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Die Seelentöter – Band 1: Start in Böblingen

Meine Erfahrungen in der katholischen Kirche

von Bernhard Veil (Autor:in)
91 Seiten
Reihe: Die Seelentöter, Band 1

Zusammenfassung

Wer hinter die Kulissen der katholischen Kirche schaut, wird feststellen, dass die zahlreichen Missbrauchsfälle des Klerus, die in den vergangenen Jahren in vielen Ländern aufgedeckt wurden, nur die Spitze des Eisberges sind. Mit Schikanen, Lügen und Verleumdungen sowie mit jahrelangem Mobbing gehen Priester gegen ihre Mitarbeiter vor und setzen die gesamte Palette des Psychoterrors ein, um unbequeme Bedienstete los zu werden und kritisch denkende Arbeitskräfte in Misskredit oder zum Schweigen zu bringen. Da die Kirchen in Deutschland als Körperschaften des öffentlichen Rechts einen Sonderstatus genießen, können sie ihre innerbetrieblichen Angelegenheiten selbst regeln und müssen sich nicht an das Betriebsverfassungsgesetz halten. Somit fallen die kirchlichen Mitarbeiter aus dieser staatlich verordneten Fürsorgepflicht der Arbeitgeber heraus und können von ihren Vorgesetzten und Kollegen gnadenlos gemobbt, sowie psychisch und körperlich geschädigt werden. In der Reihe "Die Seelentöter" beschreibt Bernhard Veil seine Erfahrungen, die er während seines Dienstes als Mitarbeiter in der katholischen Kirche erleiden musste. Der erste Band enthält viele amüsante, aber auch bedenkliche Episoden, die er als junger Mitarbeiter in der katholischen Kirche erlebte. Zunehmend gerät er aber in eine jahrelange Mobbing-Situation, die er in den späteren Bänden ausführlich schildert.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort

In der Reihe „Die Seelentöter“ berichte ich von meinen Erfahrungen, die ich als Mitarbeiter in der katholischen Kirche erlebt habe. Damit der Focus der beschriebenen Personen nicht nur auf Priester, Pfarrer und sonstige Kleriker gerichtet bleibt, habe ich auch mehrere Episoden aus meinem Leben und Werdegang hinzugefügt. Somit kann jeder einen besseren Eindruck gewinnen, wie diese „Hochwürden“ mit mir als Mitarbeiter umgegangen sind.

Alle Namen der beschriebenen Personen wurden abgeändert, die angeführten Institutionen und Handlungsorte jedoch beibehalten, so dass man sich ein gutes Bild darüber machen kann, was sich vor wenigen Jahren an diesen Schauplätzen ereignet hat.

Um das Kostenrisiko in Grenzen zu halten, habe ich auf ein Lektorat verzichtet, sollten sich im Text jedoch Fehler eingeschlichen haben, dann bitte ich Sie, mir diese Mängel zur Berichtigung mitzuteilen.

E-Mail-Adresse: bernhardveil@web.de

Erste kirchliche Berufserfahrungen

Meine pastoral-praktische Ausbildung beginnt in Böblingen, eine Industriestadt im Großraum Stuttgart. Vom Bischöflichen Ordinariat unserer Diözese wurde ich der Pfarrei St. Bonifatius zugeteilt. Wie würde es mir dort ergehen? Welche neuen Menschen würde ich kennen lernen? In welche Aufgabenfelder muss ich mich einarbeiten? Meine Erwartungen sind hoch. Lange habe ich nicht mehr gearbeitet, denn seit meinem Studienabschluss ist inzwischen über ein halbes Jahr vergangen. Mein Diplom in Katholischer Theologie habe ich zwar schon im November des vergangenen Jahres an der Universität München abgelegt; ins Frühjahrssemester schrieb ich mich nur deshalb noch ein, um wenigstens in aller Ruhe meine Zelte in der wunderschönen bayerischen Hauptstadt abbrechen zu können. In rasantem Tempo hatte ich mein Studium durchgezogen und wollte mir wenigstens beim Abschiednehmen von München noch die nötige Zeit dazu lassen, um wieder richtig durchatmen zu können.

Überhaupt waren die gesamten letzten elf Jahre für mich ein sehr turbulenter Lebensabschnitt. Erst die Ausbildung bei der Stadtverwaltung Aalen zum Verwaltungsbeamten. Doch weil ich damals mein künftiges Leben nicht nur hinter einem Schreibtisch verbringen wollte, beschloss ich, das Abitur nachzuholen. In mir war der Wunsch erwacht, noch intensiver für die Menschen da sein zu wollen. Ich verspürte den Drang, katholischer Priester zu werden.

Also trat ich ins Bischöfliche Collegium Ambrosianum in Stuttgart-Bad Cannstatt ein, wo die Möglichkeit bestand, innerhalb von vier Jahren das altsprachliche Abitur nachzuholen. Die Hauptfächer waren Deutsch, Mathematik, Physik, Griechisch und Latein, die Nebenfächer Chemie, Biologie, Geschichte, Gemeinschaftskunde, Erdkunde, Musik und Religion, wobei Chemie nach dem dritten Jahr abgewählt werden konnte. In kürzester Zeit musste ich mir das ganze Wissen für das staatliche Zentralabitur von Baden-Württemberg erarbeiten. Diese Prüfungsaufgaben werden vom Kultusministerium für alle Gymnasien des Landes jährlich neu herausgegeben, so dass auch wir „Ambrosianer“ den gesamten Lernstoff beherrschen mussten, der normalerweise in neun Jahren gymnasialem Unterricht gelehrt wird. Ich bestand und hatte damit die Zulassung, an jeder beliebigen Universität zu studieren.

