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Die Seelentöter – Band 3: Klinikseelsorge in Stuttgart

Meine Erfahrungen in der katholischen Kirche - Band 3: Klinikseelsorge in Stuttgart

von Bernhard Veil (Autor:in)
234 Seiten
Reihe: Die Seelentöter, Band 3

Zusammenfassung

Im 3. Band der Reihe „Die Seelentöter“ wechselt Thomas, der als Pastoralreferent bisher in einer Kirchengemeinde gearbeitet hat, in die Klinikseelsorge. Sein katholischer Priesterkollege macht ihm den Einstieg nicht einfach. Sein Statusdenken und seine Profilierungssucht behindern ein gutes kollegiales Verhältnis, zumal dieser Priester und die beiden evangelischen Pfarrer der Auffassung sind, dass sie ihren neuen Kollegen als einen ihnen untergebenen Mitarbeiter behandeln dürfen. Von Seiten seiner Vorgesetzten im Bischöflichen Ordinariat kann Thomas keine Hilfe erwarten, zumal das gesamte kirchliche Denken und Handeln sich ohnehin nur um das Priesteramt dreht und dieser Sichtweise alle kooperative Zusammenarbeit untergeordnet werden muss. Sie alle stehen auf dem Standpunkt, dass dem Priester und den Pfarrern zugearbeitet werden müsse ganz gleich, wie sie mit ihren Mitarbeitern umgehen. Eigenverantwortliches Arbeiten ist deshalb nur sehr bedingt möglich, außerdem bleiben sämtliche Mitarbeiterrechte auf der Strecke, da in Deutschland für die Kirchen das Betriebsverfassungsgesetz keine Gültigkeit hat, das jedem Arbeitgeber eine klar geregelte Fürsorgepflicht für ihre Arbeitnehmer vorschreibt. Jegliches eigenständige Denken und Handeln kann somit von den Priestern und Pfarrern torpediert und autoritär unterbunden werden. Als der Vatikan auch noch die Predigterlaubnis der sogenannten „Laientheologen“ gravierend einschränkt, wird die kollegiale Zusammenarbeit zwischen Thomas und seinen Priester- und Pfarrerkollegen unerträglich.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort

Unter der Reihe „Die Seelentöter“ berichte ich von meinen Erfahrungen, die ich als Mitarbeiter in der katholischen Kirche erlebt habe. Damit der Focus der beschriebenen Personen nicht nur auf Priester, Pfarrer und sonstige Kleriker gerichtet ist, habe ich auch mehrere Episoden aus meinem Leben und Werdegang hinzugefügt. Alle Namen der beschriebenen Personen wurden abgeändert, die angeführten Institutionen und Handlungsorte jedoch beibehalten, so dass jeder sich ein Bild darüber machen kann, was sich vor wenigen Jahren an diesen Schauplätzen ereignet hat. Die zitierten Schriftstücke sind im Originaltext wiedergegeben und wurden lediglich mit den Namen, die von mir abgeändert wurden, ausgetauscht. Alle angeführten Briefe und schriftlichen Belege sind wortwörtlich zitiert, so dass der Leser erkennen kann, welche Konsequenzen die kirchlichen Entscheidungsträger aus den vorgegebenen Situationen gezogen haben.

Um das Kostenrisiko in Grenzen zu halten, habe ich auf ein Lektorat verzichtet, sollten sich im Text Fehler eingeschlichen haben, dann bitte ich Sie, mir diese Mängel zur Berichtigung mitzuteilen.

E-Mail-Adresse: bernhardveil@web.de

Mein neues Arbeitsumfeld

Das Katharinenhospital in Stuttgart besitzt keinen Andachtsraum, deshalb werden die Gottesdienste in einem medizinischen Hörsaal abgehalten. Wenn man diesen Raum betritt, ist links des Eingangs ein großes Podest, auf dem Film- und Dia-Vorführgeräte stehen sowie andere Projektoren, mit denen medizinische Schaubilder nach vorne auf die Leinwand projiziert werden können. Gleich daneben steht für unsere Gottesdienste ein altes Harmonium, auf dem die Lieder begleitet werden können. Die fest eingebauten Sitzreihen im Hörsaal fallen in steilen Stufen hinab, wo unten ein großer Labortisch vor einer breiten Wandtafel für medizinische Lehrveranstaltungen steht. Rechts ziert ein menschliches Gerippe ausgestattet mit den wichtigsten Organen den schmucklosen Raum, daneben ein Rednerpult mit Mikrofon und verdeckter Beleuchtung. Seitlich an den Wänden hängen verschiedene Schautafeln für die regelmäßig hier stattfindenden Fortbildungsveranstaltungen und Vorträge der Ärzte und des Pflegepersonals. Durch die wenigen kleinen Fenster an der oberen linken Seite fällt nur spärlich Tageslicht herein, deshalb wird der Saal mit vielen hellen Neonröhren gut ausgeleuchtet. Für unsere Gottesdienste wäre ein gedämpfteres Licht durchaus angenehmer, denn leider lassen sich die vielen Leuchtröhren nicht einzeln anschalten oder dimmen.

Als ich am Sonntagmorgen hier im Hörsaal eintreffe, steht die Eingangstür weit offen und Pater Witt ist eifrig dabei, die Vorbereitungen für seine Messfeier zu treffen. Heute soll ich in diesem sonntäglichen Patientengottesdienst offiziell in meinen Dienst eingeführt werden. Nach kurzer Begrüßung helfe ich ihm, neben dem Labortisch einen kleinen Altar aufzubauen, damit er die Heilige Messe zelebrieren kann und richte für die Lesungen und die Predigt das Rednerpult her. Die ersten Patienten kommen bereits herein, ich gehe auf sie zu und begrüße sie. Auch eine ältere Dame, Frau Leiss, die gerade das Harmonium öffnet und ihre Notenbücher bereitlegt, begrüße ich freundlich und stelle mich als neuen Mitarbeiter der Klinikseelsorge vor. Ich übergebe ihr einen kleinen Zettel, worauf der Verlauf des Gottesdienstes und die Lied-Nummern vermerkt sind. Frau Leiss, eine sehr fröhliche und vitale Frau, freut sich, dass sie mich nun kennenlernen kann und gesteht, dass sie schon davon gehört habe, dass heute ein neuer Seelsorger hier eingeführt werden soll. Als ich sie frage, wie lange sie denn hier im Katharinenhospital die Lieder bei den Gottesdiensten schon begleite, erzählt sie:

„Ach, das weiß ich ja schon gar nicht mehr so genau, wann ich damals angefangen habe. Das muss gleich nach dem Krieg gewesen sein, als man das Katharinenhospital wieder aufgebaut hatte. Da war ich ja noch ein junges Mädchen“, lacht sie, „damals hat mich der Vikar von St. Eberhard gefragt, ob ich in seinen Messfeiern die Lieder auf einem Klavier begleiten könnte. Und damals fanden diese Messen alle noch vorne in der Besucherhalle statt, wo das Klavier stand.“

„Wie viele Jahre sind das denn schon?“, frage ich erstaunt.

„Mindestens fünfunddreißig, vielleicht auch schon mehr? Ich weiß es gar nicht mehr so genau!“ schmunzelt sie. Ich bin bass erstaunt, dass sie schon so lange diesen Dienst verrichtet, doch bevor ich dazu etwas sagen kann, werden wir in unserem Gespräch unterbrochen, weil ein Herr mittleren Alters neben uns steht und kurz mit mir reden möchte. Ich wende mich ihm zu, er stellt sich als Pfarrer Sauer vor und sagt, dass er der Vorsitzende der Stuttgarter Klinikseelsorger sei und vom Stadtdekan beauftragt worden wäre, meine offizielle Einführung hier vorzunehmen. Er sei Klinikseelsorger im Diakonissenkrankenhaus und außerdem noch für zwei kleinere Stuttgarter Kliniken zuständig. Er sei von der Diözese beauftragt worden, die regelmäßig stattfindenden Klinikseelsorger-Konferenzen zu organisieren, zu denen ich künftig ebenfalls eingeladen werde. Er scheint ein ruhig und besonnen agierender Mann zu sein, der mit mir und Pater Witt nun zusammen den Ablauf des Gottesdienstes besprechen möchte. Pfarrer Sauer und Pater Witt sind sich einig, dass sie beide zusammen unten am Altar die Heilige Messe zelebrieren, ich nach dem Evangelium die Predigt halte und am Schluss des Gottesdienstes zu meiner offiziellen Einführung eine Kommunion-Schale überreicht bekommen soll. Dies soll ein Zeichen dafür sein, dass ich künftig mit meinem Dienstauftrag den Patienten den „Leib Christi“ überbringen werde. Während des Gottesdienstes solle ich in den steil abfallenden Sitzreihen bei den Patienten Platz nehmen, lediglich zur Predigt und zu meiner Einführung solle ich dann zu ihnen zum Altar herunterkommen. Irgendwie ist mir dieses Prozedere unangenehm, denn ich fühle mich von diesen beiden klerikalen Herren mit ihrem wichtigtuerischen Gehabe überrumpelt. Doch was soll ich denn tun? Jetzt, so kurz vor dem Gottesdienst noch andere Vorschläge einbringen? Da die beiden sich einig sind, lässt sich im Ablauf und in der Gestaltung des Gottesdienstes ohnehin nichts mehr ändern. Deshalb nehme ich das Ganze so hin, wie sie es beschlossen haben und lasse bei meiner Einführungsfeier die salbungsvollen und gut meinenden Worte über mich ergehen.

Von jetzt an fahre ich in den folgenden Monaten täglich mit der S-Bahn von Ludwigsburg zu meiner neuen Arbeitsstelle nach Stuttgart ins Katharinenhospital. Auf Nachfrage, wann ich denn in die mir zugesagte Wohnung einziehen könne, vertröstet mich die katholische Kirchenpflege erneut mit dem Hinweis, dass sich die Renovierungsarbeiten im Pfarrhaus verzögert hätten und der Pfarrer von Stuttgart-Botnang noch eine Weile in dieser Wohnung bleiben müsse. Diese unvorhergesehene Umzugsverzögerung verschafft mir allerdings einige Unkosten, da ich meinem Vermieter in Ludwigsburg nun immer noch nicht genau den Zeitpunkt meines Auszugs nennen kann. Somit kann ich ihm keine konkrete Kündigungsfrist nennen und muss ihm leider noch solange die Miete bezahlen, bis er nach meinem Auszug für die Wohnung einen neuen Mieter gefunden hat. Andererseits möchte auch meine Umzugsfirma, die den Bestand meines Hausrats bereits aufgenommen hat, so bald wie möglich wissen, an welchem Tag sie meinen Umzug nach Stuttgart einplanen kann. Auch hier gestaltet sich die Terminplanung schwierig.

Endlich aber ist die Wohnung in Stuttgart-Botnang frei. Abends fahre ich nach meiner Arbeit noch einige Male hin und her und räume selbst noch Gerümpel und manchen Unrat heraus, damit ich schneller einziehen kann. In Küche, Bad und WC entsorge ich die Reste eines alten Teppichbodens, der nach den zurückgebliebenen Klebespuren vermutlich im Schlafzimmer ausgelegt war. Doch leider muss ich feststellen, dass in all diesen Räumen keine neuen Bodenbeläge verlegt sind, wie es von der Kirchenpflege vorgesehen war. Außerdem stelle ich fest, dass die Holzverkleidung am Balkon sehr morsch ist und dringend erneuert werden müsste; die Backröhre im Küchenherd ist mit Kunstharz so verdreckt, dass sie überhaupt nicht zu gebrauchen ist. Sobald man sie einschaltet, entsteht durch die Hitze ein beißender Qualm, der die ganze Küche in kürzester Zeit einnebelt. Vermutlich wurde der Backofen für irgendwelche Bastelarbeiten unsachgemäß benützt. Er ist dadurch völlig unbrauchbar geworden. Leider dauerte die Renovierung des Pfarrhauses wesentlich länger als geplant, so dass die Kirchenpflege nach Auszug des Pfarrers nur noch die notwendigsten Handwerksarbeiten durchführen ließ. Trotzdem bin ich froh, dass ich endlich umziehen kann, so nach und nach werde ich ohnehin selbst so einiges erneuern und renovieren lassen.

Wenn ich an meine offizielle Einführung im Katharinenhospital zurückdenke, muss ich gestehen, dass sie sehr „bescheiden“ war im Vergleich zu den vielen Lobeshymnen, mit denen ich in Ludwigsburg im Beisein von vielen Menschen der Dreieinigkeitsgemeinde verabschiedet wurde. Hier in der Klinik werde ich wohl erst wieder mein Können unter Beweis stellen müssen, um von meinen neuen Kollegen und vom Pflegepersonal akzeptiert zu werden. Mit Vorschusslorbeeren kann ich hier nicht rechnen. Wer weiß denn schon, was ein Pastoralreferent ist? Und wenn, dann werden solche Mitarbeiter ohnehin nur als „Laien“ angesehen. Diesen Eindruck habe ich ja zur Genüge bereits von meinem Priesterkollegen Witt vermittelt bekommen, der mich bei meiner Einführung am liebsten hinten auf den Orgelbock verbannen wollte. Wie diese Zusammenarbeit nun künftig weitergeht, darauf bin gespannt. Zunächst bleibe ich aber zuversichtlich, denn schließlich lässt sich mit Können, zäher Schaffenskraft und Überzeugungsarbeit so manches verändern.

Im Katharinenhospital stehen den Krankenhausseelsorgern für ihre Arbeit drei Räume zur Verfügung. Einer davon liegt nicht weit vom Haupteingang entfernt im Flur zum Hörsaal. Dieser Raum wird sowohl von den beiden evangelischen, als auch von uns katholischen Seelsorgern benutzt, weil von hier aus der Hörsaal gut zu erreichen ist, in dem sonntags die Gottesdienste stattfinden. In diesem von uns gemeinsam genutzten Büroraum sind auch sämtliche Utensilien untergebracht, die wir für unsere Gottesdienste benötigen. Außerdem stehen im gegenüberliegenden Wirtschaftsgebäude ein weiteres Bürozimmer für die beiden evangelischen Pfarrer sowie eines für Pater Witt und mich zur Verfügung. Wenige Tage nach meiner offiziellen Einführung werde ich bei einer ökumenischen Teamsitzung den beiden evangelischen Kollegen vorgestellt. Zwar lernte ich bei meiner offiziellen Einführung vor dem Gottesdienst kurz schon den evangelischen Kollegen, Pfarrer Bohn, kennen, der mich freundlich begrüßte, doch da kein offizieller Stehempfang für Gäste organisiert war, ging er gleich nach dem Gottesdienst weg. Somit lerne ich erst jetzt bei unserer ersten ökumenischen Teamsitzung die beiden evangelischen Kollegen kennen.

