obwohl ich doch unseren Teil widerspruchslos erledigt habe. Doch das zählt anscheinend nichts, trotzdem werden auch wir katholische Kollegen quasi in „Sippenhaft“ genommen, weil Männer sich gewöhnlich für solche niederen Arbeiten, wie Bücher einbinden, einfach zu gut sind. Dass ich meine Aufgabe voll und ganz erfüllt habe, spielt bei ihnen wohl keine Rolle.

Eines Tages, als ich wieder in unser gemeinsames Büro komme, sitzt die Vikarin missmutig am Couchtisch und bindet die restlichen sieben Bibeln in Klarsichtfolie ein. Mit hochrotem Kopf ignoriert sie mich und erwidert auch nicht meinen Gruß. Ihr bockiges Verhalten aber verrät mir, dass sie sich dem Wunsch ihres „Chefs“ fügen und diese Arbeit jetzt für ihn übernehmen musste. Da sie nach ihrer Ausbildungszeit von ihm eine Beurteilung benötigt, kann sie sich natürlich nicht gegen seine Anordnung sträuben. Bisher hatte er sie immer äußerst bevorzugt behandelt. Im neuesten Klinikseelsorge-Prospekt durfte sie als Klinikseelsorgerin am Krankenbett posieren, wie sie sich einem Patienten zuwendet, mit dem Redakteur unserer Hauszeitschrift durfte sie zusammen mit Stolzenburg ein Interview führen und auch sonst stellte er sie überall als „Pfarrerin“ vor. Doch jetzt muss sie seine Bibeln in Klarsichtfolie einbinden und wird in dieser Situation von mir auch noch ertappt! Dass sie meinen Gruß nicht erwidert und ihr die blanke Wut ins Gesicht steigt, als sie mich sieht, zeigt mir, dass es zwischen ihr und Stolzenburg eine Auseinandersetzung gab. Doch von den drei evangelischen Kolleginnen war sie nun mal das schwächste Glied, das bei diesem Machtkampf wohl nachgeben musste. Stolzenburg ließ sich also von seinen Kolleginnen nicht dazu zwingen, dass auch er seinen Anteil an der Arbeit für die Bibelkästen beitragen muss, obwohl er diese Aktion selbst angeleiert hatte. Dass aber die Vikarin Rink nun ausbaden muss, was sich zwischen ihm und seinen evangelischen Kolleginnen über Wochen hinweg hochgeschaukelt hatte, treibt ihr die geballte Wut ins Gesicht. Und so, wie sie mich jetzt anschaut, kann ich mit Sicherheit davon ausgehen, dass sie ihre aufgestaute Aggression künftig an mir auslassen wird, weil ich das alles nun hautnah mitbekommen habe. Als angehende „Pfarrerin“ lässt sie sich diese Blamage nicht bieten, obwohl ich zu ihrem Dilemma ja gar nichts beigetragen habe.