Also schrieb ich mich im Fachbereich Katholische Theologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München ein. Parallel dazu besuchte ich die Vorlesungen der Hochschule für Philosophie der Jesuiten in der Kaulbachstraße. Da ich Priester werden wollte, bewarb ich mich um Aufnahme ins Herzogliche Georgianum. Dieses renommierte Priesterseminar hatte der bayerische Herzog Georg der Reiche schon 1494 gegründet, um eine qualifizierte Priesterausbildung für Bayern zu gewährleisten. Es ist eines der ältesten Priesterseminare der Welt.

Nach vier Semestern absolvierte ich an der Universität das Vordiplom. Um für diese Prüfungen zugelassen zu werden, müssen mindestens sieben wissenschaftliche Arbeiten eingereicht werden. In diesen Pro- und Hauptseminaren muss jeder Student seine schriftliche Arbeit in Anwesenheit der Studienkollegen dem entsprechenden Fachprofessor vortragen, wobei über die kritischen Aspekte der Arbeit diskutiert und sie näher erläutert wird. Die Vordiplom-Prüfungen müssen in folgenden Fächern abgelegt werden:

  • Philosophie
  • Geschichte der Philosophie
  • Christliche Soziallehre
  • Kirchengeschichte des Altertums und Patrologie (Studium des Lebens, der Schriften und der Lehren der Kirchenväter)
  • Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit

Da ich im Herzoglichen Georgianum wohnte, musste ich neben den Vorlesungen, Seminaren und fachspezifischen Kursen der Uni natürlich auch an den hauseigenen Veranstaltungen des Priesterseminars teilnehmen. Sonntags und mindestens zweimal in der Woche war im Georgianum der Besuch der heiligen Messe in unserer Hauskapelle obligatorisch. Ebenso die Teilnahme an den täglichen Mahlzeiten und an den regelmäßigen Vorträgen des Spirituals. Direktor des Georgianums war Professor Dr. Mürig, der an der Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität das Fach Liturgiewissenschaft lehrte. Interessehalber schrieb ich mich noch an der Hochschule für Philosophie der Jesuiten ein und besuchte auch dort einige Vorlesungen.

Im Priesterseminar war ich Mitglied der Schola, eine Singgruppe, die wöchentlich probte, um unsere Sonntagsgottesdienste mit Liedern und Gregorianischen Chorälen feierlich zu gestalten. Auch bei der Theater AG machte ich mit, nahm an der Stimmbildung für Gesang und Sprache und an vielen freiwilligen Angeboten des Hauses teil. Da ich Orgel spielen konnte, spielte ich nicht nur regelmäßig in den Gottesdiensten im Priesterseminar, sondern auch in der einen oder anderen Pfarrgemeinde in München, wenn dort ein Organist zur Aushilfe benötigt wurde.

Nach dem vierten Semester, als die Prüfungen zum Vordiplom vorbei waren, bestand die Möglichkeit, an eine andere Universität zu wechseln. Ich hatte mich zeitig umgesehen und als ich auf das Angebot der Theologischen Fakultät der Dormitio-Abtei in Jerusalem aufmerksam wurde, bewarb ich mich und konnte somit in Israel zwei Auslandssemester verbringen. Beim Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) bewarb ich mich um ein Stipendium, fuhr nach Bonn-Bad Godesberg, um dort das Bewerbungsgespräch zu führen, erhielt die Zusage und konnte somit den Hin- und Rückflug sowie meinen Auslandsaufenthalt finanzieren. Dieses Studienjahr in Jerusalem begann bereits zwei Wochen nach Abschluss meiner Vordiplomprüfungen in München. So blieb mir nach diesem Prüfungsstress nur sehr wenig Zeit, um die verschiedensten Besorgungen für diesen Auslandsaufenthalt zu erledigen. Ich musste mich von der Uni München exmatrikulieren, mich beim Einwohnermeldeamt der Stadt München abmelden, rechtzeitig den Reisepass mit Visum beantragen, mein Zimmer im Priesterseminar auflösen und all meine Sachen nach Aalen zu meinen Eltern bringen, ein Flugticket nach Tel Aviv besorgen und allerlei andere Formalitäten erledigen.

Doch Israel war für mich überwältigend. Ein Vorteil dieses Studienaufenthaltes war nicht nur, dass man in dem Land der Bibel direkt vor Ort sämtliche wissenschaftliche Begleitfächer des Alten und Neuen Testamentes, wie Judaistik, Orientalistik und Topographie studieren konnte, sondern auch, dass dieses Studienjahr für mich vor allem einen äußerst praktischen Nutzen hatte. Während nämlich in Deutschland zwischen den etwa drei Monate dauernden Semestern die Semesterferien beginnen, die ebenfalls drei Monate dauern, fand dort an der Hochschule das Sommersemester von September bis Dezember statt und das Wintersemester begann gleich anschließend im Januar und dauerte bis März. Somit konnte ich in Jerusalem ein weiteres Semester studieren, während in München lediglich das Wintersemester und die anschließenden Semesterferien vergingen. Zwar wurden meine Prüfungen, die ich an der Theologischen Fakultät der Dormitio-Abtei in Jerusalem ablegte, von der Uni München nicht anerkannt, wohl aber meine Seminararbeiten, die ich dort in den einzelnen Fachbereichen geschrieben habe. Somit konnte ich wenigstens diese für die Zulassung zur Diplomprüfung an der Uni München vorlegen. Das waren folgende Seminararbeiten:

  • Fachbereich Judaistik: Strukturen einer Theologie des Judentums anhand des maimonidischen Glaubensbekenntnisses
  • Fachbereich Islamistik: Dynastien des Islam – Die Abbasiden
  • Fachbereich Neues Testament: Die Christologie des Johannes
  • Fachbereich Neues Testament: Die Wunder Jesu im Matthäus-Evangelium – Literarische und theologische Analyse
  • Fachbereich Altes Testament: Die Theologie der Priesterschrift – Die Plagen-Erzählungen in der Priestergrundschrift
  • Fachbereich Altes Testament: Die Anfänge des Jahwe-Glaubens bis zum Sinai-Bund
  • Fachbereich Dogmatik: Christologie
  • Fachbereich Archäologie: Die Topographie Jerusalems

Nach meinem Studium in Israel schrieb ich mich gleich im April an der Uni München wieder ein und konnte somit im siebten Semester mein Studium hier fortsetzen. Allerdings konnte ich in der Zwischenzeit leider keine erholsamen Semesterferien genießen. Und als ich erfahren habe, dass es nach der Studienordnung an der Universität München sogar möglich ist, die Diplomprüfungen um ein Semester vorzuziehen, nahm ich auch diese Möglichkeit wahr, schrieb fleißig meine Diplomarbeit und legte sämtliche Prüfungen bereits im neunten Semester ab. Durch die beiden eingesparten Semesterferien vor und nach meinem Auslandsstudium in Israel und durch meine vorgezogenen Prüfungen in München dauerte mein Studium in katholischer Theologie nun lediglich vier Jahre, obwohl es in Deutschland normalerweise bei einer Regelstudienzeit von zehn Semestern in fünf Jahren absolviert werden kann. Der Stress war allerdings enorm. Die Semesterarbeiten, Prüfungen und meine Diplomarbeit musste ich, während ich die Vorlesungen besuchte, zusätzlich nebenher schreiben und mich gleichzeitig auf die anstehenden Examina vorbereiten.

Um an den Diplomprüfungen überhaupt zugelassen zu werden, musste ich vorher eine Anzahl von wissenschaftlichen Arbeiten schreiben, die laut Prüfungsordnung dafür vorgeschrieben sind. In folgenden Fachbereichen habe ich an der Universität München meine schriftlichen Arbeiten verfasst und zertifizierte Seminarscheine erworben:

  • Fachbereich Altes Testament: Einführung in den Bau der hebräischen Sprache
  • Fachbereich Altes Testament: Literarkritische Übung zu Genesis 12, 10 – 20
  • Fachbereich Missionswissenschaft: Buchbesprechung „Christenheit als Minderheit“ von Hans Küng
  • Fachbereich Religionspsychologie und Religionsphilosophie: Das religiöse Grunderlebnis
  • Fachbereich Christliche Soziallehre: Kirche und Arbeiterschaft – Synodenvorlage
  • Fachbereich Alte Kirchengeschichte: Die Juden im byzantinischen Reich
  • Fachbereich Religionspädagogik: Katechese mit älteren Gemeindemitgliedern

Da ich mich auf den Priesterberuf vorbereiten wollte und es mein Bestreben war, in der Seelsorge zu arbeiten, verfasste ich meine Diplomarbeit im Fachbereich Pastoraltheologie. Mein Professor teilte mir das Thema zu: „Die Neuordnung der Krankensalbung in pastoral-theologischer Sicht.“

Die Schwierigkeit bei der Bearbeitung dieser Thematik lag darin, dass seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil hierzu kaum nennenswerte Literatur veröffentlicht wurde. Denn im Zweiten Vatikanischen Konzil wurde das Sakrament der Krankensalbung neu definiert, das zuvor „Letzte Ölung“ genannt wurde. Es bekam in der pastoral-praktischen Anwendung durch das Konzil einen neuen Inhalt, eine neue Bedeutung und in der seelsorgerlichen Praxis einen neuen Stellenwert. Meine wissenschaftliche Arbeit sollte vor allem dazu dienen, die neuen Sichtweisen des Sakramentes der Krankensalbung aufzubereiten. Somit konnte mein Professor meine Arbeit für seine wissenschaftlichen Forschungsarbeiten nutzen und neue Aspekte und literarische Hinweise bekommen, damit er zu diesem Thema eigene fachspezifische Literatur herausbringen konnte.

Die schriftlichen und mündlichen Prüfungen waren an der Universität München in den Hauptfächern teilweise festgelegt, in den Nebenfächern konnte ich sie großenteils selbst wählen. Meine Diplom-Hauptprüfung legte ich ab in folgenden Fächern:

  • Altes Testament
  • Neues Testament
  • Fundamentaltheologie
  • Dogmatik
  • Moraltheologie
  • Kirchenrecht
  • Liturgiewissenschaft
  • Religionspädagogik und
  • Pastoraltheologie, das ich als Schwerpunktstudium ausgewählt hatte, um mich im Bereich der Alten- und Krankenseelsorge zu spezialisieren.