Pfarrer Bohn ist ein älterer, grauhaariger Mann von kleiner Statur, der mich mit prägnanten und klaren Worten freundlich willkommen heißt. Bereitwillig erklärt er mir, dass er mir jederzeit behilflich zur Seite stehen werde, wenn ich seine Hilfe benötigen würde oder sonst irgendwelche Fragen hätte. Er ist der Vorsitzende des evangelischen Klinikseelsorger-Konvents von Stuttgart und steht nun kurz vor seiner Pensionierung, so dass er mich leider mit seinem reichen Erfahrungsschatz nicht mehr lange begleiten kann. Der zweite evangelische Pfarrer namens Stolzenburg ist nur wenige Jahre älter als ich, zeigt sich mir gegenüber eher verhalten und distanziert, ansonsten ist er korrekt und freundlich. Gerne hätte ich mich jetzt selbst meinen neuen evangelischen Kollegen etwas ausführlicher vorgestellt, doch meinem katholischen Kollegen Witt sind die nun anstehenden Besprechungspunkte wichtiger, die er nun unbedingt zeitsparend in dieser Runde besprechen will. Daher stellt er mich kurz den evangelischen Kollegen als seinen neuen „Assistenten“ vor und erklärt, dass ich bisher als „Gemeindeassistent“ in einer Ludwigsburger Pfarrei gearbeitet habe und nun zu ihm in die Klinikseelsorge versetzt worden sei. Doch diese Vorstellung geht mir nun doch etwas zu schnell. Ich korrigiere ihn und berichtige, dass ich nicht „Gemeindeassistent“, sondern „Pastoralreferent“ bin. Als Erläuterung füge ich hinzu, dass dies ein neuer Beruf in der katholischen Kirche ist, der für Theologen mit einem vollen Theologiestudium eingeführt wurde, die nicht den Zölibat eingehen wollen und deshalb nicht zum Priester geweiht werden. Als ich auf die Fragen der evangelischen Kollegen eingehen möchte, unterbricht Pater Witt mich abrupt und geht zu seinen Tagesordnungspunkten über. Ich folge schweigend dem weiteren Gesprächsverlauf und höre aufmerksam zu, was die drei Kollegen zu besprechen haben. Am Ende der Sitzung verabschiedet sich mein katholischer Kollege schnell von der Runde, ebenso Pfarrer Stolzenburg. Pfarrer Bohn aber wendet sich mir zu und interessiert sich dafür, wie mein persönlicher Werdegang verlaufen ist. Als er feststellt, dass ich ebenfalls wie er in Stuttgart-Botnang wohne, lädt er mich spontan an einem der kommenden Tage zu sich nach Hause zum Abendessen ein. Diese Einladungen wiederholen sich in der Folgezeit immer wieder, da wir uns recht gut verstehen und auch die Gespräche mit seiner Frau sehr interessant und kurzweilig sind.

Die Krankenstationen des Katharinenhospitals teilt mein katholischer Kollege Witt unter uns beiden nun so auf, dass jeder von uns etwa gleich viele Patienten hat. Auch die beiden evangelischen haben untereinander die einzelnen Krankenstationen in ähnlicher Weise aufgeteilt, so dass für jede Krankenstation ein evangelischer und katholischer Seelsorger zuständig ist. Somit muss jeder Seelsorger im Katharinenhospital etwa die Hälfte der Patienten besuchen. Bei meinem Klinikpraktikum in Ludwigsburg lernte ich jedoch eine andere Aufteilung der Krankenstationen kennen. Dort teilten die evangelischen und katholischen Seelsorger alle Krankenstationen in der Weise untereinander auf, dass jeweils nur ein Seelsorger für eine Station zuständig ist. Bei diesem Besuchsmodell kamen dann nicht die Seelsorger beider Konfessionen auf jede Station, sondern eben nur ein evangelischer oder ein katholischer. Wünschte dort zum Beispiel ein katholischer Patienten auf einer Krankenstation, für die ein evangelischer Seelsorger zuständig ist, einen katholischen Priester, so informierte der evangelische Seelsorger seinen katholischen Kollegen und umgekehrt. Der Vorteil dieser Aufteilung war, dass jeder Seelsorger nur für halb so viele Krankenstationen zuständig war und dadurch für die einzelnen Patientenbesuche sehr viel mehr Zeit zur Verfügung hatte. Pater Witt aber hält von einer solchen Aufteilung der Krankenstationen auf alle vier Klinikseelsorger nichts. Seiner Ansicht nach sei es wichtig, dass jeder katholische Patient grundsätzlich von einem katholischen Seelsorger besucht werden müsse. Er bestimmt, dass jeder von uns im Katharinenhospital von Zimmer zu Zimmer gehen und jeder auf seinen Stationen generell alle Patienten besuchen muss. Da aber in einem Krankenzimmer meist mehrere Patienten liegen und meistens nur einer oder manchmal auch keiner von ihnen katholisch ist, bedeutet diese Arbeitsweise für uns, dass wir bei unseren Besuchen einer sehr großen Anzahl von Patienten begegnen, die gar nicht der eigenen Konfession angehören. Auf diese Weise komme ich bei meinen Besuchen mit vielen Menschen ins Gespräch, die etwa der griechisch-orthodoxen Kirche, der jüdischen, muslimischen, buddhistischen, hinduistischen oder auch keiner Religion angehören. Da aber im Großraum Stuttgart viele Menschen aus fremden Ländern wohnen, die hier keine Verwandten oder Freunde haben, werden sie von niemandem besucht. Wenn solche Patienten sehr lange krank sind und hier in der Klinik bleiben müssen, sind sie überaus dankbar, wenn sie regelmäßig von uns Seelsorgern besucht und betreut werden.

Diese Besuchsmethode ist zwar sehr zeitaufwändig und anstrengend, wenn man tagtäglich von Zimmer zu Zimmer geht und mit den unterschiedlichsten Menschen ins Gespräch kommen muss, denn nach wenigen Stunden wirbeln einem die vielen Eindrücke nur so im Kopf herum. Andererseits hat es durchaus auch einen positiven Aspekt, denn somit komme ich mit dem gesamten Personenkreis unserer Gesellschaft in unmittelbaren Kontakt und lerne die unterschiedlichsten Schichten der einzelnen Volksgruppen mit ihren verschiedenartigen Denkweisen sehr gut kennen. Ich erfahre, dass alle Menschen, ob groß oder klein, durchaus ähnliche Probleme, Sorgen und Nöte haben, insbesondere wenn es sich um leidvolle Erfahrungen in mitmenschlichen Beziehungen handelt. Ob es um Einsamkeit geht, um persönliche Enttäuschungen oder um die Angst vor Krankheit und Tod, für mich ist es nicht immer einfach, hierbei die richtigen Worte zu finden und auf die Patienten angemessen zu reagieren. Einfühlsames Schweigen, ein sanfter Händedruck sind manchmal besser, um dem Patienten und den Angehörigen mitmenschliche Zuwendung, Nähe, Verständnis und Mitgefühl zu zeigen als viele Worte. Doch es gibt auch eine negative Seite dieser aufwändigen Besuchsweise. Wenn man täglich mit so vielen Patienten ins Gespräch kommt, bleibt oft viel zu wenig Zeit, sich um die katholischen Patienten zu kümmern, für die man ja hauptsächlich zuständig ist. So stehe ich ständig unter einem großen Druck, wenn ich im Laufe einer einzigen Woche rund 600 Patienten besuche und mit ihnen ins Gespräch kommen muss. Viele sind mit großen Ängsten, mit allerlei Problemen und Sorgen belastet und fangen an, ausführlich zu erzählen. Dann benötige ich für sie sehr viel Geduld und Ruhe, um ihnen ein aufmerksamer und mitfühlender Zuhörer zu sein. Wie und auf welche Weise dies mein Kollege Witt bewältigt, ist mir anfangs ein Rätsel. Obwohl ich von morgens bis abends in der Klinik bin, schaffe ich es kaum, in einer Woche alle Patienten auf meinen Krankenstationen zu besuchen. Und abends wenn ich zuhause bin, kreisen mir die vielen Begegnungen und Gespräche nur so im Kopf herum, dass ich nicht mehr Radio hören noch fernsehen kann und auch keine Lust mehr habe, irgendwelche Veranstaltungen in der Stadt zu besuchen. Außerdem habe ich ständig das Gefühl, dass ich mein Soll nicht erfülle und den Erwartungen hinterherhinke. Keinesfalls möchte ich mir doch später einmal vorwerfen lassen, dass einige katholische Patienten bei ihrem Krankenhausaufenthalt nicht besucht worden sind und sie diesen Mangel in ihren Kirchengemeinden oder sonst irgendwo herumerzählen. Dieser Druck lastet sehr auf mir und wird noch wesentlich dadurch verstärkt, dass mein Kollege Witt mir jeden Tag beispielhaft vorexerziert, wie er sogar abends nach der allgemeinen Besuchszeit nochmals durch die Krankenstationen geht, um die Patienten zu besuchen. Dies aber kann und will ich nicht leisten. Den ganzen Tag über und zusätzlich auch noch abends einfühlsame Gespräche führen, dazu fehlt mir einfach die Kraft und die geistige Aufnahmefähigkeit. Wie und auf welche Weise mein Kollege dies schafft, ist mir wirklich ein Rätsel. Allerdings habe ich bei Witt schon bemerkt, dass er bei all seinen Besuchen selbst sehr viel redet und keineswegs einfühlsam zuhört. Doch ein aufmerksames Zuhören ist bei existenziellen Problemen äußerst wichtig und deshalb auch viel anstrengender und schwieriger als selbst von sich zu erzählen. Ob er bei seinen Besuchen etwa weniger Wert auf die Qualität seiner seelsorglichen Gesprächsführung legt? Da er sehr redegewandt ist, wird er diese Fähigkeit bei seinen Besuchen auch gerne einsetzen und recht munter und frei von der Leber weg alles erzählen, was ihm gerade so einfällt. Durch diese Gesprächsmethode lässt er natürlich viele Probleme der Patienten erst gar nicht an sich heran und kann somit auch viel schneller von einem Patienten zum nächsten eilen.

Abwechslung vom Klinikalltag

Während der ersten Wochen gibt es neben den ungewohnt vielen und mitunter sehr anstrengenden Patientenbesuchen auch ab und zu eine angenehme Abwechslung in meinem Klinikalltag. Stadtdekan Kammer von der Domgemeinde St. Eberhard, der mein Chef und Dienstvorgesetzter ist, freut sich sehr, dass er für diese große Klinik in seinem Gemeindebezirk nun einen zusätzlichen Mitarbeiter hat. Da ich zu seiner Domgemeinde gehöre, ist es vom Bischöflichen Ordinariat so vorgesehen, dass ich in der Dompfarrei mit einem Dienstauftrag mitarbeiten soll. Darüber wurde ich jedoch vom Bischöflichen Ordinariat gar nicht informiert und erkundige mich deshalb beim Personalreferat in Rottenburg, ob ich nun tatsächlich auch in St. Eberhard in der Gemeindearbeit mitarbeiten müsse. Der zuständige Referent Mistel teilt mir mit, dass dies tatsächlich der Fall sei und ich einen Auftrag eventuell in der Jugendarbeit übernehmen und zusätzlich noch im Predigtdienst eingesetzt werden solle. Da mir die zeitaufwändige Jugendarbeit von Ludwigsburg bestens bekannt ist und ich von dieser Nachricht nicht sehr angetan bin, frage ich, ob ich stattdessen nicht eher einen Auftrag in der Erwachsenenbildung übernehmen könnte. Noch aber sei nichts Konkretes entschieden, teilt er mir mit, doch er werde bei Gelegenheit auf mich zukommen, sobald er mit mir meine Arbeitsumschreibung besprechen könne. In St. Eberhard wird demnächst der Domdekan Kammer in den Ruhestand gehen, ebenso der dortige Diakon, so dass man diese Neubesetzungen erst einmal abwarten müsse, um auch meine endgültige Aufgabenzuständigkeit abzuklären. Zumindest jedoch könnte ich mich erst einmal als neuer Klinikseelsorger in der Domgemeinde vorstellen und dort in den Sonntagsgottesdiensten den Predigtdienst übernehmen.

Also predige ich an einem der kommenden Sonntage in allen Gottesdiensten der Domgemeinde St. Eberhard und stelle mich als neuen Mitarbeiter der Klinikseelsorge des Katharinenhospitals vor. Auf Wunsch des Dompfarrers soll ich in ein liturgisches Gewand tragen, damit ich für die Kirchenbesucher als amtlich bestellter Theologe erkennbar bin. Diesem Wunsch komme ich gerne nach, da dies von meinem Pfarrer in Ludwigsburg bei meinem Predigtdienst ebenfalls gewünscht wurde.

Eine weitere angenehme Abwechslung vom Krankenhausalltag sind für mich die Konferenzen der Klinikseelsorger, die etwa alle vier Wochen stattfinden. Man trifft sich in einer wunderschönen Villa, die auf dem Kriegsberg in der Nähe des Bismarckturmes steht, von der man eine herrliche Aussicht über Stuttgart genießt. Dieses vornehme Anwesen wurde der katholischen Kirche von einer reichen Witwe vermacht, um es für die Seelsorge zu nutzen. Da der Bischof und sämtliche Prälaten in Rottenburg bei Tübingen residieren, benötigt die Diözese in Stuttgart kein repräsentatives Gebäude und überließ es den Klinikseelsorgern. Hier wohnt auch unser Vorsitzender, Pfarrer Sauer, zusammen mit seiner Haushälterin und einer Katechetin, die in einer Grundschule Religionsunterricht hält.

Wenn Pfarrer Sauer die Stuttgarter Krankenhausseelsorger in diese Villa einlädt, beginnt die Konferenz stets mit einer Andacht in der Hauskapelle. Anschließend trifft man sich in einem der drei Salons, um erst einmal etwa eine halbe Stunde lang bei Kaffee und Kuchen zwanglos Gespräche zu führen. Danach eröffnet Sauer offiziell die Sitzung und stellt zumeist einen Referenten vor, der mit einem kleinen Vortrag das Tagungsthema einleitet. Nach einer ausführlichen Diskussion folgen noch einige andere Besprechungspunkte bis mit Hinweisen auf interessante Veranstaltungen, Begebenheiten, Neuerscheinungen von Fachbüchern und sonstigen Informationen die Konferenz beendet wird.

