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Die Seelentöter – Band 2: Neubeginn in Ludwigsburg

Meine Erfahrungen in der katholischen Kirche - Band 2: Neubeginn in Ludwigsburg mit Erinnerungen an das Collegium Ambrosianum und an meine Studienzeit in Jerusalem

von Bernhard Veil (Autor:in)
236 Seiten
Reihe: Die Seelentöter, Band 2

Zusammenfassung

Im zweiten Band der Reihe „Die Seelentöter“ beschreibt der Autor seine Erlebnisse, die er als Mitarbeiter in einer Kirchengemeinde mit über 10000 Katholiken durchstehen muss. Weil er selbst Priester werden möchte, lässt er sich zunächst zum Pastoralreferent ausbilden, um auf diese Weise den Priesterberuf in der realen Seelsorge kennenzulernen. Er hofft, sich somit besser für oder gegen den zölibatären Lebensweg entscheiden zu können. Dabei stellt er fest, dass viele Priester sich keineswegs an das Zölibatsgebot halten, sondern eheähnliche Partnerschaften eingehen oder homosexuelle Beziehungen pflegen, die von ihren Kirchenoberen geduldet werden. Während der arbeitsintensiven und turbulenten Zeit in der Gemeindeseelsorge erinnert er sich zurück an das Collegium Ambrosianum, wo er in penetranter Weise von zwei homophilen Studienkollegen gestalkt wurde. Einer von ihnen studiert nach seinem Abitur ebenfalls Theologie und lässt sich zum Priester weihen. Wie dessen weiterer Lebensweg verläuft, wird in den folgenden Bänden berichtet. Außerdem schildert der Autor in einer Rückblende interessante und amüsante Begebenheiten, die er während seines Auslandsstudiums in Israel erlebt. Damit er Land und Leute besser kennenlernen kann, bringt er bereits im ersten Semester sämtliche Studien- und Seminararbeiten sowie alle obligatorischen Prüfungen hinter sich, die für den Erhalt seines Stipendiums erforderlich sind. Im zweiten Halbjahr geht er auf Entdeckertour durch Israel, durch Jordanien und in den Sinai. Bei seinen gewagten Exkursionen zu den antiken Ausgrabungsstätten erlebt er abenteuerliche Begegnungen mit Beduinen, muss brenzlige Situationen in der Wüste bewältigen und berichtet von launigen und kuriosen Erlebnissen mit der einheimischen Bevölkerung und ihren kulturellen Gepflogenheiten.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort

Unter der Reihe „Die Seelentöter“ berichte ich von meinen Erfahrungen, die ich als Mitarbeiter in der katholischen Kirche erlebt habe. Damit der Focus der beschriebenen Personen nicht nur auf Priester, Pfarrer und sonstige Kleriker gerichtet ist, habe ich auch mehrere Episoden aus meinem Leben und Werdegang hinzugefügt.

Alle Namen der beschriebenen Personen wurden abgeändert, die angeführten Institutionen und Handlungsorte jedoch beibehalten, so dass jeder sich ein Bild darüber machen kann, was sich vor wenigen Jahren an diesen Schauplätzen ereignet hat. Die zitierten Schriftstücke sind im Originaltext wiedergegeben und wurden lediglich mit den Namen, die vom Autor abgeändert wurden, ausgetauscht. Alle angeführten Briefe und schriftlichen Belege sind wortwörtlich zitiert, so dass der Leser erkennen kann, welche Konsequenzen die kirchlichen Entscheidungsträger aus den vorgegebenen Situationen gezogen haben.

Um das Kostenrisiko in Grenzen zu halten, habe ich auf ein Lektorat verzichtet, sollten sich im Text Fehler eingeschlichen haben, dann bitte ich Sie, mir diese Mängel zur Berichtigung mitzuteilen.

E-Mail-Adresse: bernhardveil@web.de

Umzug in meine neue Gemeinde

Auf meine Bewerbung hin werde ich vom Bischöflichen Ordinariat der Kirchengemeinde „Zur heiligsten Dreieinigkeit“ in Ludwigsburg zugeteilt. Von Böblingen aus fahre ich mehrmals an meinen neuen Arbeitsort und suche mir dort eine Wohnung, was nicht ganz einfach ist. Denn diese schöne Stadt mit ihren etwa 90.000 Einwohnern ist nur etwa 15 km von Stuttgart entfernt und gehört somit zum großen Ballungs- und Industriezentrum von Baden-Württemberg. Auf mein Inserat in der Zeitung sind mehrere Wohnungsangebote eingegangen, von denen ich mir ein sehr zentral gelegenes Apartment mitten in der Stadt, im Marstall-Center, auswähle. Dieses Einkaufszentrum liegt nur wenige Schritte vom Marktplatz entfernt, beherbergt auf zwei Ebenen verschiedene Läden, Gaststätten, Banken und allerlei andere Geschäfte sowie ein Kaufhaus. Darüber erheben sich in vielen Stockwerken moderne, schön geschnittene Wohnungen. Von meinem neuen Apartment in der achten Etage sehe ich direkt hinunter auf den quadratisch angelegten Marktplatz, wo unsere schlichte katholische Kirche der prächtigen evangelischen Stadtkirche gegenübersteht. Auch unser katholisches Gemeindezentrum und das Pfarrhaus, die beide auf der anderen Seite des Schlossgartens liegen, kann ich leicht zu Fuß erreichen, ebenso sämtliche Schulen, in denen ich voraussichtlich unterrichten werde. Der Ausblick über die Stadt ist fantastisch. Jeden Abend werden die Häuser um den Marktplatz und die beiden Kirchen mit ihren barocken Fassaden in goldfarbenes Licht getaucht und erstrahlen romantisch die ganze Nacht hindurch. Es ist ein wunderschöner Anblick.

Alle Veranstaltungen, die dort das Jahr über stattfinden, ob Faschingsumzug, Jahrmärkte, Sommerfeste, politische und sonstige öffentliche Kundgebungen bis hin zum stimmungsvollen Weihnachtsmarkt und Silvesterfeuerwerk, alles kann ich von meinem Balkon aus beobachten. Eine besonders feierliche Stimmung entfaltet sich jeden Samstagabend, wenn die drei Glocken unserer katholischen Dreieinigkeitskirche zur linken und die fünf Glocken der doppeltürmigen evangelischen Stadtkirche auf der rechten Seite gemeinsam in fein aufeinander abgestimmtem Geläute den beginnenden Sonntag verkünden.

Die Miete für meine neue Unterkunft ist zwar nicht gerade billig, doch dafür kann ich per pedes umweltfreundlich alle meine Einsatzorte erreichen und mein Auto zumeist in der Tiefgarage stehen lassen. Wenn ich mit dem Aufzug von meiner Wohnung hinunterfahre, sind es bis zur Kirche am Marktplatz nur fünf Minuten, durch den Ludwigsburger Schlossgarten bis zum Pfarrbüro oder zum Gemeindehaus zehn Minuten und bis zum Schiller-Gymnasium oder zur Elly-Heuss-Knapp-Realschule etwa fünfzehn Minuten. Lediglich zur Filialkirche in Hoheneck oder wenn ich in unserem weitläufigen Gemeindegebiet jemanden besuchen muss, benötige ich mein Fahrzeug. Somit habe ich die Auflage meines Arbeitgebers voll und ganz erfüllt, dass ich als kirchlicher Mitarbeiter meinen Wohnsitz innerhalb des Gemeindegebietes nehmen muss. Für einen Pfarrer oder Vikar ist solch eine „Residenzpflicht“ wesentlich leichter zu erfüllen, da ihnen normalerweise ein Pfarrhaus meist neben der Kirche für einen günstigen Mietpreis zur Verfügung gestellt wird.

Unsere Kirchengemeinde ist mit über 10.000 Katholiken eine der größten Pfarreien in unserer Diözese. In den ersten Wochen ist mein Terminkalender prall gefüllt, viele Sitzungs- und Begrüßungstermine in Schulen, beim Kirchengemeinderat und bei diversen Gruppen und Verbänden, bei den Gruppenleitern der Jugendlichen und in Gremien des Dekanates stehen auf dem Programm, um mir erst einmal einen Überblick zu verschaffen. Nach einigen Wochen der Orientierung setzt sich Pfarrer Fauser mit dem Vikar und mit mir zusammen, um unsere Arbeitsgebiete unter uns neu aufzuteilen.

Bei meiner Vorstellung in den verschiedensten Gruppierungen haben einige bereits ihre Wünsche geäußert und mir mitgeteilt, dass ich doch bitte künftig ihr pastoraler Ansprechpartner sein möge und möglichst regelmäßig bei ihren Zusammenkünften und Veranstaltungen dabei sein solle. Vor allem die Jugendleiter wollen, dass ich für sie zuständig bin, damit eine kontinuierliche Jugendarbeit gewährleistet ist. Denn bisher war immer ein Vikar für sie da, der jedoch nach zwei Jahren die Gemeinde wieder verließ, weil er ja noch in Ausbildung ist und danach in eine andere Ausbildungsstelle wechseln muss.

Pfarrer Fauser, Vikar Achim Stützel und ich treffen uns wöchentlich im Pfarrhaus, um die anstehenden Termine für Gottesdienste, Sitzungen und andere Veranstaltungen in der Gemeinde zu planen und untereinander abzusprechen. Gelegentlich ist ein pensionierter Priester dabei, der im Kloster der Karmelitinnen in unserer Filialgemeinde Hoheneck wohnt. Diese Ordensgemeinschaft unterhält auf ihrem Anwesen ein Waisenhaus und ein Müttergenesungsheim, das von einem schönen Park umgeben ist, in dem auch eine kleine, moderne Kirche steht, wo wir für den Teilort Hoheneck unsere Gottesdienste halten.

Pfarrer Fauser teilt unsere Zuständigkeitsbereiche folgendermaßen unter uns auf: er übernimmt kraft seines Amtes den Vorsitz des Kirchengemeinderates und des Verwaltungsausschusses, der Vikar den Liturgie-Ausschuss, den Ausschuss für Ökumene und die Betreuung der Ministranten, ich übernehme den Ausschuss für Erwachsenenbildung, den Veranstaltungsausschuss und den Jugendausschuss, der für folgende Jugendverbände zuständig ist:

  • die Katholische junge Gemeinde (KjG),
  • die Katholische studierende Jugend (KSJ),
  • die Deutsche Pfadfinderschaft St. Georg (DPSG)
  • die Jugend der Kolpingfamilie (Kolping-Jugend) und
  • die Deutsche Jungendkraft (DJK- Sportgemeinschaft)

Die übrigen Ausschüsse des Kirchengemeinderats, der Ausschuss Mission, Entwicklung und Frieden, der Ausschuss für ausländische Mitbürger und der Ausschuss für Familien und Arbeitswelt werden je nach Bedarf und Anforderung von uns dann abwechselnd mitbetreut. Die Franziskanische Gemeinschaft, die Elisabethen-Gruppe, die Vinzenz-Gemeinschaft, der Katholische Frauenbund, die Schönstatt-Müttergruppe, die Kolpingfamilie und der Seniorenkreis haben ihre eigenen Leitungsstrukturen und fordern uns ebenfalls gelegentlich zu Vorträgen, Diskussionsrunden oder für die Gestaltung ihrer Besinnungstage an.

Die sechs Sonntagsgottesdienste, die in der Dreieinigkeitskirche, in der Schlosskirche und in Hoheneck stattfinden, sind zeitlich so nacheinander festgelegt, dass sie notfalls von zwei Priestern bedient werden können. Den Predigtplan erstellen wir derart, dass jeder von uns reihum die Predigt halten muss. Wenn man die Urlaubszeiten von uns mitberücksichtigt und die vielen kirchlichen Feiertage mit einrechnet, muss dann jeder etwa alle zwei Wochen predigen. Da der Pfarrer selbst nicht so gerne eine Predigt ausarbeitet, weil er für eine gründliche Vorbereitung zu wenig Zeit hat, nimmt er oft Predigtvorlagen aus diversen Predigt-Zeitschriften und liest sie einfach im Gottesdienst vor. Dies merken aber oftmals die gewieften Gottesdienstteilnehmer, weil er ungewohnte Ausdrücke und Fremdwörter während seiner Predigt meist sehr unsicher vorliest und dadurch mit seinen Augen nah am Predigttext hängenbleibt. An den kirchlichen Hochfesten wie Weihnachten, Ostern und Pfingsten oder an anderen hohen Feiertagen überlässt er deshalb sehr gerne mir die Predigt. Außerdem wird bei diesen Festgottesdiensten jedes Mal von unserem „Chor der Dreieinigkeitskirche“ eine große Orchestermesse aufgeführt, die Pfarrer Fauser zusammen mit dem Vikar zelebriert, wobei ich dann als Prediger ebenfalls mit eingesetzt werde. So ziehen wir drei Seelsorger bei solch einem Festgottesdienst in einer großen liturgischen Prozession vom hinteren Portal durch den Mittelgang in die Kirche ein. Viele Ministranten gehen uns voraus, von denen einer das Vortragekreuz, andere die Kerzenleuchter und zwei von ihnen das Rauchfass und das Weihrauchschiffchen tragen, um unsere Gottesdienste an den Feiertagen besonders feierlich und würdig zu gestalten. Alles in allem ist die Arbeitsaufteilung unter uns Dreien recht gut geglückt, so dass wir ohne größere Reibungsverluste mit den uns zugeordneten Gemeindemitgliedern zusammenarbeiten können.

Allerdings ereignet sich nach meiner zweiten Predigt eine Begebenheit, die Pfarrer Fauser sozusagen in Gewissensnöte bringt. Zwar wird in unserer Diözese Rottenburg-Stuttgart schon seit geraumer Zeit in einigen Gemeinden die sogenannte „Laienpredigt“ praktiziert, die es erlaubt, dass Theologen, die an einer Universität studiert haben, in den sonntäglichen Messfeiern die Predigt halten dürfen. Doch als der Vatikan von dieser neuen Praxis Wind bekommt, erlässt das kirchliche Lehramt eine Instruktion, die es diesen sogenannten „Laien“ untersagt, in den sonntäglichen Messfeiern das Wort Gottes zu verkündigen, da dies in der katholischen Kirche ja nur den geweihten Priestern, also den „Klerikern“ vorbehalten ist. Diese „päpstliche Instruktion“ wird von unbekannten Gemeindemitgliedern nun jeden Sonntag in Plakatgröße ans Hauptportal unserer Dreieinigkeitskirche geheftet und jedes Mal von unserem Mesner wieder abhängt.