Somit hatte ich durch die vorgezogenen Prüfungen mit Abschluss des neunten Semesters innerhalb von vier Jahren mein Studium mit dem Diplom in Katholischer Theologie an der Universität München abgeschlossen. Insgeheim war ich stolz auf meine Leistung.

Dass ich nicht nur mein Abitur nach einer Vorbereitungszeit von nur vier Jahren und nun auch noch mein Theologiestudium ebenfalls in nur vier Jahren abgeschlossen habe, bedeutet jedoch nicht, dass ich mich ausschließlich hinter meinen Büchern verkrochen hatte. Nein, ganz im Gegenteil. In München besuchte ich jede Woche eine Opern- oder Theateraufführung, immer in einem anderen Opern- oder Schauspielhaus, um möglichst viele Bühnen und Veranstaltungsorte der Stadt kennenzulernen. Im Herzoglichen Georgianum nahm ich aktiv an der Theater-AG teil, wo wir das Stück „Die Witwen“ von Ludwig Thoma einstudierten. Ich spielte eine Hauptrolle und zwar die eines Kanzlei-Schreibers bei einem Advokaten, der sämtliche Prozessakten durcheinander brachte, wodurch sich eine heitere Verwechslungskomödie entwickelte. Im Theatersaal unseres Priesterseminars wurde das Stück im Beisein vieler Professoren der Theologischen Fakultät aufgeführt. Danach spielten wir das Stück noch in fünf verschiedenen Pfarrgemeinden in München. Um mich zu erholen, fuhr ich in meiner Studienzeit oft übers Wochenende mit der S-Bahn an den Starnberger See, wo das Herzogliche Georgianum ein Bootshaus mit einigen Segelbooten besaß. Mit genügend Proviant im Rucksack und einer Luftmatratze war es auch möglich, dort zu übernachten.

Auch während meines Studiums an der Dormitio-Abtei in Jerusalem hatte ich mich ebenfalls nicht nur mit der Büffelei an der Hochschule begnügt. So nahm ich dort an sämtlichen Exkursionen teil, die von der Hochschule angeboten wurden, um Land und Leute, archäologische Ausgrabungen, biblische Orte und sonstige sehenswerte Städte und Stätten kennenzulernen. Außerdem legte ich dort sämtliche Seminararbeiten samt Prüfungen bereits im ersten Semester des Studienjahres ab, die in der Prüfungsordnung für zwei Semester vorgesehen sind, so dass ich mich im zweiten Semester vom Studienbetrieb absetzte und weitere private Reisen durch das Land, durch den Sinai und ins benachbarte Jordanien unternehmen konnte.

Um für diese Unternehmungen noch freier zu sein und nicht mehr unter der Aufsicht des klösterlichen Studienbetriebs stehen zu müssen, nahm ich mir in Jerusalem bei einem älteren Ehepaar ein möbliertes Zimmer. Somit musste ich mich nicht mehr bei den Mahlzeiten im Studienhaus der Benediktinerabtei jedes Mal abmelden, was ja nicht gerne gesehen wurde, wenn ich mehrere Tage verreisen und auf Besichtigungstour gehen wollte. Dies führte zwar zu heftigen Auseinandersetzungen mit dem damaligen Abt Remigius Flein, doch meine eigenwillige Entscheidung hatte für mich vor allem den Vorteil, dass ich nun das ganz normale Leben eines Studenten in Jerusalem mit seinen alltäglichen Problemen kennenlernen und erleben konnte. Durch meine regelmäßigen Einkäufe und Besorgungen in der Stadt kam ich mit der vielschichtigen jüdischen und arabischen Bevölkerung in Kontakt und lernte viele Menschen kennen, denen ich sonst niemals begegnet wäre.

Doch zurück zu meiner ersten kirchlichen Arbeitsstelle in Böblingen. Voller Tatendrang freue ich mich, nun endlich nach der Zeit des Lernens und Studierens mich einer sinnvollen pastoralen Beschäftigung hingeben zu können. Die Pfarrei St. Bonifatius, der ich zugeteilt bin, ist mit rund 2800 Seelen im Vergleich zu anderen Kirchengemeinden unserer Diözese relativ klein. Mein Ausbildungspfarrer Dr. Rudolf Thanner, ist ebenfalls noch nicht lange hier. Zuvor war er als Repetent im Wilhelmsstift Tübingen für die Priesterausbildung zuständig und hatte somit die Möglichkeit, an der Uni zu promovieren. Durch seine lockere, fast studentische Art kommt er bei den Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Gemeinde recht gut an. Er ist sehr musikalisch, spielt ausgezeichnet Klavier und leitet in unserer Gemeinde St. Bonifatius den Kirchenchor selbst. Bei kirchlichen Hochfesten wie Weihnachten, Ostern, Pfingsten und Fronleichnam gruppiert er den Kirchenchor und ein kleines Orchester gleich hinter sich um den Altar herum. Und während er die heilige Messe zelebriert, dreht er sich im Messgewand einfach mal um, nimmt den Taktstock in die Hand und dirigiert zum Kyrie, Gloria, Sanctus, Benedictus und Agnus Dei eine zuvor einstudierte Orchestermesse von Mozart, Haydn, Bruckner oder ein anderes Werk eines berühmten Komponisten.

