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Die Verlorenen

von Maya Shepherd (Autor:in)
279 Seiten
Reihe: Radioactive, Band 3

Zusammenfassung

Die Legion ist zerstört und das Umland verwüstet. Die Rebellen haben kaum noch Vorräte, um ihr Überleben zu sichern. Plötzlich verschwinden immer wieder Mitglieder aus ihrer Gruppe. Verdächtigt werden die Mutanten, doch wie gefährlich diese wirklich sind, erfahren Finn und seine Mitstreiter sehr bald am eigenen Leib. Cleo muss derweil in der Zentrallegion gegen schwere Vorwürfe ankämpfen. Sie gilt als Verräterin und steht unter strenger Beobachtung. Die Trennung von Finn und die Ungewissheit, ob er noch am Leben ist, lassen sie zerbrechen. Gibt es für Cleo und Finn noch eine Chance, während nicht nur Meilen, sondern auch etliche Feinde zwischen ihnen stehen? Ist ihre Liebe stark genug?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis



01. Cleo

Für einen Moment höre ich nicht einmal mehr die lauten Propeller- und Motorengeräusche. Die Sicht vor meinen Augen verschwimmt. Ich habe das Gefühl, zu fallen – ins Bodenlose. Alles um mich herum dreht sich. Blut rauscht in meinen Ohren.

Ich bin deine Mutter.

A350 hat diese vier Worte mit so einer Selbstverständlichkeit gesagt, als wäre es jedem außer mir längst klar gewesen. Zu einem anderen Zeitpunkt, in einer anderen Situation hätten mir diese Worte etwas bedeutet. Sie hätten die Welt für mich verändert. Aber jetzt empfinde ich nur Wut und unsäglichen Schmerz.

Finn wird sterben. Finn und alle Rebellen. Die westliche Legionskugel wird explodieren und alle in den Tod reißen. Ich möchte bei ihnen sein. Ich möchte an ihrer Seite um unser Überleben kämpfen. Stattdessen befinde ich mich mit A350, Asha, Iris und einem Piloten in einem Hubschrauber, der uns in die Zentrallegion befördert. Ich fliehe feige und lasse alles und jeden rücksichtslos hinter mir zurück. Niemals wäre ich freiwillig gegangen. Ich habe es nur Finn zuliebe getan. Er wollte mit mir gehen. Wir wollten gemeinsam etwas verändern, stattdessen hat er die Tür hinter mir zugeschlagen. Er konnte die Rebellen nicht zurücklassen, aber wollte mich retten. A350 hat ihm bereitwillig dabei geholfen. Ich fühle mich von beiden verraten. Finn kann ich jedoch nicht hassen, denn ich werde ihn nie wiedersehen.

»Warum?«, stoße ich verständnislos aus und tauche aus dem Gefühlsstrudel auf, der mich zu verschlucken droht. Ich starre in A350s lichtblaue Augen und suche in ihnen nach einer Antwort. Sie hätte auch ohne mich fliehen können. All die Jahre war sie mir keine Mutter. Ich war für sie eine von vielen. Es ist erstaunlich, dass sie überhaupt weiß, dass ich von ihr abstamme.

Sie schaut mich ruhig an. Ich kann in ihrem Blick keine Reue erkennen. Sie steht hinter ihrer Entscheidung. Dann strafft sie die Schultern. »Du bist meine Tochter. Ich liebe dich.«

Meine Hand reagiert, ehe ich auch nur realisiere, was ich da tue. Sie schnellt vor und hinterlässt auf A350s bleicher Wange einen feuerroten Abdruck. Der Knall hallt mir in den Ohren. Meine Handfläche brennt.

Fassungslos starrt sie mich an. Sicher hat sie in ihrem ganzen Leben noch keine Ohrfeige bekommen. Genauso wenig, wie ich je eine verpasst habe. Ich erinnere mich daran, wie schockiert ich war, als Finn mir eine gescheuert hat. Als der Schock nachgelassen hat, sind Schuldgefühle in mir hochgekommen. Erst sein Schlag hat mir deutlich gemacht, dass ich etwas zu ihm gesagt hatte, was ich nicht einmal hätte denken dürfen. Die Legion hat deine Eltern getötet und hält deine Schwester gefangen. Hast du das etwa vergessen? Natürlich hatte er das nicht. Wie könnte er das je?

»Wage es nie wieder, mir gegenüber das Wort Liebe in den Mund zu nehmen«, fauche ich A350 an. Dabei bin ich selbst überrascht von dem Klang meiner Stimme. Sie ist so kalt wie Eis und so schneidend wie der scharfe Rand einer Glasscherbe.

»Es ist nicht meine Schuld, dass Finn nicht hier ist. Ich habe ihm nicht verboten, mitzukommen. ER hat sich dagegen entschieden. Es war SEINE Entscheidung«, versucht A350 sich zu verteidigen. Doch meine Wut ist zu groß, um ihr wirklich zuzuhören. Als Legionsführerin, die zufällig Interesse an mir und meinen Gedanken zeigte, konnte ich sie gut leiden. Ich habe sie sogar bewundert und zu ihr aufgesehen. Ihre Meinung hat mir etwas bedeutet und es war mir wichtig, was sie von mir denkt. Aber als Mutter, die mich mein ganzes Leben lang im Stich gelassen und mich zusätzlich der Unterdrückung und Manipulation durch die Legion ausgesetzt hat, kann ich sie nur verachten.

»Ich habe dir vertraut«, sage ich zu ihr. Das trifft mich wohl am meisten – die Enttäuschung. »Ich wäre niemals ohne Finn gegangen.«

»Das wusste er«, erwidert sie verständnisvoll. »Er wusste aber auch, dass du unsere einzige Hoffnung bist und es deshalb für dich keinen anderen Ort als die Zentrallegion geben kann. Nur dort kannst du etwas verändern. Er hat nicht an sich gedacht, sondern an ein höheres Wohl und vor allem an dich.« Es ist das erste Mal, dass ich so etwas wie Anerkennung höre, wenn sie von Finn spricht. Sie mochte ihn nie und hat ihn immer als Ablenkung für mich gesehen. Ein negativer Einfluss, der mich von meinem Weg abbringt. Den Weg, den sie für mich erwählt hat. Wann hat sie angefangen, mein Leben zu planen? Wann hat sie Interesse für mich entwickelt?

»Was ist mit mir?«, frage ich verletzt. »Es ist mein Leben.« Sie haben mich übergangen. Das bin ich aus der Legion nicht anders gewohnt. Aber gerade von Finn hätte ich erwartet, dass er mir gegenüber aufrichtig ist. »Was ist, wenn ich gar nichts verändern will? Ich wollte nie alle retten. Alles, was ich wollte, war, mit Finn zusammen sein zu können.« Sein Name sprengt die letzten Dämme, die meine Tränen zurückgehalten haben. Sie brechen ungehindert aus meinen Augen hervor und fließen über meine Wangen. Ich würde den Schmerz, der in meiner Brust wütet, am liebsten herausschreien. Finn. Ich werde ihn nie wiedersehen.

»Du weißt, dass das nicht stimmt. Das Wohl der Bewohner der Legion lag dir sehr am Herzen. Du wolltest ihnen ein besseres Leben schenken …«

Ich falle ihr ungehalten ins Wort: »Genau DIESE Menschen werden jetzt zusammen mit Finn und den Rebellen in den Flammen sterben. Ich habe nichts verbessert, sondern alles nur noch schlimmer gemacht.«

»Vielleicht schaffen sie es, zu fliehen«, fügt Iris kleinlaut hinzu, während sie ihren Wüstenfuchs Fennek gegen ihre Brust presst. Er hat die Ohren angelegt und wirkt genauso verängstigt wie Iris. Sie ist die Einzige, die mir von den Rebellen geblieben ist. Es grenzt ohnehin an ein Wunder, dass A350 Iris und Asha einen Platz in dem Hubschrauber gewährt hat.

Ich kann Iris’ Worten keinen Glauben schenken. Ich verbiete es mir. Wenn ich wage, zu hoffen, wird mich die Gewissheit ihres Todes nur umso tiefer treffen. Es gibt für Finn und die anderen keine Hoffnung. Ich wüsste nicht, wie sie es schaffen sollten, der Explosion zu entkommen. Und selbst wenn: Sobald die Strommauer ausgeschaltet ist, sind sie den Wesen, die wir dort draußen gesichtet haben, schutzlos ausgeliefert. Wir wissen nicht, ob sie uns feindlich gesinnt sind.

Ich fühle mich leer. Wie eine Hülle, der alles egal geworden ist. Es gibt nichts mehr, wofür es sich zu kämpfen lohnen würde. Zitternd schlinge ich mir die Arme um den Körper.

»In der Zentrallegion gibt es auch Menschen, die deine Hilfe brauchen. Du wirst lernen, sie zu lieben«, behauptet A350 gleichgültig.

Ich ertrage ihre Nähe nicht. Woher nimmt sie sich das Recht, über mich und meine Gefühle zu urteilen? Sie kennt mich nicht. Sie weiß nichts von mir. Nichts, worauf es ankommt. Vor Wut schlage ich mit meiner Faust gegen die Seitenwand des Hubschraubers. »Du hast doch keine Ahnung! Du verstehst rein gar nichts. Menschen sind nicht austauschbar. Jeder Mensch ist einzigartig. Die Rebellen waren die ersten wahren Freunde in meinem Leben und ich werde nie wieder jemanden so sehr lieben können wie Finn.« Mein Herz rebelliert. Es hämmert gegen meine Rippen. Am liebsten würde ich mir die Hand auf die Brust pressen, so weh tut es. Ich starre auf den Verband an meiner Hand. Mein kleiner Finger fehlt. Gustav hat ihn mir abgeschnitten, um sich Zugang zur Legion zu verschaffen. Blut sickert durch den hellen Stoff, doch ich spüre keinen körperlichen Schmerz.

A350 scheint einzusehen, dass sie bei mir mit ihren Lehrbuchweisheiten nicht weiterkommen wird. Sie wendet sich resigniert von mir ab. Dabei wirkt sie enttäuscht. Was hat sie denn erwartet? Es ändert nichts, dass sie meine biologische Mutter ist. Es macht es sogar nur noch schlimmer. Sie mag alles über die menschliche Gefühlswelt gelesen und studiert haben, aber das ist alles nur Theorie. Ihr fehlt es an jeglichem Einfühlungsvermögen. Ihre Beteuerung, dass sie all das nur aus Liebe zu mir getan hätte, kann ich ihr nicht abnehmen. Aus meiner Sicht ist A350 nicht in der Lage, mehr als eine Maschine zu fühlen. Sie ist ein Roboter.

»Hörst du dir eigentlich auch nur einen Moment selbst zu?«, knurrt Asha plötzlich.