Wie wir durch diese Protestaktion erkennen müssen, sind also einige sehr konservative Mitglieder unserer Gemeinde nicht mit dem fortschrittlichen Stil der Glaubensunterweisung in unserer Diözese einverstanden und weisen uns mit dieser Plakataktion darauf hin, dass die vatikanischen Richtlinien doch bitte auch bei uns hier eingehalten werden sollen. Pfarrer Fauser überlegt hin und her, ruft im Bischöflichen Ordinariat in Rottenburg an, um sich abzusichern, und lässt mich dann, wie vom Bischof beschlossen, weiterhin in seinen Sonntagsgottesdiensten predigen. Es dauert jedoch noch einige Wochen, bis die anonym gebliebenen Protestler aufgeben und keine Plakate mehr am Hauptportal der Dreieinigkeitskirche anbringen.

Doch eine weitere Begebenheit ist wohl eher nicht mit diesen protestierenden Gemeindemitgliedern zu vergleichen, sondern mag vor allem eine Form von persönlicher Kontaktaufnahme zu mir gewesen sein, wie es unter altphilologisch gebildeten Gymnasialprofessoren üblich ist. Als ich an einem Sonntag wieder gepredigt hatte, meldet sich zur Mittagszeit ein Mann bei mir am Telefon und fragt, ob ich ihm mal einige Auskünfte zu meiner Predigt geben könnte. Nach einem kurzen Gespräch über Inhalt und Deutung meiner biblischen Sichtweise und Interpretation kommt er auf das Evangelium zu sprechen, über das ich gepredigt hatte, und will von einem ganz bestimmten Textabschnitt wissen, wie dieser Bibeltext denn in der griechischen Urfassung lauten würde. Ihm komme es vor allem darauf an, in welchem Kasus ein bestimmtes darin vorkommendes Substantiv geschrieben sei.

Ich hole meine altgriechische Bibelausgabe aus meinem Bücherschrank, schlage die gewünschte Textstelle auf und lese ihm auf Griechisch den von ihm gewünschten Bibelabschnitt vor. Anschließend bestimme ich den von ihm genannten Kasus, der ausschlaggebend für die Deutung dieser Bibelstelle ist. Äußerst angetan zeigt er sich, als ich den Akkusativ von dem im Altgriechisch vorkommenden Aorist genau unterscheiden kann. Nach diesem einvernehmlichen Gespräch zeigt er sich sehr zufrieden und wünscht mir weiterhin ein gutes Gelingen bei meiner Arbeit in der Gemeinde. Danach bringt er zum Ausdruck, dass wir uns bald ohnehin persönlich kennenlernen werden.

Nach diesem Gespräch bin ich erstaunt, dass sich jemand so genau bis ins letzte Detail für meine Bibelauslegung interessiert und eine derart detaillierte Auskunft von mir wünscht. Er hatte sich zwar am Telefon mit seinem Namen „Bertram“ vorgestellt, doch wer dieser Mann war, wird sich demnächst noch erweisen. Zwei Wochen später nehme ich erstmals an der Sitzung des Veranstaltungsausschusses teil, um das Herbstfest in der Gemeinde zusammen mit einigen Kirchengemeinderäten vorzubereiten. Und tatsächlich, hier lerne ich diesen Mann nun persönlich kennen. Es ist Dr. Bertram, ein pensionierter Altphilologe, der sich als treuer Katholik unserer Gemeinde stark verbunden fühlt und schon seit Jahren sehr aktiv am Gemeindeleben teilnimmt. Früher war auch er lange Zeit ein Mitglied des Kirchengemeinderates und wie ich in unserem Gespräch nun überrascht feststelle, leitet er sogar ein- oder zweimal im Jahr wissenschaftliche Studienreisen nach Griechenland für einen namhaften kirchlichen Reiseveranstalter in Stuttgart.

Da ich in den Sommer- und Herbstferien für dasselbe Reiseunternehmen zwei Studienreisen nach Israel leitete, kommen wir uns schnell näher und er lädt mich daraufhin des öfteren zu sich nachhause ein, wo seine Frau uns immer ein gutes Mittag- oder Abendessen zubereitet. Manchmal sitzen wir danach noch lange bei einem guten Wein zusammen und ich erhalte von ihnen bei dieser Gelegenheit allerlei interessante Informationen über unsere Kirchengemeinde, sowie viele brauchbare Anregungen und Tipps für meine Arbeit. Unter anderem erzählt er auch von seiner Tochter, die als Lehrerin in Giengen an der Brenz unterrichtet. Sie sei ganz begeistert von dem dortigen Pfarrer, der erst vor kurzem die dortige Pfarrei übernommen habe und außerordentlich gut predigen würde. Er habe so richtig neuen Schwung in diese Gemeinde gebracht. Als Dr. Bertram anerkennend den Namen dieses Pfarrers erwähnt, schrillen bei mir alle Alarmglocken. Es ist Pfarrer Eckmann, mein damaliger Rektor im Collegium Ambrosianum, wo ich das Abitur gemacht habe. Nebenbei bemerke ich, dass ich diesen Mann persönlich recht gut kenne, ich als Seminarist jedoch damals leider etwas andere Erfahrungen mit ihm machen musste. Frohgemut und beschwingt gehe ich nach dieser recht angenehmen Einladung nachhause. Doch bald kommen in mir die sehr schmerzlichen Erinnerungen an das Collegium Ambrosianum wieder hoch, die durch die Erwähnung dieses Namens „Eckmann“ ausgelöst wurden. Es waren überaus leidvolle Erfahrungen, die ich in diesem kirchlichen Seminar gemacht habe. Anfangs fühlte ich mich dort zwar sehr wohl, denn es wurde mir die Möglichkeit geboten, nach meinem Beruf als Verwaltungsbeamter das Abitur nachzuholen. Ich wollte ja Theologie studieren und Priester werden. Doch mit derartigen Problemen, die dort auf mich zukamen, hatte ich nicht gerechnet.

Collegium Ambrosianum

Das Collegium Ambrosianum wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von dem Priester Dr. Albert Rüebli in Stuttgart-Bad Cannstatt gegründet, um den großen Priestermangel in der Diözese Rottenburg-Stuttgart abzumildern. Viele Priester wurden noch in den letzten Kriegsjahren eingezogen und kamen von der Front nicht mehr zurück. Außerdem ergoss sich eine Flut von Heimatvertriebenen in die neu entstandene Bundesrepublik Deutschland, die nicht nur in die althergebrachten politischen Gemeindestrukturen integriert, sondern auch von der ortsansässigen Bevölkerung aufgenommen, eingegliedert und in die bestehenden Kirchengemeinden mit ihren damals oft viel zu kleinen Kirchen eingegliedert werden mussten. Durch das große Leid und die Zerstörungen, die der Krieg über das ganze Land gebracht hatte, suchten die Menschen in ihrer Not wieder Hilfe, Zuflucht und Trost in den Gottesdiensten. Die Kirchen waren brechend voll, der Glaube an Gott wurde bei vielen Menschen in der Nachkriegszeit zu einem neu entdeckten Gut. Die große Enttäuschung und Niederlage, die mit dem Untergang des Dritten Reiches einherging, der Verlust von unzählig vielen Menschenleben, aber auch von materiellem Wohlstand musste kompensiert und den Menschen in ihrem persönlichen Leben neue Hoffnung und ein neuer Sinn vermittelt werden. Die Kirche war gefragt, doch es fehlten die Priester. Da kam Dr. Rüebli auf die Idee, brachliegende Ressourcen in der Diözese ausfindig zu machen. Er schaute sich um, wo er geeignete Männer finden könnte, um sie für den Priesterberuf zu gewinnen. Da es früher Gymnasien und weiterführende Schulen nur in den Städten gab und die Landbevölkerung oft nicht die Möglichkeit hatte, ihre Kinder auf höhere Schulen zu schicken, reiste er deshalb von Dorf zu Dorf, predigte in den Kirchen und warb dafür, dass er junge Burschen zum Abitur führen könne, wenn sie bereit wären, sich dafür einige Jahre so richtig ins Zeug zu legen. Allerdings setzte er eine abgeschlossene Berufsausbildung voraus, damit sie wieder in ihren alten Beruf zurückkehren könnten, falls sie es bei ihm nicht schaffen würden. Da in Baden-Württemberg die Prüfungsaufgaben in den verschiedenen Fächern für das Abitur zentral vom Kultusministerium ausgegeben werden und die Abiturprüfungen in allen Gymnasien des Landes gleichzeitig an den dafür bestimmten Tagen stattfinden, war es für Dr. Rüebli nicht einfach, seine von ihm selbst geschulten Zöglinge auf diese damals sehr schwierigen Abiturprüfungen vorzubereiten. Er hatte zwar die gymnasiale Unterrichtserlaubnis (Staatsexamina) für Latein, Griechisch, Mathematik und Deutsch und konnte somit in diesen Fächern selbst unterrichten, jedoch für Physik, Chemie, Biologie und andere Fächer musste er Lehrer von den umliegenden Gymnasien für seinen Unterricht hinzuziehen. Anfangs wurden die Schüler in sämtlichen Räumen seines Pfarrhauses in Stuttgart-Bad Cannstatt unterrichtet. Alle Räumlichkeiten wurden dafür hergerichtet, angefangen von seinem Wohnzimmer bis zum Kellerraum, wobei ihm seine Schwester den Haushalt führte und bisweilen sogar seine Schüler verköstigte, die in verschiedenen Privatwohnungen untergebracht waren. Als sich nach und nach dieser Schulbetrieb vergrößerte, verlegte er seinen Unterricht in einige Klassenzimmer der benachbarten Schulen. Da seine Schülerzahlen bald weiter anstiegen, baute er schließlich mit Geldern der Diözese das Collegium Ambrosianum, eine Schule mit Internatsgebäude für etwa 120 Seminaristen.

Es wurde in Form eines Hufeisens gleich gegenüber der Bahnstation Stuttgart-Sommerrain erbaut, ein kleiner Haltepunkt für Nahverkehrszüge zwischen Fellbach und Stuttgart-Bad Cannstatt. Somit konnten auch auswärtige Schüler aus dem Großraum Stuttgart leicht per Bahn zu seiner neu errichteten Schule kommen. Dieses Gebäude hatte er selbst entworfen. Man konnte es von der offenen Seite des Hufeisens durch ein großes Tor betreten, gleich an der linken Seite des Eingangs war sein Bungalow angebaut, in dem Dr. Rüebli als Schuldirektor zusammen mit seiner Schwester wohnte. Sie führte ihm nicht nur den Haushalt, sondern war zugleich auch seine Schulsekretärin. Vom Balkon seines Bungalows hatte Dr. Rüebli die beste Übersicht über die Schule und das Seminargebäude. Was für ihn aber besonders wichtig war, er hatte vor allem auch die Kontrolle darüber und konnte genau beobachten, wer durch dieses Tor heraus- und hineinging, vor allem nachts, wenn heimlich noch zu später Stunde einige Studenten versuchten, über dieses verschlossene Eingangstor zu steigen, um zurück ins Seminargebäude zu gelangen. Denn ab acht Uhr abends wurde es vom Hausmeister abgeschlossen und morgens um sechs Uhr wieder geöffnet. Im Collegium Ambrosianum herrschte äußerste Disziplin!

Gleich anschließend an den Bungalow zur Linken erstreckte sich das Schulgebäude mit acht Klassenzimmern, einem Lehrerzimmer und dem Sekretariat. Auf der gegenüberliegenden Seite, also rechts des Eingangstores fügte sich das rechtwinkelige Internatsgebäude an, die einzelnen Gebäudeteile bildeten somit ein quadratisches Bauwerk mit gut überschaubarem Innenhof. In den zahlreichen Einzelzimmern und in einigen Doppelzimmern wohnten rund 120 Seminaristen. In der Ecke zwischen Seminargebäude und Schule waren übereinander vier Wohnungen eingebaut. Ganz oben wohnte Pfarrer Strässle, der als Spiritual für die seelsorgliche Betreuung der Hausbewohner zuständig war, er hielt für uns Gottesdienste und Besinnungstage, erteilte in einem Stuttgarter Gymnasium Religionsunterricht, arbeitete in der Schulbuchkommission mit und gab zusammen mit anderen Lehrern und Professoren verschiedene Religionsbücher heraus. In der Wohnung darunter wohnte der Leiter des Seminars, Rektor Eckmann, ein junger Priester, der für die Organisation und die Verwaltung des Seminarbetriebs zuständig war. Unter ihm wohnten vier Ordensschwestern, die für Haushalt und Küche zuständig waren. In der darunter liegenden Wohnung war schließlich unser Hausmeister mit seiner Familie einquartiert. Unsere „Welt“, in der wir uns in diesen vier Jahren bewegten und uns auf das Abitur vorbereiten mussten, bestand außer der Schule und unseren Zimmern aus unserem Speisesaal, einer Aula, die als Sporthalle genutzt werden konnte, sowie aus unserer Hauskapelle und verschiedenen Aufenthalts- und Versorgungsräumen.

Wollte ein Seminarist abends das Haus verlassen und in Stuttgart eine kulturelle Veranstaltung besuchen, benötigte er von Dr. Rüebli eine Erlaubnis und musste sich im Schulsekretariat bei seiner Schwester eine schriftliche Ausgangsbescheinigung aushändigen lassen. Auf dieser Ausgangsbescheinigung war Ausgangsdatum und Rückkehrzeit vermerkt, die man der Schwester Oberin Anna im Seminar abgeben musste, um einen Hausschlüssel zu bekommen, der auch für das Schloss im großen Eingangstor passte. Auf diese Weise konnte man abends nach acht Uhr wieder ins Seminargebäude hineinkommen. Wer jedoch versuchte, bei Nacht das verschlossene Eingangstor zu übersteigen, weil er zu spät ohne Schlüssel zurückkam, hatte keine Chance, an Dr. Rüebli vorbeizukommen. Jeder Versuch, auch noch so heimlich das Tor zu überwinden, scheiterte. Denn über das metallene Gestänge, mit dem das Tor am Mauerwerk des Bungalows verankert war, wurde jedes Geräusch unmittelbar an die Wand übertragen, hinter der Dr. Rüebli sein Schlafzimmer hatte. Sofort erschien er im Schlafanzug auf seinem Balkon und befahl dem „Spätheimkehrer“, am nächsten Morgen vor Schulbeginn zu ihm ins Rektorat zu kommen, wo er ihm dann den Ausschluss aus Schule und Seminar androhte, falls dies nochmals vorkommen sollte. Dieses strenge Regiment übte er unerbittlich über uns junge Männer aus, die wir doch bereits eine abgeschlossene Berufsausbildung und meist auch etliche Berufsjahre hinter uns hatten.