Als ich bei meiner ersten Teilnahme in diesem Gremium den Konferenzteilnehmern vorgestellt werde, sind mir alle der etwa dreißig anwesenden Kolleginnen und Kollegen unbekannt, bis auf zwei: mein Kollege Witt vom Katharinenhospital und Lena Mürther, die in meiner ersten Stelle in Böblingen ein halbes Jahr als Supervisorin an unseren wöchentlichen Sitzungen unseres Seelsorgeteams teilgenommen hatte. Wie ich gehört habe, soll sie angeblich mit einem Klinikseelsorger zusammenleben, der ebenfalls hier in der Runde anwesend ist. Wer dieser Priester jedoch ist, wird sich mir sicherlich bald noch erschließen. Als ich in der Pause auf Frau Mürther zugehe und sie freundlich begrüßen möchte, wendet sie sich brüsk von mir ab und sucht sich demonstrativ einen anderen Gesprächspartner. Im Augenblick weiß ich nicht, wie ich ihr abweisendes Verhalten einschätzen soll und denke mir, dass sie vielleicht mit diesem Kollegen gerade etwas Wichtiges zu besprechen habe. Daher schaue ich mich in der Runde um, mit wem ich ins Gespräch kommen könnte und entdecke unter den meist älteren Herren auch zwei jüngere Teilnehmer. Ich geselle mich zu ihnen und bald sich stellt sich heraus, dass der eine Kollege ebenfalls erst seit zwei Monaten im Krankenhaus von Stuttgart-Bad Cannstatt arbeitet. Die Kollegin neben ihm ist bereits seit einigen Jahren als Klinikseelsorgerin in drei kleineren Stuttgarter Fachkliniken eingesetzt. Es entwickelt sich ein angenehmes Gespräch und ich habe das Gefühl, dass ich bei Bedarf diese Kollegen durchaus kurz einmal anrufen und um Rat fragen kann.

Ein anderes Gremium, an dem ich laut Dienstvertrag regelmäßig teilnehmen muss, ist die Dekanatskonferenz, in der sich alle Priester, Diakone, Pastoral- und Gemeindereferenten des Dekanates monatlich treffen. Diese Sitzungen beginnen ebenso wie die Klinikseelsorger-Konferenzen immer mit einer Andacht. Auch hier wird mit einer lockeren Gesprächsrunde bei Kaffee und Kuchen begonnen und anschließend zum wesentlich trockeneren Sitzungsteil, dem angesetzten Fachvortrag übergeleitet. Danach folgt über das vorgetragene Thema ein Gedankenaustausch, der mitunter mehr oder weniger kontrovers ausgetragen wird, je nachdem, wie brisant das Thema den Teilnehmern unter den Nägeln brennt. Die rund sechzig Kolleginnen und Kollegen aus den Stuttgarter Gemeinden sind mir weitgehend unbekannt, doch auch hier treffe ich auf zwei Mitarbeiter, die ich bereits kenne.

Einer von ihnen ist Bernd Rieger, Vikar in der Pfarrei St. Fidelis, den ich von einigen Jugendseelsorger-Tagungen kenne und den ich vor einiger Zeit über mein Berufsziel, Priester zu werden, um Rat gefragt hatte. Den anderen Kollegen, Vikar Herbert Neumann, kenne ich vom Collegium Ambrosianum, wo wir beide unser Abitur gemacht haben. Er war damals zwei Jahrgänge über mir, studierte nach seinem Abitur an der Uni Tübingen und ist jetzt Vikar in der Kirchengemeinde St. Elisabeth. Auch in diesem Gremium sind außer diesen beiden Vikaren und einigen Gemeindereferentinnen kaum junge Mitarbeiter anzutreffen, sondern überwiegend ältere Priester. Wenn ich mit diesen Gemeindeseelsorgern ins Gespräch komme, werde ich mitunter gefragt, ob der ständige Umgang mit Patienten im Krankenhaus nicht sehr eintönig sei. Dies empfinde ich ganz und gar nicht, da ich bei meinen Besuchen ja nicht nur zu Schwerkranken und Sterbenden komme, sondern auf den chirurgischen Stationen zumeist auch vielen vitalen Menschen begegne, die noch mitten im Leben stehen und gute Aussicht haben, ihre volle Gesundheit zu erlangen. Das Positive an meinem Beruf als Klinikseelsorger ist vor allem, dass ich bei meinen Besuchen tagtäglich die volle Bandbreite unserer menschlichen Gesellschaft antreffe.

Pater Witt

Das Einzige, was mir allerdings zu schaffen macht, ist mein neuer Arbeitskollege, Pater Witt. Er scheint der Meinung zu sein, dass nur „geweihte Priester“ in der Heiligen Messe das Wort Gottes verkündigen können und nur er als Priester befähigt sei, für das Seelenheil der Mitmenschen zu sorgen. Diese Ansicht spricht er zwar nicht direkt so aus, diese Einstellung erweist sich jedoch immer wieder bei unserer alltäglichen Zusammenarbeit. Schon morgens, wenn wir uns in unserem gemeinsamen Büro begegnen, fragt er nie, wie es mir geht, und führt auch sonst mit mir keinerlei persönliche Gespräche. Sobald er zur Tür hereinkommt, verbreitet er eine gewisse Hektik, um mir deutlich zu machen, wie wichtig er ist und wie eifrig er seinen Dienst in der Kirche ausübt. Ihn interessiert auch nicht, was ich in meinen früheren Arbeitsstellen geleistet habe, sondern sieht in mir lediglich einen ihm untergebenen Mitarbeiter. Das bekomme ich deutlich zu spüren, wenn ich mit Patienten, Pflegekräften und anderen Mitarbeitern der Klinik ins Gespräch komme, bei denen er mich lediglich als seinen „Assistenten“ eingeführt hat. Es scheint ihm wohl sehr wichtig zu sein, überall ganz beiläufig kundzutun, dass er einen „Assistenten“ habe, der ihn bei seiner so wichtigen priesterlichen Seelsorgearbeit unterstützen muss. Treffe ich auf Patienten, die mit Witt ins Gespräch kamen, werde ich durchaus wohlwollend mit den Worten begrüßt:

„Ach, wie schön, dass Sie mich besuchen! Pater Witt hat mir schon erzählt, dass er seinen Assistenten bei mir vorbeischicken wird.“

Oder manche verabschieden sich mit den Worten:

„Ach, sagen Sie doch bitte auch einen Gruß an Ihren Chef, an den Pater Witt.“

Manchmal berichtige ich sie wegen dieser falschen Darstellungsweise, denn Pater Witt hat keine Berechtigung, die Dienstaufsicht oder Fachaufsicht über mich auszuüben, sondern diese obliegt allein unserem gemeinsamen Vorgesetzten. Und das ist für uns beide der Stadtdekan von der Domgemeinde St. Eberhard. Obwohl ich Witt schon mehrmals erklärt habe, dass wir dienstrechtlich gleichberechtigt seien, muss ich immer wieder zur Kenntnis nehmen, dass er mich bei anderen als „seinen Assistenten“ bezeichnet. Auch habe ich ihm schon ausführlich den Unterschied zwischen Pastoralassistent und Pastoralreferent erklärt und ihm gesagt, dass ein Pastoralassistent nach seinem Universitätsstudium ebenso wie ein Vikar, ein Assistenzarzt oder ein Studienreferendar im Gymnasium eine dreijährige Ausbildungsphase durchläuft, so dass er erst nach der sogenannten zweiten Dienstprüfung zum Pastoralreferenten ernannt werde. Die Ausbildung ist also ähnlich wie bei einem Pfarrer, einem Arzt oder einem Studienrat. Ich mache Witt klar, dass ich nach meiner Dienstprüfung somit nicht mehr „Assistent“ und damit schon gar nicht sein Untergebener bin. Ähnlich ist es mit den Gemeindereferenten, die nach ihrem Studium an einer Fachhochschule zuerst einige Jahre als Gemeindeassistenten arbeiten müssen. Doch von alledem, was ich Pater Witt erkläre, will er nichts wissen. Solche diffizilen Unterschiede gibt es in seinem Jesuitenorden nicht und deshalb will er sich mit solchen „Kleinigkeiten“ auch erst gar nicht auseinandersetzen. Für ihn sind alle kirchlichen Mitarbeiter lediglich „Assistenten“ und müssen die Priester bei ihrer Seelsorgearbeit unterstützen. So bekomme ich also weiterhin zu hören, wenn er im Urlaub ist, ihn auf seinen Krankenstationen vertrete und samstags seinen Patienten die Kommunion bringe:

„Ach, das ist aber schön, dass Sie kommen. Pater Witt hat mir schon gesagt, dass er in den Urlaub geht und dann seinen Assistenten bei mir vorbeischickt, um mir die Heilige Kommunion zu bringen.“

Von manchen werde ich mitunter neugierig gefragt, wo ich denn sonst noch als Kommunionhelfer eingesetzt werde. Zwar versuche ich ihnen zu erklären, dass ich Pastoralreferent sei, ein Beruf, der neu in der katholischen Kirche eingeführt wurde, doch da die meisten noch nichts davon gehört haben, bleiben sie bei dem, was sie von Pater Witt erfahren haben und werden wohl denken, dass er es ihnen schon richtig gesagt hatte. Auf detailliertere Fragen kann ich mich ohnehin nicht einlassen, da ich bei seiner Abwesenheit viele Patienten betreuen und samstags etwa dreißig Patienten die Heilige Kommunion bringen muss. Jedes Mal muss ich dabei eine kleine Andachtsfeier mit Lesung, Gebeten, Fürbitten und Segen halten und das benötigt eben seine Zeit. Denn alle, die bettlägerig sind und sonntags nicht zum Patientengottesdienst kommen können, trotzdem aber den Wunsch haben, vor einer schweren Operation die Heilige Kommunion zu empfangen, können über das Pflegepersonal oder über unseren telefonischen Anrufbeantworter diesen Wunsch uns mitteilen. Auch Angehörige können diese Wünsche uns zukommen lassen und eine Mitteilung in unseren Briefkasten werfen, der an unserem gemeinsamen Büro angebracht ist. Die meisten Patienten aber bitten uns bei unseren Krankenbesuchen, dass sie zwar gerne zum Patientengottesdienst kommen würden, dies wegen einer anstehenden Operation jedoch nicht können und wir ihnen deshalb doch bitte die Kommunion bringen sollen. Bei vielen Schwerkranken stelle ich dabei immer wieder fest, dass das Sprichwort „Not lehrt Beten“ hier im Krankenhaus erst richtig erfahrbar wird. Obwohl viele von ihnen nicht sehr religiös, gläubig oder gar fromm sind und mit Gott, Kirche und Gebeten kaum etwas am Hut haben, wollen sie hier im Krankenhaus, wenn sie zur Besinnung kommen und viel Zeit zum Nachdenken haben, intensiv unseren Dienst in Anspruch nehmen. Eigenartig ist auch, dass an unseren Patientengottesdiensten meistens mehr Männer als Frauen teilnehmen, obwohl es in den Kirchengemeinden ansonsten gerade umgekehrt ist.

Bald aber gebe ich es auf, den Krankenschwestern und Pflegern zu erklären, dass ich nicht „Assistent“ von Pater Witt bin. Daran wird sich wohl nichts mehr ändern lassen. Andererseits ist es ja ohnehin viel wichtiger, dass wir hier in der Klinik zum Wohle der Patienten gut zusammenarbeiten und da spielt es ohnehin keine Rolle, welche berufliche Position der eine oder andere Seelsorger hat. Wenn es für das Ego von Pater Witt so wichtig ist und er es für sein Wohlbefinden unbedingt nötig erachtet, dass er hier den „Chef“ spielen muss, dann soll er es eben so haben. Was mich allerdings schon etwas stört, ist seine Eigenwilligkeit, dass er unbedingt sämtliche Gottesdienste im Katharinenhospital selbst halten will und mir lediglich zugesteht, dass ich bei seinen Messen gelegentlich die Predigt halten darf. Und diese Aufgabe gesteht er mir nur deshalb zu, weil es unser Bischof für den Beruf der Pastoralreferenten in unserer Diözese so eingeführt hat. Allerdings erlaubt mir Witt es nicht, dass ich vor meiner Predigt das Evangelium vorlese, wie es in unserer Diözese praktiziert wird. Die Predigt ist dazu da, das Evangelium den Gläubigen verständlich zu machen und deshalb ist es sinnvoll, dass der Prediger dieses Evangelium auch selbst vorliest. Doch für Witt ist es außerordentlich wichtig, dass ich während seiner Messfeiern nicht bei ihm im Altarraum Platz nehme, sondern mich hinten zu den Patienten setze, da ich ja wie sie ebenfalls ein „Laie“ bin und nicht dem Stand der „Kleriker“ angehöre. Somit darf ich erst, wenn er das Evangelium vorgelesen hat, zu ihm vortreten und kurz meine Predigt halten, mehr aber nicht. Ein liturgisches Gewand ist für einen solch kurzen Auftritt ohnehin nicht nötig, denn schließlich soll man auch daran den Unterschied zwischen einem „Priester“ und einem „Laien“ deutlich erkennen.

Diese Art meiner Mitwirkung in seinen Gottesdiensten erinnert mich sehr an die Art und Weise, wie schon Pfarrer Dr. Thanner in Böblingen mit mir umgegangen ist. Auch er wünschte nicht, dass ich bei meinen Predigten ein liturgisches Gewand trug. Allerdings billigte er mir wenigstens noch zu, dass ich vor meiner Predigt auch das Evangelium vorlesen durfte, wie es im Dienstauftrag der Diözese Rottenburg-Stuttgart für die Pastoralreferenten vorgesehen ist. Nun muss ich also hier im Katharinenhospital mal wieder mit einem Priester zusammenarbeiten, der die strikte Trennung zwischen „Klerus“ und „Laien“ in seinen Gottesdiensten deutlich zur Schau stellen will. Dagegen sehen viele andere Priester in diesem neu eingeführten Beruf die Möglichkeit, die alte Trennung zwischen Klerikerstand und Laienstand zu nivellieren oder gar aufzuheben. Beim Adelsstand wurde dieser Schritt ja längst vollzogen, auch sie sind nun Bürger unseres Staates wie jeder andere auch. In der katholischen Kirche aber wird der Unterschied zwischen „Klerikern“ und „Laien“ immer noch unentwegt beibehalten. Diese anmaßende Unterscheidung und diese erniedrigende Umgangsweise hat mit der Lehre Jesu Christi nichts zu tun und lässt sich aus seiner Botschaft gar nicht ableiten.