Überrascht schaue ich in ihre Richtung und erkenne erst dann, dass sie mit mir spricht. Verdutzt starre ich sie an. »Wie meinst du das?«

»Du benimmst dich absolut selbstsüchtig und egoistisch. Die Wahrheit ist doch, dass dir die Bewohner der Sicherheitszone im Grunde egal sind. Der Einzige, um den es dir geht, ist Finn. Wenn du könntest, würdest du jeden von uns gegen ihn eintauschen.«

»Das ist nicht wahr«, protestiere ich, doch Asha lässt mich nicht mehr zu Wort kommen.

»Natürlich ist es das! Als du den Hubschrauber gesehen hast, muss dir klar gewesen sein, dass wir damit unmöglich alle Bewohner der Sicherheitszone retten können, bevor die Legion in die Luft fliegt. Aber es war dir egal, solange nur du und dein Liebster zusammenbleiben könnt.«

»Finn hat gesagt …«, setze ich kleinlaut an.

»Es ist egal, was Finn gesagt hat«, faucht sie. »Du weißt selbst, dass die Zentrallegion zu weit weg ist. Es ging nie darum, alle zu retten. Menschen wären gestorben, nur dass Finn nicht einer von ihnen gewesen wäre. Inwiefern hätte es das für die Allgemeinheit besser gemacht? Ist sein Leben mehr wert als das irgendeines anderen?«

Ich senke schuldbewusst den Blick. Wir sind alle gleich. Plötzlich erscheint die oberste Regel der Legion wahrer denn je. Finn mag nur einer von vielen sein, aber für mich war er meine Hoffnung. Erst durch ihn konnte ich daran glauben, dass es noch ein anderes Leben für mich geben könnte – ein besseres. Ein Leben in Freiheit.

»Du willst alles, was dir einmal wichtig war, für einen Mann hinwerfen, der es gar nicht wert ist. Finn hat dich verlassen, und das nicht zum ersten Mal!«

Ich schüttle wütend den Kopf und will, dass sie einfach nur aufhört. Er hat mich gerettet.

»Du warst für die Rebellen immer nur Mittel zum Zweck. Sie wollten dich als Waffe gegen die Legion einsetzen, mehr nicht!«

»Das ist nicht wahr«, schreit Iris plötzlich aufgebracht. »Die Rebellen lieben Cleo. Wir sind eine Familie.«

»Die Träume eines Kindes«, schnaubt Asha verächtlich, bevor sie sich wieder mir zuwendet. Dieses Mal nicht ganz so wütend, sondern fast einfühlsam. »Vielleicht kann Finn dich ganz gut leiden, aber er liebt die Rebellen mehr als dich, sonst wäre er jetzt hier. Und wenn du tief in dich gehst, wirst du erkennen, dass du jetzt genau hier wärst, selbst wenn Finn dir die Entscheidung überlassen hätte. Du bist keine von den Frauen, die ohne ihren Mann ein Niemand sind. Du bist mehr als das! Du bist stärker und du …«

Ihre restlichen Worte gehen in einer unglaublichen Explosion unter. Erschrocken pressen wir alle unsere Hände auf die Ohren, um uns gleich darauf Halt suchend an die Griffe der Türen zu klammern, während der Hubschrauber mehrere Meter in die Tiefe stürzt. Als er sich wieder fängt, ist alles um uns herum in ein grelles orangefarbenes Licht getaucht. Obwohl ich es nicht sehen wollte, wende ich mich nun reflexartig zum Fenster um und blicke geradewegs in das Inferno. Dort, wo einmal die Legion war, leuchtet nun ein gigantischer Feuerball, der schwere Rauchfahnen in den Himmel entsendet. Mir wird heiß und kalt zugleich. Ich habe das Gefühl, mein Herz bleibt stehen.

Neben mir knien Asha und Iris. Beide starren genauso entsetzt wie ich auf das schreckliche Schauspiel. Asha hat die Legion gehasst und trotzdem war sie genauso ihr Zuhause wie meines. Ich lege meine Hand auf ihre. Sofort schließt sie ihre Finger um meine. Ihre Worte waren hart, aber ehrlich. Vielleicht kennt sie mich besser als ich mich selbst. Denn es stimmt: Selbst wenn ich könnte, würde ich nicht tauschen. Die Zentrallegion ist der einzige Ort, an dem ich im Moment etwas ausrichten kann, und ich bin froh, dass ich diesen Kampf nicht allein ausfechten muss, sondern Asha und Iris an meiner Seite habe.


02. Finn

Finn blickt dem Hubschrauber hinterher, bis er am Horizont verschwindet. Eigentlich hat er dafür keine Zeit, aber diesen winzigen Moment des Abschiednehmens gönnt er sich. Obwohl er sich schrecklich wegen seines Verrats an Cleo fühlt, bereut er seinen Entschluss nicht. So weiß er zumindest, dass wenigstens sie in Sicherheit ist. Sein Tod wird sie treffen, aber er wird sie gleichzeitig dazu animieren, niemals aufzuhören, zu kämpfen. Wenn es jemand schafft, etwas zu verändern, dann sie. Seine Zeit in der Legion hat ihn in diesem Glauben Gewissheit verliehen. Er hat erlebt, wie sie mit den Menschen umgeht und sich für sie einsetzt. Auf ihre ganz eigene Art. Sie überzeugt sie mit Worten anstatt mit Fäusten und Gewalt.

Kaum dass der Hubschrauber aus seinem Sichtfeld verschwunden ist, lässt er sich von dem Chaos, das um ihn herrscht, mitziehen. Einige Menschen rennen panisch durcheinander und schreien, andere stehen nur apathisch da, unfähig, sich zu rühren. SO werden sie garantiert alle sterben. Vor allem die ehemaligen Bewohner der Sicherheitszone brauchen jemanden, der ihnen sagt, was sie tun sollen. Sie sind zu sehr an die Führung durch andere gewöhnt, um selbstständig denken und entscheiden zu können. Der Schock, an der Oberfläche, außerhalb der Legion zu sein, ist für sie viel größer als eine drohende Explosion. Sie rechnen ohnehin mit ihrem Tod durch die radioaktiv verseuchte Luft. Was machen da schon ein paar Stunden oder Tage aus? Lieber ein schneller Tod als ein langer, qualvoller.

Es wäre leicht, sie sich selbst zu überlassen, doch das kann Finn nicht. Er weiß, dass Cleo alles getan hätte, um diese Menschen zu retten. Sie war eine von ihnen. Er ist es ihr schuldig, ihnen zu helfen. Hilfe suchend blickt er sich nach einem bekannten Gesicht in der Masse um. Ruby ist ihm nicht von der Seite gewichen. Sie hat die Laserwaffe erhoben, bereit, jeden zu erschießen, der ihnen zu nah kommt.

»Komm mit«, fordert Finn sie auf und steuert auf einen der Panzer zu. Rund um das riesige Gefährt stehen weitere Transportfahrzeuge, bewacht von den achtlos zurückgelassenen Kämpfereinheiten der Legion. Sie sind genauso überfordert mit der Situation wie alle anderen. Als Finn sich ihnen nähert, richten sie ihre Laser auf ihn.

»Bleib stehen oder wir schießen«, droht ihm einer der C-ler.

»Nehmt die Waffen runter. Wir sterben in einigen Minuten ohnehin, wenn wir nichts unternehmen«, versucht Finn ihnen zu erklären, doch es ist, als würde er gegen eine Wand reden. Sie scheinen ihm nicht im Geringsten zuzuhören.

»Er hat recht«, stimmt ihm Ruby zu. Sie trägt den blauen Anzug der Kämpfer. Obwohl sie eine Rebellin ist, ist sie gleichzeitig auch ein Mitglied der Kämpfereinheit. Sie hat nicht nur mit ihnen trainiert, sondern auch Seite an Seite mit ihnen gekämpft und die Legion verteidigt.

Ihre Worte verunsichern die Wachen. Sie blicken ratlos zu ihr und warten auf eine Erklärung, die sie das ganze Chaos verstehen lässt.

»Die Legionsführer sind alle geflüchtet«, sagt sie zu ihnen. »Sie haben uns einfach zurückgelassen. In wenigen Minuten wird die gesamte Legion in die Luft fliegen, und wir direkt mit, wenn wir nichts unternehmen.«

Die Kämpfer wirken nach wie vor unschlüssig, doch sie senken ihre Waffen und das reicht Finn als Zeichen ihres Einverständnisses. Er klettert auf den Panzer und formt seine Hände zu einem Trichter.

»Wir müssen uns auf die verfügbaren Transportfahrzeuge verteilen«, schreit er, so laut er kann. Niemand hört ihm zu. Alle rennen achtlos an ihm vorbei und haben nicht mehr als einen gehetzten Blick für ihn übrig.

Plötzlich wird ihm von unten ein Megafon gereicht. Er blickt in das Gesicht von Clyde. Neben ihm steht Zoe. »Damit geht es besser.«

Finn räuspert sich und versucht es erneut: »Bitte verteilt euch auf die vorhandenen Transportfahrzeuge.«

Einige der Vorbeieilenden bleiben stehen, doch sie wirken unschlüssig und machen keine Anstalten, seinen Worten Folge zu leisten.

»Wir müssen hier weg, sonst werden wir alle sterben«, versucht Finn zu erklären, doch bei seinen Worten bricht nur erneut das Chaos aus. Die Panik ist den Menschen ins Gesicht geschrieben.

Ruby stöhnt genervt auf. Mit einem Satz steht sie neben ihm auf dem Dach des Panzers. »So wird das nichts«, sagt sie schroff und nimmt ihm das Megafon aus der Hand. »Alle herhören, das ist ein Befehl! Jeder Bewohner der Legion hat sich sofort in eines der Transportfahrzeuge zu begeben. Ein Nichtbefolgen wird nicht geduldet!« Ihre Stimme ist kalt und autoritär. Sie gibt sich keine Mühe, etwas zu erklären oder zu bitten – sie befiehlt. Das ist die einzige Art von Sprache, die die ehemaligen Bewohner der Sicherheitszone verstehen.

Es ist wie ein Wunder. Alle, die sie hören können, bleiben augenblicklich stehen und folgen ihre Aufforderung. Sogar die C-Einheit arrangiert ohne weitere Angaben die Verteilung auf die vorhandenen Fahrzeuge.

Ruby gibt Finn das Megafon zurück. »Merke dir eins im Umgang mit den Sizos: keine Bitten, sondern Befehle. Anders verstehen sie es nicht!«

Sie springt geschmeidig von dem Panzer und macht den Sizos, wie sie die Bewohner der Sicherheitszone nennt, Feuer unter dem Hintern. Es ärgert Finn zwar insgeheim, dass sie ihn wie einen dummen Schuljungen hat dastehen lassen, aber er vertreibt den Gedanken schleunigst aus seinem Kopf. Wichtig ist nur, dass sie hier so schnell wie möglich verschwinden.