In der folgenden Zeit erzählt Arno mehr und mehr von seiner Mutter. Er ist ganz mit ihrer Pflege beschäftigt und befürchtet ständig, dass sie jeden Tag sterben und er sie bald verlieren könnte. Um ihn nicht noch mehr zu belasten, kann ich kaum mit ihm über meine Probleme reden und stelle mich ganz auf ihn ein. Ich konzentriere mich nur noch auf das Wesentliche und melde mich bei den ökumenischen Team-Sitzungen auch nur dann noch zu Wort, wenn es unbedingt notwendig ist. Arno besucht in der Klinik seine Patienten und fährt danach über die Mittagszeit mit der S-Bahn sofort nach Schorndorf. Da er kein eigenes Büro benötigt, teile ich auch weiterhin mit ihm mein Büro. Die evangelischen Kollegen dagegen residieren gleich nebenan jeweils einzeln in ihren eigenen Bürozimmern, ganz so, wie sie es sich gewünscht hatten. Solange Arno hier im Katharinenhospital mein Kollege ist, kann ich diese Situation noch gut ertragen. Er schätzt mich, weil er weiß, dass ich ordentlich arbeite und ist außerdem ein angenehmer Gesprächspartner. Allerdings will ich keinesfalls auf die vielfältigen Möglichkeiten verzichten, die sich mit unserer neuen Telefonanlage nun ergeben haben, die neu in unserem Krankenhaus installiert wurde. Denn jetzt besteht auch die Möglichkeit, dass jeder Seelsorger sich eine separate Telefonnummer mit eigener Anrufbox freischalten lassen kann. Doch als ich diese Möglichkeit in unserer Team-Sitzung auf die Tagesordnung bringe, ist Stolzenburg sofort dagegen. Er will keinesfalls unsere gemeinsame Telefonnummer aufgegeben mit der Begründung, dass diese Nummer schon bestens bekannt sei und jede Änderung für die Klinikseelsorge nicht gut sei. In unserem Seelsorgeteam entspinnt sich eine langwierige und zähe Auseinandersetzung. Doch Stolzenburg sträubt sich mit aller Macht dagegen. Er will unbedingt die bisherige gemeinsame Rufnummer beibehalten. Sein eigentlicher und unausgesprochener Grund ist jedoch allen klar. Nur mit einer gemeinsamen Rufnummer kann er weiterhin tagelang vom Katharinenhospital wegbleiben, da er ja weiß, dass die anderen und vor allem ich regelmäßig den Anrufbeantworter abhöre. Hätte er jedoch eine eigene Nummer und würden die Patienten ihre Wünsche, die ihn betreffen, künftig auf seine Anrufbox sprechen, dann käme sehr schnell ans Tageslicht, dass er kaum regelmäßig seiner Arbeit nachgeht. Da aber die neue Telefonanlage auch die Möglichkeit bietet, eine Anrufumleitung auf andere Kollegen zu schalten, plädiere ich dafür, dass trotzdem jeder eine eigene Rufnummer erhalten solle, damit möglichst jeder Seelsorger separat angerufen und bei seiner Abwesenheit durch die Anrufumleitung von einem anderen Kollegen vertreten werden kann. Doch auch diese Möglichkeit will Stolzenburg nicht akzeptieren. Er bringt für seine Verweigerungshaltung nie ein wirklich fundiertes Argument und lehnt auch diese Möglichkeit der Anrufumleitung ab. Er will offensichtlich bei seiner Abwesenheit keine seiner Kolleginnen fragen müssen, ob er seine Anrufe auf einen ihrer Telefonapparate umstellen darf. Die bisherige gemeinsame Rufnummer ist ihm lieber, denn somit kann er weiterhin seine lasche Arbeitsauffassung weiterbetreiben.

In diesem Punkt bleibe ich aber hartnäckig. Nach mehreren langwierigen Team-Sitzungen einigen wir uns schließlich darauf, dass wir zwei offizielle Telefonnummern einrichten lassen, eine für die katholische Seelsorge und eine für die evangelische Seelsorge. Somit können die Patienten und das Pflegepersonal wenigstens nun gleich von vornherein die Klinikseelsorger ihrer eigenen Konfession anrufen und ihnen eine Nachricht hinterlassen. Endlich ist es geschafft und ich muss doch tatsächlich nun nicht mehr ständig auch sämtliche Anrufe für die evangelischen Kollegen abhören und ihnen einen Zettel in ihr Fach legen oder ans Schwarze Brett hängen. Was mir bei dieser Trennung vor allem aber viel wichtiger war, ist die Tatsache, dass Stolzenburg jetzt keinen Zugriff mehr auf Anrufe hat, die mich betreffen. Er kann meine Nachrichten nun nicht mehr löschen.