Was mir bei Witt aber total gegen den Strich geht, ist sein Wunsch, dass er nach den Gottesdiensten, in denen ich bei ihm gepredigt habe, unbedingt mit mir noch zusammensitzen möchte, um mir einige „Tipps“ und „Anregungen“ für meine künftigen Predigten zu geben. Er will meine Predigten mit mir durchsprechen und mich wie einen Anfänger behandeln, dem er das Predigen erst noch beibringen muss. Er will jedes Mal über Inhalt und Aufbau, über rhetorische Ausgestaltung und über die persönliche Art und Weise meiner Predigt mit mir reden, aus Höflichkeit gehe ich anfangs noch freundlich darauf ein, weil ich für Anregungen und gute Vorschläge ja grundsätzlich aufgeschlossen bin. Als ich aber erkenne, dass es ihm dabei nur darauf ankommt, an meinen Predigten herumzukritisieren, ohne dabei konkrete und fundierte Verbesserungsvorschläge zu machen, lehne ich seine „Nachbesprechungen“ ab. Seine notorisch gängelnde Besserwisserei wird mir äußerst unangenehm und als er dann auch noch den Vorschlag bringt, dass ich ihm künftig vor seinen Messen eine schriftliche Vorlage von meinen Predigten aushändigen und sie mit ihm vorher durchsprechen solle, wird mir das dann doch viel zu dumm. Nochmals erkläre ich ihm, dass ich bereits seit acht Jahren regelmäßig an den Wochenenden gepredigt habe und ich daher gewiss kein Anfänger mehr sei. Zusätzlich kläre ich ihn auch darüber auf, dass wir als Pastoralreferenten ebenso wie die Vikare die gleiche berufsbegleitende Ausbildung in Homiletik (Predigtausbildung) durchlaufen haben und meine bisherigen Predigten in Böblingen und Ludwigsburg immer sehr gut bei den Leuten angekommen seien. Als ich ihm das alles erkläre, muss ich nun leider feststellen, dass er sich vor meinem Dienstantritt in keiner Weise über meinen Ausbildungsstand informiert hat. Und noch frappierender ist für mich, dass ihn das auch gar nicht interessiert und er davon gar nichts wissen will. Es geht ihm anscheinend nur darum, mir ständig beweisen zu wollen, wer hier der „Chef“ ist und wer das Sagen hat. Ich habe geradezu den Eindruck, dass es bei ihm eine notorische Sucht ist, mich zu belehren, zu gängeln und zu schulmeistern. Denn als ich es abgelehnt habe, nach seinen Gottesdiensten weiterhin mit ihm zusammenzusitzen und meine Predigten von ihm kritisieren zu lassen, reagiert er äußerst verschnupft und redet mehrere Wochen lang nur noch das Nötigste mit mir.

Nach so vielen negativen Erfahrungen, die ich mit Priestern inzwischen gemacht habe, werden meine Bedenken immer größer, ob ich meinen Beruf als Pastoralreferent noch lange so weiterführen kann. Insgeheim mache ich den Herren im Bischöflichen Ordinariat den Vorwurf, dass sie für den Beruf der Pastoralreferenten zwar eine lange und anspruchsvolle Ausbildung verlangen, die dann aber von den Priestern in keiner Weise geschätzt und anerkannt wird. Im Gegenteil, sie tun sogar so, als ob nur sie ein Universitätsstudium mit anschließend praxisbezogener Ausbildung absolviert hätten und behandeln mich wie einen Berufsanfänger, einen Nichtskönner und „Laien“. Dabei ist der Ausbildungsgang eines Pastoralreferenten und eines Pfarrers nahezu identisch. Doch die Herren Kleriker scheinen im Umgang mit ihren pastoralen Mitarbeitern sich nicht im geringsten an einen gewissen Verhaltenskodex halten zu müssen. Dass die Priester sich im Vorfeld nicht damit auseinandersetzen, welche Qualifikationen und Ausbildungsgänge ihre Kollegen und Mitarbeiter im „Laienstand“ mitbringen, ist eine derart ignorante und arrogante Verhaltensweise, die sich durch den ganzen „Klerikerstand“ hindurchzieht. Dies mag vor allem daran liegen, dass sie aufgrund ihrer „Priesterweihe“ und ihres zölibatären Lebensstils so sehr von sich selbst überzeugt sind, dass sie alle anderen Berufe für gering und mitunter sogar für minderwertig erachten. In meiner Ausbildung als Verwaltungsbeamter bei der Stadtverwaltung Aalen wurde ich nie von einem meiner Chefs vor anderen Menschen so abqualifiziert, so missachtet oder gar als „Assistent“ bezeichnet wie ich es mir in der katholischen Kirche von diesen hochnäsigen und blasierten Priestern gefallen lassen muss. Damals wurde ich korrekt behandelt und wenn ich von einem Chef bei Irgendjemandem vorgestellt wurde, hat er mich stets als „Mitarbeiter“ bezeichnet und zwar mit einem gewissen Unterton der Wertschätzung. Und damals hatte ich als Verwaltungsbeamter noch nicht einmal das Abitur in der Tasche, geschweige denn ein Universitätsstudium absolviert.

Dem abwertenden Umgang entkommen

Nach diesen enttäuschenden Erfahrungen mit meinem neuen Arbeitskollegen Witt bin ich heilfroh, dass ich nach einer gewissen Zeit der Einarbeitung nun endlich einige Tage in den Urlaub fahren kann. Da der Stuttgarter Reiseveranstalter wieder auf mich zukam und mir neue Angebote machte, Studienreisen nach Israel zu führen, benütze ich den kommenden Urlaub dazu, mal wieder eine Gruppe zu übernehmen. Zwar ist ein solcher Job ebenfalls sehr anstrengend, wenn man als Reiseleiter täglich mit einem Bus voller hochmotivierter Studienteilnehmer und interessierter Heilig-Land-Touristen zwei Wochen lang durch eine Gegend fährt, um ihnen die vielen historischen Sehenswürdigkeiten zu erklären. Doch diese Studienreisen waren schon während meiner Zeit in Ludwigsburg eine willkommene Abwechslung, um aus meiner Alltagstretmühle zwischendurch mal auszubrechen. Und jetzt, bei diesem ständig wichtigtuerischen Umgangston des Kollegen Witt, kann ich bei einer Reise durch Israel von ihm am besten etwas Abstand gewinnen. Außerdem lerne ich auf solch einer Tour sehr unterschiedliche Menschen kennen. Zwar bin ich zwei Wochen lang von früh bis spät wissbegierigen Leuten ausgesetzt und manche können sich mit ihrer manchmal übertriebenen Neugierde kaum zurückhalten, doch für mich ist es immer wieder schön, alle zwei oder drei Tage das Hotel zu wechseln und bei einem sehr dichten Besichtigungsprogramm die verschiedenen antiken Stätten in dieser faszinierenden Landschaft zu besuchen.

Auch bei dieser Reise beginne ich morgens nach einer freundlichen Begrüßung im Bus die Fahrt mit einer kurzen Besinnung. Hierzu lese ich gerne eines der „Theologischen Gebete“ aus dem gleichnamigen Büchlein von Romano Guardini vor. Diese tiefsinnigen Gedanken werden von den Reiseteilnehmern dankbar aufgenommen, vor allem, wenn wir früh bei Sonnenaufgang durch die wunderschönen und abwechslungsreichen Landstriche des Heiligen Landes fahren. Bei jeder Reise verbringen wir mehrere Tage in Jerusalem, so dass ich auch diesmal die Gelegenheit dazu habe, meine liebe Frau Matt zu besuchen, bei der ich hier während meiner Studienzeit gewohnt habe. Immer noch stehe ich mit ihr in regem Briefkontakt und jedes Mal freuen wir uns beide auf ein glückliches Wiedersehen.

Im Katalog des christlichen Reiseveranstalters werden diese Israel-Reisen unter verschiedenen Aspekten angeboten. Die sogenannten „Pilgerreisen“ richten sich eher an religiös gesinnte Teilnehmer, die quasi eine Wallfahrt zu den heiligen Stätten unternehmen wollen. Die „Wissenschaftlichen Studienreisen“ sind eher für akademisch geschulte Interessenten oder für Religionslehrer zugeschnitten, die ihr erworbenes Wissen auch an andere Personen weitergeben möchten. Israel als touristisches Angebot ist vor allem für solche Menschen gedacht, die das Land eher oberflächlich kennenlernen möchten, jedoch bei ihrem Urlaub auch kulturelle Sehenswürdigkeiten besichtigen und allerlei Wissenswertes erfahren wollen. Meine Reisen werden im Reisekatalog als „Biblische Studienreisen“ ausgeschrieben, um möglichst ein breites Spektrum von Reiseteilnehmern anzusprechen, die sich für das Land der Bibel interessieren und die Zeit ihres Urlaubs für eine geistige Besinnung nützen möchten. Daher sind bei meinen Reisen zumeist sehr unterschiedliche und interessante Persönlichkeiten dabei. Die einen sind bisweilen äußerst religiös geprägt, andere wollen dagegen ihren Urlaub lediglich mit ein bisschen Bildung anreichern und einige von ihnen möchten ihrem Leben etwas mehr Sinn verleihen und sich auf Spurensuche begeben, wie und wo das Christentum entstanden ist und auf welche Weise sie ihre Zukunft neu gestalten können. So sind die Erwartungen auf solch einer Reise durchaus sehr verschieden. Dabei stelle ich immer wieder fest, dass Reisegruppen mit dreißig und mehr Personen für mich weitaus weniger anstrengend sind als Gruppen mit weniger als zwanzig Teilnehmern. Dies liegt wohl daran, dass bei den großen Reisegruppen im Laufe der Zeit sich die Teilnehmer gegenseitig kennenlernen, sich anderen anschließen und sich somit Untergruppen bilden, denen sich Alleinreisende leichter anschließen können. Bei kleinen Reisegruppen ist die Aufspaltung in solche Kleingruppen dagegen nicht sehr groß, Alleinreisende konzentrieren sich vornehmlich auf mich und nehmen mich bisweilen gehörig in Beschlag.

So habe ich bei dieser Reise eine sehr gesprächige Nonne dabei, die ihren ausgeprägten Mitteilungsdrang kaum zügeln kann. Weil sie unter den wenigen Reiseteilnehmern anscheinend nicht genügend Zuhörer findet, tauscht sie im Bus mit einer Frau, die hinter mir sitzt, ihren Sitzplatz, so dass sie mich noch besser in ihre Gespräche miteinbeziehen kann. Kaum habe ich irgendwelche Erklärungen abgegeben und lege das Mikrofon beiseite, beginnt sie sofort mit ihrer lauten, schrill-durchdringenden Stimme, von hinten auf mich einzureden und erzählt nicht nur mir, sondern auch den übrigen Reiseteilnehmern im vorderen Teil des Busses zahlreiche Anekdötchen und Geschichtchen aus ihrem Leben. Und das in einer so penetranten Weise, dass ich sie jedes Mal höflich unterbrechen muss, wenn ich als Reiseleiter mal wieder selbst etwas erklären möchte. Zwar versuche ich, ihr tagsüber möglichst aus dem Weg zu gehen, um auch mit anderen Mitreisenden ins Gespräch zu kommen, doch immer wieder kommt sie geradewegs auf mich zu und labert mich voll bis der Schädel brummt. Diese Nonne empfinde ich mitunter wesentlich anstrengender als die Patienten im Krankenhaus, wo ich von einem Zimmer zum anderen gehe und mir ebenfalls den ganzen Tag unendlich viele Geschichten anhören muss.

Eine andere Mitreisende ist eine sehr fromme Gymnasiallehrerin, die bei den übrigen Reiseteilnehmern wohl ebenfalls keinen Anschluss findet. Sie ist von meinen biblischen Erklärungen und vor allem von meinen morgendlichen „Theologischen Gebeten“ so sehr angetan, dass sie nach kurzer Zeit einen inneren Drang verspürt und mich fragt, ob sie zusammen mit mir jeden Tag mit einem ganz persönlich gestalteten Nachtgebet abschließen darf. Selbstverständlich stellt sie es mir frei, ob ich mich zu dieser kleinen Besinnungsfeier entweder zur ihr begebe und wir uns auf ihrem Zimmer im Hotel treffen könnten oder auch umgekehrt. Strikt lehne ich ihr Ansinnen ab, doch sie lässt einfach nicht locker. Immer wieder kommt sie auf mich zu, lobt überschwänglich meine Erklärungen und bedrängt mich inständig, hier im Heiligen Lande doch bitte mit ihr zusammen abends noch einen kleinen Text aus der Bibel zu lesen, um danach im gemeinsamen Gebet das erlebte Tagesgeschehen Revue passieren zu lassen. Als sie partout nicht aufgibt, gehe ich auf ihren Wunsch schließlich ein. Wie vereinbart erscheine ich, nachdem ich mit anderen Reiseteilnehmern noch einige Zeit nach dem Abendessen zusammengesessen bin, auf ihrem Zimmer zum Nachtgebet. Hocherfreut empfängt sie mich, auf ihrem Couchtisch hat sie bereits ein paar Blümchen um ein Holzkreuz ausgelegt, eine Kerze angezündet und bittet mich nun, ein frei formuliertes Gebet zu sprechen. Damit eine weihevolle Stimmung aufkommen möge, äußert sie den Wunsch, so nah wie möglich neben ihr auf der Couch platz zu nehmen. Um mich aber besser konzentrieren zu können, ziehe ich es vor, im Sessel sitzen zu bleiben und so mein Gebet zu sprechen. Als ich fertig bin, neigt sie ihren Kopf nach vorne, legt ihr Gesicht in ihre Hände und murmelt kaum hörbar etwas vor sich hin, spricht von wunderschönen Tagen mit herrlichen Erlebnissen, von göttlichen Begegnungen, von menschlicher Nähe und von einmaligen Erfahrungen hier im Heiligen Land, und dann vor allem vom Besten, das ihr auf dieser Reise begegnet ist. Es ist ein wunderbarer Mensch mit hervorragenden Eigenschaften und so weiter und so fort. Ich verstehe zwar nicht alles und will auch gar nicht alles verstehen, wenn sie so leise und schluchzend in ihre Hände nuschelt, doch das, was ich mitbekomme, reicht mir vollkommen aus, um zum Entschluss zu gelangen, die Sache so schnell wie möglich zu beenden. Hilfe suchend schaue ich im Zimmer umher und unwillkürlich bleibt mein Blick an der Zimmertür hängen. Ich überlege, wie ich es nun wohl am besten anstellen könnte, so schnell wie möglich aus dieser Situation heraus- und durch diese Tür hinauszukommen. Als sie nach ihrer „göttlichen Begegnung“, wie sie es nennt, wieder im „Diesseits“ angekommen ist, fordert sie mich auf, abermals ein persönliches, frei formuliertes Gebet zu sprechen und diesen gnadenreichen Tag mit dem Abendsegen zu beschließen. In würdevoller Haltung und mit ruhiger Miene spreche ich einige Worte des Dankes zum bisher gelungenen Verlauf der Reise, um so schnell wie möglich diese spiritistisch angehauchte Session abzuschließen. Danach stehe ich sofort auf, um ihr Zimmer zu verlassen, denn schließlich muss ich mich ja noch auf den morgigen Tag vorbereiten. Doch die Lehrerin hält mich fest und will mit mir nun unbedingt eine feierliche Abschiedszeremonie inszenieren. Diese soll nun dergestalt ablaufen, dass wir mit gefalteten Händen uns gegenüber stellen und uns vor einander verbeugen, anschließend sollen wir uns umarmen und uns fest umschlungen gegenseitig eine gute Nacht wünschen. Auch das lasse ich über mich ergehen und verlasse dann zügig das Zimmer.

Am nächsten Tag kommt sie freudestrahlend auf mich zu und bedankt sich aus tiefster Seele für den gestrigen Abend. Voller Hoffnung unterbreitet sie mir den Vorschlag, dieses gemeinsame Nachtgebet doch künftig jeden Abend zu wiederholen. Peinlich berührt suche ich nach Ausreden, um mich von diesem mir viel zu innig gestalteten Meeting zu entschuldigen. Nach einiger Überzeugungsarbeit sieht sie ein, dass ich abends auf dieser Reise noch viel zu tun habe und ich mich zu so später Stunde nicht mehr um sie kümmern kann. Trotzdem wünscht sie flehentlich, dass wir nach dieser Reise weiterhin in Kontakt bleiben und einen regen Briefwechsel anstreben.