Nach wenigen Sekunden sind die Transportfahrzeuge voll besetzt und Ruby gibt den Befehl zum Start. Mit Vollgas brettern sie in einer Kolonne in Richtung der Höhlen. Nicht alle haben einen Platz auf den Transportfahrzeugen gefunden und rennen deshalb in einer Staubwolke hinterher. Ihnen blieb keine Zeit, gerecht über die Verteilung zu debattieren. Es verlief nach einer ganz einfachen Regel: Wer zuerst kommt, erhält einen Platz.

Finn weiß nicht, wie viel Zeit ihnen noch bleibt, aber je weiter sie von der Legion entfernt sind, umso besser. Jede Sekunde zählt.

Sie haben die Höhlen noch nicht erreicht, da erschüttert ein Beben, begleitet von einem lauten Knall, die Erde und zieht ihnen den Boden unter den Füßen weg. Selbst die schweren Panzer werden ein Stück durch die Luft katapultiert. Ein grelles Licht umhüllt sie, so gewaltig, dass ihnen nichts anderes übrig bleibt, als die Augen zusammenzukneifen. Es ist, als würde die Erde stehen bleiben.

Sobald sie wieder auf dem Boden aufschlagen, scheint die Realität wie eine Welle über ihnen zusammenbrechen. Sie sind eingeschlossen von einem Flammenmeer, während Glas- und Stahlsplitter wie Meteoriten auf sie hinabregnen. Direkt neben ihnen stürzt ein gewaltiger Stahlmast in einen anderen Panzer. Er wird praktisch aufgespießt und kommt sofort zum Stehen.

»Gib Gas!«, fordert Finn die erstarrte Ruby auf, die am Steuer sitzt. Seine Worte reißen sie aus der Bewegungslosigkeit. Mit laut aufheulendem Motor jagen sie durch das Feuer. Obwohl der Panzer jegliche Geräusche von ihnen abschirmt, hat Finn das Gefühl, die Schreie und Qualen der verbrennenden Menschen in seinen Ohren zu hören.

Neben ihm sitzen Clyde, Zoe und vier weitere, ihm unbekannte Kämpfer der Legion. Er kann nur hoffen, dass Paul und die anderen Rebellen es auch geschafft haben.

Als sie die Höhlen erreichen, ist der Feuersturm vorüber. Stattdessen hängt ein grauer, fast pechschwarzer Nebel über ihnen. Asche fällt wie Regen vom Himmel. Niemand spricht ein Wort. Sie wissen nicht, wie viele der anderen überlebt haben. Doch solange die Luft von der grauen Rauchwolke erfüllt ist, ist es zu gefährlich, das Innere des Panzers zu verlassen. Ihnen bleibt nichts anderes übrig, als zu warten und zu hoffen. Denn der winzige Funke Hoffnung ist das Einzige, was ihnen geblieben ist.


03. Cleo

Der graue Rauch breitet sich wie eine Glocke über das ganze hinter uns liegende Gebiet aus. Während bei uns gerade erst die Sonne untergeht, scheint dort bereits finstere Nacht zu herrschen. Eine Nacht ohne Sterne und Mond. Eine Nacht ohne Hoffnung.

Ich will den Gedanken nicht zulassen, dennoch frage ich mich, ob es wohl eine winzige Möglichkeit gibt, dass jemand diesen entsetzlichen Feuersturm überlebt hat. Vielleicht konnten sie rechtzeitig irgendwo Zuflucht suchen. Vielleicht konnten sie in die Höhlen fliehen. Würde sie das retten?

Iris scheint meine Gedanken zu lesen, denn sie wendet sich in diesem Moment an A350. »Ist der Rauch giftig?«

A350 zuckt unbeteiligt mit den Schultern, was meine Wut auf sie erneut anfacht. »Wer weiß das schon. Die Legion hat an allen möglichen Waffen gearbeitet. Ich kann nicht ausschließen, dass darunter auch chemische oder biologische Waffen waren. Wenn es so ist, wären diese nun in der Luft.«

Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie so ahnungslos ist, wie sie tut. Sie ist auch jetzt nicht ehrlich zu mir. »Du warst Legionsführerin! Warum weißt du nicht, was für Waffen in deiner Legion entwickelt wurden?«

»Du bist selbst Legionsführerin«, entgegnet sie mir. »Warum weißt du es nicht? Du musst verstehen, dass die westliche Legion nur ein kleiner Teil eines großen Ganzen ist. Alle wichtigen Entscheidungen wurden von der Zentrallegion getroffen.«

»Wenn es auch nur geringe Hoffnung gibt, dass jemand überlebt hat, könnte die Zentrallegion Suchtrupps losschicken«, wendet Iris hoffnungsvoll ein.

Asha schnaubt. »Mach dich doch nicht lächerlich! Die Zentrallegion ist froh über jeden Rebellen, der bei der Explosion draufgegangen ist. Wenn überhaupt, würden sie einen Suchtrupp losschicken, um die letzten Überlebenden endgültig auszulöschen.«

Obwohl mir ihre herablassende Art nicht behagt, muss ich Asha zustimmen. Am besten ist es wohl in der Tat, die Rebellen vor der Zentrallegion gar nicht erst zu erwähnen, deshalb wechsle ich schnell das Thema.

»Was weißt du über die Zentrallegion?«, frage ich A350, jedoch nicht, ohne meiner Stimme einen rein sachlichen und kalten Ton zu verleihen. Auf einer anderen Ebene kann ich mit ihr im Moment nicht kommunizieren. Aber wahrscheinlich ist ihr das nur recht, denn damit kann sie wenigstens umgehen.

»Die Zentrallegion ist größer als alles, was ihr euch vorstellen könnt. Die Menschen leben dort sowohl unter als auch über der Erde. Die gesamte Anlage befindet sich unter einer atmosphärischen Stromkuppel.«

Ich bemerke A350s Begeisterung sofort. Sie schwärmt regelrecht für die Zentrallegion.

»Was ist mit den Legionsführern?«

»Dort gibt es viel mehr als bei uns. Sie setzen sich sowohl aus Vertretern der einzelnen Legionen zusammen als auch aus eigenen Abgesandten. Wir und die anderen werden ebenfalls Teil der Führungsebene werden. Der Status des Legionsführers ist lebenslänglich.« Ich höre den Stolz in ihrer Stimme. Nach allem, was war, begreift sie immer noch nicht, dass die Klassifizierung eines Menschen völlig unbedeutend ist. »Die anderen Legionsführer der westlichen Legion sind wahrscheinlich schon eingetroffen.«

»Und was ist mit den Bewohnern der Sicherheitszone?«, hake ich nach. Ich mag einen weißen Anzug tragen, aber ich habe mich immer wie eine Helferin gefühlt.

A350 lächelt mich an. »Du wirst dich über diesen Fortschritt wohl am meisten freuen«, verkündet sie mir. »In der Zentrallegion leben die Menschen viel freier. Sie arbeiten über der Erde, schlafen jedoch weiterhin darunter. Aber das ist nichts Ungewöhnliches. Dort schlafen alle Menschen unter der Erde. Das Wohngebiet liegt praktisch unter der Stadt.«

Früher hätten mich ihre Worte beeindruckt. Heute weiß ich, dass es egal ist, ob ein Käfig aus Beton, Stahl, Glas oder Strom besteht. Es bleibt ein Gefängnis. Vielleicht haben die Menschen in der Zentrallegion mehr Freiheiten, dennoch bin ich mir ihrer Unterdrückung sicher.

»Schaut!«, ruft Iris plötzlich und klebt erneut mit ihrer Nase am Fenster. Neugierig krabbeln Asha und ich über den schwankenden Hubschrauberboden zu ihr. Auch A350 dreht sich in unsere Richtung.

Am Horizont erhebt sich ein hell erleuchteter Punkt. Mittlerweile ist es Nacht geworden, doch die Leuchtkraft dieser entfernten Kuppel ist um ein Vielfaches stärker als die der Sterne. Sie wirft ihr strahlendes Licht auf die gesamte Umgebung. Rund um die Kuppel erhebt sich eine unebene Landschaft voller Hügel, Berge und Schluchten. Ganz anders als die flache Ebene, die ich von der westlichen Legion gewohnt bin.

Langsam lassen sich in den Umrissen hochhausähnliche Gebäude erkennen. Sie ragen in den Himmel empor und werfen ihre dunklen Schatten wie Riesen auf die gesamte Umgebung hinter sich. Inmitten der gigantischen Gebäude thront ein Mast, der einen Leuchtstrahl aussendet, der die gesamte Stadt in sich einschließt, fast wie ein Leuchtturm.

Aus dem Cockpit ist ein Knistern des Funkgerätes zu hören. »Hier spricht die Zentrallegion. Geben Sie sich zu erkennen.«

A350 eilt sofort zu dem Piloten und reißt das Funkgerät an sich. »Westliche Legion. A350 und A518 sowie zwei Bewohner der Sicherheitszone sind an Bord. Ich bitte um Einlass.«

Es folgt ein kurzes Knacken, dann kommt auch schon die monotone Antwort: »Einlass gewährt.«

Während A350 persönlich in das Mikrofon spricht, handelt es sich bei der Stimme aus der Zentrallegion eindeutig um einen Computer.

Mittlerweile sind wir der Zentrallegion so nah, dass ich neben den Hochhäusern und dem Leuchtmast auch einzelne kleinere Bauten erkennen kann. Allesamt sind sie aus Glas und Stahl, so wie die ehemalige Kuppel der Legionsführer.

Als wir den Einlass gewährt bekommen, wird plötzlich ein blauer Film, der über allen Gebäuden liegt, sichtbar. Dieser fährt, angefangen bei dem Mast, langsam herunter, jedoch gerade so weit, dass wir mit dem Hubschrauber passieren können. Danach wird das Schutzschild wieder aktiviert.

Die Stadt ist so hell erleuchtet, dass das Licht beinahe in den Augen brennt. Kein Wunder, dass die Menschen hier unter der Erde schlafen. Bei dieser Helligkeit würden sie sonst kein Auge zubekommen.

Der Hubschrauber landet mit rotierenden Propellern auf einer runden Plattform. Mir fallen die weißen und blauen Anzüge auf, welche die Menschen, die uns erwarten, tragen – Legionsführer und Kämpfer.

Kaum dass der Hubschrauber gelandet ist, wird auch schon die Tür der Innenkabine aufgerissen und ein C-ler leuchtet mit seinem Laserstrahl bedrohlich in das Innere. Neben ihm steht ein B-ler, der genau wie der C-ler einen Helm trägt, der gerade einmal einen Blick auf seine Augen freigibt.