Bei den übrigen Verhandlungspunkten dieser ökumenischen Team-Sitzung überlasse ich die Entscheidung den evangelischen Kollegen. Da ich von Arno in vielen Dingen keine Unterstützung erwarten kann, übernehme ich freiwillig die Aufgabe, unseren neuen Andachtsraum bautechnisch abzunehmen und besorge die Korrespondenz mit der Verwaltung bezüglich einiger Baumängel. Auch gewisse Änderungswünsche, die von meinen Kollegen angemahnt werden, bringe ich beim Bausachverständigen der Klinikverwaltung vor. Einige Decken-Strahler der Beleuchtungsanlage sind nicht richtig angeschlossen, die Mikrofon-Steckdosen wurden falsch installiert, eine Schranktür ist nicht abschließbar, das Notruf-Telefon funktioniert nicht und das Mischpult für die Sprechanlage und die Weiterschaltung unserer Gottesdienste in den Krankenhausfunk muss neu installiert werden. Denn an unseren Gottesdiensten wollen viele Patienten über den hausinternen Hörfunk teilnehmen, vor allem wenn sie nicht selbst in den Andachtsraum kommen können. Außerdem muss ich wegen einer Verbesserung der Belüftungsanlage mit dem Architekturbüro und der Bauleitung verhandeln, ebenso muss die schalldämmende Isolierung der Trennwand zum daneben liegenden Konferenzraum verbessert werden, denn im Andachtsraum ist jedes Wort, das nebenan gesprochen wird, während unserer Gottesdienste deutlich zu hören. Für viele andere Kleinigkeiten, die wir in unserem Seelsorgeteam besprechen, übernehme ich die Verantwortung und lasse sie ausführen. Am Waschbecken im Andachtsraum lasse ich einen Handtuchhalter anbringen, für die Osterkerze stelle ich meinen eigenen Kerzenständer von zuhause zur Verfügung, zwei neue Altartücher gebe ich in Auftrag und lasse sie nach Maß anfertigen, außerdem kaufe ich für den neuen Andachtsraum mehrere passende Blumenvasen. Aufgrund meiner früheren Verwaltungstätigkeit sind all diese Aufgaben für mich ein Kinderspiel.

Neue Aktivitäten

Da ich meine Orgel in den Andachtsraum transportieren ließ und daheim in meiner Wohnung nicht mehr spielen kann, nehme ich die Gelegenheit wahr, ab und zu während meiner Mittagspause im Katharinenhospital einige Bach-Präludien zu intonieren. Hier kann ich mein Instrument auch mit größerer Lautstärke erklingen lassen als zuhause und die Akustik dieses Raumes testen. Obwohl der Andachtsraum im Verhältnis zu einer Kirche ja nicht besonders groß ist, lässt sich trotzdem durch den variablen Nachhalleffekt meiner Orgel ein fantastisches Klangerlebnis erzeugen, so dass die Zuhörer den Endruck haben, sie würden in einer gewaltigen Kathedrale an einem Orgelkonzert teilnehmen. Diesen Nachhalleffekt habe ich zuhause in meinem Wohnzimmer sehr gerne eingestellt, wenn ich mit aufgesetztem Kopfhörer spielte. So konnte ich so manche Fuge von Bach oder andere Orgelstücke zum Besten geben und mich in meine Studienzeit zurückversetzen, als ich noch in München und in Jerusalem zum Teil in sehr großen Kirchen spielen konnte.