Auch einige andere Alleinreisende suchen gelegentlich persönliche Gespräche mit mir. So berichtet ein gut betuchter Industrie-Boss, dass sein Hobby die Großwild-Jägerei sei und er gelegentlich auf Safari-Tour in Afrika gehe. Er fragt, ob ich mich nicht auch einmal zu solch einem Zeitvertreib hinreißen lassen könnte. Dankend lehne ich ab und gestehe ihm, dass ich nicht einmal dazu fähig sei, einen Wurm zu töten. Außerdem halte ich es nicht für angemessen, aus purer Jagdlust Tiere umzubringen. Trotz meiner Absage möchte er von mir wissen, ob es in Israel irgendwelches Großwild gäbe, das zur Jagd freigegeben sei. Ich erzähle ihm, dass es in der Nähe der Jordan-Quellen in einem Naturreservat einige Krokodile gäbe und in der Wüste Negev und im Sinai noch Hyänen und Luchse leben würden. In früheren Zeiten sei dort auch der Leopard heimisch gewesen. Doch ich erteile ihm die Auskunft, dass all diese Tiere meines Wissens sehr selten geworden seien und allesamt unter Naturschutz stehen. Die Bejagung dieser Tierarten sei hier gewiss nicht möglich. Er schaut mich daraufhin etwas ungläubig an und spürt intuitiv, dass ich für dieses ausgefallene Hobby kein Verständnis aufbringen und seine Leidenschaft auf diesem Gebiet nicht mit ihm teilen kann.

Eine andere Reiseteilnehmerin aus Köln dagegen hält von meiner Person äußerst wenig. Sie kann absolut nicht verstehen, dass ich an einer Universität Theologie studiert habe und mich anschließend nicht zum Priester weihen ließ. Gegen Ende der Reise gibt sie mir auch ihre Mutmaßung bekannt:

„Da ich Sie ohnehin nicht mehr treffe, kann ich Ihnen ja zum Schluss meine Meinung sagen. Wenn jemand so wie Sie Theologie studiert hat und nicht Priester geworden ist, dann haben Sie sich bestimmt irgendetwas zu Schulden kommen lassen und sind von der Kirche vermutlich als Priesteramtskandidat abgelehnt worden. Sie können mir doch nicht vormachen, dass Sie freiwillig auf dieses Amt verzichten und nicht Priester geworden sind. Da muss doch irgendetwas anderes dahinterstecken.“

Lächelnd lasse ich sie bei ihrer Meinung, denn jede Erklärung und Rechtfertigung würde hier ja wohl kaum etwas nützen.

Eine Psychologin ist bei dieser Reisegruppe ebenfalls mit dabei, die meines Erachtens an einem Kaufzwang leidet. Denn bei jedem längeren Aufenthalt in einem größeren Ort, wo es etwas zu kaufen gibt, kommt sie mit einem neuen Kleid, mit ein paar neuen Schuhen oder einer neuen Tasche daher. Am Ende der Reise kann sie ihre Einkäufe nicht mehr in ihrem Gepäck verstauen. Sie fragt mich, wo sie sich denn einen großen Karton besorgen könnte, um all die Sachen per Post nachhause zu schicken. Allein in diesen zwei Wochen habe sie sich über ein Dutzend Kleider, vierzehn Paar Schuhe und sechs Handtaschen gekauft. Auf meine Frage, ob sie denn in ihrem Kaufverhalten nicht etwas ändern wolle, erklärt sie mir lachend:

„Oh ja, ich arbeite doch gerade daran! Wissen Sie, lange Zeit habe ich sehr darunter gelitten, dass ich mir einfach nichts gönnen konnte und habe mir immer nur das Allernotwendigste gekauft. Deshalb bin ich zu einem Kollegen in Behandlung gegangen und jetzt hat sich mein Problem leider ins Gegenteil verkehrt.“

Herzhaft kichert sie los und sagt:

„Ich glaube, dass ich wohl noch nicht die richtige Balance in meinem Kaufverhalten gefunden habe, aber glauben Sie mir, ich arbeite daran!“

So habe ich in meinen Reisegruppen auch viele mehr oder weniger sympathische Menschen dabei, die manchmal sehr ausgefallene und amüsante Sonderwünsche haben. Eine ältere Schwäbin fragt mich:

„Gibt's denn hier in Jerusalem auch einen Bahnhof?“

Ich bejahe ihre Frage, jedoch mit der Einschränkung, dass dieser aber gewiss nicht sehenswert und außerdem völlig heruntergekommen sei. Dort würden vermutlich pro Tag nur noch drei oder vier Züge nach Tel Aviv abfahren. Auf ihre flehentliche Bitte, ihr doch unbedingt diesen Bahnhof zu zeigen, lasse ich den Bus einen kleinen Umweg zu diesem äußerst sanierungsbedürftigen Gebäude fahren. Als wir dort ankommen, steigt sie voller Freude mit ihrer Kamera aus, knipst ein paar Bilder von diesem maroden Bauwerk und ist überglücklich, dass sie auf dieser Reise nun auch den Jerusalemer Bahnhof gesehen hat. Alle im Bus wundern sich über diese Frau und wollen wissen, warum ihr dieser Bahnhof denn so wichtig ist. Schmunzelnd erklärt sie:

„In unserem Dorf, wo ich herkomme, gibt es eine besondere Redewendung. Wenn man ein Treffen oder eine terminliche Vereinbarung nicht einhalten will und jemanden nicht mehr treffen möchte, dann sagen wir einfach zum Abschied: Also bis dann, am Jerusalemer Bahnhof !“

Auch eine sehr nette sechsköpfige Familie fährt bei dieser Reise mit, die im hinteren Teil des Busses sitzt und den gesamten Reiseverlauf sehr aufmerksam verfolgt. Der Vater ist Verleger eines namhaften Verlags, der vor allem auf die Herausgabe christlicher Literatur spezialisiert ist. Seine Frau und die vier halb erwachsenen Kinder sind an allen Führungen und Erklärungen sehr interessiert und möchten bei den biblischen Stätten mitunter sehr detaillierte historische oder politische Hintergründe wissen. Ihnen gefällt es auf dieser Rundreise vor allem deswegen so gut, weil ich ihnen den historischen Jesus in seinem damaligen geschichtlichen Umfeld an Ort und Stelle so anschaulich präsentiere und dabei auch die Unterschiede aufzeige, wie später seine Lehre in den verschiedenen christlichen Traditionen interpretiert wurde und wie sich die einzelnen Glaubensgebäude der verschiedenen Kirchen auseinanderentwickelt haben. Denn was Jesus gelehrt hat und was aus dieser Lehre im Laufe der zweitausend Jahre geworden ist, lässt sich auf so einer Reise gut beschreiben. Eines Abends, als der Verleger gerade aufgrund meiner mitunter recht kritischen Erklärung persönliches Vertrauen zu mir gewonnen hat, erzählt er mir, dass er in seinem Verlag auch viele Bücher und Schriften für die katholische Kirche drucke. So habe er einmal einen sehr umfangreichen und kostenaufwändigen Großauftrag von der deutschen Bischofskonferenz erhalten und für die Herausgabe dieser Bücher in seinem Betrieb große Investitionen und Vorleistungen erbringen müssen. Allerdings wäre sein Verlag durch diesen Großauftrag beinahe in Konkurs gegangen, weil sich der Druck dieser Bücher durch die vielen Änderungswünsche immer und immer wieder verzögert hätte. Er habe durch diesen Großauftrag andere Druckaufträge absagen müssen, doch wegen erneuter Änderungswünsche habe sich dann die Herausgabe dieser Bücher nochmals sehr lange hinausgezögert. Wieder habe er Termine verschieben müssen und, um die Maschinen am Laufen zu halten, musste er schnell andere Aufträge regenerieren, um seinen Betrieb auszulasten, damit die Schulden bedient werden konnten. Doch trotzdem stand die Druckerei wieder teilweise still, andere Verträge sind beinahe geplatzt, denn seine Angestellten hatten für den Großauftrag das ganze Papier und die übrigen Druckmaterialien bereits auf Vorrat eingekauft, was ja alles bezahlt werden musste. Doch die katholische Kirche wollte sich trotz dieser Verzögerungen an den aufgelaufenen Unkosten nicht beteiligen, die durch die ständigen Änderungswünsche entstanden sind. Im Gegenteil, diese Herren forderten immer noch weitere Zugeständnisse. Letzten Endes musste er nochmals den ganzen Großauftrag überschlagen und ausrechnen, ob er ihn überhaupt noch ausführen kann und das Ganze nicht zu einem riesigen Verlustgeschäft wird. Mit einem letzten Notkredit seiner Bank, die seinen Betrieb in Haftung nahm, konnte er dann gerade noch die abgeschlossenen Verträge erfüllen. Alles war mit furchtbar viel Arbeit und Stress verbunden, doch einen Gewinn konnte er bei diesem Auftrag nicht mehr erwirtschaften. Im Gegenteil, sein Betrieb stand nach diesem Geschäft fast am Rande der Insolvenz. Resigniert gesteht er ein, dass er nach diesem Auftrag von den Verhandlungspartnern der katholischen Kirche überaus enttäuscht gewesen sei. Knallharte Forderungen würden sie stellen, hätten keine Ahnung, welche betriebswirtschaftlichen Abläufe einzuplanen seien und wie viele Mitarbeiter von diesen Aufträgen abhängen würden. Seine Leute müsse er alle bezahlen, selbst wenn die kirchlichen Herren ihm das ganze Geschäft vermasseln würden. Die Herren der Kirche seien unfaire Geschäftspartner, die immer nur auf ihre eigenen Vorteile schauen würden und nicht im geringsten die Existenz eines Mittelständlers im Auge hätten.

Am letzten Abend dieser Reise überreicht mir der Verleger ein großes Kuvert, das einen Gutschein und sein Verlagsprogramm enthält, und sagt:

„Wenn Sie wieder zuhause sind, können Sie sich einen Karton voller Bücher aussuchen, ich werde sie Ihnen dann zusenden“, und fügt hinzu, „bei einem Verleger ist es wie bei einem Metzger. Wenn die Produktion einmal läuft, dann kommt es auf eine Wurst mehr oder weniger nicht mehr an, solange genug Material vorhanden ist. Seien Sie also bei der Auswahl nicht zögerlich, sondern greifen Sie beherzt zu!“

Neue Perspektiven

Von Israel zurück, hat mich im Katharinenhospital der Alltag wieder. Meine Patientenbesuche machen mir anfangs schwer zu schaffen, denn die frohgelaunten Menschen, die ich während meiner Israel-Reise um mich hatte, fehlen mir sehr. Hier im Krankenhaus begegnet mir ja wieder vor allem die Schattenseite des Lebens, die oft sehr grausam, ungerecht und unbegreiflich sein kann. Unter meiner Post entdecke ich einen Brief vom Personalreferat des Bischöflichen Ordinariats. Herr Mistel von der Personalverwaltung bittet um Rückruf, weil er mit Pater Witt und mir einen Gesprächstermin vereinbaren möchte. Es soll nun endgültig eine Arbeitsumschreibung für meinen Dienstauftrag in der Klinikseelsorge und meine Mitarbeit in der Domgemeinde St. Eberhard festgelegt werden. Bisher wurden lediglich einige wenige Punkte von Herrn Mistel in einer Gesprächsnotiz festgehalten um auszuloten, wie die Zusammenarbeit mit mir und Pater Witt gestaltet werden kann. Soviel steht also schon fest, dass die Krankenstationen zwischen Witt und mir je zur Hälfte aufgeteilt werden, jeder von uns soll dann eigenverantwortlich für diese zuständig sein.

Leider musste ich aber bei meiner bisherigen Zusammenarbeit mit Witt die Erfahrung machen, dass er sich nicht an diese Aufteilung hält. Laufend besucht er auf meinen Stationen viele Patienten, wenn vom Pflegepersonal über unseren gemeinsamen Anrufbeantworter oder über den Briefkasten der Besuch eines Seelsorgers gewünscht wird. Er ist der Meinung, dass selbstverständlich nur er gemeint sein könne, wenn von einem Patienten ein „Seelsorger“ gewünscht werde. Ich als Nicht-Priester bin nach seiner Auffassung ja kein „Seelsorger“, deshalb kann seiner Ansicht nach bei solch einem Anruf folglich auch nur er gemeint sein. Aufgrund dieses Selbstverständnisses schaltet und waltet er auch auf meinen Krankenstationen, wie es ihm gerade in den Sinn kommt. Er besucht auf meinen Stationen die Patienten, ohne es mir mitzuteilen. Deshalb bin ich immer wieder überrascht, wenn ich auf Patienten treffe, die mir berichten, dass mein „Chef“ sie schon besucht habe. Vermutlich will er durch solche Krankenbesuche auf meinen Stationen auch dem Pflegepersonal zeigen, dass er als Priester hier für die gesamte Klinikseelsorge zuständig ist und ich lediglich sein „Assistent“ bin.

Festgelegt wurde vor meiner offiziellen Einführung, dass ich im Wechsel mit Witt in seinen Patientengottesdiensten die Predigt und Teile des Wortgottesdienstes gestalten solle, was lediglich nur in einer kurzen Gesprächsnotiz vom Referenten Mistel festgehalten wurde. Tatsächlich aber erlaubt Witt mir in seinen Gottesdiensten nur, dass ich die Predigt halten darf, mehr jedoch nicht. Schon das Vorlesen des Evangeliums empfindet er als „heiligen Akt“, den nur ein Priester ausführen dürfe, nicht jedoch ich, da ich ja nur ein „Laie“ bin. Diese antiquierte Haltung empfinde ich äußerst widersinnig und bei derartigen Einschränkungen zeigt er mir sehr deutlich, dass es ihm vor allem darum geht, sich mir gegenüber als Chef aufzuspielen, obwohl er dazu keinerlei Rechtsbefugnisse hat. Ist er jedoch im Urlaub oder kann er wegen anderer Verpflichtungen seine Gottesdienste nicht „zelebrieren“, dann soll ich für ihn einspringen und darf dann selbstverständlich in allen Patientengottesdiensten auch das Evangelium vorlesen, die Kommunion austeilen und den ganzen Gottesdienst halten. Wenn er im Urlaub ist, soll ich natürlich auch ein liturgisches Gewand anziehen, wogegen ich bei seinen Messen immer in zivil auftreten soll, damit der Unterschied zwischen ihm als „Priester“ und mir als „Laie“ deutlich erkennbar ist. Alles bestimmt er bis ins kleinste Detail und führt sich mir gegenüber wie ein Lehrmeister auf, der mir ständig seine Weisheiten und Vorschriften kundtun muss. Diese besserwisserische Art geht mir manchmal so gehörig auf den „Wecker“, dass ich nicht mehr „mitspielen“ will. Als ich mit ihm diese Dinge einmal besprechen möchte, droht er sofort, meinen „Ungehorsam“ ans Bischöfliche Ordinariat zu melden. Vermutlich weiß er genau, dass er von dort den nötigen Beistand bekommt, denn als Mitglied des Jesuitenordens kann er seine Sonderwünsche jederzeit durchsetzen, die ihm gelegentlich in den Sinn kommen. Bei unserem eklatanten Priestermangel ist das Ordinariat ohnehin auf jeden „geweihten Kleriker“ angewiesen und wird ihm gewiss keinerlei Einschränkungen auferlegen. Somit bleibt mir nichts anderes übrig, als notgedrungen klein beizugeben und ihn alles bestimmen zu lassen. Meine bisherige Erfahrung hat mich ohnehin gelehrt, dass die Kleriker auf allen Ebenen zusammenhalten, selbst wenn sie wissen, dass sie im Unrecht sind. Mit kollegialer Zusammenarbeit, geschweige denn mit christlicher Nächstenliebe hat ihr klerikales Gebaren und egozentrisches Verhalten absolut nichts zu tun. Auch seine Anweisung, dass ich keinesfalls am Schluss meines Gottesdienstes die Patienten segnen und nicht wie die Priester mit der Hand zum Segen ein großes Kreuzzeichen machen dürfe, empfinde ich geradezu grotesk. Auch die üblichen Segensworte „Ich segne euch im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“ dürfe ich keinesfalls so formulieren, sondern ich könnte höchstens folgendermaßen sagen:

„Es segne uns der allmächtige Gott, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist“, wobei ich mich selbst bekreuzigen, aber nicht mit der Hand das Kreuzzeichen über die Gläubigen ausführen dürfe. Solch kleinkariertes Denken und diese pedantische Haarspalterei gehen mir mächtig auf den Geist.