Zu ihnen gesellt sich ein Legionsführer, der ebenfalls einen Helm trägt. »Willkommen in der Zentrallegion«, gibt er beinahe mechanisch von sich. »Bevor ich euch Zutritt gewähren kann, müsst ihr in Quarantäne, um jede Verseuchung ausschließen zu können. Ich befehle euch, mir ohne jegliche Gegenwehr zu folgen.«

Selbst A350 wirkt geschockt. Mit so einem Empfang hätte nicht einmal sie gerechnet. Doch sie strafft ihre Schultern, hebt den Kopf und folgt dem Befehl. Asha ist die Nächste. Ich nehme Iris an die Hand, die Fennek fest an sich presst. Gemeinsam schließen wir uns ihnen an.

Die Laserwaffen von insgesamt zwölf C-lern sind auf uns gerichtet, als wären wir Schwerverbrecher. Gleichzeitig halten sich die fremden Legionsführer im Hintergrund und beobachten uns. Ihren Augen bleibt nichts verborgen. So auch nicht der Wüstenfuchs. Einer der Führer gibt dem Kampftrupp das Zeichen anzuhalten. Er gestikuliert wild und deutet immer wieder auf Iris. Da erst bemerkt der Leiter der Kämpfer den Grund für die Unterbrechung. Zielstrebig marschiert er auf uns zu, die Waffe erhoben. Iris ahnt bereits, was als Nächstes folgen wird, und presst das Tier verzweifelt an ihre Brust. Sie schüttelt den Kopf.

»Nein, nein, nein«, jammert sie, worauf auch Fennek zu winseln beginnt.

Der Kämpfer bleibt vor uns stehen. Sein roter Laserstrahl ruht auf dem Fuchs. Er streckt seine Hand aus. »Gib mir das Tier«, fordert er Iris auf.

»Nein!«, schreit diese. »Ich gehe nicht ohne Fennek. Wir gehören zusammen.«

Ich stelle mich schützend vor sie und verstecke sie hinter meinem Rücken. »Das Tier ist zahm«, erwidere ich, auch wenn ich mir wenig Hoffnungen mache, dass sich die Legionsführer erbarmen werden.

A350 eilt zu uns. Sie wirft einen geringschätzigen Blick auf den zitternden Wüstenfuchs. Dann überrascht sie mich jedoch, als sie sagt: »Ich übernehme die Verantwortung.«

Der Kämpfer blickt verunsichert von ihr zurück zu den Legionsführern der Zentrallegion. Sie tuscheln kurz miteinander, ohne dass ich verstehen könnte, was sie sagen. Dann geben sie Entwarnung und winken uns weiter. Ich kann kaum glauben, dass sie uns wirklich ein Tier mit hineinnehmen lassen. Iris auch nicht, denn sie lockert auch jetzt den Griff um den Körper von Fennek nicht. Fast, als rechne sie damit, dass alles nur ein Trick ist und man ihr jeden Moment ihren Freund entreißen wird.

Wir werden von dem Flugplatz direkt in ein Gebäude mit weißen Wänden geschleust. Es erinnert mich entfernt an die Krankenstation. In der Luft liegt der strenge Geruch von Desinfektionsmitteln.

Wir passieren mehrere Vakuumschleusen. Der Weg erscheint mir beinahe wie ein Irrgarten und ich bin mir sicher, dass ich hier niemals wieder allein rausfinden würde.

Nach geschätzten fünfzehn Minuten erreichen wir schließlich unser Ziel. Der Arzt im grünen Anzug öffnet die Tür eines großen Raums, in dem sich bereits die anderen Legionsführer der westlichen Legion befinden. Grob bugsieren sie uns ins Innere, bevor wortlos erneut die Tür hinter uns geschlossen wird. Der Einzige, der fehlt, ist A566. Ein Umstand, der mich erleichtert aufatmen lassen würde, wenn die Situation nicht auch ohne ihn schlimm genug wäre.


04. Finn

Als Finn die Augen aufschlägt, ist es noch früher Morgen. Er blickt aus den Fenstern des Panzers. Der Himmel ist nach wie vor unter einem grauen Schleier verborgen, durch den selbst die Sonne kaum dringt. Mittlerweile ist aber wenigstens die Umgebung zu erkennen. Sie haben direkt vor den Höhlen geparkt. Eigentlich müsste es sich anfühlen, wie nach Hause zu kommen, doch das tut es nicht. Die Höhlen sind verwüstet und die Menschen, die ihnen Leben eingehaucht haben, womöglich tot.

Ein Schlag auf die Windschutzscheibe lässt ihn zusammenzucken und Ruby am Steuer aus dem kurzen Schlaf hochfahren. Es ist Raymond. Neben ihm steht Sharon. Sie geben ihnen zu verstehen, das Fahrzeug nun zu verlassen.

Auch Zoe und die anderen sind von dem Schlag erwacht. Nacheinander klettern sie aus der Dachluke des Panzers.

Die Luft ist von einem so starken Rauchgestank erfüllt, dass sie kaum zu atmen wagen. Vielleicht bringt sie jeder Atemzug dem Tod ein Stückchen näher.

Auf allen Fahrzeugen liegt eine millimeterhohe Ascheschicht. Neben vier weiteren Panzern haben sich sechs Lkw, zwölf Jeeps sowie etwa zwanzig Wüstendrifts eingefunden, wobei neben den Wüstendrifts nur noch die Leichen der Fahrer liegen. Sie sind bereits in der Feuersbrunst gestorben.

Zwischen den Fahrzeugen tummeln sich etwa zweihundert Menschen. Es sind sowohl Rebellen als auch Bewohner der Legion, jedoch nur wenige in den braunen Anzügen der D-Klassifizierung. Sie hat der Schock am härtesten getroffen. Alles, woran sie ihr Leben lang geglaubt haben, hat sich als falsch herausgestellt. Sie waren es, die in dem Flammensturm als Erste starben. Die Legion trägt die größte Schuld an ihrem Tod. Durch ihre Lügen waren die Menschen der wirklichen Welt nicht gewachsen – unfähig, allein auch nur zu atmen. Sie hätten Zeit gebraucht, um sich langsam an alles zu gewöhnen. So wie Cleo damals Zeit gebraucht hat. Aber diese Zeit hatten sie nicht.

Finn lässt seinen Blick durch die Reihen schweifen und atmet erleichtert auf, als er seine Freunde unter ihnen findet. Gemeinsam mit Zoe stürmt er auf Paul, Florance, Pep, Grace, Emily und seine Mutter Maggie zu. Es ist zwei Jahre her, dass Zoe sie alle gesehen hat. Maggie hielten sie für tot. Grace und sie liegen sich weinend in den Armen. Bevor sie auseinandergerissen wurden, waren sie Vertraute und beste Freundinnen.

»Du bist ja eine richtige Dame geworden«, zieht Paul Zoe auf und wirft ihr einen anerkennenden Blick zu. Florance verpasst ihm dafür einen spielerischen Schlag auf den Hinterkopf und verschränkt beleidigt die Arme vor der Brust. Ihr breites Lächeln verrät sie jedoch. Es gibt keinen Grund, eifersüchtig zu sein. Für Paul gab es immer nur sie.

Zu spät bemerkt Finn die Reaktion seiner Schwester. Anstatt sich über das Kompliment zu freuen, erstarrt Zoe förmlich. Geistesabwesend legt sie eine Hand auf ihren Bauch. Natürlich ist noch nichts zu spüren, aber es reicht, dass sie weiß, was in ihr heranwächst. Ein Kind, das sie weder wollte, noch je lieben können wird. Es ist wie eine Narbe, die die Legion ihr zugefügt hat.

Finn bemerkt Zoes Unbehagen und legt tröstend den Arm um ihre Schultern. Er zieht sie an sich und empfindet tiefe Schuldgefühle, weil er nicht verhindern konnte, was die Legion ihr angetan hat. Wieder nicht. Er hat beim ersten Mal versagt, als sie sie mit sich nahmen. Und nun war er machtlos, als sie ihr den Feind förmlich in den eigenen Körper gepflanzt haben.

In dem Moment ertönt Raymonds Stimme durch das Megafon. Er und Sharon sind auf die Hügel geklettert, welche die Höhlen beherbergen, um so für alle gut sichtbar zu sein.

»Wir haben es geschafft. Wir haben überlebt.« Niemand applaudiert. Es gibt keinen Grund zur Freude. »Aber viele von uns sind in den Flammen gestorben.«

Es legt sich ein betretenes Schweigen über die gemischte Gruppe. Nicht nur die Rebellen, sondern auch die ehemaligen Bewohner der Legion hören Raymond zu. Sie haben genauso Menschen verloren wie die Rebellen, wenn nicht sogar mehr. Sie haben alles verloren, was ihr Leben ausgemacht hat.

»Wir sind als Gegner aufeinandergetroffen, aber nun vereint uns dasselbe Schicksal. Wir wurden verlassen. Wir wurden dem sicheren Tod überlassen. Niemand hat sich um unser Leben geschert. Aber wir waren stärker. Wir haben gekämpft und gewonnen. Doch das ist erst der Anfang.«

Sharon übernimmt nun das Wort. »Es ist an der Zeit, zu kämpfen. Wir alle sind Menschen. Nicht besser oder schlechter als die Legionsführer, und trotzdem sind sie geflüchtet, während wir sterben sollten. Sie haben ihr Leben über unseres gestellt. Das haben wir nicht verdient. Keiner von uns!« Sie blickt nun vor allem in die Gesichter der Sizos. »Oder seht ihr das anders?« Niemand rührt sich. »Die Legionsführer werden nicht zurückkommen, um uns zu retten. Wenn überhaupt, kommen sie zurück, um uns zu töten. Doch das werden wir uns nicht gefallen lassen. Seid ihr bereit, mit uns zu kämpfen? Seite an Seite für ein besseres Leben? Für ein Leben frei von Unterdrückung und Lügen? Ein Leben in Freiheit?«

Ihre Stimme hallt von den Felsen wider. Sharon bräuchte kein Megafon, um gehört zu werden. Ihre Stimme ist laut, stark und voller Hass. Ihre Worte wirken ansteckend, denn plötzlich erheben sich tatsächlich einige Stimmen unter den ehemaligen Legionsbewohnern. »Ein Leben in Freiheit«, wiederholen sie, wenn auch nur leise und verhalten. Als könnten sie die Bedeutung noch nicht ganz begreifen.