Dr. Rüebli verhielt sich bei der Vergabe der Ausgangsbescheinigungen sehr restriktiv. Bevor er sie ausgab, schaute er bei jedem Schüler genau die einzelnen Noten der vergangenen Klassenarbeiten an und wollte außerdem noch wissen, welche Veranstaltung er in Stuttgart besuchen möchte. Erschien ihm der Bildungsgewinn des abendlichen Events zu gering, wurde von ihm das Gesuch kurzerhand abgelehnt und der Studiosus ermahnt, seine Zeit lieber dafür zu verwenden, um Latein, Griechisch oder Mathematik zu pauken und sich zielbewusst auf das Abitur vorzubereiten. Hatte man jedoch alle Voraussetzungen für eine Ausgangsbescheinigung erfüllt, musste der Gang zur Oberin Anna angetreten werden, um von ihr den Schlüssel für die Haustür zu erbitten. Dabei schaute sie ganz genau auf den Zettel, ob Datum und Uhrzeit richtig vermerkt waren, setzte den Kandidaten eine Zeitlang ihren kritisch musternden Blicken aus, um letztendlich in ihr Büro zu gehen und einen Schlüssel zu holen, der dann von ihr mit der Mahnung ausgehändigt wurde, dass man ihn am nächsten Morgen sofort beim Frühstück wieder zurückgeben müsse. Nicht nur wegen ihrer kritischen Blicke, sondern auch wegen ihres schleichenden Ganges wurde Schwester Anna von einigen Seminaristen unter vorgehaltener Hand „Schwester Anakonda“ genannt.

Auf diese Weise leitete Dr. Rüebli das Collegium Ambrosianum nach altbewährtem, diktatorischem Stil und hatte dafür sein gut geschultes Personal. Alle drei Priester, Dr. Rüebli, Rektor Eckmann und Spiritual Strässle hielten abwechselnd für uns in der Hauskapelle die täglichen Gottesdienste, die jedes Mal von einem anderen Seminaristen vorbereitet und gestaltet werden mussten. So spielte sich unser tägliches Leben das ganze Jahr über tagaus, tagein in diesem geschlossenen Karree in eintönigem Lerneifer ab. Morgens und nachmittags im linken Flügel der Unterricht, danach im rechten Flügel konzentriertes Lernen, Studieren und Büffeln auf unseren Zimmern. Unterbrochen wurde diese Paukerei von festgesetzten Essenszeiten. Danach unternahmen wir meist kurze Spaziergänge, bei denen wir uns gegenseitig recht gut kennenlernten, aber auch bisweilen mächtig auf den Geist gehen konnten. Der schulische Druck war ungeheuer. In vier Jahren sich quasi den gesamten Lernstoff eines humanistischen Gymnasiums mit großem Latinum einzuverleiben, geistig aufzunehmen und innerlich zu verarbeiten, war für viele kaum zu leisten. Jedes Jahr am Schuljahresende schafften fünf oder sechs Klassenkameraden nicht die Versetzung in den nächsthöheren Kurs, so dass sie die Klasse nochmals wiederholen mussten. Am Ende eines jeden Schuljahres verließen somit etwa ein Viertel unserer Klassenkameraden unseren Kurs, wobei etwa dieselbe Anzahl von der nächsthöheren Klasse wieder als Sitzenbleiber zu uns stieß. So schafften es von den vierundzwanzig Seminaristen, die mit mir zusammen damals ins Collegium Ambrosianum eingetreten waren, nur sechs Mitschüler das Abitur in diesen vier Jahren, ohne einen Kurs zu wiederholen. Und wer zweimal eine Klasse wiederholte, musste, genau wie es bei den Gymnasien geregelt ist, das Ambrosianum verlassen. Im Grunde genommen war diese Kaderschmiede eine Fehlkonstruktion. Da mehr als dreiviertel der Schüler das Abitur in vier Jahren nicht schaffen, hatte diese hohe Misserfolgsrate für das Selbstwertgefühl der Sitzenbleiber und Schulabbrecher mitunter dramatische Folgen und hinterließ bei ihnen bleibende psychische Schäden. Wir wurden ja wie alle anderen Schüler in Baden-Württemberg mit denselben Abituraufgaben geprüft, die zentral vom Kultusministerium in den Fächern Deutsch, Latein, Griechisch, Mathematik und Physik ausgegeben wurden.

Bald gingen die Schülerzahlen im Collegium Ambrosianum geringfügig zurück, da auch in den ländlichen Gebieten des Landes zunehmend weiterführende Schulen gebaut wurden und somit auch in den Dörfern leichter ein höherer Schulabschluss erreicht werden konnte. Um den Rückgang der Schülerzahlen im Ambrosianum auszugleichen, wurde ein zweiter Ausbildungszug eingeführt, in den nun auch Schüler mit Mittlerer Reife aufgenommen wurden. Aufgrund ihrer etwas höheren Schulbildung wurde für sie die Möglichkeit geschaffen, das Abitur schon nach drei Jahren zu absolvieren.

Der allgemeine Schulstress wäre für mich in dieser Zeit zwar einigermaßen erträglich gewesen, da ich eine durchaus gute Auffassungsgabe hatte und daher in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern nicht viel lernen musste. Was mir aber vor allem zu schaffen machte, waren die zwischenmenschlichen Beziehungen zu meinen Mitschülern, die in meiner Klasse allesamt älter waren als ich. Gleich nach meiner Berufsausbildung, die ich als Verwaltungsbeamter bei der Stadtverwaltung Aalen abgeschlossen hatte, meldete ich mich im Seminar an. Ich war 18 Jahre alt, während meine Klassenkameraden meist schon mehrere Berufsjahre hinter sich hatten. Das Lernen fiel ihnen nach mehreren Jahren im Beruf meist schwer, so dass sie über die Jahre hinweg durch die mangelnden Lernerfolge oft frustriert waren. Ihre dadurch entstandenen und aufgestauten Aggressionen ließen sie, ob unabsichtlich oder gewollt, häufig kurzerhand und ohne lange zu überlegen an mir aus. Denn ich war in ihren Augen ein „junger Pimpf“, der meist gelangweilt in der Klasse saß und nichts als Blödsinn im Kopf hatte.

Hinzu kam, dass aufgrund des fehlenden attraktiven weiblichen Geschlechts in diesem Haus, der homoerotische Aspekt in dieser reinen Männerkultur durchaus ebenfalls eine Rolle spielte. So bekam ich damals insofern Schwierigkeiten, als dass ein älterer Mitschüler aus unserer Klasse sich heimlich mehr an mir interessierte, als ich es akzeptieren konnte. Abends wenn ich mein Zimmer verließ, um in der Hauskapelle Orgel zu spielen oder in einem Leseraum mit ein paar anderen Kameraden noch zusammensaß, musste ich bei meiner Rückkehr überrascht feststellen, dass sich Alex während meiner Abwesenheit in mein Zimmer geschlichen hatte. Er legte sich mit einem Buch auf mein Bett und las bis ich zurückkam. Dann tat er so, als wolle er von mir in Mathe etwas wissen, was ich ihm auch meist kurz erklärte, ihn aber trotzdem darauf hinwies, dass er mit solch einer Frage doch auch durchaus zu einer früheren Tageszeit hätte kommen können. Zum Dank für meine Hilfe wollte er mit mir danach etwas trinken und den anstrengenden Tag gemütlich ausklingen lassen. Um nicht unhöflich zu sein, ging ich kurz auf seinen Wunsch noch ein, doch als ich es dann ablehnte, ihn zu solch später Stunde noch in meinem Zimmer zu dulden, suchte er andere Möglichkeiten, mit mir in Kontakt zu kommen. Mal wollte er, dass ich ihm bei den Hausaufgaben in Physik helfe, dann kam er, um irgend ein Buch von mir auszuleihen, jedenfalls merkte ich, dass er bei all diesen Begegnungen auch die körperliche Nähe zu mir suchte und mich dabei immer wieder „kameradschaftlich“ anfasste. Als ich diese Annäherungsversuche ablehnte, Alex aber nicht damit aufhörte und sich auch nicht zurückweisen ließ, kam es zu einer Rangelei. Obwohl ich ihn ernsthaft aufforderte, mein Zimmer zu verlassen, lächelte er nur, denn er war sehr sportlich und viel stärker als ich. Bald versuchte er, mich immer wieder zu umarmen und aufs Bett zu ziehen. Ich war ihm heillos unterlegen. Alex kam vom Bodensee, war Sporttaucher und bei der DLRG Rettungsschwimmer. Mochte ich mich auch noch so gegen ihn wehren, es half nichts. Unweigerlich landete ich in seinem Schwitzkasten, in dem er mich festhielt, so lange er wollte. Zwar hätte ich, eingeklemmt in seinen kräftigen Armen, laut um Hilfe rufen können, doch ich fürchtete, dass dies im Seminar zu einem Aufsehen erregenden Eklat führen könnte. Die Folgen konnte ich nicht abschätzen. Vermutlich hätte es für Alex den Ausschluss aus der Schule bedeutet und wie meine Schulkameraden auf mich reagiert hätten, war ungewiss. Sicherlich, ich hätte zwar meine Ruhe vor ihm gehabt, doch die einsetzende und unkontrollierbare Gerüchteküche, die in solch einem Seminar wie das Gegackere in einem Hühnerstall in Gang gesetzt würde, ist beileibe nicht zu unterschätzen. Womöglich wäre ich den darauffolgenden Sticheleien und dem ganzen Gerede hilflos ausgeliefert gewesen, wenn wegen mir ein Mitschüler das Haus hätte verlassen müssen. Dies alles war für mich einfach nicht kalkulierbar. Darum entschloss ich mich, mein Zimmer künftig immer abzuschließen, obwohl unter uns Seminaristen ein offenes, nicht abgeschlossenes Zimmer als gegenseitiger Vertrauensbeweis galt, wodurch wir untereinander unser kameradschaftliches Miteinander im Haus demonstrieren wollten.

Doch bald entdeckte Alex eine andere Variante, wie er sich an mich heran machen konnte. Jeden Morgen stand ich um 6.00 Uhr auf, um in der Sporthalle im Untergeschoss ein paar Runden zu laufen und anschließend zu duschen. Nun kam er zur selben Zeit in den Duschraum, wo er sich plötzlich jetzt ebenfalls abbrausen musste. Dabei versuchte er, mich in der Duschkabine zu beobachten, indem er den Vorhang minimal zur Seite rückte. Als ich dies bemerkte und ihm spontan einen kräftigen Schlag ins Gesicht versetzte, packte er mich, drosch wild und wütend auf mich ein, so dass ich voller Schmerzen und aus der Nase blutend in der Duschwanne lag. Von jetzt an war mir aber klar, ohne fremde Hilfe komme ich nicht mehr gegen ihn an.

In den folgenden Wochen konnte ich nur noch mit größter Mühe dem Unterricht in der Schule folgen. Zu sehr hatte mich dieses Erlebnis geschockt. Auch beim Lernen in meinem Zimmer konnte ich mich kaum noch konzentrieren, denn ich befürchtete ständig erneute Annäherungsversuche dieses Mitschülers und wusste nicht, wie ich sie abwehren könnte. Nach einiger Zeit vertraute ich mich Ottmar an, ein Seminarist, der eine Klassenstufe über mir war. Er erschien mir vertrauenswürdig zu sein und ich hoffte, dass er mich verstehen würde. Ich erzählte ihm, in welchem Dilemma ich stecke und nachdem er diese Situation eine Zeit lang beobachtet hatte, gab er mir Ratschläge, wie ich mich verhalten könnte, um Begegnungen mit Alex zu vermeiden. Doch da ich beim Unterricht in der Schule, bei den Mahlzeiten im Speisesaal, in den Gottesdiensten und auf den Gängen ihm ständig begegnete, gestaltete sich dieses Zusammenleben im Seminar für mich immer schwieriger.

Inzwischen hatte das Collegium Ambrosianum einen so großen Zulauf, dass im Seminargebäude nicht mehr alle Schüler untergebracht werden konnten. Rektor Eckmann mietete nun Zimmer in den umliegenden Häusern an, in denen die Seminaristen ebenfalls wohnen konnten. Als einige dieser angemieteten Zimmer frei wurden, kam Ottmar auf die Idee, dass es für mich doch eine Erleichterung wäre, wenn ich aus dem Seminar ganz ausziehen würde, um mich aus meiner schwierigen Situation zu befreien. Auch er trug sich seit längerer Zeit mit diesem Gedanken und wollte sich um ein Zimmer außerhalb des Seminars bemühen. Obwohl ich mich im Ambrosianum durchaus wohlfühlte, leuchtete mir dieser Vorschlag ein, um vor allem von Alex den nötigen Abstand zu bekommen. Denn immer wieder versuchte er, mich irgendwo im Seminargebäude zu erwischen.

Also gingen Ottmar und ich zu Rektor Eckmann und brachten ihm unseren Wunsch vor, dass wir gerne in ein Zimmer außerhalb des Seminars ziehen würden. Er war froh darüber, denn es hatten sich wieder viele jungen Männer für das kommende Schuljahr angemeldet, die er anfangs lieber im Seminargebäude unterbringen wollte, damit sie sich somit besser an die Gepflogenheiten des Hauses und an den gesamten Schulablauf gewöhnen konnten. Er gab uns zwei Zimmer bei einer älteren Witwe, Frau Wenzel, die etwa zehn Minuten zu Fuß entfernt in ihrem Reihenhaus wohnte. Im Erdgeschoss hatte sie ihr Wohnzimmer mit Küche und Esszimmer, im ersten Stock war ihr Schlafzimmer, sowie eine Toilette mit Bad und zwei kleine Zimmer, in die wir einziehen durften. Zu den täglichen Mahlzeiten konnten wir weiterhin ins Ambrosianum kommen und im Speisesaal zu den gewohnten Essenszeiten teilnehmen.

Schnell packte ich meine Sachen zusammen und transportierte sie in mein neues Heim. Auch Ottmar zog mit allem, was er in seinem Zimmer hatte um, und wir wunderten uns, was sich doch in so kurzer Zeit bei uns alles angesammelt hatte. Müde von der anstrengenden Arbeit machte ich abends beim Einräumen meiner Bücher, Kleider und den vielen anderen Kleinigkeiten eine kleine Verschnaufpause. Dabei entdeckte ich in einer Tasche noch eine Flasche Holundersaft, den meine Mutter hergestellt und mir mitgegeben hatte. Ich fragte Ottmar, ob er herüber in mein Zimmer kommen möchte, um zusammen etwas zu essen und ein Glas Saft zu trinken. Sofort kam er, wir setzten uns in die beiden Clubsessel und ließen es uns an einem kleinen Tischchen zwischen meinen Kartons und den noch nicht aufgeräumten Gepäckstücken schmecken. Um jedem von uns ein Glas Holundersaft einzuschenken, öffnete ich die Bügelflasche und mit einem lauten Knall spritzte der dunkelrote Saft in geballter Ladung an die Wand bis zur Decke hoch. Fassungslos starrten wir beide auf die blutrot eingefärbte Tapete. Der Saft hatte in der Flasche gegärt und einen starken Druck aufgebaut, ich hatte bereits zwei Tage nichts mehr davon verkostet. Der Anblick der von unten bis oben verspritzten Wand war schrecklich. Und das am ersten Tag!