Ähnlich wie die Kirchenmusik gestaltet er die übrige Gemeindearbeit. Dieser Pfarrer ist „Alleinunterhalter“, sozusagen „Hans-Dampf in allen Gassen“, immer und ständig in der Gemeinde unterwegs als „Selfmademan“. Andere kann er in seine Arbeit schwer integrieren, und wenn, dann überträgt er ihnen nur untergeordnete Aufgaben. Als ich nun bei ihm meine Arbeit beginne und meine erste Stelle antrete, ergeht es mir ebenso. Bei meinem Dienstantritt weist er mir im Pfarrbüro einen Arbeitsraum zu, in dem kurz zuvor ein ehemaliger Priester Beratungsgespräche anbot, der geheiratet hatte und sich zum Familientherapeuten ausbilden ließ. Kaum stattete ich diesen Büroraum mit meinen Utensilien aus und richtete ihn für meine pastoralen Aufgaben ein, lässt Thanner kurzerhand das auf dem Schreibtisch stehende Telefon entfernen und sagt:

„Das können wir uns einsparen. Wenn Sie telefonieren müssen, können Sie ja zur Pfarrsekretärin hinüber gehen und bei ihr das Telefon benutzen.“

Ich bin baff. Wie soll ich denn seelsorgerisch in einer Kirchengemeinde tätig sein, wenn ich von meinem Schreibtisch aus nicht telefonieren kann? Wie soll ich mit den Jugendlichen Kontakt halten, wenn sie mich nicht unkompliziert telefonisch erreichen können? Schließlich soll ich doch in den nächsten zwei Jahren hier in der Gemeinde mit ihnen arbeiten und mit den verschiedensten Gemeindemitgliedern reden können. Möglicherweise soll ich alte und kranke Menschen besuchen, denen ich zuvor meinen Besuch ankündigen muss? Vielleicht werde ich auch vertrauliche Gespräche führen müssen, bei denen die Sekretärin nicht unbedingt mithören darf. Dies alles ist doch im Büro der Sekretärin, in dem ständig Gemeindemitglieder ein- und ausgehen und sich zeitweise auch länger aufhalten, gar nicht möglich!

Bereits an der Uni München hatte ich das Fach Pastoraltheologie als Hauptfach gewählt. In diesem Seelsorgebereich habe ich meine Diplomarbeit geschrieben und die entsprechenden Praktika und Seminare besucht, damit ich doch hier in der Gemeinde mein erlerntes Wissen auch in die Praxis umsetzen kann. Außerdem bin ich es von meinem früheren Beruf als ehemaliger Verwaltungsbeamter doch so gewohnt, dass in jedem Büro selbstverständlich ein Telefon auf dem Schreibtisch steht, um möglichst unkompliziert alle anstehenden Angelegenheiten sofort erledigen zu können. Für mich ist diese Einschränkung mit dem Telefon zwar unverständlich, ich bin hier neu und muss mich wohl oder übel mit diesem Pfarrer Dr. Thanner nun arrangieren. Gegen seine Entscheidung bringe ich meine Einwände zwar vorsichtig bei ihm vor, doch leider geht er nicht weiter darauf ein, sondern gibt lediglich zur Antwort:

„Für Ihre Arbeit ist ein Telefon doch gar nicht nötig.“

Bei dieser Abfuhr bleibt mir das Wort im Halse stecken. Ich kann doch unmöglich jetzt schon gleich zu Beginn meiner Arbeit gegen ihn aufbegehren!

Um mich in seine Gemeindeseelsorge einzuführen, nimmt Thanner mich in den ersten Tagen zu verschiedenen Hausbesuchen mit. Er stellt mich im Laufe der Woche im Gemeindehaus einigen Jugendgruppen als seinen „Azubi“ vor und zeigt mir bei seinen täglichen Besorgungen in der Stadt, wo Behörden, Friedhof, Krankenhaus, Schulen und allerlei Einrichtungen sind, in denen er häufig zu tun hat. Dabei stelle ich fest, dass er mit vielen Jugendlichen und auch jungen Erwachsenen per Du ist. Umgekehrt duzen auch sie ihn ungeniert und sprechen ihn mit seinem Vornamen „Rudi“ an. Mit mir bleibt er jedoch weiterhin emotional auf Abstand, redet mich „per Sie“ an und nennt mich bei meinem Nachnamen Zeil. Einige Jugendliche bemerken es und sagen mir ganz offen, dass sie es komisch fänden, wenn er mit ihnen so burschikos umgehe, andererseits sich mir gegenüber äußerst distanziert verhält. So ist dieser Umgangsstil von Thanner für mich jedes Mal äußerst peinlich, wenn er mich wieder mal irgendwo vorstellt. Auch das spreche ich bei nächster Gelegenheit an, doch Thanner gibt mir wieder eine Abfuhr und sagt:

„Das lassen sie nur meine Sorge sein.“

Somit ist auch diese Sache erledigt. Einen solch schnoddrigen Umgangsstil hatte ich während meiner ganzen Ausbildung zum Verwaltungsbeamten bei der Stadtverwaltung Aalen nie erlebt. Und damals hatte ich weder Abitur noch Universitätsstudium. Und nun werde ich von diesem Chef hier in Böblingen wie ein „Azubi“ behandelt!