Finn und die anderen Rebellen nehmen diesen Kampfruf direkt auf und wiederholen ihn aus vollem Hals: »Ein Leben in Freiheit!«

Bald rufen ihn alle aus. Selbst die Menschen der ehemaligen D-Klassifizierung passen sich der Menge an. »Ein Leben in Freiheit!«

Zwar wird es sicher noch etwas dauern, bis sie wirklich verstehen, was sie rufen, aber das Wichtige ist, sie erst einmal auf ihrer Seite zu haben. Wenn sie erst mal die Freiheit geschmeckt haben, werden sie ihr Leben dafür riskieren, sie nicht mehr zu verlieren. Genauso wie Finn. Er wird kämpfen. Kämpfen für seine Familie, für sein Leben und vor allem für Cleo. Er hat überlebt und wird alles dafür tun, sie wiederzusehen.

Finn steht in den Trümmern seines ehemaligen Zuhauses, seine Schwester und Clyde neben sich. Den Angriff der Legion hat nicht ein Stuhl überlebt. Sie haben alles kurz und klein geschlagen. Selbst den Inhalt der Schränke haben sie ausgeräumt. Die ganze Küche liegt unter einer weißen Mehlschicht.

»Der Nächste, bitte!«, flötet Florance aus einem der benachbarten Höhlenräume. Finn kann nicht verstehen, wie sie immer noch so fröhlich und unbeschwert sein kann, nachdem sie fast alle gestorben wären. Das ist auch der Grund, warum er ihr lieber aus dem Weg geht. Doch jetzt führt nichts an ihr vorbei, denn Florance hat die Verteilung der Kleidung übernommen. Jeder Sizo, der es möchte, darf seinen Legionsanzug gegen Kleidung der Rebellen tauschen, solange noch welche da ist. Viele haben das Angebot überraschenderweise schon angenommen. Es hat etwas von einer Schlange, die ihre alte Haut abstreift.

Auch Finn und Zoe sehnen sich danach, das letzte Überbleibsel der Legion endlich von ihren Körpern zu bekommen. Selbst Clyde ist bereit, seinen blauen Anzug gegen weniger auffällige Kleidung einzutauschen. Er und Zoe sind während ihrer gemeinsamen Zeit in der Legion zu einer Einheit zusammengewachsen. Sobald Clyde nicht in Zoes Sichtweite ist, wird sie unruhig und schaut sich nach ihm um. Vielleicht fühlt sie sich für ihn verantwortlich oder sie hat sich so sehr an seinen Schutz gewöhnt, dass sie sich ohne ihn verloren fühlt.

Finn ist Clyde sehr dankbar. Er hat sich um seine Schwester gekümmert, als er es nicht konnte. Trotzdem empfindet er auch etwas Eifersucht, wenn er daran denkt, dass seine kleine Schwester nun in den Armen eines anderen Schutz sucht. Gleichzeitig führt ihm ihre Vertrautheit vor Augen, was er aufgegeben hat, als er die Türen des Hubschraubers hinter Cleo geschlossen hat. Sie könnten nun beide hier sein. Sie könnten gemeinsam gegen die Legion kämpfen, so wie sie es immer wollten. Stattdessen ist Cleo nun in der Zentrallegion auf sich allein gestellt. Sie wird zurechtkommen, darüber sorgt sich Finn nicht. Dennoch vermisst er sie schmerzlich. Er vermisst ihre warmen Augen, ihre aufrichtigen Worte und ihre sanften Berührungen. Er vermisst es, mit ihr zu diskutieren und sich eines Besseren belehren zu lassen. Sie hat ihn verändert. Seine ganze Ansicht. Er ist nicht mehr derselbe.

Finn tritt als Nächster in das Bekleidungszimmer. Florance erstrahlt, als sie ihn erblickt.

»Lass dich noch mal drücken«, ruft sie aus und umarmt ihn zum gefühlt zwanzigsten Mal an diesem Tag. Er erträgt ihre Liebkosung, ohne sie zu erwidern. Sie braucht die Nähe anderer Menschen, um sich lebendig zu fühlen. »Also, was darf es sein? Wie wäre es mit einem blauen Oberteil? Das würde deine Augen betonen«, überlegt sie laut, während sie die Kleiderkisten durchwühlt. Für Finn ist seine Kleidung völlig bedeutungslos. Sie muss ihn schützen. Mehr nicht

»Ist mir egal«, murmelt er.

Florance geht darauf gar nicht ein, sondern hält ihm ein marineblaues Shirt vor die Nase. »Ja, das passt.« Danach reicht sie ihm eine schwarze Cargohose mit einer passenden schwarzen Weste. Die Stiefel von der Legion behält er. Sie haben nicht genug Schuhe für alle, zudem sind es gute Stiefel.

»Was du trägst, das bist du«, zwinkert sie ihm zu. »Wir müssen uns nicht nur innerlich für den Kampf gegen die Legion wappnen, sondern auch äußerlich.« Es ist Florance’ Art, zu kämpfen. Sie kann keine Waffen schwingen, dennoch trägt sie etwas zur Gemeinschaft bei: Liebe. Sie behandelt alle Menschen gleich. In ihrer Gegenwart hat man stets das Gefühl, einen Freund an der Seite zu haben. Sie vermag Brücken zu schlagen, wo es unmöglich scheint.

Finn muss an die Zeit zurückdenken, in der Cleo neu bei ihnen war. Florance hat sich damals um sie gekümmert und wurde zu Cleos erster Freundin. Ohne sie hätte Cleo es sicher viel schwerer gehabt, was sie nicht zuletzt ihm zu verdanken hat. Er hat keine Chance ausgelassen, sie zu demütigen. Heute tut ihm die Erinnerung daran weh. Er war damals zu feige, um irgendein Gefühl außer Hass für sie zuzulassen.

Er tritt aus den Höhlen. Außerhalb sieht es auch nicht besser aus als im Inneren. Ihre Felder sind verwüstet, alle Pflanzen niedergetrampelt und unbrauchbar. Er entdeckt seine Mutter, Grace und Emily in einer Gruppe von grün gekleideten Sizos. Es müssen Doktoren oder Forscher sein. Finn steuert auf sie zu.

»Es würde Wochen dauern«, sagt gerade einer von ihnen, als Finn sich dazustellt.

Grace seufzt, als sie ihn sieht »Die Pflanzen sind alle kaputt. Wir konnten noch ein paar Möhren retten, aber das reicht nicht einmal, um alle für einen Abend satt zu bekommen.«

»Und was ist mit den Konserven?«, wendet Finn ein. Sie besaßen ein scheinbar unendliches Lager davon. Als seine Eltern die Legion verlassen haben, haben sie alles mitgenommen, was von der alten Erde noch übrig war.

»Wir waren früher zwanzig Personen, dann kamen die anderen Rebellen mit leeren Taschen und knurrenden Mägen zu uns.« Grace sagt es ohne jeden Vorwurf. Es ist eine Tatsache. »Jetzt sind wir zweihundert. Wenn wir Glück haben, schaffen wir es mit den Konserven über die nächsten Tage, aber auf keinen Fall länger.«

»Wir könnten jagen«, schlägt Finn vor.

Maggie nickt. »Die Idee hatte Paul auch. Hoffen wir, dass er Erfolg hat.«

Am Abend haben sie ein großes Lagerfeuer errichtet, um das sich alle drängen. In den Nächten ist es kühl und sie haben bei Weitem nicht genug Decken für alle. Deshalb haben sie die wenigen, die es gibt, unter den Kindern aufgeteilt. Florance ist alle Kleider losgeworden. Für manche hat es nicht mal mehr für ein komplettes Outfit gereicht, sie mussten sich mit einem Schal oder einer Mütze zufriedengeben.

Trotzdem ist Florance die Einzige, deren Tag man als halbwegs erfolgreich bezeichnen könnte. Paul hat mit einer Truppe aus Rebellen und Kämpfern der Legion den gesamten Wald durchkämmt, ohne auch nur ein Tier zu finden. Sie müssen die Gefahr gewittert haben und geflohen sein.

Es gibt für niemanden mehr als eine Kelle voll Bohnen. Die Sizos betrachten ihr Essen sowohl misstrauisch als auch andächtig. Für viele ist es die erste richtige Mahlzeit in ihrem Leben.

Finn selbst hat sein Essen an eines der Kinder aus der Legion verschenkt. Sie erinnern ihn alle an Iris. Finn weiß, dass Cleo genauso gehandelt hätte. Die Anwesenheit der Sizos macht ihre Abwesenheit nur umso deutlicher. Er vermisst ihren unerschütterlichen Glauben an das Gute im Menschen. Sie hat ihm geholfen, Licht in der Dunkelheit zu sehen.

Ruby lässt sich neben ihm nieder. In den Händen hält sie ihre Nahrungsration. Sie hat natürlich nicht geteilt und auch nicht ihre Kleidung gewechselt. Sie trägt nach wie vor den blauen Anzug der Legion. Finn kann sich nicht einmal mehr an die Zeit erinnern, in der sie etwas anderes als das getragen hat.

»Warum hast du dein Essen verschenkt?«, fragt sie mit vollem Mund.

»Die Kinder brauchen es dringender als ich.«

»Blödsinn!«, schnaubt sie kauend. »Können die Kinder kämpfen? Wenn jemand seine Kräfte braucht, dann du!«

Finn zuckt mit den Schultern. »Zu spät.«

Ruby hält ihm ihre Schale hin. »Hier!« Sie hat etwa die Hälfte gegessen.

Finn starrt sie überrascht an. Damit hätte er nicht gerechnet, aber er nimmt ihr Angebot an und schaufelt gierig die Bohnen in seinen Mund. Erst jetzt merkt er, wie groß sein Hunger war.

»Warum?«, nuschelt er mit vollem Mund.

Ruby stupst ihn mit der Schulter an. »Ich kann doch nicht zulassen, dass du verhungerst.«

Finn schluckt den letzten Bissen hinunter. »Verhungern wir nicht früher oder später ohnehin?«

»Darüber wollte ich mit dir reden«, sagt sie, wobei ihre Augen ihm herausfordernd entgegenblitzen. »Wir sollten noch einmal zurück zur Legion gehen.«

Finn hat nicht das geringste Interesse, über verkohlte Leichen zu steigen. »Wozu?«

»Vielleicht finden wir etwas Nützliches. Waffen, Medikamente oder Nahrungseinheiten.«

»Ja, vielleicht«, gibt Finn zu. »Hast du schon mit den anderen darüber gesprochen?«

Sie beugt sich verschwörerisch zu ihm vor. »Nein, genau darum geht es ja. Ich halte es nicht für schlau, die Sizos einzuweihen.«

»Warum?«, fragt Finn und runzelt verwirrt die Stirn. Neben Ruby hat er immer das Gefühl, völlig unwissend zu sein. Sie scheint ihm immer einen Schritt voraus zu sein.