Doch hier im Katharinenhospital bietet sich nun die Gelegenheit, kleine Orgelkonzerte zu geben. Deshalb lade ich gelegentlich abends die Patienten zu meinen Musikdarbietungen ein. Sehr gerne nehmen sie diese Angebote an, wenn sie keine Besuche mehr haben und sind für solche besinnliche Orgelmusik dankbar. Für meine Orgelkonzerte erstelle ich jeweils ein Faltblatt, auf dem ich die einzelnen Werke kurz vorstelle und erläutere. Die unterschiedlichen Orgelstücke wähle ich jedes Mal so aus, dass ich die Vielseitigkeit meiner Orgel mit ihren unterschiedlichen Registern und umfangreichen technischen Raffinessen voll zum Einsatz bringen kann. Natürlich wären meine Konzerte auch für Stolzenburg und die evangelischen Kolleginnen eine gute Möglichkeit, meine Orgel mit ihren unterschiedlichen Klangfarben und Variationsmöglichkeiten kennenzulernen. Doch leider nimmt weder er noch eine der Pfarrerinnen diese Gelegenheit wahr, obwohl ich meine Konzert-Programme auch in unserem gemeinsamen Büro und auf allen Krankenstationen auslege. Sogar an allen Aufzügen der Klinik hänge ich Plakate auf und mache auf diese Konzerte aufmerksam. Doch leider lassen sich meine evangelischen Kolleginnen lieber meine Orgel von ihren evangelischen Organisten vorführen, die dieses Instrument eigentlich gar nicht richtig kennen, weil sie sich nie von mir in die vielfältigen Raffinessen einführen ließen. Dass sie mir dann trotzdem den Auftrag erteilen, bei derselben Orgelbau-Firma, die auch meine Orgel gebaut hatte, ein solches Instrument in Auftrag zu geben, grenzt fast an ein Wunder. Allerdings dauert es immerhin noch ein ganzes Jahr, bis die neue Orgel an uns ausgeliefert wird. Während dieser Zeit lasse ich aber meine Orgel im Andachtsraum stehen und stelle sie weiterhin auch dem Kollegen Stolzenburg und den evangelischen Pfarrerinnen für die Gestaltung ihrer Gottesdienste zur Verfügung.