In den ersten Wochen schwirrt mir abends der Kopf von den vielen Begegnungen und Eindrücken, die ich tagsüber mitbekomme. Ich bin froh, wenn ich mich zeitweise in meine Dachkammer zurückziehen kann, die der Pfarrer mir vorübergehend im Pfarrhaus zur Verfügung stellt, bis ich eine eigene Wohnung gefunden habe. Denn laut Anstellungsvertrag wird vom Bischöflichen Ordinariat für alle Gemeindeseelsorger die Residenzpflicht gefordert, das heißt, dass ich meinen Wohnsitz innerhalb der Pfarrei nehmen muss, um für seelsorgliche Notfälle jederzeit zur Verfügung zu stehen. Allerdings ist es in Böblingen nicht leicht, ein ordentliches Zimmer oder gar eine kleine Wohnung zu einem akzeptablen Preis zu finden. So bin ich nun darauf angewiesen, für ein paar Wochen in dieser dunklen Dachkammer im Pfarrhaus zu verbringen, die eher einer Rumpelkammer gleicht als einem gemütlichen Zimmer, in das man sich gerne zurückzieht.

Gott sei Dank habe ich in der Nachbargemeinde St. Maria meinen Kollegen Reinhard Kurz, der dieselbe Ausbildung wie ich in der Diözese begonnen hat, nämlich die zu dem neu eingeführten Beruf des Pastoralreferenten. Mit Reinhard kann ich meine Erfahrungen austauschen und erfahre von ihm, welche Aufgabenbereiche er von seinem Pfarrer zugeteilt bekommt und wie dieser mit ihm umgeht. Wir verbringen so manch gemütlichen Abend in seiner Wohnung, die sein Pfarrer für ihn besorgt hat.

Apropos „Ausbildung zum Pastoralreferenten“ – Theologie hatte ich ja studiert, um Priester zu werden. Da ich aber mein Abitur und mein Studium in einer Rekordzeit von jeweils nur vier Jahren durchlaufen und abgeschlossen hatte, konnte ich mich nach diesem Prüfungsstress nicht gleich dazu entscheiden, anschließend sofort ins Priesterseminar in Rottenburg einzutreten, um mich vollends auf den Priesterberuf vorzubereiten. Ich brauchte unbedingt nochmals eine Bedenkzeit, um diese Lebensentscheidung sorgsam abzuwägen. Deshalb hatte ich gleich nach meinen Diplom-Prüfungen mir noch etwas Zeit genommen, um mir darüber klar zu werden, ob der Priesterberuf auch tatsächlich für mich das Richtige wäre. Ich reiste gleich nach meinen Diplom-Prüfungen für ein paar Wochen nach London, um zunächst einmal auf andere Gedanken zu kommen.

Dort quartiere ich mich in ein „Zimmer mit Frühstück“ ein und besichtige ausgiebig diese stolze Stadt des einst so reichen Commonwealth. Mit der Bahn sind die umliegenden Städte mit ihren beeindruckenden Bauwerken und auch viele reizende Dörfer sehr leicht zu erreichen. Besonders beeindrucken mich die prächtigen Kathedralen von Exeter, Salisbury, St. Albans und Ely. Ich bewundere die rätselhaften Steine von Stonehenge, genieße das herrliche Flair des Landstädtchens Stratford-upon-Avon, die Geburtsstadt William Shakespeares, besuche Oxford, Windsor Castle und sauge die wunderschöne Landschaft ringsum in mich auf. Von diesem Englandaufenthalt erhoffe ich mir, dass sich in meinem Entscheidungsprozess, Priester zu werden, etwas bewegen würde. Doch je mehr ich darüber nachdenke, desto trübsinniger und unsicherer werde ich. Schließlich verbringe ich mehrere Tage in tiefster Niedergeschlagenheit in meinem Zimmer. Ich komme in dieser Lebensfrage schlichtweg zu keinem endgültigen Ergebnis. In dieser depressiven Verfassung habe ich große Mühe, mich aufzuraffen, um noch weitere Besichtigungstouren durch Südengland zu unternehmen. So bin ich heilfroh, als mein Bruder mich anruft und mir mitteilt, dass ich umgehend nach Köln zum Erzbischöflichen Ordinariat fahren solle, um mich dort vorzustellen. Ich hatte nämlich, bevor ich nach London fuhr, bei der Erzdiözese Köln, sowie bei den Diözesen Münster und Essen angefragt, ob ich dort als Diplom-Theologe im Bereich der Kranken- oder Altenseelsorge arbeiten könnte. Ich dachte, dass vielleicht ein oder zwei Jahre Berufserfahrung in einer anderen Diözese hilfreich sein könnten, um mehr Sicherheit in meinem Entscheidungsprozess zu bekommen. Mein Bruder teilt mir am Telefon mit, dass von den Diözesen Münster und Essen mittlerweile schriftliche Absagen gekommen seien, jedoch vom Erzbischöflichen Ordinariat in Köln wäre eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch eingegangen, das dort im Personalreferat in rund einer Woche stattfinden könnte. Falls ich diesen Termin wahrnehmen möchte, würde er in Köln für mich anrufen und diesen Termin bestätigen. Sofort sage ich zu und nehme mir vor, nach Köln zu fahren und diesen Vorstellungstermin wahrzunehmen. Allerdings gibt es leider noch eine Schwierigkeit. Ich habe auf meine Reise hierher nach England kein weißes Hemd und keine Krawatte mitgenommen. Schnell fällt mir am Telefon noch ein, dass in Köln doch die Schwiegereltern meines Bruders wohnen und frage ihn, ob ich mir bei ihnen vielleicht eine Krawatte und ein Hemd ausleihen könnte?