»Stell dir vor, wir finden tatsächlich Waffen …« Sie legt eine bedeutungsschwere Pause ein. Doch Finn versteht nach wie vor nicht, worauf sie hinauswill. »Waffen bedeuten Macht«, erläutert Ruby. »Es reicht, dass die Sizos ihre Laserwaffen haben. Wir müssen sicherstellen, dass wir diejenigen sind, die das Sagen haben.«

Finn versteht ihre Bedenken, dennoch ist ihm unwohl bei dem Gedanken, allein zurück zur Legion zu gehen. »Wir stehen doch jetzt auf einer Seite …«

Ruby fällt ihm sofort ins Wort: »Weil sie keine andere Wahl haben. Aber glaubst du, den führenden Legionsmitgliedern gefällt es, jetzt nach unserer Pfeife zu tanzen? Wir sind doch in ihren Augen nur ungebildete Rebellen. Wenn sie die Chance hätten, würden sie sofort selbst das Zepter in die Hand nehmen …«

»Um was zu tun?«, unterbricht Finn sie. »Sie sind doch genauso verloren wie wir. Niemand weiß, wie es weitergehen soll, weder sie noch wir.«

»Genau … sie oder wir. Das Essen reicht nicht für alle.«

Finn schüttelt abwehrend den Kopf. »Ich werde niemanden verhungern lassen.«

»Du vielleicht nicht, sie schon.«

Finn zieht sich von ihr zurück. Es sind harte Zeiten, aber nicht so harte, dass er dabei zusehen wird, wie andere Menschen leiden. Früher hätte er nicht anders als Ruby gedacht. Da hätte er gesagt: Es sind doch nur Sizos, besser sie als wir. Aber diese Zeiten sind vorbei und er ist froh darüber.

»Nein.«

Ruby kneift verärgert die Augen zusammen. »Du willst mir nicht helfen?«

Finn blickt zu Sharon, die mit ihren Leuten abseits der Sizos sitzt, als verabscheue sie jeden Kontakt mit ihnen.

Er nickt in ihre Richtung. »Versuch es doch mal bei ihr, da hast du bessere Chancen.«

Ruby blickt ihn einen Moment lang an. Er kann ihren Gesichtsausdruck nicht deuten. Er ist sich zwar sicher, dass sie wütend ist, aber er glaubt, auch eine gewisse Kränkung darin zu lesen. Doch ehe er weiter darüber nachdenken könnte, setzt Ruby wieder ihre harte Maske auf und erhebt sich kühl. »Wenn du es dir anders überlegst, weißt du, wo du mich findest.« Danach steuert sie tatsächlich auf Sharon zu. Vielleicht war es ein Fehler, Ruby zu ihr zu schicken.

Finn lässt seinen Blick über die Menge wandern. Es haben sich verschiedene Gruppen gebildet. Sharon sitzt mit ihren Rebellen in der einen Ecke, während sich etwa zwei Dutzend ehemalige Kämpfer der Legion in ihren blauen Anzügen in der anderen drängen. Abseits vom Feuer kauern ehemalige D-Klassifizierte. Sie scheinen immer noch vor Angst gelähmt zu sein.

Finn wendet seinen Blick bereits ab, doch etwas lässt ihn innehalten. Er schaut genauer hin und erkennt eines der Gesichter. Der Anzug der betreffenden Person wirkt braun wie die der anderen, doch jetzt bemerkt er, dass sich unter der Dreckschicht weißer Stoff verbirgt. Der Mann scheint keine Kontrolle über seine Gesichtsmuskeln zu haben, denn Speichel tropft ihm von den feuchten Lippen und seine Augen starren abwesend in den Himmel. Ohne seine Arroganz und den kühlen Glanz in seinen Augen ist er kaum zu erkennen. Finn ist sich dennoch sicher, dass dort unter den ganzen verängstigten Sizos der ehemalige Legionsführer A566 sitzt.

Heiße Wut flammt in seinem Inneren auf. Dieser Mann ist das Abscheulichste, was die Legion je hervorgebracht hat. Er hat nicht nur beinahe seine Schwester und Cleo vergewaltigt, sondern Asha das Leben zur Hölle auf Erden gemacht. Zudem ist er an Grausamkeit kaum zu übertreffen. Er trägt keinen Funken Mitgefühl in sich.

Finn kann sich nicht länger zurückhalten und rast wutentbrannt auf A566 zu. Als er ihn an seinem Kragen in die Luft reißt, schreien die anderen Sizos panisch auf und rücken von ihm ab.

»Du widerlicher Mistkerl!«, schreit Finn A566 an und schüttelt ihn heftig. A566s Augen treten aus ihren Höhlen, während er panisch zu röcheln beginnt, offenbar unfähig, auch nur ein Wort hervorzubringen.

Starke Hände legen sich um Finns Oberarme und reißen ihn von dem wehrlosen A566 los. Es ist Paul. Er packt Finn an beiden Schultern und zwingt ihn so, ihn anzusehen, während A566 wie eine Puppe zu Boden sackt.

»Mann, was ist in dich gefahren?«

»Dieser Abschaum ist ein Legionsführer und dazu der schlimmste von allen«, schreit Finn wütend und versucht sich weiterhin aus Pauls starkem Griff zu befreien. Inzwischen sind auch die anderen Rebellen herbeigeeilt, um zu sehen, was die Ursache für die Aufregung ist.

Zoes Gesicht ist beim Anblick von A566 kreidebleich geworden. Ihre Knie zittern und sie krallt sich Halt suchend an den Arm von Clyde. Auch Pep und Florance starren auf den sabbernden und keuchenden A566, der nicht fähig zu sein scheint, auf eigenen Beinen zu stehen. Ihre Blicke sind skeptisch.

»Der?«, zweifelt Pep. »Ich glaube nicht, dass von ihm noch irgendeine Gefahr ausgeht.«

»Das ist doch alles nur eine Masche. Er spielt uns etwas vor!« Finn ist außer sich. Das Wiedersehen mit dem Legionsführer wirbelt all die Erinnerungen und das Gefühl der Machtlosigkeit wieder auf. Er konnte weder seiner Schwester noch Cleo oder der armen Asha helfen. Vor allem Asha musste ein ganzes Jahr lang unter der Folter von A566 leiden, ohne dass irgendjemand etwas bemerkt hat.

»Was hat er getan?«, will Paul wissen und blickt dabei fragend zwischen Zoe und Finn hin und her.

Finn will bereits zum Sprechen ansetzen, doch da unterbricht Zoe ihn mit fester Stimme. »Nicht! Ich sollte es ihnen sagen.«

Die anderen schauen neugierig zu ihr. Inzwischen sind auch Raymond, Sharon und andere Rebellen dazugekommen. Die anderen Sizos sind ängstlich von A566 abgerückt, sodass er allein in dem Kreis der Rebellen sitzt. Er wimmert wie ein Kleinkind.

»Er ist ein Vergewaltiger. Fast hätte er es auch bei mir geschafft.« Sie blickt dankbar zu Clyde auf. »Wenn du nicht gewesen wärst …« Tränen steigen in ihren Augen auf, die sie wütend wegblinzelt. Clyde senkt nur bescheiden den Kopf und streichelt Zoe tröstend über den Arm, während Maggie die Hand ihrer Tochter ergreift. Nicht einmal sie wusste etwas davon, was Zoe beinahe zugestoßen wäre. Es schürt ihren Hass auf die Legion. Sie haben ihr den Mann und ihren Kindern den Vater geraubt sowie ein Jahr ihres Lebens. Ein Jahr, in dem alle Menschen, die ihr etwas bedeuten, dachten, dass sie tot sei.

Bei Zoes Worten erbleicht selbst Florance, die sonst für jeden und alles eine Entschuldigung parat hat.

»Wir könnten an ihm ein Exempel statuieren«, schlägt Sharon vor, wobei ihre Augen im Schein des Feuers gefährlich funkeln. »Für Diebstahl wurde den Menschen früher die Hand abgeschlagen, vielleicht sollten wir ihm für seine Verbrechen einen anderen Körperteil nehmen.« Ein gehässiges Grinsen bildet sich auf ihren Lippen, während sie den Blick an A566 auf und ab gleiten lässt, als könne sie es kaum erwarten, das Urteil selbst zu vollstrecken.

»Jetzt aber mal langsam!«, ruft Paul erschrocken aus und hebt beschwichtigend seine Hände. »Wir sind doch keine Barbaren!«

»Auge um Auge, Zahn um Zahn«, erwidert Sharon schulterzuckend.

»Er kann ja nicht einmal sprechen«, wendet Paul ein und blickt fast mitleidig zu dem heulenden A566. »Hast du irgendetwas dazu zu sagen?«

A566 merkt nicht einmal, dass er angesprochen wurde, sondern wiegt sich sabbernd und schluchzend vor und zurück. Es ist ein Wunder, dass er die Explosion überlebt hat. Er ist nur noch ein Schatten seines alten Selbst – ein Wrack. In dieser Verfassung kann er niemandem etwas tun.

»Das ist alles nur Show«, ereifert sich Finn aufgebracht und spuckt direkt vor A566s Füße.

»Was ist mit ihm passiert?«, will nun Pep wissen.

»Er musste gegen Asha in den Paarungskämpfen antreten«, erklärt Zoe, wobei ein triumphierender Glanz in ihre Augen tritt. »Sie hat die Gelegenheit ergriffen und sich an ihm für alles gerächt, was er ihr angetan hat. Wenn es nach ihr gegangen wäre, würde er jetzt nicht mehr atmen.«

Paul betrachtet den ehemaligen Legionsführer mit Skepsis. »Er wirkt auf mich nicht so, als ob er irgendetwas von dem, was wir sagen, auch nur ansatzweise verstehen würde«, sagt er und blickt in die Runde. »Wir können doch niemanden bestrafen, der nicht einmal weiß, wer er ist.«

Florance fasst sich wieder und stellt sich neben ihren Freund. »Das sehe ich auch so.«

»Was sagst du?«, will Sharon wissen und wendet sich an Zoe. »Du bist diejenige, die er verletzt hat. Du solltest deshalb auch über sein Schicksal entscheiden.«

Zoe blickt mit Abscheu auf A566 hinunter. »Ich denke, seine Hilflosigkeit ist eine größere Strafe, als es der Tod sein könnte.« Mehr hat sie dazu nicht zu sagen. Sie kehrt den anderen den Rücken zu und verlässt das Gespräch, dicht gefolgt von Clyde und ihrer Mutter.

»Dann wäre das also geklärt«, meint Sharon etwas enttäuscht und räumt ebenfalls das Feld.

Finn kann nicht glauben, dass A566 so leicht davonkommt. Er glaubt nicht daran, dass dieser so hilflos ist, wie er sich gibt. Wie sollte ihm sonst die Flucht aus der Legion gelungen sein? »Das kann doch nicht euer Ernst sein?«, ruft er frustriert aus.