Ansonsten konzentriere ich mich auf meine seelsorglichen Aufgaben, die mir bei meinen täglichen Patientenbesuchen ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen und anstrengender Konzentration abverlangt. Doch meine neue Herausforderung, auf die ich mich in meiner Freizeit nun zusätzlich einlasse, ist eine psychotherapeutische Ausbildung, die ich im Fachgebiet der „Logotherapie und Existenzanalyse“ in München beginne. Diese berufsbegleitende Ausbildung dauert fünf Jahre und ist so geplant, dass die Vorlesungen, die Blockseminare und Supervisionen zumeist an den Wochenenden von Freitagabend bis zum Sonntagnachmittag stattfinden. Bei dieser Ausbildung lerne ich anhand zahlreicher psychischer Krankheitsbilder viele unterschiedliche Ansätze der psychotherapeutischen Behandlungsmethoden kennen. In den zahlreichen Falldarstellungen müssen wir bei vielen praktischen Übungen das theoretisch erlernte Wissen und Können unter Beweis stellen, wobei auch Einheiten der Selbsterfahrung mit eingebunden werden, um zu kontrollieren, wie wir die erlebten Kriseninterventionen selbst verarbeiten. Bei dieser Ausbildung werden wir von erfahrenen Supervisoren begleitet, die unsere therapeutischen Gespräche anhand unserer Gesprächsprotokolle in den Nachbesprechungen überprüfen und korrigieren. Die Ausbildung wird ergänzt durch verschiedene Fachtagungen, in denen Vorträge über spezielle psychische Krankheitsbilder und ihre Behandlungsmöglichkeiten angeboten werden. Dabei werden vor allem die spezifischen logotherapeutischen Behandlungsmethoden vorgestellt und vertieft. In schriftlichen Seminararbeiten und Vorträgen müssen wir das erarbeitete Wissen und Können unter Beweis stellen und letztendlich mehrere schriftliche Prüfungen ablegen. Außerdem muss jeder Prüfungsabsolvent eine schriftliche Abschlussarbeit verfassen, um ein Behandlungszertifikat zu erhalten. Da ich im Katharinenhospital täglich mit sterbenden und trauernden Menschen zu tun habe, wähle ich aus diesem psychisch sehr belastenden Problembereich das Thema meiner Abschlussarbeit. „Das Phänomen der Trauer“ nenne ich meine schriftliche Arbeit, in der ich die speziellen Gesprächsmethoden und Möglichkeiten der Begleitung von Trauernden aufzeige. In meinem Arbeitsbereich habe ich viel Erfahrung zu diesem Thema gesammelt und muss mich dieser trauernden Klientel nun nur noch intensiver zuwenden, um entsprechende Erfahrungsberichte zu erstellen. Zu diesem Zweck biete ich im Katharinenhospital mehrere Trauerseminare an. Dabei gebe ich den trauernden Angehörigen die Möglichkeit, in einer Gruppe von zehn bis zwölf Teilnehmern über den Tod eines Angehörigen und über ihre Trauer zu sprechen. Somit können sie ihre schmerzvollen Gefühle besser bewältigen und zu einer neuen Sichtweise zu ihrem eigenen Leben gelangen. In fünfzehn Abenden können die Teilnehmer von ihrer persönlichen leidvollen Erfahrung berichten und ihrem schmerzvollen Verlust Ausdruck geben, ihn beweinen und beklagen, damit sie auf diese Weise ihre neue Situation bewältigen können. Durch einen Einführungsvortrag im Hörsaal des Katharinenhospitals, den ich in der Regionalpresse ankündige, mache ich auf mein Angebot aufmerksam und biete die Teilnahme an diesem Trauerseminar einer breiten Öffentlichkeit an. Durch diesen Vortrag können mich die potenziellen Seminar-Teilnehmer zunächst einmal unverbindlich kennenlernen. Somit wird ihnen die Möglichkeit geboten, erst einmal abzuwägen, ob solch ein Trauerseminar ihre Situation erträglicher machen kann, und sie können sich dadurch auch leichter entscheiden, ob sie sich dazu anmelden wollen oder nicht. Allerdings hatte ich bei der Planung meines Trauerseminars nicht mit einem solch großen Interesse gerechnet. Der Hörsaal des Katharinenhospitals, der mir von der Klinikverwaltung für diesen Vortrag zur Verfügung gestellt wird, ist brechend voll. Da sich gleich nach meinem Vortrag viele Interessenten bei mir anmelden möchten, starte ich aufgrund der hohen Nachfrage gleich mit zwei Trauerseminaren, weil ich niemanden abweisen will. Einigen Teilnehmern, die im Seminar von außergewöhnlichen Belastungen berichten, biete ich Einzelgespräche an, damit sie ihre schwere Krisensituation besser bewältigen können. Dabei lerne ich ausgiebig ihre innere Not und Verlassenheitsängste, sowie ihre existentiellen Sorgen und ihre zum Teil auch aufgestaute Wut besonders gut kennen, die ich als Erfahrungsberichte in meine schriftliche Abschlussarbeit mit einfließen lassen kann. Sehr interessant ist, was mir einige Teilnehmer berichten. Manche von ihnen haben auch im evangelischen Bildungshaus „Hospitalhof“ hier in Stuttgart schon an solch einem Trauerseminar teilgenommen, das vom evangelischen Dekan Kumpf zusammen mit einer Psychologin angeboten wurde. Allerdings konnten sie auf diesem Seminar ihr persönliches Schicksal und ihre Trauer kaum zur Sprache bringen, weil dieser Dekan Kumpf angeblich selbst sehr viel geredet und dieses Trauerseminar eher wie eine besinnliche Dichterlesung mit nachdenklichen Vortragstexten gestaltet habe.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739490151
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (März)
Schlagworte
Pastoralreferent Kirche Pfarrer Arbeitnehmerrecht Priester Schikanen Klinikseelsorge Mobbing Biografie Arbeitsplatz

Autor

  • Bernhard Veil (Autor:in)

Bernhard Veil absolvierte die mittlere Beamtenlaufbahn bei der Stadtverwaltung Aalen. Danach altsprachliches Abitur in Stuttgart, Theologiestudium in München und Jerusalem, Gemeindeseelsorger für Jugendarbeit und Erwachsenenbildung mit regelmäßigem Predigtdienst und Religionsunterricht in Böblingen und Ludwigsburg. Anschließend Klinikseelsorger in Stuttgart. Psychotherapeutische Ausbildung in München und Wien. Klinikseelsorger in Geislingen a.d.Steige und in vier Alten- und Pflegeheimen.
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Titel: Die Seelentöter – Band 4: Das Mobbing beginnt