Verhängnisvolle Zeit

Wo bin ich? Was war geschehen? Ach ja, ich war heute Abend bei Dr. Bertram, er hatte mir von seiner Tochter erzählt, die unseren früheren Rektor Eckmann ja so toll findet. Ich muss wohl eingeschlafen sein und bin aus meinem Alptraum erwacht. Der Name Eckmann hat eine ganze Kaskade von Erinnerungen in mir ausgelöst. Mühsam erhebe ich mich aus meinem Sessel, gehe in meiner Wohnung ans Fenster und schaue hinunter auf den nächtlich beleuchteten Ludwigsburger Marktplatz. Immer ein wunderschöner Ausblick. Wie schön kann diese Welt doch sein, wenn....

Ich halte inne: War da nicht ein blutroter Fleck an der Wand? Misstrauisch schaue ich mich in meiner Wohnung um. Meine innere Beklemmung versuche ich damit zu bekämpfen, indem ich laut vor mir hersage: „Ich bin jetzt in Ludwigsburg und die Zeit im Ambrosianum ist endgültig vorbei.“

Doch immer wieder holt sie mich ein. Zu turbulent waren damals die auf mich einstürzenden Ereignisse. Ich trinke ein Glas Wasser und gehe ins Bett. Bald schlafe ich wieder ein, der gute Wein von Dr. Bertram entfaltet seine Wirkung. Schon tauche ich wieder ein in die unangenehmen Traumbilder. Die Wand, der rote Saft, verspritzt in tausend kleinen Tröpfchen bis zur Decke hoch! Die ganze Tapete in meinem neu bezogenen Zimmer ist ruiniert! Ottmar und ich, wir stehen fassungslos da und wissen nicht, was wir tun sollen.

Die Spritzer entfernen? Aber wie?

Zuerst versuche ich es mit einem Handtuch und lauwarmem Wasser. Oh Gott! Es wird ja noch schlimmer! Die dicken roten Kleckse verschmieren zu einem hässlichen rotbraunen Fleck. Ottmar versucht es mit einem trockenen Tuch. Tatsächlich, er hat wenigstens damit einen kleinen Erfolg, indem die dick aufgetragenen Spritzer etwas dünner werden. Doch auch so kommen wir nicht viel weiter. Die dunkelrote Farbe bedeckt in abertausenden von kleinen Klecksen die Tapete der halben Wand. Was wird wohl unsere Hausfrau dazu sagen? Sollen wir gleich schon jetzt nach unserem Einzug ihr berichten, was passiert ist? Wie wird sie reagieren? Wird sie uns gleich wieder hinauswerfen, so dass wir zurück ins Seminar müssen?

Und eine derartige Tapete aufzutreiben, wäre ein Ding der Unmöglichkeit: grau-weiße kleine Striche in verschiedenen Farbabstufungen auf grau-weißem Untergrund. Wo würden wir denn so ein langweiliges Muster heutzutage noch bekommen? Oder die ganze Wand komplett mit einer anderen, halbwegs passenden Tapete überkleben? Vielleicht das ganze Zimmer neu tapezieren? Ob sie da wohl zustimmen würde?

Um auf andere Gedanke zu kommen, räumen wir unsere Sachen vollends in die Schränke. Auch den neuen Schreibtisch bestücke ich mit allerlei mitgebrachten Utensilien. Gerade will ich meinen Wasserfarben-Kasten in die unterste Schublade legen, da kommt mir der Gedanke....? Ja, man könnte es doch einmal versuchen? Die hässlichen roten Saftspritzer einfach mit Wasserfarben übermalen? Schnell hole ich ein Glas Wasser vom Bad, tauche die Pinsel ein und stelle mit der weißen und schwarzen Wasserfarbe verschiedene Grautöne her. Dann mache ich mich vorsichtig daran, jeden einzelnen roten kleinen Fleck mit dem passenden Grauton zu übermalen. Ich entferne mich, schaue das Ergebnis von weitem an. Es funktioniert! Aber nur, wenn der Saft an der Tapete schon ganz trocken ist. Ansonsten vermischt er sich gleich mit der grauen Farbe und es kommen hässlich blutige Mischtöne heraus. Ich hole Ottmar von seinem Zimmer herüber zur Begutachtung, doch er behauptet:

„So schaffst du das doch nie! Jetzt hast du gerade mal fünf Spritzerchen übertüncht! Für die ganze Wand brauchst du ja mindestens drei Wochen“, gibt er zu bedenken.

„Nein, das geht schneller“, halte ich ihm dagegen, „und wenn du mithilfst, dann sind wir bis morgen früh ganz bestimmt fertig.“

„Trotzdem, lass es, das hat doch keinen Sinn! Du wirst sehen, bei Tageslicht kommen erst recht die unterschiedlichen Farbtönungen heraus. Du kannst nie deine Wasserfarben so genau anrühren und so exakt auftragen, dass man nichts mehr merkt“, wendet Ottmar skeptisch ein.

Doch ich lasse mich nicht von ihm entmutigen. Bald nimmt auch er einen Pinsel zur Hand und fängt damit an, die vielen roten Fleckchen zu übermalen. Die ganze Nacht arbeiten wir unentwegt daran, ohne Pause. Als der Morgen graut, ist mir ganz übel. Der Rücken und sämtliche Glieder tun mir weh, auch Ottmar stöhnt und kann sich nicht mehr auf den Beinen halten. Diese akribische Malweise stundenlang in völlig ungewohnter Haltung, es war eine Tortur. Als wir uns fertig machen, um in die Schule zu gehen, schauen wir unser Werk nochmals an. Wir haben es doch tatsächlich geschafft, sämtliche Spritzer an der Wand unsichtbar zu machen. Doch wie das alles erst bei helllichtem Tageslicht und bei genauerer Betrachtung aussehen wird? Heute Mittag, wenn wir vom Ambrosianum zurück sind, werden wir es sehen.

In der Schule lasse ich den Unterricht über mich ergehen. Ich bin sterbensmatt. In der langweiligen Griechisch-Stunde nicke ich sogar ein. Auch bei der Klassenarbeit in Mathe kann ich mich kaum konzentrieren. Doch das ist nicht weiter schlimm, es ist ja mein Lieblingsfach. Da ich mich ohnehin nie lange darauf vorbereiten muss, kann es mir zwischendurch auch mal gleichgültig sein, wenn ich mal eine schlechtere Note schreibe als sonst. Als ich nach der Schule wieder zurück ins Reihenhaus von Frau Wenzel gehe, bin ich äußerst gespannt, wie die Wand bei Tageslicht wohl aussehen wird. Schnell gehe ich die Treppe hoch in mein Zimmer und schaue die Wand an. Ich bemerke, dass noch einige kleine Ausbesserungsarbeiten nötig sind, ansonsten sieht es aber recht gut aus. Gleich mache ich mich daran, mit meinen Wasserfarben die noch nicht ganz perfekten Grautöne dieser gestrichelten Tapete in Angriff zu nehmen. Nach einer Weile höre ich, wie Ottmar unten zur Haustür hereinkommt und mit Frau Wenzel ein paar Worte spricht. Sie muss ihn von ihrem Wohnzimmer aus gesehen haben und gibt ihm noch einige Anweisungen für die Benutzung des Teppichbodens in unseren Zimmern. Schnell mache ich mich daran, die auffälligsten Farbunterschiede rasch noch auszugleichen, doch schon höre ich, wie er langsam mit ihr zusammen die Treppe heraufkommt und laut mit ihr redet. Flugs räume ich den Farbkasten, die Pinsel und das Wasserglas beiseite. Es klopft an der Tür. Ich rufe: „Herein!“

Ottmar und Frau Wenzel stehen unter dem Türrahmen, sie schaut neugierig herein und fragt:

„Na? Haben Sie sich schon einigermaßen eingerichtet?“

Wie angewurzelt stehe ich da und hoffe, dass sie sich nicht allzu sehr im Zimmer umschaut und antworte trocken:

„Ja, halbwegs. Aber schlafen konnte ich noch nicht so gut.“

Sie geht ans Bett, drückt leicht von oben auf die Matratze und stellt fest:

„Die ist doch ganz in Ordnung? Als ich so jung war wie Sie, da konnte ich überall schlafen, ganz egal wo. Wenn Sie aber Probleme haben, sagen Sie es mir, ich gebe ihnen dann ein zusätzliches Unterbett.“

„Nein, nein,“ lehne ich dankend ab, „es lag wohl eher an der Klassenarbeit, die wir heute geschrieben haben. Das mulmige Gefühl lässt mich oft in der Nacht zuvor nicht ganz zur Ruhe kommen.“

Ottmar grinst und schaut demonstrativ auf die andere Seite der Wand, um ihren Blick von unserem „unauffälligen Gemälde“ etwas wegzulenken. Als Frau Wenzel bemerkt, dass ich mit hochrotem Kopf wie versteinert dastehe und mir der Puls in den Adern immer schneller schlägt, fragt sie besorgt:

„Sind Sie krank?“

Sie kommt auf mich zu, hält ihre Hand an meine Stirn und stellt fest:

„Sie habe ja Fieber! Am besten gehen Sie gleich ins Bett, ich mache Ihnen einen Kamillentee und bringe ihn gleich herauf!“

Ich bin heilfroh, als sie das Zimmer wieder verlässt und sich nicht allzu neugierig umschaut. Schnell ziehe ich mich aus und lege mich im Schlafanzug ins Bett. Als Frau Wenzel klopft, stehe ich schnell auf und nehme an der Tür dankend von ihr ein Tablett mit Teekanne und Tasse entgegen, um zu verhindern, dass sie nicht nochmals ins Zimmer hereinkommt.

„So ist es richtig! Sie sind wenigstens vernünftig. Wenn man krank ist, muss man sofort ins Bett, dann geht es am schnellsten wieder vorüber“, belehrt sie mich, „und wenn Sie den Tee gleich trinken, können Sie sicherlich auch noch ein bisschen ihren Schlaf nachholen.“

Fix und fertig falle ich ins Bett und schlafe sofort ein.

Es dauert einige Wochen bis ich mich endlich wieder wohlfühle und mit meinen Gedanken beim Lernen nicht mehr ständig abschweife. Der größere Abstand von Schule und Seminar tut mir gut, ich kann mich wieder frei bewegen, ohne dass ich ständig anderen Seminaristen begegne. Vor allem bin ich nicht mehr den lästigen Blicken und den unterschwelligen „Anmachversuchen“ von Alex ausgesetzt. Da Ottmar einen anderen Stundenplan hat, sehe ich ihn meist nur abends. Überwiegend halten wir uns in unseren Zimmern auf, wo jeder in aller Ruhe lernen kann. Wenn wir zwischendurch eine kurze Pause einlegen, tauschen wir einige Erlebnisse von unserem Schulalltag aus, um uns danach wieder bis oft spät in die Nacht hinein auf die bevorstehenden Klausuren vorzubereiten. So entwickelt sich zwischen Ottmar und mir bald ein gutes Miteinander, da wir bei unserem Tagesablauf für gute Abwechslung sorgen. Zwischen den Schulzeiten und unseren Lernphasen in unseren Zimmern legen wir kleine Spaziergänge ein, um anschließend uns wieder mit aufgefrischter Konzentration an unsere kleinen Schreibtische zu setzen und uns hinter unsere Bücher zu verkriechen.

An einem Samstagabend kommt Ottmar auf die Idee, nachdem ein jeder von uns wieder lange in seinem Zimmer gepaukt hatte, den anstrengenden Tag mit einer Flasche Wein gemütlich ausklingen zu lassen. Da er ein sehr geselliger Typ ist und auch sonst bei allerlei Anlässen mit anderen gerne bechert, animiert er mich bei einem unterhaltsamen Gespräch, dem Wein ordentlich zuzusprechen. Doch bald legt er freundschaftlich seinen Arm um meine Schulter und redet, inzwischen deutlich beschwipst, pausenlos auf mich ein. So langsam wird mir die Sache unangenehm und jetzt umso mehr, als er mir nun ein Kompliment nach dem anderen macht. Zunächst denke ich, dass er mittlerweile doch viel zu viel getrunken und eine „gewaltige Zacke in der Krone sitzen“ hat. Langsam versuche ich, mich aus seiner allzu engen Nähe zu befreien und rücke ein Stückchen von ihm ab. Ich trinke mein Glas vollends aus und will zu Bett gehen. Er aber hält mich am Arm zurück und sagt lallend:

„Du bist doch so ein netter Kerl. Es ist doch nichts dabei, wenn man sich gegenseitig auch mal ein bisschen Sympathie zeigen kann.“

Ich wehre ihn leicht ab und antworte ihm:

„Auch du bist mir sympathisch und ich schätze deine unterhaltsame Geselligkeit sehr. Aber ich bin jetzt müde und morgen ist Sonntag, da muss ich im Gottesdienst Orgel spielen. Ich muss jetzt ins Bett.“

„Ach sei doch nicht so spröde! Komm, setz dich her und trink noch etwas. Die Orgel spielt bei dir sowieso von alleine“, versucht er mich zurückzuhalten, wobei er mich mit einem Ruck an sich heranzieht und mich in die Arme nimmt. Ich wehre ihn ab, doch schon drückt er mich auf mein Bett und es entsteht eine handfeste Rangelei. Der Kampf wird immer heftiger und ich wundere mich, dass er soviel Kraft hat. Mit einem Ruck klemmt er mich so fest unter seine Achsel, dass ich kaum noch atmen kann. Er packt mich dabei sehr unsanft, drückt mich nieder und hält mich eine ganze Zeit lang fest. Vor lauter Schmerz kann ich kaum sprechen. Mit seinem Arm, den er um meinen Hals gelegt hat, drückt er mich so stark an seinen Körper, dass ich kaum noch Luft bekomme. Ich röchele:

„Bitte loslassen, – – los....lassen…“.