Nur Paul steht noch neben ihm. »Komm schon, Mann, der pisst sich vermutlich selbst ein.«

Finn ignoriert Paul und wendet sich erneut A566 zu. Er geht bedrohlich auf ihn zu, baut sich vor ihm auf und deutet ihm mit dem Zeigefinger direkt auf die Stirn, als wolle er ihn erschießen. »Ich behalte dich im Auge, und wenn ich merke, dass das alles nur eines deiner miesen Spielchen ist, bist du dran!«

A566 zittert am ganzen Leib und kreischt wie ein in die Enge getriebenes Tier. Unter seinem Körper bildet sich eine dunkle Pfütze und ein strenger Geruch steigt zu Paul und Finn auf.

Paul reißt Finn zurück. »Verdammt, Finn! Ich habe es dir doch gesagt. Der ist für niemanden mehr eine Gefahr, außer für sich selbst.«

Finn blickt missmutig zu A566, der weinend in seinem eigenen Urin sitzt. Das gibt ihm zu denken. Selbst A566 würde nicht so tief sinken, sich vor ihm und allen anderen in die Hose zu machen. Oder?


05. Cleo

A233 läuft uns als Einzige der ehemaligen Anführer der westlichen Legion erleichtert entgegen. »Endlich seid ihr da! Wir haben uns schon Sorgen gemacht«, behauptet sie.

Das bezweifle ich stark, dennoch nicke ich ihr zu. A233 war immer fair zu mir, es gibt keinen Grund, sie zu bestrafen. Sie kann für die Explosion der Legion genauso wenig wie irgendein anderer der Anwesenden. Ihr einziger Fehler war es, nie das Gespräch mit den Rebellen gesucht und sie stattdessen verstoßen zu haben. Vielleicht hätte sie sogar ihren Tod in Kauf genommen, aber niemals hätte sie dafür alle Bewohner der Sicherheitszone geopfert. Ich hatte bei ihr immer das Gefühl, dass sie mich in meinen Versuchen, das Leben der Menschen zu verbessern, unterstützen wollte.

»Wie lange seid ihr schon da?«, übernimmt A350 das Gespräch.

»Seit etwa zwei Stunden, aber wir wissen auch nicht mehr als ihr«, antwortet A233. »Niemand gibt uns Auskunft.« Es muss für sie eine ungewohnte Situation sein, nicht länger an erster Stelle der Befehlskette zu stehen.

»Wir können ihnen nicht verübeln, dass sie uns erst untersuchen wollen, bevor sie uns frei durch die Gänge laufen lassen. Es ist wichtig, dass wir zuerst dekontaminiert werden. Im Falle unseres Todes würden unsere Leichen beim Zerfall Radioaktivität freisetzen«, verteidigt A350 das Verfahren der Zentrallegion.

Ihre Worte lassen erneut Zorn in mir auflodern. Ich habe mein ganzes Leben lang die Lügen der Legion geglaubt und es war ein Schock, die Wahrheit herauszufinden. Ich fühle mich so vieler Chancen beraubt. »Welche Radioaktivität?«, rufe ich aufgebracht aus. »Wir wissen doch alle, dass die Verstrahlung bereits seit Jahren nicht mehr im gefährlichen Bereich liegt.«

»Das stimmt so nicht«, widerspricht mir A233. »Niemand kann die Spätfolgen beurteilen.«

»Wen willst du damit überzeugen? Dich selbst?«, verhöhne ich sie abfällig. Ich weiß nicht, woher ich den Mut dazu nehme. Ich war nie ein Mensch, der leichtfertig über andere geurteilt hat, sondern stets bemüht, mir alle Ansichten anzuhören. Finns Tod stellt jedoch alles, was ich bisher getan habe, infrage. Wäre alles anders verlaufen, wenn ich mich anders verhalten hätte? Was, wenn ich für die Rebellen gearbeitet hätte, wie ich es ihnen versprochen habe? Was, wenn ich nicht versucht hätte, eine friedliche Lösung zu finden? Was, wenn ich mich für eine Seite entschieden hätte, anstatt zu versuchen, mich zu zerreißen?

Würde Finn dann noch leben?

A233 wirkt empört. Sie ist es nicht gewohnt, dass man so mit ihr spricht. In der westlichen Legion war sie ranghöchste Legionsführerin und konnte sich somit sicher sein, keine Widerworte zu erhalten. Aber hier zählt sie nicht mehr als irgendein anderer Legionsführer. Das scheint sie selbst auch zu wissen, denn sie verkneift sich eine Antwort. Vielleicht gehen ihr auch nur langsam die Argumente aus. Sie zieht sich mit A350 in eine Ecke des Raums zurück, in dem die restlichen Legionsführer auf Sesseln und Sofas wartend Platz genommen haben.

Asha, Iris und ich halten uns abseits von den anderen und lassen uns erschöpft gegen die Wand sinken. Iris deutet auf meine Hand. »Es ist gut, dass wir untersucht werden. Jemand sollte sich deine Verletzung ansehen.«

Der Verband ist von Blut und Schmutz durchweicht, doch ich zucke nur mit den Schultern. Der Verlust meines kleinen Fingers ist mir egal. Ich würde alle Finger beider Hände dafür geben, um die Explosion ungeschehen machen zu können.

Iris streichelt dem Wüstenfuchs besorgt über den Kopf und beginnt erneut ein Gespräch. »Denkst du, sie werden mir Fennek wegnehmen? Bei uns in der Legion waren Haustiere nie erlaubt.«

Ich blicke mitleidig zu ihr und streichle dem zahmen Tier ebenfalls über den Kopf. »Sie können es ja versuchen, aber dafür müssen sie erst an mir vorbei.«

Asha streckt ebenfalls ihre Hand nach Fennek aus. »Und an mir.« Sie lächelt Iris an.

Auch wenn die Situation noch so schrecklich ist, dürfen wir nicht vergessen, dass Iris noch ein halbes Kind ist. Für sie muss alles noch viel angsteinflößender sein als für uns.

»Wir bleiben doch jetzt zusammen, oder?«, fragt sie ängstlich und blickt von Asha zu mir. Ich nicke. »Dieses Mal wirklich?«, hakt sie zweifelnd nach. Ich weiß nicht, ob sie es mir je übelgenommen hat, dass ich ohne sie zurück in die Legion gegangen bin. Aber es steht zumindest nun nicht mehr zwischen uns.

»Ich verspreche es«, sage ich ihr zu und meine es dieses Mal auch so. Ich drücke ihre Hand.

Iris schüttelt jedoch betrübt den Kopf. »Versprich es mir nicht. Es reicht mir, zu wissen, dass du es versuchen wirst. Ich weiß, dass wir nun, wo wir in der Zentrallegion sind, keine Macht mehr über unser eigenes Leben haben. Sie werden für uns entscheiden.«

Es gibt immer wieder Momente, in denen ich gerade zu geplättet bin von ihrer Weisheit, die ihr junges Alter bei Weitem übersteigt.

Seit mehreren Stunden ist nichts mehr geschehen. Ich nehme an, dass sich die zuständigen Ärzte, Legionsführer und Kämpfer zum Schlafen zurückgezogen haben und es deshalb erst am nächsten Morgen mit den anstehenden Untersuchungen weitergehen wird. Leider besitzt der Raum, in den man uns gepfercht hatte, nicht einmal ein Fenster. Es ist erstaunlich, wie sehr ich mich danach sehne, während ich es doch nach meinem Leben in der Sicherheitszone gewohnt sein sollte, dass uns der Blick nach draußen verwehrt bleibt.

Iris legt in der Nacht ihren Kopf auf meinen Schoß und nickt immer wieder ein, während Asha und ich wach bleiben. Wir sprechen kaum miteinander, aber das brauchen wir auch nicht. Mittlerweile verstehen wir uns auch ohne Worte. Es ist fast, als könnten wir gegenseitig unsere Emotionen spüren. Ich fühle mich sicherer dadurch, dass sie neben mir sitzt.

Von der anderen Seite des Raums hören wir leise die Legionsführer miteinander tuscheln. Sie scheinen sich uneinig darüber zu sein, was sie von der Behandlung der Zentrallegion halten sollen.

Als sich die Tür schließlich öffnet, herrscht eine bedrückende Totenstille. Ein Legionsführer sowie zwei Ärzte und vier Wachen treten ein. Alle tragen Mundschutz.

»Guten Morgen«, begrüßt uns der fremde Legionsführer förmlich. »Meine Bezeichnung lautet ZA2020.« Offenbar ist die Zentrallegion deutlich größer, als ich annahm, dafür spricht seine hohe Nummerierung. »Ich bedauere, dass ihr diese Nacht in diesem Zimmer ausharren musstet. Die Quarantäne dient sowohl unserer als auch eurer Sicherheit. Wir werden euch heute im Laufe des Tages einzeln untersuchen und euch euren Stationen zuweisen.« Er legt eine Pause ein und richtet seinen Blick auf Iris. »Wir beginnen mit dem Kind. Folge uns!«

Iris schaut panisch zu mir auf, während sich ihr Arm fest um meinen schließt.

Wir erheben uns gemeinsam. »Ist es möglich, dass D560 und ich mit ihr zusammen untersucht werden?«

Misstrauisch mustert ZA2020 mein Gesicht und lässt seinen Blick über meinen Körper wandern, jedoch nicht mit dem lüsternen Blick von A566, sondern eher wie ein Röntgenstrahl, der vermag, mein Innerstes nach außen zu kehren.

»Nein, das ist gegen die Vorschrift. Erst das Kind.«

Ich straffe meine Schultern und schiebe Iris hinter meinen Rücken. »Tut mir leid, aber das kann ich nicht zulassen.«

Fassungslos starrt mich ZA2020 an, während sich die Kämpfer bereits an seinen Seiten aufbauen.

A489 stöhnt genervt auf. »Verdammt, jetzt gib ihnen das Kind. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«

»Wenn sie nicht untersucht wird, können wir sie nicht aus der Quarantäne entlassen«, gibt ZA2020 kalt an mich gewandt zurück.

»Dann bleiben wir in Quarantäne«, entgegne ich unbeeindruckt. »Wir lassen uns nur gemeinsam untersuchen.« Meine Zeit als Legionsführerin hat mich gelehrt, für meine Ziele einzustehen und sie zu verteidigen. Ich lasse mich nicht mehr so leicht unterdrücken, wie es vielleicht vor einem Jahr noch der Fall gewesen wäre.