Ein paar Stunden später ruft er zurück und teilt mir mit, dass seine Schwiegereltern sich sehr freuen würden, wenn ich sie besuche, Krawatte und Hemd wären keine Problem. Sie bieten mir sogar an, einen Tag früher anzureisen, bei ihnen zu übernachten, um am nächsten Morgen ausgeruht und in aller Frische mein Vorstellungsgespräch im Erzbischöflichen Ordinariat führen zu können. Gerne nehme ich diese Einladung an. Mit dem Schiff über die Nordsee und per Bahn fahre ich nach Köln, übernachte bei den Eltern meiner Schwägerin und stelle mich am folgenden Tag im Personalreferat der Erzdiözese vor. Dort werde ich eingehend über meine privaten und beruflichen Vorstellungen befragt und schließlich in einen separaten Raum gebeten. Dort muss ich schriftlich einige Fragen über dogmatische Lehrsätze, über das sakramentale Verständnis des Abendmahls beantworten, sowie zu einigen unterschiedlichen Auffassungen in Bezug auf Priester und Laientheologen Stellung nehmen. Nachdem ich diese Fragen ausführlich beantwortet und meine schriftlichen Ausführungen abgegeben habe, werde ich freundlich verabschiedet mit dem Hinweis, dass ich den Bescheid, ob ich in Köln eine Anstellung bekäme, in absehbarer Zeit schriftlich erhalten werde. Danach hole ich mein Gepäck bei meiner Verwandtschaft wieder ab, fahre mit der Bahn das wunderschöne Rheintal hinauf, weiter über das Neckartal nach Stuttgart und schließlich über das Remstal zurück zu meinen Eltern nach Aalen, das idyllisch gelegen am Rand der schwäbischen Ostalb liegt.

Schon nach wenigen Tagen kommt von der Erzdiözese Köln eine Absage – ohne Angabe von Gründen. Nun stehe ich nach meinem Studium ohne konkrete Zukunftsperspektive da. Ich aber will endlich wieder arbeiten und einer sinnvollen Beschäftigung nachgehen, nachdem ich doch so viele Jahre fleißig die Schulbank gedrückt habe. Sofort schreibe ich einen Brief ans Bischöfliche Ordinariat meiner Heimatdiözese Rottenburg-Stuttgart und füge die üblichen Bewerbungsunterlagen bei in der Hoffnung, wenigstens hier eine Arbeitsstelle zu bekommen. Und siehe da, schon nach wenigen Tagen erhalte ich einen Brief und werde vom Personalreferenten Prälat Bopp zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen.

Freundlich befragt er mich anhand meiner eingereichten Unterlagen über meinen bisherigen Werdegang. Ich schildere ihm meine inneren Zweifel bezüglich meines Wunsches, Priester zu werden, und äußere meine Bedenken, ob ich das mit dem Priesterberuf geforderte Zölibat ein ganzes Leben durchhalten könne. Ich lege ihm dar, dass es vielleicht für mich besser wäre, vorerst für ein paar Jahre irgendwo als Praktikant oder Hilfskraft in einer Gemeinde mitzuarbeiten. So könnte ich mir während dieser Zeit noch mehr Klarheit für meinen künftigen Berufswunsch verschaffen. Er schlägt mir vor, ich solle doch erst einmal die Ausbildung zum Pastoralreferenten beginnen. Diese Ausbildung würde drei Jahre dauern und würde ebenfalls wie die Ausbildung der Vikare mit der zweiten Dienstprüfung abschließen. So hätte ich einen qualifizierten Berufsabschluss, der mir voll anerkannt werde, falls ich mich zum Priester weihen lassen möchte. Somit würde diese Zeit nicht ungenutzt verstreichen. Das ganze Gespräch verläuft sehr freundlich und harmonisch, doch zum Abschluss des Gesprächs fragt Prälat Bopp, warum ich mich denn zuvor schon in den Ordinariaten in Münster, Essen und Köln beworben habe? Völlig überrascht und verwundert antworte ich mit der Gegenfrage:

„Woher wissen denn sie das?“

Mit einem genüsslich-süffisanten Lächeln erklärt er mir, dass die dortigen Personalreferenten bei ihm angefragt hätten, wer denn dieser junge Theologe überhaupt sei, der bei ihnen so aus heiterem Himmel sich um eine Anstellung beworben habe. Da ich jedoch nicht in Tübingen, sondern in München studiert hatte, kannte er mich natürlich nicht und konnte über mich keine Auskunft geben. Und schmunzelnd fügt er hinzu:

„So, so. Und weil es bei den anderen Diözesen mit einer Anstellung nicht geklappt hat, kommen Sie nun reumütig in ihre Heimatdiözese zurück ...“