Als mir vor Schmerzen schon die Tränen aus den Augen quellen, mein Gesicht rot anläuft und ich kaum noch atmen kann, lässt er mich endlich los. Schwer atmend liege ich auf meinem Bett und muss mich erst einmal erholen. Nun schaut er mich siegesgewiss an und sagt:

„Bürschchen, dir werde ich schon noch zeigen, wo es lang geht!“

Völlig außer Atem stehe ich auf und keuche wütend:

„Du spinnst doch! Das ist doch kein Spaß mehr! Lass mich jetzt bloß in Ruhe! Geh und lass mich jetzt schlafen, ich muss morgen zum Gottesdienst ausgeruht sein. Gute Nacht!“

Ottmar lächelt kaltherzig, schaut mich noch eine Weile siegesgewiss an, dann geht er sichtlich angetrunken in sein Zimmer. Ich bin froh, dass er nun weg ist. Abgekämpft lege ich mich aufs Bett. Lange grüble ich darüber nach, was das nun zu bedeuten hat? Wurde ich von ihm getäuscht? War er etwa gar nicht dieser freundschaftliche Kamerad, als den er sich mir gegenüber im Seminar noch gezeigt hatte? Nun bin ich doch extra mit ihm zusammen aus dem Seminar ausgezogen, um vor solchen Handgreiflichkeiten meine Ruhe zu haben! Sollte mir jetzt erneut von ihm Ähnliches widerfahren? Ich habe Angst, voller innerer Unruhe schlafe ich sehr spät ein.

In den folgenden Tagen halte ich mich ihm gegenüber etwas zurück. Wenn wir uns begegnen, bin ich wortkarg. Insgeheim hoffe ich, dass sein brutaler Annäherungsversuch nur ein einmaliger Vorfall war. Doch wie sich in den kommenden Wochen herausstellt, habe ich mich getäuscht. Immer wieder versucht er, eine Situation herbeizuführen, bei der er mir in allzu bedrängender Weise näher kommen kann. Obwohl ich ihn deutlich zurückweise, gibt er nicht auf. Ständig muss ich seine Zudringlichkeit abwehren. Doch je mehr ich ihn ablehne, desto brutaler packt er mich, zieht mich aufs Bett und hält mich hart umschlungen mit seinen kräftigen Armen fest, eingezwängt wie in einem Schraubstock. Dann versucht er, zärtlich zu werden, wobei er seine feste Umklammerung unbewusst ein bisschen lockert. Diese Situation versuche ich zu nützen, um mich von ihm zu befreien, was mir meist durch einen schnellen Kraftakt auch gelingt. Durch seine aufdringlichen Attacken ist unsere Beziehung inzwischen total zerstört. Er will einfach nicht einsehen, dass ich seine körperlichen Liebkosungen nicht ausstehen kann und ich seine Fummeleien nicht haben will. Es kommt immer öfter zum Streit, bis er mich schließlich nur noch schikaniert oder hänselt und wir schließlich nichts mehr miteinander reden.

Aufgrund unserer angespannten Situation wendet er sich mehr und mehr seinen Kameraden im Seminar zu. Manchmal kommt er dann spät in der Nacht zurück, schleicht sich leise, während ich bereits schlafe, in mein Zimmer, setzt sich, ohne das Licht anzuknipsen, in einen der Clubsessel, trinkt eine Flasche Wein und raucht dabei eine Zigarette nach der anderen. Bei meinem guten und tiefen Schlaf bemerke ich erst nach geraumer Zeit, dass er in meinem Zimmer sitzt und erwache am stickigen Zigarettenqualm, der mir den Atem raubt. Schlaftrunken richte ich mich auf, schaue verwirrt um mich und bin von seiner Anwesenheit völlig überrascht. Um seine Handgreiflichkeit nicht herauszufordern, versuche ich ruhig zu bleiben und ihn in seinem angetrunkenen Zustand mit großer Überredungskunst aus meinem Zimmer zu bitten. Erst jetzt zeigt sich, welch dickköpfigen Charakter er hat. Es dauert oft sehr lange, bis er endlich in sein Zimmer geht und mich in Ruhe weiterschlafen lässt. Nachdem ich dann ordentlich gelüftet und mich einigermaßen wieder beruhigt habe, gehe ich erneut zu Bett, doch mein Schlaf ist nach solch einem Erlebnis meist sehr unruhig und voller wirrer Träume.

Damit ich nachts künftig meine Ruhe habe, schließe ich nun abends, wenn ich zu Bett gehe, meine Zimmertüre ab. Doch das passt Ottmar überhaupt nicht. Als er mal wieder spät von einem Zechgelage zurückkommt und bemerkt, dass mein Zimmer abgeschlossen ist, macht er mitten in der Nacht auf dem Flur eine abscheuliche Szene, klopft ungestüm an meine Zimmertür und fordert lautstark Einlass. Ich liege in meinem Bett und höre, wie Frau Wenzel aus ihrem Schlafzimmer herauskommt und ihn fragt, was denn los sei, dass er jetzt solch einen Krach schlage. Empört teilt er ihr mit, dass ich ihn ausgeschlossen hätte, er benötige doch für morgen noch unbedingt einige Bücher für die Schule, die er versehentlich in meinem Zimmer liegen ließ und wolle sie jetzt noch herausholen. Ich aber hätte die Tür abgeschlossen und ihm den Zutritt verweigert. Als ich das höre, stehe ich schnell auf, damit Frau Wenzel wieder beruhigt schlafen kann und erkläre zu meiner Verteidigung, dass ich keine Bücher von ihm in meinem Zimmer bemerkt habe. Doch Ottmar kommt sofort herein, holt hinter meinem Schreibtisch zwei Bücher hervor, die er vermutlich bei meiner Abwesenheit dort deponiert hatte und verschwindet mit beleidigter Miene in seinem Zimmer. Schon am nächsten Tag macht er mir erneut eine gewaltige Szene. Er wirft mir vor, dass ich auf diese Weise, indem ich jetzt sogar mein Zimmer abschließe, jegliches Vertrauen in unserer Freundschaft verspielen würde. Wenn ich ihm nochmals die Tür versperre, sei das dann endgültig das Ende unserer Freundschaft.

Doch mein Entschluss steht fest. Von jetzt an schließe ich mein Zimmer ab. Schon morgens, wenn ich zur Schule gehe, schließe ich hinter mir zu, und wenn ich zurückkomme, schließe ich mich in mein Zimmer ein, damit ich von ihm nicht belästigt werden kann. Ein ungeheurer Druck lastet auf mir, denn somit kann er nun mir die Schuld geben, dass ich unsere Freundschaft einseitig beendet hätte. Schwer komme ich ins Grübeln. Immer wieder muss ich darüber nachdenken, woran es liegen könnte, dass ausgerechnet ich das Opfer solch ungestümen Belästigungen werde. Liegt es an meiner Naivität, dass ich jedem blindlings vertraue, der mir seine Freundschaft anbietet? Liegt es daran, dass ich um einige Jahre jünger bin als die anderen und sie mich deshalb nicht ganz ernst nehmen? Liegt es an meinem ansonsten frohsinnigen Temperament? Immer wieder frage ich mich, ob ich etwa selbst schuld an dieser unglücklichen Situation sein könnte. Nach diesen Affären bin ich total verunsichert, mein Selbstbewusstsein ist dahin. Ich schäme mich ungemein.

Ottmar dagegen scheint recht gut damit zurecht zu kommen, dass wir so gut wie nichts mehr miteinander reden. Ich aber empfinde diese Situation überaus bedrückend. Jeder von uns geht seinen eigenen Weg und wir meiden uns, so gut es geht. Er schließt sich wieder seinen Kameraden im Seminar an, ich dagegen bleibe für mich allein und habe keinen Mut mehr, mit anderen in Kontakt zu treten. Ja, ich habe regelrecht Angst, ich müsste wieder dieselben Erfahrungen machen, wenn ich erneut eine freundschaftliche Beziehung mit einem Seminaristen eingehen würde. Unentwegt dreht sich mir alles im Kopf und ich denke ständig darüber nach, ob ich etwa selbst der Grund dafür sein könnte, dass ich nun schon zum zweiten Mal Opfer einer derart massiven Belästigung geworden bin. Mein Selbstwertgefühl ist enorm beschädigt. Mit jemandem darüber zu sprechen? Unmöglich! Ich schäme mich deswegen ungemein und habe Angst davor, dass ich von jedem verspottet oder ausgelacht werden könnte, der das erfährt.

Ottmar unterhält sich im Ambrosianum dagegen in bester Laune mit seinen Kameraden und scheint völlig unbelastet zu sein. Locker wie immer, geht er mit ihnen um und macht überall seine Scherze. Ich aber ziehe mich mehr und mehr zurück, bin schwer bedrückt und versuche verzweifelt zu ergründen, was an mir nicht in Ordnung sein könnte. Eine plausible Antwort finde ich aber nicht. Aufgrund meiner großen Schuldgefühle, die ich permanent verspüre, bilde ich mir ein, dass ich durch meine lustige, unbeschwerte und lockere Art, mit der ich auf andere zugegangen bin, es wohl selbst heraufbeschworen habe, dass ich zum Objekt und Spielball dieser beiden Seminaristen geworden bin. Deshalb beschließe ich, mein Verhalten grundlegend zu ändern. Schließlich komme ich zu der Erkenntnis, dass ich meinen offenen und fröhlichen Charakter ablegen muss und verbiete mir strikt, freundlich und ungezwungen auf andere zuzugehen, spontan zu reagieren und lustig zu sein. Zwangsweise werde ich zunehmend ernster, meine Lebensfreude schwindet. Mitunter ist mir sogar regelrecht zum Heulen zumute.

Ottmar hat wieder seine Freunde im Seminar, geht mit ihnen aus und, was mich zusätzlich belastet, er redet sehr negativ über mich. An ihren Blicken und an ihren Verhaltensweisen bemerke ich es, wenn sie zusammenstehen, miteinander reden und mich dabei ansehen. Besonders sein neuer Freund Edmund, mit dem er oft nach dem Mittagessen spazieren geht, schaut mich immer äußerst abschätzig mit heruntergezogenen Mundwinkeln an, ohne meinen Gruß zu erwidern. Sooft ich im Ambrosianum bin, habe ich das Gefühl, dass Eiseskälte mir von allen Seiten entgegenschlägt. Kein Wunder, denn Ottmar tut alles, um die Atmosphäre um mich herum zu vergiften. Bald kann ich nicht mehr richtig schlafen, meine Konzentration lässt enorm nach, meine schulischen Leistungen werden schlechter.

Völlig unerwartet stirbt unser Schuldirektor Dr. Rüebli. Er litt zwar immer schon unter einem sehr hohen Blutzuckerspiegel und rauchte deswegen mitunter sogar während des Unterrichts, um, wie er sagte, den süßlichen Geschmack aus seinem Mund zu vertreiben. Dann stopfte er kurzerhand eine lange Zigarre in seine Pfeife, knickte sie brachial im Pfeifenkopf ab und steckte den Rest des Stumpens wieder zurück in seine Jackentasche. Genüsslich zündete er im Klassenzimmer dann seine Pfeife an und wenn sein Zucker im Mund nicht abgenommen hat, dann wiederholte er nach einer Weile eben erneut dieselbe Prozedur.

Nach seinem Tod verändert sich Schule und Seminar nun zusehends. Immer mehr Mädchen werden aufgenommen, das Ambrosianum als Bildungsstätte für Männer, die das Abitur nachholen wollen mit dem Ziel, Priester zu werden, wird mehr und mehr umfunktioniert in ein allgemeines Schulzentrum, in dem über den sogenannten zweiten Bildungsweg nun auch das neusprachliche Abitur abgelegt werden kann. Die Schwester von Dr. Rüebli geht in den Ruhestand und zieht in eine kleine Wohnung im nahegelegenen katholischen Kindergarten. Da es ihr aber dort wohl etwas zu langweilig ist, vielleicht aber auch um den Verlust ihres Bruders besser verarbeiten zu können, fragt sie mich eines Tages nach dem Gottesdienst, in dem ich Orgel gespielt hatte, ob ich nicht regelmäßig zu ihr kommen könnte, um gemeinsam mit ihr zusammen vierhändig auf ihrem Klavier zu spielen. Obwohl es mir in der Schule und auch sonst ziemlich schlecht geht, traue ich mich nicht, ihr diesen Wunsch abzuschlagen und besuche sie einmal in der Woche, um mit ihr zusammen zu musizieren.

Doch meine Konzentrationsschwierigkeiten nehmen immer mehr zu. Die Vokabeln in Latein und Griechisch kann ich mir kaum noch merken. Auch während des Unterrichts in der Schule schweifen meine Gedanken ständig ab. Den Worten der Lehrer kann ich kaum mehr folgen und befürchte, dass meine Versetzung in die nächst höhere Klassenstufe am Schuljahresende gefährdet ist. Auch von meinen Klassenkameraden haben einige inzwischen bemerkt, dass mit mir etwas nicht in Ordnung ist. Damit ich in der Schule wieder besser werde, wende ich mich an einen Mitschüler und frage ihn, ob wir nicht zusammen lernen könnten. Meinrad ist etwa zehn Jahre älter als ich und will es mit mir versuchen. Wir vereinbaren, dass wir künftig regelmäßig gleich nach der Schule gemeinsam unsere Hausaufgaben machen. Da er in Mathe und Physik nicht sehr gut ist, kann ich ihn in diesen Fächern unterstützen, dagegen habe ich eher Defizite beim Lernen der Vokabeln, so dass er beim Übersetzen in den Sprachen für mich eine gute Ergänzung ist. Er kann sich zwar die Vokabeln recht gut merken, hat aber doch hinwiederum bei den langen lateinischen Satzkonstruktionen der verschiedenen antiken Philosophen seine Schwierigkeiten damit, die einzelnen Haupt- und Nebensätze voneinander zu unterscheiden und den oft komplizierten logischen Sinn eines Textes herauszuarbeiten und zu erfassen. So ergänzen wir uns gut und pauken regelmäßig nach dem Schulunterricht auf seinem Zimmer. Zwischendurch machen wir kurz Pause, trinken Kaffee oder Tee, um uns anschließend wieder auf unsere Arbeit zu konzentrieren. Danach gehe ich zufrieden von seinem Zimmer im Seminar zurück zum Reihenhaus meiner Vermieterin und beschäftige mich bis zum Schlafengehen mit dem Lernstoff für den nächsten Tag. Schon bald werde ich in der Schule wieder etwas besser, doch die angespannte Situation mit Ottmar macht mir weiterhin sehr zu schaffen. Ich bin es einfach nicht gewohnt, mit jemand anderem im Streit zu leben. Mein Harmoniebedürfnis ist sehr groß und ich verstehe nicht, dass er so rücksichtslos mit mir umgehen kann.

Eines Tages, als ich nachmittags an meinem Schreibtisch sitze, wird es im Nachbarzimmer bei Ottmar ausgesprochen laut. Es wird gewerkelt, gestoßen, laut gesprochen, Möbel gerückt und ich höre, wie Gepäck und andere Dinge aus seinem Zimmer übers Treppenhaus hinunter getragen werden. Immer wieder sind mehrere Stimmen zu vernehmen, darunter auch die von Ottmar. In meinem Zimmer verhalte ich mich ruhig, denn ich will nicht mit ihm zusammentreffen. Ich setze mich in mein Bett und lerne Vokabeln. Als nach über einer Stunde der Spuk draußen vorbei und alles still geworden ist, schaue ich hinaus, gehe ins Bad, um zu sehen, ob meine Vermutung stimmt. Tatsächlich, alle seine Utensilien sind weg. Auch in seinem Zimmer ist es völlig still. Zögerlich öffne ich die Tür, alle seine Sachen sind ausgeräumt, er ist ausgezogen.