Da für mich im Katharinenhospital kein Gottesdienstgewand vorhanden ist, soll ich, wenn ich für ihn seine Gottesdienste übernehmen muss, mir ein altes Ministranten-Gewand überziehen, das üblicherweise ein Ministrant bei seinen Gottesdiensten benützt. Deshalb muss ich diesen jungen Messdiener, der normalerweise bei seinen Gottesdiensten ministriert, zuvor anrufen und ihm mitteilen, dass er am kommenden Sonntag nicht ins Katharinenhospital zu kommen braucht, da ich den Gottesdienst halte. So bleibt mir nichts anderes übrig, als mir dieses alte, abgeschabte Ministranten-Gewand überzuziehen, das vor vielen Jahren in St. Eberhard ausgemustert wurde. Für meine Größe ist es viel zu kurz und vorne fehlen sogar mehrere Knöpfe, so dass mein Anblick bei den Patienten wirklich keinen guten Eindruck hinterlässt. Immer wenn ich in dieser lächerlichen „Verkleidung“ bei den Gottesdiensten in Erscheinung treten muss, komme ich mir vor wie eine Witzfigur, die einen katholischen Gottesdienstes parodiert. Um diesen Missstand zu beseitigen, äußere ich den Wunsch, dass möglichst bald für mich ein passendes liturgisches Gewand angeschafft oder mir wenigstens ein gebrauchtes von St. Eberhard übergeben werde. Doch mein Priesterkollege Witt ist strikt dagegen. Obwohl in der schriftlichen Gesprächsnotiz vereinbart ist, dass die finanziellen Mittel, die uns von der Gesamtkirchenpflege Stuttgart zur Verfügung gestellt werden, jedem von uns zur Hälfte zustehen, habe ich keinerlei Wünsche zu äußern. Ohne weiteres hätte ich mir von meiner Etathälfte solch ein Gewand kaufen können, doch Witt will es mir keinesfalls zugestehen. Er bestimmt de facto allein, was angeschafft wird und was nicht.

Trotz dieser nicht gerade einvernehmlichen Zusammenarbeit fragt er mich eines Tages, ob ich nicht künftig jeden Sonntag ins Katharinenhospital zum Gottesdienst kommen könnte, um ihm bei der Gottesdienstvorbereitung zu helfen. Als Katholik sei ich doch verpflichtet, jeden Sonntag die Heilige Messe besuchen. Dann könnte ich doch meine Sonntagspflicht auch hier absolvieren und vorher im Hörsaal den Altar, die Blumen und sein Messzubehör herrichten. Dann bräuchte er nicht mehr so früh zu kommen und müsste lediglich nur noch die Heilige Messe zelebrieren. Als ich das höre, gehen bei mir vollends die Rollläden herunter. Will er mich nun tatsächlich auch noch zu seinem Messner degradieren? Auf meine Absage reagiert er wieder äußerst „eingeschnappt“. Obwohl doch ich aufgrund seines anmaßenden Wunsches allen Grund hätte, ihm böse zu sein, zeigt er sich mir gegenüber in der darauffolgenden Zeit alles andere als entgegenkommend. Laufend will er mir Handlangerdienste zuteilen, um zu zeigen, dass er mein Chef ist. Um nicht ständig mit ihm herumzustreiten und ihn nicht noch mehr zu verärgern, stelle ich alsbald meine eigenen Wünsche immer mehr zurück. Mir ist schließlich eine einigermaßen gute Zusammenarbeit wichtiger als dieses ständige Hickhack, das letztendlich ja doch zu nichts führt. Bei einer offenen Auseinandersetzung würde mir ohnehin kaum jemand beistehen, da es für meinen Beruf als Pastoralreferent in der katholischen Kirche keinerlei Rechtsgrundlagen gibt. Von den Herren im Bischöflichen Ordinariat ist auf diesem Gebiet ja leider nichts zu erwarten.

In meiner vorläufigen Arbeitsumschreibung, die bisher nur als Gesprächsnotiz vorliegt, wurde festgelegt, dass ich im Krankenhaus bei meinen Patientenbesuchen ein Namensschild an der Brust tragen soll. Auch da bestimmt Witt, dass auf diesem Namensschild unter meinem Namen keinesfalls „Krankenhausseelsorger“ stehen dürfe. Es müsse „Krankenhausseelsorge“ heißen, denn nach seiner Auffassung können nur Priester als Seelsorger bezeichnet werden, nicht aber ich als „Laie“.

Doch den Patienten fällt dieser kleine Unterschied sowieso nicht auf. Wenn ich in ein Krankenzimmer komme und mich als „Mitarbeiter der Klinikseelsorge“ vorstelle, sind alle Patienten erst einmal gespannt darauf, was ich nun zu sagen habe und was ich möglicherweise von ihnen möchte. Ob ich Pfarrer, Seelsorger oder sonst etwas bin, ist ihnen ohnehin nicht wichtig. Erst wenn sie nach einem kurzen Informationsgespräch noch mehr über mich wissen wollen, weil ihnen mein Besuch gefällt und sie dann mein Namensschildchen entdecken, fragen sie bisweilen detaillierter nach, was ich hier so alles mache. Auf die kleinkarierten Unterschiede, die mein Priesterkollege Witt so herausstreicht, achten die meisten ohnehin nicht. Sollten von ihnen dann doch einige genauer wissen wollen, was ich bin und welche Ausbildung ich durchlaufen habe, muss ich ihnen dann lange und breit erklären, dass ich Pastoralreferent bin, dass dies ein neuer Beruf in der katholischen Kirche ist, der deswegen eingeführt wurde, um dem Priestermangel entgegenzuwirken, dass ich dieselbe Ausbildung wie ein Priester habe, jedoch nicht die Verpflichtung des Zölibats eingehen wollte und daher auch nicht „geweiht“ bin und folglich auch keine Sakramente spenden darf. Meist kommt es dann zu einer Diskussion, was gut und schlecht an diesem neuen Beruf ist, weil wir nicht alles tun dürfen, was ein Priester tun darf, und wie rückständig und verkorkst die Bischöfe seien, wenn sie immer noch an diesem Zölibatsgebot festhalten würden. Diese Thematik ist für viele durchaus interessant und viele von ihnen können bei solchen Gesprächen auch ihren Frust über die rückständige katholische Kirche bei mir ablassen. Allerdings kommen wir dabei meist nicht mehr zum eigentlichen Zweck meines Besuches, nämlich zu der Frage, wie es den Patienten eigentlich geht. In solchen Situationen fühle ich mich immer wie ein Mensch, der für eine Organisation arbeitet, die nicht für die Probleme der Menschen da ist, sondern vor allem darauf bedacht ist, ständig die Eitelkeiten der Priester in den Mittelpunkt zu stellen, die das „zölibatäre Priestertum“ wie das Allerheiligste in der Monstranz zum zentralen Glaubensinhalt erhoben haben. Andererseits erkenne ich bei solchen Gesprächen auch eine Chance, dass ich durch meinen neuen Beruf vielen Menschen eine andere katholische Kirche präsentieren kann, denn viele Patienten haben zumeist ein sehr undifferenziertes Bild von der katholischen Kirche.

Ein weiterer Punkt in dieser vorläufigen Gesprächsnotiz, die Referent Mistel zur Erstellung meiner Arbeitsumschreibung festgehalten hat, betrifft meine Mitarbeit in der Krankenpflegeschule. Es soll noch geklärt werden, inwieweit ich in den Ethikunterricht mit einbezogen werde, den die evangelischen Kollegen und Pater Witt unter sich aufgeteilt haben. Als ich Witt darauf anspreche, lehnt er es ab, dass ich an diesem Unterricht mitwirke. Er begründet es damit, dass die Unterrichtstermine bereits zwischen ihm und den evangelischen Kollegen abgesprochen seien und sich nichts daran ändern ließe. Er stellt mir jedoch in Aussicht, dass ich später in den Unterricht mit einsteigen könne, wenn in der Krankenpflegeschule ein neuer Ausbildungskurs beginne. Allerdings werde ich nie von ihm informiert, wenn in der Krankenpflegeschule ein neuer Ausbildungskurs beginnt und er teilt kurzerhand wie bisher die künftigen Unterrichtstermine unter sich und den evangelischen Kollegen auf. Ob er mir nicht zutraut, an der Krankenpflegeschule zu unterrichten, oder ob es daran liegt, dass er die Sondervergütung, die er dafür einstreicht, mir nicht zukommen lassen will, kann ich nicht beurteilen. Möglicherweise geht es ihm aber vor allem darum, dass die evangelischen Kollegen und das Pflegepersonal nicht bemerken sollen, dass ich ebenfalls eine ihm adäquate Ausbildung habe und ich doch nicht ganz so sein „Assistent“ bin, wie er es ihnen gerne darstellen möchte. Was der Grund meiner Ausgrenzung auch immer sein mag, jedenfalls stelle ich fest, dass er am liebsten alles unterbinden möchte, was mein Ansehen und meine Akzeptanz in der Klinik fördern würde. Seine penetrante Haltung in diesem Bemühen kann ich mir nur so erklären, dass er vor meiner Einführung schon überall in der Klinik verkündet hatte, er werde demnächst einen „Assistenten“ bekommen, und diese falsche Ankündigung will er im Nachhinein keinesfalls korrigieren.

Ein weiterer Punkt dieser schriftlichen Gesprächsnotiz, die zu Beginn meiner Einführung im Katharinenhospital verfasst wurde, ist die Möglichkeit, an einer Balint-Gruppe teilzunehmen. Eine Balint-Gruppe ist eine Arbeitsgruppe, bei der sich Ärzte und Seelsorger unter der Leitung eines erfahrenen Psychotherapeuten regelmäßig treffen, um sich über den Krankheitsverlauf von problembehafteten Patienten auszutauschen und sich gegenseitig zu beraten. Das Ziel ist, eine bessere Patienten-Beziehung aufzubauen, um sie besser behandeln zu können. Anhand eines Fallbeispiels, das in der Regel ein Teilnehmer schildert, wird im kollegialen Gespräch, in freier Assoziation die Beziehung des Seelsorgers zum Patienten durchleuchtet, um ein besseres Verständnis für den Patient und seine Krankheit zu erreichen. Dadurch soll eine angemessene ärztliche, pflegerische oder seelsorgerische Begleitung ermöglicht werden. Benannt wird diese Methode nach Michael Balint, einem Psychiater und Psychoanalytiker, der sie ursprünglich für Ärzte entwickelt hatte. Da mein Kollege Witt bereits an einer solchen Gruppe teilnimmt, soll er dort anfragen, ob ich dieser Gruppe beitreten könnte. Allerdings wird mein Ersuchen abgelehnt mit der Begründung, dass alle Teilnehmer sich einig seien, keine neuen Mitglieder mehr aufzunehmen. Ich müsse daher warten, bis genügend neue Interessenten zusammenkommen, dann wäre der Psychotherapeut möglicherweise bereit, eine neue Balint-Gruppe anzubieten. Als ich Witt frage, welche Klinikseelsorger denn in dieser Gruppe teilnähmen, nennt er unter anderen Pfarrer Karner und seine Lebensgefährtin Lena Mürther. Lena Mürther kenne ich ja bereits aus meiner Zeit in Böblingen, wo sie damals als Supervisorin unser Seelsorgeteam begleitet hatte. Sie war nebenberuflich als Katechetin beschäftigt, hatte sich zur Supervisorin ausbilden lassen und ist jetzt Klinikseelsorgerin im Bürgerhospital. Mit Pfarrer Karner ist sie liiert, der Klinikseelsorger am Robert-Bosch-Krankenhaus ist, und lebt mit ihm zusammen in einem Haus in Esslingen-Zollberg. Von dort aus fahren sie täglich gemeinsam zu ihren Arbeitsstellen nach Stuttgart. Es wird gemunkelt, dass Prälat Bopp vom Personalreferat, ein Kurskollege von Karner, ihnen dieses Haus zu einem günstigen Preis vermittelt haben soll. Außerdem sollen sie angeblich eine Ferienwohnung im österreichischen Schruns besitzen, die sie an Priester vermieten, welche einen ungestörten Urlaub mit ihren Lebensgefährtinnen verbringen wollen. Obwohl in unserer Diözese der Grundsatz gilt, dass jeder Seelsorger einer Pfarrei zugeordnet sein soll, scheint dieses Prinzip für Lena Mürther und Pfarrer Karner außer Kraft gesetzt worden zu sein. Ob hier wohl eine gewisse Nähe zum Personalchef der Diözese nicht von der Hand zu weisen ist? Denn so wenig wie Karner sein Zölibatsgebot einhält, so wenig halten sich beide an die sogenannte „Residenzpflicht“, wenn sie tagtäglich von ihrem Haus in Esslingen nach Stuttgart zur Arbeit fahren.

Als ich von Witt höre, dass Mürther und Karner in dieser Balint-Gruppe sind, bin ich froh, dass ich abgelehnt wurde. Vielleicht kam diese Entscheidung auch Witt sehr gelegen und wurde sicherlich auch von Mürther und Karner stark beeinflusst. Denn in solch einer Balint-Gruppe werden mitunter Probleme in der Zusammenarbeit unter den Kollegen besprochen, was für Witt bei meiner Anwesenheit unangenehm wäre. Da in einer Balint-Gruppe aber nichts nach draußen dringen darf, erfahre ich auch nie, was Witt dort so alles einbringt und ob er auch die Probleme anspricht, die er in der Zusammenarbeit mit mir hat. Doch leider gibt es künftig keine neuen Interessenten für eine Balint-Gruppe, deshalb kommt auch keine mehr zustande, so dass mir diese Art der kollegialen Unterstützung versagt bleibt.