Freundlich lächelnd verabschiedet er mich. Ich aber bin um eine interessante Erkenntnis reicher: Die Kontakte zwischen den Diözesen in Deutschland sind also enger geknüpft, als ich dachte, vor allem, wenn es um Personalfragen geht! Außerdem kann ich mit Gewissheit davon ausgehen, dass Bopp vor meinem Vorstellungsgespräch auch mit meinem Heimatpfarrer telefoniert und sich genauestens über mich und meine Familie erkundigt hatte. Da aber das Haus meiner Eltern direkt gegenüber der Kirche und dem Pfarrhaus steht, unser Pfarrer mich von Kindesbeinen an und unsere ganze Familie sehr gut kennt, konnte bei dieser Bewerbung auch nichts mehr schiefgehen. In unmittelbarer Nachbarschaft der Kirche habe ich bei unserem Pfarrer in unzählig vielen Gottesdiensten ministriert. Und da er kein Organisationstalent besaß und seine Ministranten nicht einteilen konnte, kamen an den kirchlichen Hochfesten, an denen bis zu vier Gottesdienste nacheinander gefeiert wurden, in der Frühmesse und in der letzten Messe oftmals keine Ministranten. Denn alle wollten im feierlichen Hochamt ministrieren, so dass der Messner mich oft kurz vor der Frühmesse, während die Glocken bereits läuteten, zu uns herüber eilte und nach mir rief, ich möge doch so schnell wie möglich kommen, damit der Pfarrer am heutigen Festtag den Gottesdienst nicht ohne Messdiener zelebrieren müsse. Schleunigst wurde ich dann von meiner Mutter aus dem Bett geholt, angezogen, flugs lief ich zur Kirche hinüber, streifte mir das Ministrantengewand über und trat, wenn auch etwas verspätet, zum Pfarrer an den Altar. Das Gleiche geschah oft noch am selben Tag in der Spätmesse, wenn wiederum kein Ministrant da war, weil der Pfarrer ja nie einen Ministranten-Plan hatte. Auch sonst musste ich bei ihm immer einspringen, wenn andere Ministranten schlichtweg ihren Dienst versäumten. Unser Pfarrer besaß ja wirklich kein großes Organisationstalent, doch er war leutselig, gutmütig und in der Gemeinde sehr beliebt. Er war Fußballfan, ein großer Anhänger des Nürnberger Clubs, hatte jedoch keinerlei Sinn für Bürokratie. Bei ihm galt das gesprochene Wort. Was mündlich ausgemacht war, daran hielt er sich, doch nicht immer seine Ministranten. Alle Termine hatte er im Kopf, ebenso all seine Predigten und das hatte auch einen Grund, denn er war total kurzsichtig. Eine dicke Brille verdeckte sein Gesicht, die leider nicht viel nützte, denn selbst mit ihr konnte er nur mit aller größter Mühe etwas lesen. Allerdings hatte er ein ausgezeichnetes Gedächtnis! Er wusste sehr viel und wenn er mit seiner großen stattlichen Figur irgendwo auftauchte, machte er mächtigen Eindruck. Er war ein Monolith in unserer Gemeinde.

Als er später zum Dekan des Dekanates Aalen gewählt wurde und die „kirchliche Bürokratie“ in seinem Pfarrhaus zunahm, war es für ihn sehr angenehm, dass ich damals bei der Stadtverwaltung eine Verwaltungsausbildung begonnen hatte. Immer häufiger holte er mich ins Pfarrhaus, um den einen oder anderen Brief ans Bischöfliche Ordinariat und an andere Ämter zu schreiben. Zwar köchelte seine kirchliche Verwaltung weiterhin auf kleiner Sparflamme, doch nach und nach wuchs auch sie immer mehr heran, besonders als unsere Kirchengemeinde das neue Gemeindehaus St. Ulrich mit Kindergarten baute und der Schriftverkehr im Laufe der Zeit auch in seinem Dekanat zunahm. Diesen gesamten Schriftverkehr für Bauplanung bis hin zu den vielen Bettelbriefen an spendierfreudige Firmen, ebenso die Korrespondenz und Einladungen für die Dekanatskonferenzen hatte ich zu schreiben. Alles tippte ich auf einer alten Kofferschreibmaschine entweder in seinem Esszimmer, da er ja kein „Pfarrbüro mit Sekretärin“ hatte. Vieles schrieb ich auch zuhause auf meiner eigenen Schreibmaschine, wenn es sich zum Beispiel um Serienbriefe und Routinearbeiten handelte. Kopiergeräte gab es noch nicht, so dass jeder Brief, zwar mit anderer Anschrift, doch jedes Mal erneut einzeln geschrieben werden musste. Für unsere Gemeinde erstellte ich die jährliche Statistik, ebenso für das gesamte Dekanat mit seinen vierundzwanzig Kirchengemeinden. Diese Büroarbeiten erledigte ich samstags oder auch werktags nach Feierabend, wenn ich von der Arbeit aus dem Rathaus nachhause kam. Da die ehrenamtliche Mitarbeit in unserer Gemeinde sehr groß geschrieben wurde, arbeitete ich selbstverständlich „ehrenamtlich“ ohne Bezahlung, so wie es damals von guten Gemeindemitgliedern erwartet wurde.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739488486
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (März)
Schlagworte
Pastoralreferent Kirche Ausbildung Homosexualität Pfarrer Arbeitnehmerrechte Priester Seelsorge Mobbing Biografie

Autor

  • Bernhard Veil (Autor:in)

Bernhard Veil absolviert die mittlere Beamtenlaufbahn bei der Stadtverwaltung Aalen. Danach altsprachliches Abitur in Stuttgart, Theologiestudium in München und Jerusalem, Gemeindeseelsorger für Jugendarbeit und Erwachsenenbildung mit regelmäßigem Predigtdienst und Religionsunterricht in Böblingen und Ludwigsburg. Anschließend Klinikseelsorger in Stuttgart. Psychotherapeutische Ausbildung in München und Wien. Klinikseelsorger in Geislingen a.d.Steige und in vier Alten- und Pflegeheimen.
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Titel: Die Seelentöter – Band 1: Start in Böblingen