Eine ungeheure Last fällt von mir ab. Diese leidvolle Beziehung ist endgültig vorbei. Zwar bleibt in mir das Gefühl zurück, dass er mich total verachtet, da er mir nicht einmal mehr mitgeteilt hat, dass er ausziehen will. Trotzdem bin ich froh, dass er weg ist. Er hat mich ja nicht einmal mehr angeschaut und auch meinen Gruß nicht mehr erwidert, wenn wir einander zufällig begegnet sind. Wie aber wird es weitergehen?

Beim Abendessen im Seminar kommt Rektor Eckmann auf mich zu und sagt mit betont unterkühlter Stimme:

„Sie wissen ja, dass Ihr Kollege Ottmar wieder ins Seminar zurückgezogen ist. Da wir die beiden Zimmer nun mit Mädchen belegen wollen, bitte ich Sie, ebenfalls Ihr Zimmer zu räumen und wieder ins Seminargebäude zurückzuziehen.“

An der distanzierten Haltung des Rektors spüre ich, dass Ottmar seinen Wunsch, wieder ins Seminar zu ziehen, wohl damit begründet hat, dass ich schuld am Zerwürfnis unserer Freundschaft bin. Doch ein Zurück ins Seminargebäude kommt für mich keinesfalls infrage. Spontan lehne ich ab und bitte Herrn Eckmann, mich doch weiterhin in meinem Zimmer wohnen zu lassen, da ich mich im Seminar absolut nicht wohlfühle. Von einigen Klassenkameraden hatte ich ja bereits gehört, dass Ottmar im ganzen Haus verkündet hatte, dass ich ein äußerst verzogenes Bürschchen sei und er „die Hölle“ mit mir durchgemacht habe. Und außerdem wohnt ja auch mein Mitschüler Alex im Seminar, dem ich ebenfalls nicht begegnen will. Eine Rückkehr ins Seminar ist für mich daher indiskutabel.

Daraufhin schlägt Eckmann mir eine andere Lösung vor. Wenn ich also absolut nicht mehr ins Haus zurückziehen möchte, könnte ich unter Umständen ein Zimmer bei einem älteren Ehepaar bekommen. Dieses Ehepaar würde ebenfalls an Studenten vermieten, er müsse dies aber vorher noch abklären. Ich bin damit einverstanden und warte im Foyer, bis er mir Bescheid gibt. Nach wenigen Minuten kommt er zurück und sagt:

„Herr Zeil, ich habe mit der Frau gesprochen, Sie können jederzeit dort einziehen, das Zimmer sei hergerichtet. Am besten, Sie schauen gleich dort kurz vorbei vereinbaren mit ihr, wann Sie bei ihr einziehen können.“

Traurig und völlig niedergeschlagen packe ich in meinem Zimmer bei Frau Wenzel meine Sachen zusammen und schaffe sie in meine neue Behausung. Das Ehepaar ist sehr nett zu mir, ich habe nun endlich wieder meine Ruhe.

Monat für Monat vergeht, in der Schule werde ich wieder besser und auch Meinrad, mit dem ich regelmäßig meine Schulaufgaben mache, profitiert von unserem gemeinsamen Lernen. Wenn wir zwischendurch eine Pause einlegen, erzählen wir einander, womit wir uns in unserer doch sehr begrenzten Freizeit beschäftigen. Bei solch einer Kaffeepause kommen wir eines Tages auf Ottmar zu sprechen. Ich erzähle ihm zwar nicht alles, was zwischen uns vorgefallen ist, doch ich deute ihm an, dass für mich ein Zusammenleben mit ihm vor allem deshalb so schwierig war, weil es in vielen Dingen einfach nach seinem Willen gehen sollte. Doch Meinrad kann oder will das nicht verstehen. Da er Ottmar ebenfalls gut kennt, der inzwischen ja wieder im Seminar wohnt, bringt er keinerlei Verständnis für mich auf und fängt an, mich auf eigenartige, ironische Weise zu kritisieren. Meinrad hänselt mich plötzlich, indem er die Schuld für mein Zerwürfnis mit Ottmar ganz allein mir zuschiebt und sagt:

„Für Ottmar ist es ja wohl wirklich nicht einfach gewesen, mit dir zusammenwohnen zu müssen! Und auch mit Alex hattest du ja schon Krach bekommen, als du noch hier im Haus gewohnt hast.“

Als ich mich verteidigen will, fällt er mir sogar ins Wort:

„Oh ja, ich weiß alles! Ottmar war doch sehr geduldig mit dir und hat dir sogar noch geholfen, als du aus dem Haus hier ausziehen und draußen ein Zimmer nehmen wolltest. Und auch mit Alex hast du doch Streit bekommen. Und als Ottmar dafür gesorgt hatte, dass ihr beiden Streithähne voneinander getrennt werdet, bist du sogar gegen Ottmar aggressiv geworden. Wer kann es denn mit so einem wie dir schon aushalten? Du kannst ja froh sein, dass wenigstens ich mich mit dir hier abgebe!“

Wie vom Donner bin ich gerührt, als ich das höre. Soll ich ihm nun alles erzählen, was ich mit Alex und Ottmar durchgemacht habe? Das wäre ja reine Zeitverschwendung! Er würde es mir doch nie glauben! Zu sehr ist er doch davon überzeugt, dass Ottmar es nur gut mit mir gemeint habe, der nach seiner Meinung ja so ein vertrauenswürdiger und selbstloser Kamerad ist! Er kann es ja allen im Seminar jetzt täglich unter Beweis stellen. Außerdem weiß ich nicht so genau, wie Meinrad damit umgehen würde, wenn ich ihm meine schlimmen Erlebnisse erzählen würde, die ich mit Alex und Ottmar durchstehen musste. Meinrad könnte mich mit seiner unangenehmen ironischen Art zu sehr verletzen und dann wäre alles für mich nur noch schlimmer. Trotzdem bitte ich ihn, wenigstens ein gewisses Verständnis für meine Situation aufzubringen, ohne ihm genauere Details erklären zu müssen. Zu sehr schäme ich mich immer noch, dass ich von zwei Seminaristen so rücksichtslos angebaggert wurde. Doch je mehr ich mich bei Meinrad ins rechte Licht rücken will, desto mehr rede ich gegen eine Wand. Seiner Meinung nach würde ich allzu sehr beleidigt reagieren, wenn ich in dieser Sache nicht recht bekäme. Ich erkenne bei diesem Gespräch immer mehr, dass Ottmar hinter meinem Rücken im Seminar wohl ganze Arbeit geleistet hat. Jetzt verstehe ich auch, warum er sich immer so heiter und vergnügt zeigt, wenn er mit anderen zusammen ist. Da Meinrad fest bei seiner Meinung bleibt und mich als den Schuldigen bezeichnet, der den ganzen Streit mit Alex und Ottmar angefangen habe, ist mein Vertrauen auch zu ihm schwer angeknackst. Trotzdem bemühe ich mich, weiterhin mit ihm den in der Schule durchgenommenen Unterrichtsstoff regelmäßig nachzuarbeiten und mich gemeinsam mit ihm auf die bevorstehenden Klassenarbeiten vorzubereiten.

Wahrlich ein Desaster

Nach dem letzten Gespräch mit Meinrad fühle ich mich im Ambrosianum aus der ganzen Seminargemeinschaft ausgestoßen. Ich spüre, dass sehr viel über mich geredet wird. Vielleicht aber bilde ich mir das alles auch nur ein? Jedenfalls habe ich ständig das Gefühl, dass beide, Alex und Ottmar, mich bei anderen schlechtreden. Auch Meinrad macht bei unseren Lernübungen immer wieder in seiner ironischen Art gewisse Andeutungen und vermittelt mir durch seinen zunehmend herablassenden Tonfall, dass ich ja ohnehin zu keiner freundschaftlichen Beziehung fähig sei und ich doch froh sein müsse, wenn ich mit ihm zusammen lernen dürfe. Ja, er behauptet sogar, da ich keine Freunde mehr habe, ich doch ganz von ihm abhängig sei und nun dankbar sein müsse, dass er mich überhaupt noch in sein Zimmer hereinlasse und mit mir reden würde. Was mich allerdings zusätzlich sehr enttäuschte, ist die Tatsache, dass er mich nicht an seinem Geburtstag zum Nachmittagskaffee eingeladen hatte und auch am Abend, als er mit einigen Freunden hinüber zur Sommerrain-Gaststätte ging, mich nicht dazu einlud, obwohl wir doch fast täglich miteinander unsere Schulaufgaben machten. Dass er seinen Geburtstag mit irgendwelchen Seminaristen feierte, hätte ich ja noch einigermaßen verkraften können, dass er aber ausgerechnet nachmittags und abends auch Ottmar dazu eingeladen hatte, war für mich doch sehr deprimierend. Dass es tatsächlich so war, erfahre ich tags darauf von Alex, der mir dies alles in der Schule brühwarm erzählt und das Intrigenspiel von Meinrad seit längerem beobachtet. Er habe nachmittags ihn bei seiner Kaffeerunde besucht, um ihm zu gratulieren und da er mich nicht gesehen habe, sei er abends noch in die Sommerrain-Gaststätte gegangen um festzustellen, ob ich wenigstens dort dabei bin. Jedes Mal habe er aber feststellen müssen, dass Ottmar eingeladen war und mitgefeiert habe. Diesen Tatbestand reibt also Alex mir am nächsten Tag in der Pause sehr süffisant unter die Nase, so dass ich den Eindruck bekomme, dass er sich nachträglich nochmals bei mir rächen will, weil ich ihn abgelehnt habe und mit Ottmar ausgezogen bin. Vielleicht aber wollte er mich auch nur vor Meinrad warnen, damit ich mich ihm nicht allzu sehr anvertraue? Denn anscheinend gehört nun Ottmar eindeutig zu seinen besseren Freunden, nicht aber ich. Möglicherweise aber wollte Alex auch nur herausfinden, wie eng meine Freundschaft mit Meinrad ist. Jedenfalls scheint sich Alex immer noch sehr für mich zu interessieren! Welch ein kleinkarierter, nerviger Hühnerhaufen!

Die Zeit hastet weiter, Ottmar besteht das Abitur und geht nach Tübingen, um Theologie zu studieren. Er verschwindet hier aus meinem Gesichtskreis, da ich mich nun intensiv auf den Schulunterricht konzentriere. Bald verlässt auch Alex die Schule, weil ihm der Unterrichtsstoff zu schwer und der ständige Prüfungsstress zu viel wird. Er kann bei diesem enormen Lerntempo nicht mehr mithalten. Als Meinrad sich bei unseren gemeinsamen Lernstunden wieder einmal sehr abfällig über mich äußert und mir erneut meine in die Brüche gegangene Freundschaft mit Ottmar hervorkramt, und ihn im Gegensatz zu mir so darstellt, als ob er doch ein feiner, freundlicher und recht umgänglicher Kamerad gewesen sei und mir dabei recht deutlich zu verstehen gibt, dass kein Seminarist ja mit mir etwas zu tun haben möchte, weil ich ja offensichtlich ein „schräger Typ“ sei, platzt mir der Kragen. Zwar versuche ich, mich einigermaßen gegen seine Anschuldigungen zu verteidigen, doch er lächelt mich nur höhnisch an und tut, als ob er mir gar nicht zuhören würde. Es scheint ihm geradezu Spaß zu machen, mich ständig zu diffamieren und zu quälen. Da er einfach nicht damit aufhört, kann ich mich nicht mehr zurückhalten. Wütend dresche ich auf ihn ein. Sofort rennt er wie eine gesengte Sau laut schreiend aus dem Zimmer, brüllt laut um Hilfe, läuft schnurstracks den Flur entlang geradewegs zum anderen Flügel des Seminargebäudes hinüber direkt bis zur Wohnung von Rektor Eckmann.

Innerlich total aufgewühlt packe ich meine Hefte und Bücher zusammen, stecke sie in meine Schulmappe und verlasse sein Zimmer. Schnell gehe ich den Flur entlang und will über das Treppenhaus das Seminar verlassen. Doch schon begegne ich einigen neugierigen Seminaristen, die durch das Hilfegeschrei aus ihren Zimmern heraus gelockt wurden. Als ich über die Treppe des Seminargebäudes dem Ausgang zustrebe, höre ich, wie unten an der Pforte jemand ruft, dass das ganze Haus schnell abgeschlossen werden müsse, weil jemand im Gebäude sei, der keinesfalls entkommen darf. Ich traue meinen Ohren nicht! Kann es sein, dass ich nicht richtig gehört habe? Doch allem Anschein werde ich bereits wie ein Verbrecher gesucht! Vorsichtshalber schlage ich sofort eine andere Richtung ein, denn diese Anweisung, alle Eingänge abzuschließen, könnte ja nur vom Rektor sein. Diesen Triumph aber, mich auf solch eine billige Tour zu fangen, will ich ihm nun doch nicht gönnen. Deshalb kehre ich schnell wieder um, laufe das Treppenhaus hoch bis zum obersten Stockwerk, renne dort durch den langen Flur an sämtlichen Studentenzimmern vorbei bis zum hinteren Treppenhaus und von dort wieder alle Stockwerke hinunter bis zum Keller. Dort gehe ich schnell zum Fahrradraum, doch er ist ungeeignet, sich hier zu verstecken. Ich renne ein Stück weiter zur Waschküche, schaue ins Bügelzimmer und stelle fest, dass die Hausangestellten bereits diese Räume verlassen haben und zur Küche ins andere Untergeschoss hinübergegangen sind, um das Abendessen vorzubereiten. Vor mir stehen zwei große Tische, auf denen die Wäschestücke zusammengelegt werden und eine breite Heißmangel. Durch eine weitere Tür sehe ich im Nebenraum die riesige Waschmaschine und den großen Wäschetrockner. Normalerweise sind diese Räume, wenn darin gearbeitet wird, durch die langen Neonröhren hell beleuchtet. Jetzt aber scheint nur fahles Tageslicht durch zwei Lichtschächte herein, die außen am Mauerwerk angebracht sind. Rechts vor der Tür, die zur Waschküche führt, sehe ich in der Ecke einen großen Haufen von Leintüchern auf dem Boden liegen, die noch nicht gewaschen sind. Die Seminaristen mussten wohl heute morgen ihre Betten abziehen, so dass ihr gebrauchtes Bettzeug nun daliegt, um es zu waschen. Dieser riesige Wäscheberg erscheint mir vorerst ein geeignetes Versteck zu sein, um darin erst einmal zur Ruhe zu kommen und zu überlegen, was ich nun machen soll. Da ich nicht einfach mit meinen Kleidern in diesen muffigen Haufen kriechen will, hole ich mir ein frisches Leintuch aus dem Schrank, wickle es um mich herum und zwar so, dass ich es auch über meinen Kopf ziehen kann, um möglichst mit anderen Wäschestücken nicht in Kontakt zu kommen. Vorsichtig krieche ich in den Haufen, so dass ich mit dem Kopf gerade noch herausschauen kann und falls jemand hereinkommt, kann ich mir schnell das frische Leintuch-Ende überziehen. Nun aber überdenke ich erst mal meine jetzige Situation:

Meinrad ist in seiner Panik zu Eckmann gelaufen und erzählte ihm den ganzen Hergang, natürlich in seiner Version. Eckmann lässt sofort das Haus abschließen, damit ich nicht entwischen kann. Das heißt, Eckmann geht davon aus, dass ich feige bin und nicht zu meiner Tat stehen will. Doch dem ist beileibe nicht so! Ich habe mich lediglich gegen die ständigen Anfeindungen, Heucheleien und sarkastischen Bemerkungen gewehrt, die dieses scheinheilige Subjekt von Meinrad dauernd gegen mich abgefeuert hatte. Hätte ich etwa heulend und weinend zu Eckmann laufen und ihm erzählen sollen, dass ich von Meinrad ständig veräppelt und verlacht werde? Es wäre doch auf diesem Wege nie etwas dabei herausgekommen! Eher, dass es nur noch schlimmer geworden wäre und ich vor allen im Haus als Heul-Suse, als Schleimer und Petzer dagestanden wäre. Nein, auf der Flucht bin ich nicht, im Gegenteil, ich will mich lediglich nicht wie ein Verbrecher suchen und als Schlägertyp abstempeln lassen, als ob ich ein Weichei wäre und mich meiner Verantwortung entziehen wolle.