Weiterhin ist in der Gesprächsnotiz für meine Arbeitsumschreibung vorgesehen, dass ich gelegentlich in den Sonntagsgottesdiensten in der Domgemeinde St. Eberhard die Predigt halten solle, da ich dienstrechtlich dieser Pfarrei zugeordnet bin. Außerdem könnte ich in dieser Gemeinde für das Krankenhaus einen Besuchsdienst initiieren oder eventuell in die Jugendarbeit einsteigen. Doch diese Arbeitsbereiche könnten erst dann konkret ausgehandelt werden, wenn dort der neue Dompfarrer und der neue Diakon eingeführt seien und diese ihre Arbeitsbereiche ausgewählt und miteinander abgesprochen haben.

Dies alles wurde bei meinem Dienstantritt in Anwesenheit von Referent Mistel vom Bischöflichen Ordinariat zusammen mit meinem Priesterkollegen Witt vorläufig festgelegt. Da sich Mistel nun wieder telefonisch bei mir gemeldet hat, um meine Arbeitsumschreibung jetzt endgültig festzulegen, erhoffe ich mir sehr, dass meine verschiedenen Zuständigkeitsbereiche endgültig geklärt und schriftlich festgehalten werden, damit die Rahmenbedingungen in der Zusammenarbeit mit meinem Priesterkollegen Witt sich hoffentlich nun deutlich verbessern. Doch leider wird meine Hoffnung enttäuscht. Als Mistel vom Personalreferat hier ist, teilt er mir mit, dass der Vikar in der Domgemeinde St. Eberhard seine Ausbildung beenden und jetzt eine neue Pfarrei übernehmen werde. Außerdem müsse man mit meiner endgültigen Arbeitsumschreibung auch deshalb noch warten, bis der neue Diakon sich seine Arbeitsbereiche ausgewählt habe, erst dann könne auch meine Zuständigkeit endgültig geklärt werden. Allerdings könnte ich in St. Eberhard vorläufig in die Jugendarbeit einsteigen und bei den Pfadfindern als Kurat mitarbeiten. Diesen Bereich habe der neue Diakon bereits im Vorfeld schon ausgeschlossen, da er selbst schon etwas älter sei, und werde sich eher bei den Erwachsenen oder älteren Gemeindemitgliedern engagieren. Obwohl ich weiß, mit wie viel Zeitaufwand die Jugendarbeit verbunden ist, stimme ich dem Vorschlag von Mistel zu und bin bereit, beim Pfadfinderstamm von St. Eberhard mitzuarbeiten.

Die ganze Besprechung mit Pater Witt und Referent Mistel bringt für mich also nichts Neues. Die einzelnen Punkte, die wieder nur in einer vorläufigen Gesprächsnotiz festgehalten werden, bleiben so gut wie unverändert. Und als ich andeute, wie Pater Witt sehr bestimmend über unseren Etat verfügt, der uns doch jeweils zur Hälfte zur Verfügung stehen sollte und wie er ständig auf meinen Stationen unterwegs ist, um irgendwelche Patienten zu besuchen, ist mein Priesterkollege sofort über alle Maßen entrüstet und behauptet, dass doch das alles so abgesprochen sei. Und wenn nun mal auf meinen Krankenstationen ein Seelsorger gewünscht werde, so bleibe ihm doch gar nichts anderes übrig, als zu diesen Patienten auch hinzugehen und sie zu besuchen. Als ich daraufhin auf das Problem zu sprechen komme, dass ich mich nach seiner Meinung nicht Seelsorger bezeichnen dürfe und er großen Wert darauf lege, dass auf meinem Namensschild lediglich der Zusatz „Krankenhausseelsorge“ und nicht „Krankenhausseelsorger“ geschrieben steht, empört er sich heftig darüber, dass ich solche grundsätzliche Dinge hier doch nicht zur Sprache bringen solle, wo es ja lediglich nur um die Aufteilung unserer Arbeitsbereiche gehe. Auch seine Patientengottesdienste spreche ich an, die ich zwar vorbereiten solle, in denen ich aber lediglich nur die Predigt halten dürfe, weil er mir nicht zubillige, auch das Evangelium vorzulesen, obwohl dies in unserer Diözese für die Pastoralreferenten so festgelegt wurde. Auch da fährt er mich unwirsch an. Und als ich Referent Mistel hilfesuchend anschaue und ihn um eine Stellungnahme bitte, redet sich dieser mit allerlei Ausflüchten aus dieser kritischen Situation heraus und gibt mir den Rat, mich so bald wie möglich in Heidelberg beim Institut für klinische Seelsorge-Ausbildung anzumelden und dort einen Kurs zu belegen, der vier Monate dauern werde.

Leider hat also dieses Gespräch über eine neue Arbeitsumschreibung keinerlei positive Auswirkungen in der Zusammenarbeit mit meinem Kollegen Witt bewirkt. Im Gegenteil, Witt verhält sich mir gegenüber noch kühler und distanzierter, da er wohl der Meinung ist, dass er in seiner Arbeitsweise von Mistel voll und ganz bestätigt wurde. Weiterhin demonstriert er in hochnäsiger Manier unausgesprochen seine priesterliche Vorrangstellung gegenüber allen „Laien“ und behandelt mich vor anderen und vor allem in den Teamsitzungen bei unseren evangelischen Kollegen, als ob er mein Chef wäre und ich absolut nichts zu bestimmen hätte. Um aber diesen Konflikt nicht auf die Spitze zu treiben, konzentriere ich mich auf meine Patientenbesuche und nehme zu den Pfadfindern von St. Eberhard Kontakt auf. Zusammen mit dem Vorstand des Pfadfinderstammes beschließen wir, künftig an den Wochenenden mit den Gruppenleitern regelmäßig Leiterschulungen und andere Freizeitaktivitäten zu planen, damit ihr pädagogisches Wissen und pfadfinderisches Können aufgefrischt werde und sie somit für ihre nicht gerade leichte Aufgabe besser gewappnet sind. Für diese Fortbildungsveranstaltungen kann ich fähige Leute gewinnen, die ich in meiner Jugendarbeit in Böblingen und Ludwigsburg kennengelernt hatte. Und da es sich mit der Zeit bei den Pfadfinderstämmen in der Umgebung von Stuttgart herumspricht, dass in der Domgemeinde St. Eberhard Leiterschulungen stattfinden, melden sich die Stämme von Bad Cannstatt, Zuffenhausen, Stammheim und Untertürkheim bei mir mit der dringenden Bitte, auch für ihre Gruppenleiter solche Schulungen durchzuführen. Bei so vielen Wünschen, die nun auf mich zukommen, stecke ich in einem gewaltigen Dilemma. Einerseits wird meine Arbeit im Katharinenhospital von meinem Priesterkollegen Witt keineswegs geschätzt, andererseits werde ich von diesen jungen Leuten derart stark angefragt, so dass ich mich kaum entscheiden kann, was ich jetzt tun soll. Denn beides zusammen wäre ja geradezu ein doppelt so großer Aufgabenbereich, der in einem einzigen Dienstauftrag kaum unterzubringen ist. Trotzdem ringe ich mich dazu durch, auch den Gruppenleitern dieser Pfadfinderstämme die Teilnahme an unseren Leiterschulungen zu ermöglichen. Denn die Perspektive, mit jungen Menschen außerhalb des Katharinenhospitals zusammenzuarbeiten, eröffnet mir die Möglichkeit, mich dem ständig arroganten und hochnäsigen Priestergehabe meines Kollegen Witt wenigstens zeitweise zu entziehen. Damit meine nun doch sehr erweiterte Jugendarbeit auch vom Bischöflichen Ordinariat und außerdem auch versicherungsrechtlich abgesichert ist, lasse ich diese zusätzlichen Aufgaben vom Personalreferat genehmigen. Referent Mistel vom Personalreferat ernennt mich daraufhin ganz offiziell zum Bezirkskurat für die Pfadfinderstämme (DPSG) in der Region Stuttgart.

Aufstieg des Kollegen Stolzenburg

Als ich von meiner Israel-Tour zurückkomme, steht leider ein Termin an, der mich traurig stimmt. Es ist die Verabschiedung des evangelischen Kollegen Bohn, der nun in seinen wohlverdienten Ruhestand geht. In einem Festakt wird er im großen Saal des Wirtschaftsgebäudes von seiner Dienststelle im Katharinenhospital verabschiedet. Im Beisein vieler geladener Gästen halten der Verwaltungsdirektor, verschiedene Chefärzte, die Direktorin der Pflegekräfte sowie andere Persönlichkeiten in leitender Funktion ihre Abschiedsreden und wünschen ihm vor allem eine gute Gesundheit, damit er die kommenden Jahre möglichst sorgenfrei noch lange genießen kann. Auch mein Priesterkollege Witt lobt die gute ökumenische Zusammenarbeit und überreicht ihm als Zeichen der Verbundenheit ein kleines Buchgeschenk. Ich bedaure sehr, dass er nicht mehr mein Arbeitskollege ist, denn bei ihm hatte ich wenigstens das Gefühl, dass er mich und meine Arbeit schätzt. Doch ich tröste mich damit, dass ich ihn und seine Frau in Stuttgart-Botnang weiterhin bei privaten Einladungen treffen kann.

Da Bohn nun pensioniert ist, redet er noch viel offener über seinen Kollegen Stolzenburg, wenn ich bei ihm zu Gast bin. Zunehmend gibt er mir Einblick in seine bisherige Zusammenarbeit mit ihm, mit dem ich ja weiterhin im Katharinenhospital zusammenarbeiten muss. Wie Bohn so allmählich herauslässt, hegt er einen ungeheuren Groll gegen ihn, kritisiert seine intriganten Machenschaften und klärt mich über so manch hinterhältige Schliche auf, die er von ihm einstecken musste. Ich selbst erzähle ihm allerdings nichts von meiner suboptimalen Zusammenarbeit mit meinem Kollegen Witt, sondern deute lediglich an, dass es auch bei uns durchaus etwas besser laufen könnte. Doch darüber brauche ich ihm ja nicht viel zu erzählen, er hat bei unseren ökumenischen Teamsitzungen ohnehin oft miterlebt, wie Witt mich ständig rücksichtslos überging, alle Entscheidungen selbstherrlich alleine traf und mich in der Runde kaum zu Wort kommen ließ. Dass der herablassende Umgangston meines Kollegen Witt dem evangelischen Kollegen Stolzenburg imponierte, erfahre ich nun von seinem Kollegen Bohn, der in seinem Ruhestand jetzt keinen Hehl mehr daraus macht, wie er seinen unehrlichen und arglistigen Kollegen Stolzenburg erlebt habe.

So oft wir bei diesen Einladungen auf meine Arbeit im Krankenhaus zu sprechen kommen, steigt dem ansonsten so ruhig und gefasst wirkenden Pfarrer die Wut ins Gesicht, wenn er sich an seinen früheren Kollegen Stolzenburg erinnert. Er war viele Jahre Vorsitzender des evangelischen Klinikseelsorger-Konvents und prangert nun unverhohlen die kaltschnäuzige Art seines Kollegen Stolzenburg an, die ihm schon so manche schlaflose Nacht bereitet habe. Nie habe Stolzenburg zugeben können, wenn er ihn zur Rede stellte, dass er hinter seinem Rücken mal wieder gegen ihn gearbeitet habe. Bei diesen für mich sehr aufschlussreichen Gesprächen ermahnt mich Bohn, größte Vorsicht im Umgang mit Stolzenburg walten zu lassen. Doch mit einer fast etwas mitleidigen Miene kommt er zur Einsicht, dass ich wohl leider meine eigenen Erfahrungen mit diesem unehrlichen Menschen machen müsse. Jetzt aber sei er heilfroh, dass er nicht mehr mit diesem Kollegen zusammenarbeiten müsse. Bisweilen sind diese Gespräche für mich fast etwas unangenehm, weil ich es nicht gewohnt bin, dass jemand über seinen ehemaligen Kollegen in dessen Abwesenheit so schlecht redet. Meine Unbefangenheit, diesem Kollegen gegenüberzutreten, wird somit unweigerlich eingeschränkt, die ich mir im Grunde genommen nicht gerne nehmen lassen will. Andererseits bin ich auch froh, wenn ich von Pfarrer Bohn schon einmal vorgewarnt werde, damit ich in meiner Naivität und Gutgläubigkeit diesem Stolzenburg nicht zu unachtsam und zu vertrauensselig gegenübertrete.

Es dauert nicht all zulange und schon muss ich meine eigenen Erfahrungen mit dem evangelischen Kollegen Stolzenburg machen. Als mein katholischer Kollege Witt für ein paar Wochen im Urlaub ist, bittet mich ein evangelischer Patient, dass er von einem evangelischen Pfarrer besucht werden möchte. Ich übermittle Stolzenburg diesen Besuchswunsch, er nimmt ihn von mir dankbar entgegen und lobt meine ökumenische Zusammenarbeit. Bei diesem kurzen Gespräch erkundigt er sich, wie ich mich denn inzwischen hier im Katharinenhospital eingearbeitet habe und möchte mir gleichzeitig den Auftrag erteilen, künftig doch bitte auch dafür zu sorgen, dass immer genügend Altarkerzen im Schrank auf Vorrat sind. Verwundert über seine Anweisung antworte ich ihm, dass ich gerne diese Aufgabe künftig wahrnehmen werde, allerdings müsse das doch auf freiwilliger Basis erfolgen und könnte durchaus auch reihum jedes Mal auch von einem anderen Kollegen erfolgen. Doch so, wie er dies jetzt zu mir sage, habe es den Anschein, dass er mir ganz dezidiert einen Auftrag erteilen und ausloten wolle, ob ich auch seine Anweisungen und Aufträge befolge. Deshalb lehne ich diese Anweisung in dieser Form ab und schlage vor, dass er diesen Punkt doch bitte in unserer nächsten ökumenischen Teamsitzung einbringen möge, damit wir gemeinsam darüber sprechen und die Anschaffung der Kerzen künftig entsprechend organisieren. Etwas pikiert wechselt er schnell das Thema und fragt mich hochnäsig nach meinem persönlichen Werdegang:

„Was haben Sie denn bisher überhaupt so alles gemacht? Sie lassen sich ja wohl gar nichts von mir sagen?“

Ich berichte ihm kurz, wo ich bisher gearbeitet und studiert habe, worauf er mir gar nicht glauben will, dass ich wie er an einer Universität Theologie studierte. Nochmals fragt er genauer nach und möchte wissen, wie viele Semester es denn gewesen seien, die ich angeblich studiert hätte. Ich antworte ihm, dass ich bis zum Vordiplom an der Uni München vier Semester studiert habe, dann zwei Semester an der Theologischen Fakultät in Jerusalem und danach mein Studium an der Uni München mit dem Diplom abgeschlossen habe. Allerdings habe ich, so füge ich hinzu, alle zehn Semester innerhalb von vier Jahren absolviert, weil ich während der Semesterferien mein Studium in Jerusalem einbauen konnte und zusätzlich die Diplomarbeit und sämtliche Prüfungen in München noch ein Semester vorziehen konnte, so dass ich mein Studium mit einer Regelstudienzeit von zehn Semestern innerhalb von vier Jahren abgeschlossen habe. Stolzenburg zeigt für diese Leistung kein großes Verständnis. Er zieht in Zweifel, ob man in einer solch kurzen Zeit überhaupt ein ordentliches Studium absolvieren könne und erwähnt, dass er sein Studium der Evangelischen Theologie sehr ernst genommen habe. Er habe sogar siebzehn Semester lang studiert und unterstreicht diese besondere Leistung dadurch, indem er seinen Kopf leicht anhebt und über mich hinweg schaut. Somit will er mir andeuten, dass er mit seinem theologischen Wissen mir weit überlegen ist. Doch ich vermute eher, dass er als „ewiger Student“ sich vor lauter Prüfungsangst allerlei Bummelstrategien ausgedacht hatte und seine Prüfungen ständig vor sich herschob, um mit Hängen und Würgen letztendlich doch noch nach siebzehn Semestern zu einem Abschluss zu kommen.