Während ich über meine Situation so nachdenke, höre ich draußen auf dem Gang einige Stimmen. Wie es aussieht, muss ich annehmen, dass sie nach mir suchen. Die Schritte im Flur kommen auf das Bügelzimmer zu, schnell klappe ich das Leintuch über meinen Kopf. Schon geht die Tür auf, das Neonlicht wird angeknipst, zwei Männer gehen im Raum umher und sagen:

„Hier ist er nicht“, und kurz danach, „hier ist er auch nicht.“

Dann gehen sie ganz knapp an mir vorbei durch die Tür in die Waschküche und schauen sich dort um:

„Auch hier ist er nicht. Mensch, irgendwo muss er doch sein!“

Sie schalten das Licht wieder aus, gehen zur Tür hinaus und die Treppe hoch. Nun bin ich entschlossen, so lange in meinem Versteck zu bleiben, bis im Seminar das Abendessen beginnt. Bis dahin haben sie noch genug Zeit, alle Räumlichkeiten des Hauses nach mir durchzustöbern. Wenn die Seminaristen dann im Speisesaal sitzen, kann ich ohne Aufsehen zu erregen, mein Versteck verlassen und zum Rektor gehen. Ich werde ihm dann alles berichten, wie es zu dieser Attacke gekommen ist.

Die Zeit bis zum Abendessen dauert ewig. Immer noch klopft mir der Puls in den Adern und jetzt, wie ich so ruhig daliege, spüre ich erst, wie aufgewühlt ich bin. Um mich abzulenken, nehme ich mein Lateinbuch aus meiner Schulmappe und versuche Vokabeln zu lernen. Immer wieder schaue ich auf meine Uhr, die Zeit will einfach nicht vergehen.

Endlich ist es 18 Uhr. Die Seminaristen müssten jetzt im Speisesaal sitzen. Ich warte noch etwa fünf Minuten, damit ich gewiss keinem Nachzügler begegne. Dann mache ich mich auf den Weg zum Rektor. Vorsichtshalber gehe ich nicht direkt über den Flur zur Eingangshalle, sondern gehe über das äußere Treppenhaus hoch und über das oberste Stockwerk hinüber zum anderen Gebäudetrakt, damit ich möglichst niemandem begegne. Als ich vor der Wohnungstür des Rektors stehe und klingle, pocht mir der Puls in den Schläfen. Eckmann öffnet die Tür und steht bass erstaunt mit halb offenem Mund vor mir. Im Augenblick weiß er nicht so recht, was er sagen soll. Er macht die Tür vollends auf und bittet mich in sein Büro. Wie es scheint, saß er ebenfalls beim Abendessen, denn er geht nochmals kurz zurück in sein Wohnzimmer, um schnell noch etwas zu erledigen. Als er wieder zurück ist, bietet er mir vor seinem Schreibtisch einen Stuhl an und fragt, warum ich Meinrad denn niedergeschlagen habe? Als ich gerade beginnen will, ihm der Reihe nach alles zu erzählen, steht er kurz nochmals auf, geht an sein Tonbandgerät, schaltete es ein und will das Mikrofon auf den Schreibtisch stellen.

„Wenn das Tonband läuft, sage ich kein Wort mehr“, drohe ich und verbiete ihm, Tonaufzeichnungen zu machen. Verblüfft schaut er mich an, nimmt einen Schreibblock zur Hand und sagt:

„Dann muss ich mir wenigstens einige Notizen machen, damit ich den Tathergang auch richtig aufnehmen kann. Schließlich muss ich doch genau wissen, was vorgefallen ist. Wenn alles so stimmt, wie Meinrad Mertens mir berichtet hat, haben Sie in eklatanter Weise gegen die Hausordnung verstoßen.“

Ich bin mit seinen Notizen einverstanden und beginne, alles zu erzählen. Angefangen von Alex, dessen Belästigungen ich ertragen musste und wie er mich im Duschraum niederschlug, weil ich seine Gafferei nicht dulden wollte; weiter, wie ich daraufhin in meiner Not mich Ottmar anvertraut habe und seinem Vorschlag folgte, mit ihm zusammen aus dem Seminar auszuziehen, wodurch ich aber quasi vom Regen in die Traufe geriet; dann, wie ich in der Schule immer schlechter wurde und mit Meinrad zusammen gelernt habe, um aus meinem Tief wieder herauszukommen; wie Ottmar nun im ganzen Haus Stimmung gegen mich verbreitete und Meinrad mich mehr und mehr hänselte, weil er die abfälligen Äußerungen von Ottmar sich zu eigen machte, so dass ich hier letztendlich ganz zum Außenseiter abgestempelt wurde; als schließlich kaum noch jemand vom Seminar mit mir redete und ich es nicht mehr aushielt, hat Meinrad mich aufs Tiefste verletzt, indem er mich total lächerlich machte und mir vorwarf, dass ich zu keiner Freundschaft fähig sei und ich doch froh sein müsse, wenn er sich überhaupt noch mit mir abgeben und mit mir reden würde.

In meinem Bericht vor dem Rektor brauche ich jetzt auf Alex und Ottmar nun keine Rücksicht mehr zu nehmen, da sie das Haus ja bereits verlassen haben. Somit kann mir nun auch niemand mehr vorwerfen, dass die beiden wegen mir die Schule und das Seminar hätten verlassen müssen und ich mit meiner Aussage ihre regulären Schulabschlüsse verhindert hätte.

Lange hört Rektor Eckmann mir zu, macht sich dabei immer wieder Notizen, fragt gewisse Einzelheiten nach, um alles besser verstehen zu können. Manches will er auch sehr detailliert wissen, so dass ich mir wie bei einem Verhör vorkomme und den Eindruck habe, dass er mir alles gar nicht so richtig glauben will. Zwischendurch werden wir bei unserem Gespräch durch verschiedene Telefonanrufe gestört, es klingelt auch einige Male an seiner Wohnungstür, doch schnell wimmelt er die Leute wieder ab und entschuldigt sich bei ihnen, dass er gerade in einer wichtigen Besprechung sei. Nachdem er mich sehr lange verhört hatte, lässt er mich gehen und verabschiedet sich von mir mit den Worten:

„Nun gut, ich muss erst einmal überlegen, wie es in einem solchen Fall weitergehen soll. Was Sie getan haben, ist ein schwerer Verstoß gegen die Hausordnung. Deshalb muss ich den Seminarrat einberufen, der darüber beraten wird und erst dann kann eine endgültige Entscheidung getroffen werden. Bis dahin dürfen sie allerdings das Haus nicht mehr betreten.“

Völlig vor den Kopf gestoßen frage ich:

„Ist das quasi ein Hausverbot?“

Er nickt und sagt: „Ja.“

Betroffen versuche ich, den Rektor noch umzustimmen:

„Ich sehe aber nicht ein, dass Sie ein Hausverbot gegen mich aussprechen, denn dann kann ich mich ja nicht einmal mehr wehren. Auch wenn der Seminarrat zusammenkommt, kann ich mich ja nicht verteidigen.“

Eckmann bleibt stur:

„Das Hausverbot muss sein, es ist beschlossene Sache! Wer einen Seminaristen zusammenschlägt, darf das Haus nicht mehr betreten.“

„Dann will ich es schriftlich haben“, antworte ich trotzig.

Eckmann sucht auf seinem Schreibtisch einen Zettel, schreibt darauf einige Sätze und übergibt ihn mir. Ich werfe einen Blick auf das Geschriebene, tatsächlich, ich habe für drei Tage Hausverbot. Und ich weiß nicht, wie es nun weitergehen soll.

In der Dunkelheit, es ist mittlerweile kurz vor Mitternacht, gehe ich zum Seminar hinaus und mache mich auf den Weg zurück in mein Zimmer. Ich kann es nicht fassen. Nachdem ich ihm doch jetzt nun alles erzählt habe, kann ich diese harte Vorgehensweise einfach nicht verstehen. Tief frustriert gehe ich in der Dunkelheit durch die Straßen zurück in das Haus, wo ich nun allein bei dem älteren Ehepaar in einem winzig kleinen Raum wohne. Ich lege mich auf mein Bett, es gehen mir tausend Gedanken durch den Kopf und kann keine Ruhe finden. Werde ich jetzt auch noch von der Schule ausgeschlossen? Oder darf ich nur das Seminar nicht mehr betreten? Wo soll ich morgen denn frühstücken? Wo soll ich mir das Mittag- und Abendessen besorgen? Wenn ich aber keinen Zugang mehr zum Seminargebäude habe, kann ich doch auch die Seminaristen nicht mehr erreichen, die im Seminarrat sind und über die ganze Sache entscheiden werden. Somit kann Meinrad den Mitgliedern des Seminarrats doch vorher noch alles so erzählen und die ganze Geschichte so verdrehen, wie es ihm in den Kram passt. Ich befürchte, dass er sich nun an mir rächen will und ich kann nichts dagegen tun. Außerdem, wer weiß von den Seminaristen überhaupt, dass ich jetzt ein Hausverbot bekommen habe? Sie könnten möglicherweise ja annehmen, dass ich ein schlechtes Gewissen habe und deshalb nicht mehr ins Seminargebäude kommen will. Und selbst wenn ich ihnen in der Schule sagen würde, dass ich Hausverbot habe und deshalb nicht mehr das Seminargebäude betreten darf, würden sie mir denn das glauben? Nach allem, was Ottmar, Alex und Meinrad über mich herumgetratscht haben, bin ich doch inzwischen in einem ganz schlechten Ruf!

Am nächsten Tag fühle ich mich wie gerädert. Da ich wegen meines Hausverbots nicht ins Seminargebäude kann, um dort zu frühstücken, gehe ich direkt zur Schule. Unterwegs treffe ich einige Mitschüler, die aus dem Umland von zuhause aus täglich mit der Bahn hierher zum Ambrosianum fahren. Neugierig kommen sie gleich auf mich zu und fragen übertrieben freundlich lächelnd:

„Na, wie geht es dir denn?“

„Warum?“, frage ich zurück und, obwohl man mir es wohl nicht ansieht, dass ich kaum geschlafen habe, antworte ich, „mir geht es gut. Warum wollt ihr das denn so genau wissen? Ihr seid doch sonst nicht so besorgt um mich.“

„Na ja, man hört zur Zeit so allerhand von dir“, geben sie verschmitzt zurück.

„Ja, ja, geredet wird ja viel. Aber was wisst ihr denn – so allerhand - über mich?“

„Zum Beispiel, dass es hier im Ambrosianum eine Schlägerei gegeben hat, bei der du eifrig dabei warst!“

„Wie kommt ihr denn zu so einem Gerücht? Wo erzählt man denn so etwas?“, frage ich weiter, um zu erkunden, von wem sie informiert wurden und welche Version dieser Geschichte sie mir nun berichten werden. Doch darauf gehen sie nicht weiter ein und sagen nur:

„Das steht doch heute in allen Zeitungen, dass du den Meinrad zusammengeschlagen hast! Eckmann hat ihn sogar gleich zum Arzt fahren müssen und ihn röntgen lassen. Du musst ja ganz schön zugelangt haben! Selbst in den Zeitungen von Ludwigsburg, Leonberg und Göppingen kann man es lesen, dass es im Ambrosianum eine Schlägerei gegeben hat“, antworten sie belustigt und wollen von mir noch mehr darüber wissen, wie es dazu denn gekommen sei. Doch ich lehne jede weitere Auskunft ab und bitte um Verständnis, dass ich jetzt meine Ruhe haben will. Als ich ins Klassenzimmer gehe, kommt aufgeregt ein Seminarist auf mich zu und teilt mir pflichtbewusst mit, dass ich heute Nachmittag zum Rektor Eckmann kommen soll, der mit mir im Beisein unseres Sozialpädagogen etwas besprechen möchte.

Mir ist klar, dass dieser Vorfall im ganzen Haus unter den Seminaristen in den unterschiedlichsten Versionen die Runde gemacht hat. Von einigen werde ich als unreif und unbeherrscht angesehen, weil sie meine Attacke gegen Meinrad nicht verstehen können. Andere, denen Meinrad mit seiner spitzen Zunge auch schon des öfteren auf den Schlips getreten ist, stehen offen zu mir und verteidigen mich. Ein Klassenkamerad sagt sogar laut im Klassenzimmer:

„Das war ganz richtig so, dass du endlich diesem Lästermaul mal gezeigt hast, wo die Grenzen sind. Dem gehört schon längst sein freches Maul gestopft.“

Nachmittags gehe ich zum Rektor, er empfängt mich an seiner Wohnungstür äußerst kühl, führt mich in sein Büro, wo ich in Anwesenheit unseres Sozialpädagogen die ganze Geschichte noch einmal erzählen muss. Es scheint, als ob beide mir immer noch nicht so recht glauben wollen. Ständig unterbrechen sie mich, fragen nach einzelnen Details, die ich akribisch begründen und erklären muss, mitunter stellen sie auch sehr peinliche Fragen und es kommt mir so vor, als ob ich von ihnen behandelt werde wie einer, der sich die ganze Geschichte nur aus den Fingern saugen würde.

Nach diesem langen und äußerst anstrengenden Verhör verlasse ich völlig verunsichert das Seminar und gehe enttäuscht und deprimiert zurück in mein Zimmer. Ich weiß nicht, was das nun bedeuten soll. Diese schonungslose Vernehmung! Und alles ohne jegliches Einfühlungsvermögen! Das lässt darauf schließen, dass sie es mir nicht abnehmen wollen, was ich durchgemacht habe. Mir wird klar, dass sie auch Meinrad befragt haben, der ihnen ganz gewiss nichts Positives über mich berichtet hat und ihnen natürlich seine eigene Version von dieser Auseinandersetzung schilderte. Außerdem war er mit Ottmar in freundschaftlichem Kontakt gestanden, der ihm ja nur Schlechtes über mich berichtete. Das alles hat Meinrad gewiss auch dem Rektor erzählt, um sich für meine Tat an mir rächen zu können. Doch wie dem auch sei, ich bin nicht bereit, zu kuschen und klein beizugeben. Denn soviel steht fest, es geht um meinen Verbleib an dieser Schule, es geht um meine Zukunft.

Am dritten Tag meines Hausverbots tagt nach dem Abendessen der Seminarrat, um über den Vorfall zu beraten. Der Seminarrat besteht aus drei Seminaristen, dem Rektor und unserem Sozialpädagogen. Außer diesen fünf Mitgliedern des Seminarrats waren noch Meinrad und ich anwesend. Zuerst werde ich aufgefordert, nochmal alles zu erzählen, wie es zu dieser handfesten Auseinandersetzung gekommen ist. Kurz und bündig berichte ich alles nun zum dritten Mal und spüre, dass ich so langsam am Ende meiner Kräfte bin. Diese nun schon tagelang andauernde Prozedur nervt mich ungemein, denn alles, was ich berichten muss, ist mir äußerst peinlich. Im Schulunterricht kann ich mich kaum noch konzentrieren, auf die Klassenarbeiten kann ich mich bei diesem Stress ohnehin nicht richtig vorbereiten, wie soll ich denn so das Abitur noch schaffen? Außerdem stresst mich zusätzlich das Verhalten vieler Seminaristen, die immer wieder von mir wissen wollen, wie sich alles nun denn wirklich zugetragen habe. Und jetzt noch dieser Rektor, der nichts anderes weiß, als mich mit immer neuen Verhören zu belästigen, auf die ich mich jedes mal akribisch vorbereiten muss.

Inzwischen habe ich von anderen Mitschülern erfahren, dass Meinrad tatsächlich von Rektor Eckmann sofort nach meiner Attacke zum Arzt gefahren wurde, um ihn gründlich untersuchen zu lassen und um festzustellen, ob er irgendwelche Verletzungen habe. Da er aber keinen Schaden davontrug, lästern manche meiner Klassenkameraden wiederum nun über mich, dass ich es wohl erst noch lernen müsse, richtig draufzuhauen, denn ich hätte ja nicht einmal einen blauen Fleck bei Meinrad zustande gebracht.

Aus dem ganzen Aufwand, den Rektor Eckmann für Meinrad getrieben hat, ist zu entnehmen, welch lautes Geschrei und Gezeter er aufgeführt haben muss, damit er sofort zum Arzt gebracht wurde. Da bei dieser ärztlichen Untersuchung aber leider nichts herauskam, ist der ganze Vorfall beiden nun doch etwas peinlich und Meinrad ist vor dem Seminarrat nun gewissermaßen im Zugzwang, wenn er jetzt vor diesem Gremium nun aussagen muss. Vor allem aber muss er gegenüber dem Rektor die richtigen Argumente finden, dem er wohl etwas zu starke Schmerzen und zu schwere Verletzungen vorgespielt hatte. Dass es aber zu einem solch langen Verhör- und Verhandlungsmarathon kommt, mag wohl auch daran liegen, dass Rektor Eckmann im Grunde genommen alles andere als gut auf mich zu sprechen ist. Denn vermutlich hegt er immer noch gewisse Rachegedanken gegen mich, weil ich vor wenigen Wochen seinen Leitungsstil heftig kritisiert hatte. Auf unserem Faschingsball, der jedes Jahr mit buntem Programm in der Aula unseres Seminars abgehalten wird, zu dem auch viele Gäste und sämtliche Lehrer unserer Schule eingeladen werden, trat ich als „Cicero“ auf und hielt in der Bütt eine deftige Rede gegen Rektor Eckmann. Als Vorlage für meinen Auftritt hatte ich die vierte Rede Ciceros gegen Catilina gewählt, in der er den Senat und die Bürger Roms dazu aufrüttelte, sich gegen die Intrigen und gegen das drohende Unheil zu widersetzen, um die unmittelbar bevorstehende Machtergreifung dieses römischen Adligen zu verhindern. Gekleidet in eine weiße Toga mit roter Schärpe richtete ich in wortgewaltiger Rhetorik meine Worte an das brodelnde Publikum, das nun die ahnungslose Bürgerschaft Roms darstellte, um sie gegen die ständig zunehmende Tyrannei unseres Rektors, dieses äußerst unbequemen Mannes aufzuwiegeln und sich endlich gegen ihn zur Wehr zu setzen. Schonungslos prangerte ich seinen autoritären Leitungsstil an:

„Quo usque tantem, Catilina, patientia nostra?“ begann ich wie Cicero und redete in deutscher Übersetzung weiter, „wie lange noch, Catilina – du eckiger Mann - , willst du unsere Geduld missbrauchen? Bis zu welchem Ende soll diese, deine zügellose Frechheit ihr Haupt gegen uns erheben? Der Senat sieht es! Das Volk hört es! Und immer noch lebt dieser Mensch?“

Mit großem Beifall und mit lautem Gejohle unterbrachen die Seminaristen immer wieder meine aufrührerische Darbietung und spielten geradezu wie einstudiert perfekt den brodelnden und aufgewühlten römischen Mob. Selbst unser Lateinlehrer ließ sich noch am nächsten Tag in seinem Unterricht voller Begeisterung dazu hinreißen, mir für diese Rede großes Lob auszusprechen und wertete sie als eine außerordentlich gelungene Präsentation eines Ciceros, wie man ihn sich nicht besser hätte vorstellen können:

„So, ja genau so müsst ihr euch das Auftreten des Cicero vor dem Senat vorstellen! Diese Rhetorik war exzellent! Diese treffsichere und lautmalerische Ausdrucksweise! Genau so war es!“ fügte aber dann doch noch ironisch hinzu:

„Vom Inhalt allerdings muss ich mich selbstverständlich distanzieren! Schließlich will ich mich ja nicht gegen den Rektor stellen. Das ist hinwiederum eine ganz andere Sache!“

Alle meine Mitschüler lachten natürlich laut heraus, denn wir wussten ja ganz genau, dass auch er gewisse Vorbehalte gegen Eckmann hegte. Unseren Rektor allerdings muss damals diese Faschingsrede mitten ins Mark getroffen haben. Denn einige Seminaristen hatten sich damals beim Bischof über ihn beschwert, so dass er wohl der Meinung war, ich würde zu diesen aufständischen Schülern gehören. Gleich am Tag nach meinem Auftritt ließ er mich deshalb zu sich rufen und wollte genauestens von mir wissen, wer an meiner Rede mitgearbeitet und mich dazu anstachelt habe, diese Schmährede vor versammelter Mannschaft auf unserem Faschingsball zu halten. Als ich ihm aber gestehen musste, dass ich diese Faschingsrede ganz allein ausgearbeitet habe und keine anderen Ideengeber dahinterstanden, wollte er es mir absolut nicht abnehmen. Er sicherte mir sogar zu, dass es für alle Beteiligten keinerlei negative Konsequenzen gäbe, er möchte ja lediglich wissen, wer hinter diesem Auftritt stehe und daran mitgearbeitet habe. Doch leider musste ich ihn enttäuschen. Zu diesem Komplott unter unseren Seminaristen, die sich an den Bischof gewandt hatten und den Leitungsstil von Rektor Eckmann anprangerten, gehörte ich also nicht. Dass er zu dieser Zeit sogar um seinen Rektor-Stuhl bangen musste, erfuhr ich erst viel später. Denn ein oder zwei Jahre zuvor hatte sich ein ganzer Kurs vom Ambrosianum verabschiedet und sämtliche Schüler eines Jahrgangs gingen nach Neuss, wo sie ins Erzbischöfliche Friedrich-Spee-Kolleg eintraten, um dort das Abitur abzulegen. Das Abitur in den nördlichen Bundesländern ist wesentlich leichter, so dass sie dort mit weniger Aufwand den Zugang zu einem Universitätsstudium erreichen konnten. Wir im Ambrosianum dagegen müssen uns auf ein Vollabitur mit sämtlichen Nebenfächern vorbereiten, wie es auch in allen anderen Gymnasien hier in Baden-Württemberg üblich ist. In anderen Bundesländern wird für den zweiten Bildungsweg oft auch ein spezielles Schulabitur angeboten, bei dem keine oder nur wenige Nebenfächer dem Unterrichtsstoff beigefügt sind. Da aber durch den Weggang nahezu eines ganzen Kurses so gut wie ein ganzer Abiturjahrgang im Ambrosianum ausgefallen ist, stand das gute Ansehen der Schule auf dem Spiel, so dass für unsere Schul- und Seminarleitung dies ein riesiges Debakel war, das sich keinesfalls wiederholen durfte. Dieser Umstand erklärt im Nachhinein, weshalb Eckmann so streng gegen mich vorgeht, da ich durch diese Faschingsrede zu einem „großen Fragezeichen und Warnschild“ und möglicherweise sogar zu einem „roten Tuch“ für ihn geworden bin, vor dessen Kritik er sich sehr in Acht nehmen musste.

Doch jetzt, nach diesem Vorfall mit Meinrad, kann er seine Macht voll über mich ausbreiten und sie vor anderen trefflich demonstrieren. Da ich mich durch meinen handgreiflichen Angriff auf Meinrad ins Unrecht gesetzt habe, eröffnet sich für ihn nun die Gelegenheit, mir eine Lektion für meine Aufmüpfigkeit zu erteilen. Vermutlich hatte er mir meinen eigenständigen Auftritt beim Faschingsball nicht abgenommen und zählt mich weiterhin zu seinen unbequemen Kritikern im Haus, die er am liebsten ganz loswerden möchte. Wenn dem so wäre, dann hätte er jetzt die Gelegenheit dazu, wenigstens einen von ihnen aus dem Seminar und aus der Schule zu entfernen. Damit dieser Rauswurf aber von den Seminaristen akzeptiert und nicht als willkürlicher Machtakt interpretiert wird, braucht er nun unbedingt die Zustimmung des Seminarrats.

Nachdem ich meine Geschichte vor diesem Gremium erzählt habe, kommt nun Meinrad an die Reihe, um diese „Schlägerei“ aus seiner Sicht zu schildern und dem Seminarrat zu erläutern, wie es zu dieser Auseinandersetzung gekommen ist. Dabei berichtet er, wie er mitbekommen habe, dass ich von Alex mehrmals recht kumpelhaft angefasst wurde und er schon damals ahnte, dass da doch wohl etwas mehr dahinterstecken würde. Ottmar habe ihm erzählt, dass er mir sogar geholfen habe und mit mir aus dem Seminar ausgezogen sei, damit ich vor Alex meine Ruhe habe. Weiterhin habe ihm Ottmar berichtet, dass ich ein sehr verwöhntes Bürschchen sei und noch sehr viel lernen müsse, man könne aber mit mir absolut nicht auskommen. Bei seiner Schilderung versucht nun Meinrad, mir die ganze Schuld dafür zuzuschieben, dass sowohl meine Kameradschaft mit Alex als auch mein Zusammenwohnen mit Ottmar nur deshalb in die Brüche gegangen sei, weil ich zu einer Freundschaft einfach nicht fähig wäre. Ob bei seinen Aussagen eine gewisse Eifersucht mit eine Rolle spielt, ist durchaus möglich. Denn außer seiner beißenden Ironie und seiner „geschmierten Schwertgosch“, wie es einer meiner Mitschüler ausdrückte, hat er bei seiner Schilderung nicht viel zu bieten. Doch was mich bei seiner ausführlichen Beschreibung der vorgefallenen Ereignisse insgeheim besonders freut, ist die Tatsache, dass er mit all seinen Aussagen nur die Begebenheiten genau so bestätigt, wie ich sie geschildert habe. Zwar will er absichtlich immer wieder bei seiner Darstellung allein mir die ganze Schuld dafür in die Schuhe schieben, da ich ja ohnehin mit niemandem auskäme, doch seine permanenten Schuldzuweisungen klingen sehr vordergründig und bringen inhaltlich nichts Neues, so dass nun jeder merkt, worauf er hinaus will. Nach einigen Rückfragen möchten die Mitglieder des Seminarrats endlich zu einem Ergebnis kommen. Weil sie bei diesem langen Hin und Her und nach Abwägung aller Umstände in meinem Verhalten zwar einen Regelverstoß gegen die Hausordnung sehen, der unter den geschilderten Umständen jedoch durchaus verständlich war, schlagen sie vor, über alles hinwegzusehen und fragen mich, ob ich nach dieser Aussprache mit einer Versöhnung mit meinem Kontrahenten Meinrad nun bereit sei. Nach kurzer Überlegung stimme ich zu und sage:

„Ich bin zwar zu einer Versöhnung bereit, werde ihm aber dabei gewiss nicht um den Hals fallen.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739490090
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (März)
Schlagworte
Auslandsstudium Studienjahr Homosexualität Kirche Pfarrer Gemeindeseelsorge Priester Seelsorge Stalking Biografie

Autor

  • Bernhard Veil (Autor:in)

Bernhard Veil absolvierte die mittlere Beamtenlaufbahn bei der Stadtverwaltung Aalen. Danach altsprachliches Abitur in Stuttgart, Theologiestudium in München und Jerusalem, Gemeindeseelsorger für Jugendarbeit und Erwachsenenbildung mit regelmäßigem Predigtdienst und Religionsunterricht in Böblingen und Ludwigsburg. Anschließend Klinikseelsorger in Stuttgart. Psychotherapeutische Ausbildung in München und Wien. Klinikseelsorger in Geislingen a.d.Steige und in vier Alten- und Pflegeheimen.