Auch in den folgenden Wochen will er mir immer wieder kleine Aufgaben delegieren und betont, wie wichtig es sei, dass wir hier in gut ökumenischer Weise zusammenarbeiten und uns gegenseitig aushelfen. So weist er darauf hin, dass es zu meinen Aufgaben gehöre, morgens regelmäßig die Anmeldezettel der Patienten bei der Krankenhausaufnahme abzuholen. Auf diesen Formularen können die Patienten ankreuzen, welcher Konfession sie angehören und ob sie einen Besuch eines Seelsorgers wünschen. Wenige Tage später meint Stolzenburg, ich solle in unserem gemeinsamen Büro doch bitte auch regelmäßig den Anrufbeantworter abhören und die Besuchswünsche der Patienten, die vom Pflegepersonal aufgesprochen wurden, auf einen Zettel schreiben und ans schwarze Brett hängen, damit er bei seinem Kommen auch gleich wisse, wen er besuchen solle. In diesen drei Wochen, in denen mein Kollege Witt im Urlaub ist, kommt es mir geradezu so vor, als ob er die Dienstaufsicht über mich bekommen habe und er dafür sorgen müsse, dass ich meine Arbeit auch ordentlich ausführe. Gleich tags darauf fragt er mich, ob ich für ihn am kommenden Sonntag seinen Patientengottesdienst übernehmen könnte, da er angeblich einen dringenden Termin wahrnehmen müsse. Da ich ihm meine ökumenische Zusammenarbeit zeigen will, bin ich bereit, seinen Gottesdienst zu halten und übernehme zusätzlich zu den Gottesdiensten meines Kollegen Witt nun auch den Gottesdienst von Stolzenburg, so dass ich im Katharinenhospital an vier aufeinanderfolgenden Sonntagen die Patientengottesdienste halten muss.

Nachdem sein älterer Kollege Bohn in den Ruhestand gegangen ist, scheint es für ihn nun doch etwas schwierig zu sein, für seine Abwesenheit eine Vertretung zu finden. Allerdings bemerke ich im Laufe der Zeit, dass er ausgerechnet immer gerade in dieser Zeit zusätzlich zu seinen bereits geplanten Urlaubstagen weitere Tage frei nehmen möchte, in denen mein Kollege Witt im Urlaub ist. Dann fragt er mich jedes Mal ganz kurzfristig, ob ich nicht auch seine Gottesdienste übernehmen könnte. Irgendwie fühle ich mich auf diese Weise von im ausgenützt, denn umgekehrt kann ich ihn ja nie darum bitten, dass er für mich einmal eine Predigt übernimmt, die ich in den Messen meines Kollegen Witt halten muss. Denn Witt würde es ja niemals zulassen, dass ein evangelischer Kollege bei ihm predigt, nur weil dieser mich vertreten soll. Manchmal frage ich mich, ob Stolzenburg mich auch deshalb als Vertretung engagieren möchte, weil er somit seine zusätzlichen Urlaubstage vor seinen evangelischen Kollegen besser verheimlichen kann. Vor mir scheint er jedenfalls keine Skrupel zu haben, mich für seine Schummeleien auszunützen. Doch mit der Zeit wird mir seine Unverfrorenheit und Dreistigkeit zu dumm. Bei nächster Gelegenheit gebe ich ihm zu verstehen, dass ich gerne bereit bin, seinen Gottesdienst zu übernehmen, allerdings nur noch dann, wenn er nicht mehr so kurzfristig auf mich zukomme, sondern dies längerfristig einplane. Denn auch ich habe durch die Fortbildungsveranstaltungen der Pfadfinder an den Wochenenden einen dichten Terminkalender und könne nicht immer so kurzfristig umplanen. Außerdem werde ich künftig von ihm nur noch einen Gottesdienst übernehmen, wenn dies auch auf Gegenseitigkeit beruhe. Doch diesen Vorschlag findet Stolzenburg anmaßend und absurd. Er lehnt dies schlichtweg ab und argumentiert, dass die katholischen Patienten doch nie einen evangelischen Pfarrer akzeptieren würden und er sich auf solche Experimente erst gar nicht einlassen will. Die evangelischen Patienten seien in diesem Punkt doch wesentlich toleranter und würden eher einen katholischen Kollegen akzeptieren als umgekehrt. Doch dieses Argument lasse ich nicht gelten. Da unsere Patientengottesdienste ohnehin immer im wöchentlichen Wechsel der beiden Konfessionen stattfinden und es die Katholiken hier längst gewohnt sind, jeden zweiten Sonntag in einen evangelischen Gottesdienst zu gehen, könne er genauso bei meiner Abwesenheit durchaus auch einmal meine Predigt übernehmen. Doch diese Möglichkeit weist er weit von sich und will sich auf solche Experimente, wie er es nennt, gar nicht erst einlassen.

Als ich ihn wenige Tage später aus Gefälligkeit in meinem Auto zu einer ökumenischen Klinikseelsorger-Konferenz mitnehme, lobt er mich hochnäsig und attestiert mir eine gute „ökumenische Zusammenarbeit“. Doch dieses Lob erscheint mir sehr vordergründig zu sein, denn umgekehrt käme er ja nie auf den Gedanken, auch mich einmal mit seinem Auto auf eine derartige Sitzung mitzunehmen. Andererseits scheint seine Wertschätzung mir gegenüber ohnehin nicht sehr groß zu sein, denn leider muss ich die Erfahrung machen, dass auf unserem gemeinsamen Anrufbeantworter in unserem ökumenischen Büro die Anrufe, die an mich gerichtet waren, des öfteren gelöscht wurden. Von einigen Krankenschwestern erfahre ich nämlich, dass sie mir Mitteilungen auf unseren Anrufbeantworter gesprochen haben, die ich jedoch nie abhören konnte. Nach Abwägung dieser Sachlage kann es also nur Stolzenburg gewesen sein, der diese Anrufe gelöscht und ihre Nachrichten nicht an mich weitergeleitet hat. Denn Witt legt mir jedes Mal einen Zettel auf den Schreibtisch, wenn er vom Anrufbeantworter Mitteilungen abhört, die mich betreffen.

Mehrmals täglich werden uns irgendwelche Patientenwünsche auf unseren Anrufbeantworter gesprochen, wobei das Pflegepersonal uns meist den Namen, die Krankenstation und die Zimmernummer des zu besuchenden Patienten nennt. Wenn solch eine Nachricht aber nicht bei mir ankommt, was soll ich dann tun? So kommt es mittlerweile immer häufiger vor, dass ich vom Pflegepersonal mit dem Vorwurf konfrontiert werde, dass sie einen Besuchswunsch auf unseren Anrufbeantworter gesprochen hätten, doch leider sei ich nicht gekommen. Als ich meine Vermutung dem Kollegen Witt mitteile, dass der Kollege Stolzenburg auf dem Anrufbeantworter Nachrichten löscht, die für mich bestimmt sind, will er nichts davon wissen. Er weist diese Mutmaßung als absurd zurück. Von Witt kann ich in dieser Hinsicht also keinerlei Unterstützung erwarten. Trotzdem spreche ich Stolzenburg darauf an, der sich sehr empört darüber zeigt, dass ich so etwas von ihm denke. Und als ich nicht locker lasse und ihm einige Fälle schildere, in denen ich vom Pflegepersonal deswegen angemahnt wurde, gibt er dann doch schließlich zu, dass es möglicherweise tatsächlich sein könnte, dass er versehentlich mal einen Anruf gelöscht habe, der für mich bestimmt gewesen sei, weil die Löschtaste und die Einschalttaste bei diesem Anrufbeantworter dummerweise gleich nebeneinander seien, so dass er diese beiden Tasten versehentlich verwechselt habe. Allerdings bekomme ich bei diesem Gespräch den Eindruck, dass es ihm nicht sehr peinlich zu sein scheint, dass er die aufgesprochenen Nachrichten nicht an mich weitergeleitet hatte. Ich frage mich, ob Stolzenburg sich vielleicht doch auf diese Weise bei mir rächen will, weil ich nicht mehr so ohne weiteres bereit bin, seine Gottesdienste zu übernehmen.

Jedenfalls hoffe ich, dass er in Zukunft etwas mehr darauf achtet, wenn er Anrufe abhört, die mich betreffen, und sie nicht mehr „versehentlich“ löscht. Sollten meinem Kollegen Witt von Seiten des Pflegepersonals irgendwelche Beschwerden über mich zugetragen werden, erzähle ich ihm nochmals diese Angelegenheit. Doch Witt zeigt sich zugeknöpft und will von diesen Dingen absolut nichts wissen. Er lehnt es strikt ab, sich solche nach seiner Meinung unhaltbaren Beschuldigungen anzuhören. Ich bekomme von ihm geradezu den Eindruck, als ob er die Integrität des Kollegen Stolzenburg verteidigen müsste, da er ihn für einen außerordentlich korrekten Pfarrer hält. Niemals würde er ihm so etwas zutrauen. Witt macht mir daraufhin nochmals eindeutig klar, dass ich in dieser Beziehung von ihm mit keiner Unterstützung rechnen könne, falls tatsächlich Beschwerden über mich an ihn herangetragen werden sollten.

Schon nach wenigen Tagen ruft mich samstagnachmittags zuhause eine Krankenschwester an und bittet mich, so bald wie möglich auf ihre Krankenstation zu kommen, weil dringend eine Patientin mit mir reden möchte. Ich kam gerade von der Klinik und wollte mich etwas ausruhen, weil ich den ganzen Vormittag damit beschäftigt war, den Patienten die Kommunion zu bringen. Schnell trinke ich einen Kaffee, setze mich wieder ins Auto und fahre ins Krankenhaus. Die Patientin wurde bereits vor einer Woche als Notfall eingeliefert, weil sie eine Überdosis Schmerztabletten eingenommen und sich die Pulsadern geöffnet hatte. Als ich mit ihr rede, berichtet sie mir, dass sie von ihrem Neffen sehr enttäuscht wurde, den sie in ihrem Testament als Alleinerbe eingesetzt habe. In einer Kurzschlusshandlung wollte sie ihrem Leben ein Ende setzen, weil er sie sehr enttäuscht habe. Doch als ihr klar wurde, dass ihr Neffe dann sowieso alles erben würde, rief sie schnell noch den Notarzt, wurde gerettet und will nun dringend ihr Testament ändern und ihr Vermögen einer gemeinnützigen Gesellschaft vermachen. In diesem Gespräch eröffnet sie mir, dass sie mit meiner Hilfe nun unbedingt heute noch dieses Nottestament abfassen möchte, um ihr bisheriges notariell abgefasstes Testament zu revidieren. Sie erzählt, dass sie katholisch sei, jedoch ihre Konfession in den Aufnahmepapieren nicht angeben konnte, weil sie ja als Notfall eingeliefert wurde. Dem evangelischen Pfarrer Stolzenburg habe sie bereits ihr Anliegen mitgeteilt, als er hier im Krankenzimmer eine evangelische Patientin besucht habe. Stolzenburg habe ihr daraufhin versprochen, sich darum zu kümmern, doch leider habe er sich seitdem nicht mehr bei ihr blicken lassen. Lange höre ich ihr zu und gewinne zunehmend aufgrund ihrer etwas konfusen Schilderung den Eindruck, dass sie sehr unter psychischem Druck steht. Sie will jetzt unbedingt so schnell wie möglich ihr bereits verfasstes Testament durch ein Nottestament ersetzen. Bevor ich aber die ganzen Formalitäten in die Wege leite und zwei Zeugen suche, die dieses Nottestament bestätigen können, versuche ich vorher vom Pflegedienstzimmer aus, den Kollegen Stolzenburg zuhause anzurufen, um abzuklären, ob er in dieser Sache schon etwas unternommen habe. Glücklicherweise erreiche ich ihn und schildere ihm den Zustand der Patientin. Unwirsch gibt er mir sehr deutlich zu verstehen, dass ich hier nichts zu unternehmen bräuchte, da er mit dieser Frau schon alles besprochen habe und ich mich nicht in seine Angelegenheit einmischen solle. Heute Abend würde er bei ihr nochmals vorbeikommen, um die Sache vollends zu erledigen.

Froh darüber, dass ich ihn angerufen habe, gehe ich zur Patientin zurück und teile ihr mit, dass Pfarrer Stolzenburg heute Abend noch kommen werde, um mit ihr das Testament aufzusetzen. Ich bleibe noch eine Zeitlang bei ihr, damit sie sich wieder beruhigen kann und gebe dem Pflegepersonal Bescheid, dass Pfarrer Stolzenburg heute noch zu dieser Patientin kommen und sich um sie kümmern werde.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739490113
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (März)
Schlagworte
Hierarchie Jesuit Statusdenken Pfarrer Arbeitnehmerrecht Ausgrenzung Rivalitätsdenken Kollegialität Priester Biografie

Autor

  • Bernhard Veil (Autor:in)

Bernhard Veil absolvierte die mittlere Beamtenlaufbahn bei der Stadtverwaltung Aalen. Danach altsprachliches Abitur in Stuttgart, Theologiestudium in München und Jerusalem, Gemeindeseelsorger für Jugendarbeit und Erwachsenenbildung mit regelmäßigem Predigtdienst und Religionsunterricht in Böblingen und Ludwigsburg. Anschließend Klinikseelsorger in Stuttgart. Psychotherapeutische Ausbildung in München und Wien. Klinikseelsorger in Geislingen a.d.Steige und in vier Alten- und Pflegeheimen.
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Titel: Die Seelentöter – Band 3: Klinikseelsorge in Stuttgart