ZA2020 nickt einem seiner Wachen zu, der mit erhobenem Laserstrahl in unsere Richtung zielt. »Ich kann euch auch zwingen.«

A350 greift ein, indem sie sich vor uns aufbaut. »Das wäre eine Überreaktion«, fährt sie den fremden Legionsführer an. »Wir sind keine Gefahr für die Zentrallegion. Die Mädchen haben viel durchgemacht und sind verängstigt. Warum untersucht ihr sie nicht als Letztes?«

ZA2020 mustert sie nun ebenfalls mit wütendem Gesicht. »Wir haben euch aufgenommen, obwohl wir das nicht gemusst hätten. In eurer Lage sollte man keine Forderungen stellen.«

A350 nickt ihm demütig zu. »Es ist keine Forderung, sondern lediglich eine Bitte.«

ZA2020s Mundwinkel zucken, bereit zu einer Erwiderung. Doch dann atmet er tief durch und wendet den Blick von uns ab. »Nun gut, dann fangen wir eben bei der Ältesten an.« Er lässt den Blick suchend durch den Raum gleiten. »WA233, bitte folge mir!«

A233, die nun offenbar den Zusatz W für westliche Legion erhalten hat, erhebt sich steif und folgt den Zentrallegionären aus dem Raum.

Kaum dass sie weg ist, dreht sich A350 wütend zu mir um. »Musste das sein?«, zischt sie scharf.

»Ja, das musste es«, erwidere ich schlicht.

»Du machst dir hier kein leichtes Leben, wenn du dich direkt mit den Legionsführern anlegst«, warnt sie mich. Die Sorge in ihrer Stimme überwiegt die Wut. Das erinnert mich daran, wie sehr ich sie einmal geschätzt habe.

»Das ist mir egal«, entgegne ich ihr abweisend. »Wir lassen uns nicht trennen.«

Ein Teil von mir sehnt sich danach, wieder mit ihr zusammenzuarbeiten. Ihre Sichtweisen haben mich immer wieder überrascht und mir neue Denkanstöße vermittelt. Aber ihre Offenbarung ist noch zu frisch. Ich kann nicht dort weitermachen, wo wir aufgehört haben. Sie ist meine Mutter.

Ich lasse meinen Blick durch den Raum wandern und frage mich, ob die anderen Legionsführer von unserem Verwandtschaftsverhältnis wissen. Ich kann es mir jedoch nicht vorstellen. Denn es wäre für A489, der immer gegen mich war, eine willkommene Erklärung dafür gewesen, warum A350 sich immer für mich eingesetzt hat.

Am Ende des Tages sind nur noch A350, Asha, Iris und ich übrig. Als sich die Tür wieder öffnet, tritt nicht der uns bekannte Legionsführer herein, sondern stattdessen vier Fremde. Es sind zwei Frauen und zwei Männer. Ihnen folgen die beiden behandelnden Ärzte sowie drei weitere Männer in grünen Anzügen und etwa zehn Kämpfer.

Einer der Legionsführer tritt vor. »Wir sind die Führungsebene der Zentrallegion, gebildet aus vier Vertretern der Legionen. Ich bin W300 und war zutiefst entsetzt, als ich hörte, dass ausgerechnet meine Heimatlegion für Probleme sorgt.«

Seine Stimmlage und Wortwahl drücken nicht nur seine Wut aus, sondern auch, dass er uns allesamt für seine Untergebenen hält. Als hätte er einen Anspruch auf uns.

»S300«, stellt sich die Frau neben ihm vor. Sie ist die Vertreterin der südlichen Legion. »Als Führungsebene haben wir viele Aufgaben und Probleme zu bewältigen. Euer Widerstand unterbricht diese. Das ist ein inakzeptabler Zustand.«

A350 räuspert sich und verneigt sich daraufhin demütig vor den Legionsführern. »Verzeiht uns die Unterbrechung, doch ich glaube, dass ein Missverständnis vorliegt. Die Mädchen wollten niemanden verärgern, sie haben nur Angst.«

»Können die Mädchen nicht selbst sprechen?«, unterbricht S300 sie scharf und richtet ihre schmalen Augen auf mich. Ihr Blick scheint mich förmlich zu durchbohren.

Ich recke ihr herausfordernd das Kinn entgegen. »WA518«, stelle ich mich genauso knapp vor wie sie selbst. »Ich bin sehr gut in der Lage, für mich allein zu sprechen, und ich erachte mein Verhalten in keiner Weise als falsch. Ganz im Gegenteil. Ich empfinde den Empfang, der uns bereitet wurde, als unangemessen und entwürdigend.« Mein Mund spuckt Worte aus, die ich zuvor nicht einmal gewagt hätte zu denken. Es ist, als wäre etwas von Finns Kampfgeist und Willensstärke auf mich übergegangen. Ich fühle mich ihm dadurch nahe. Ein Teil von ihm wird in mir weiterleben.

Sowohl S300 als auch alle anderen Anwesenden reißen entsetzt die Augen auf.

»Wie kannst du es wagen?!«, zischt W300 mit vor Zorn bebender Stimme.

»Entschuldigt ihr Benehmen, sie wurde verletzt«, nimmt mich A350 ohne Zögern in Schutz. Ihr Gesicht ist jedoch blass. Warum setzt sie sich immer noch für mich ein? Ich will ihre Hilfe nicht.

»Hör auf, für mich zu sprechen«, fahre ich sie an und wende mich den Anführern der Zentrallegion zu. »Lasst mich meine Ansicht erklären. Die Legion ist eine große Einheit, in der alle gleich viel wert sind. Es macht also keinen Unterschied, ob jemand aus der westlichen, südlichen oder zentralen Legion stammt. Als wir hier ankamen, wurden wir empfangen wie Bittsteller und nicht mit dem nötigen Respekt, der uns als Legionsführer gebühren würde. Niemand hat uns über den geplanten Ablauf in Kenntnis gesetzt. Zudem wurden Entscheidungen über unseren Kopf getroffen. Das ist nicht der Umgang, den ich als Legionsführerin gewohnt bin.«

Asha blickt zu Boden, doch ich sehe an ihren aufeinandergepressten Lippen, dass sie sich ein Grinsen verkneifen muss. Zumindest sie mag mein neues rebellisches Ich. Es ist noch ungewohnt, aber ihre Unterstützung stärkt mich.

Sowohl A350 als auch die anderen Legionsführer starren mich sprachlos an. Meine Worte müssen sich erst setzen. Der Ausdruck in ihren Augen wechselt von Empörung zu Nachdenklichkeit und schließlich sogar Anerkennung.

»Ich nehme an, du hast nicht ganz unrecht«, gibt W300 zögerlich zu. »Ich glaube, ich spreche für alle, wenn ich sage, dass du die erste Legionsführerin der westlichen Legion bist, die mit dem Stolz und der Würde auftritt, wie es für eine Legionsführerin üblich sein sollte.« Er streckt mir seine Hand entgegen. »Willkommen in der Zentrallegion, WA518.«

Ich ergreife seine Hand und schüttele sie. Sie ist kalt wie Eis und sein Griff so fest, dass mir die Hand schmerzt, trotzdem verziehe ich keine Miene. Ich weiß, dass ich nicht nur mit dem Feuer, sondern auch mit meinem Leben spiele.

Nachdem die Ärztetruppe mit Asha und mir fertig ist, widmen sie sich Iris. Nun kommt auch wieder die Sprache auf ihren Wüstenfuchs. Fragend blickt der behandelnde Arzt zu den vier anwesenden Legionsführern. »Was ist mit dem Tier?«

»Es kann unmöglich in die Sicherheitszone. Das würde zu Unruhen führen. Aber ich nehme an, ihr werdet euch nicht von ihm trennen wollen, richtig?«, wendet sich W300 an mich. Offenbar habe ich deutlich genug gemacht, dass ich mich nicht von ihnen einschüchtern lasse.

»Richtig«, bestätige ich ihm unnachgiebig.

»Dann müsst ihr euch zu dritt ein Zimmer teilen und das Tier darf dieses nicht verlassen. Eine andere Möglichkeit gibt es nicht«, erwidert er streng. Es ist mehr, als ich erwartet hätte. Kompromisse existierten in der Legion für gewöhnlich nicht.

»Aber er braucht seine Freiheit«, protestiert Iris besorgt und streichelte Fennek zärtlich über den Kopf.

»Die brauchen wir alle und trotzdem sitzen wir hier im Käfig«, knurrt Asha, worauf sie entsetzte Blicke aller Anwesenden erntet.

»Reißt euch zusammen«, tadelt A350 die beiden. Sie wendet sich an die Führungsebene und erteilt in unserem Namen die Zustimmung. »Das ist in Ordnung. Danke.«

Als Nächstes muss sich Iris derselben Prozedur unterziehen wie wir zuvor. Sie bekommt Blut abgenommen, wird von oben bis unten durchgescannt und muss eine Minute lang in einen Apparat atmen. Es ist harmlos, doch im Gegensatz zu Ashas und meiner Untersuchung ist ihre damit noch nicht abgeschlossen. Einer der Ärzte tritt mit einem Rasierer auf sie zu. Wenn Iris mit uns in der Legion leben will und nicht immer nur bei Fennek im Zimmer sitzen möchte, muss sie ihre Haare abrasieren lassen. Mittlerweile reichen sie ihr bis knapp zu den Schultern und glänzen in einem hellen Blond.

Ich kann Iris ihr Unbehagen deutlich ansehen, doch sie weigert sich nicht. Sobald die erste Haarsträhne zu Boden fällt, spüre ich, wie sich mein Herz zusammenzieht. Es tut weh, zusehen zu müssen, wie sich Iris wieder in die Gefangenschaft der Legion begibt. Ich wünschte, sie hätte bei den Rebellen bleiben können, aber dann wäre sie jetzt tot. So sind ihre Haare wohl nur ein geringes Opfer.

Am liebsten würde ich weinen, doch ich dränge den Kloß in meinem Hals zurück und blicke zu Iris. Obwohl ihre Unterlippe bebt, tritt nicht eine Träne aus ihren Augen. Sie hält den Kopf tapfer aufrecht. Sie ist noch so jung und trotzdem stärker, als ich es in ihrem Alter je war. Vielleicht sogar stärker, als ich es heute bin. Immerhin hat sie nicht den gesamten Flug über geschluchzt und geweint, dabei waren die Rebellen genauso ihre Freunde wie meine. Sie hat in ihnen eine Familie gefunden.

Nach der Untersuchung beziehen wir unser Zimmer in der unterirdischen Wohnstation. Dafür werden wir von dem Krankenhaus zu der Unterführung der Wohnviertel eskortiert. Dabei wird uns erst deutlich, WIE unterschiedlich die Zentrallegion im Vergleich zu unserer Legion ist. Während die westliche Legion nur aus der Legionsführerkugel über der Erde und dem Atrium mit abzweigenden Gängen und Räumen unter der Erde bestand, besteht die Zentrallegion aus vielen verschiedenen Gebäuden. Neben dem Krankenhaus gibt es Forschungszentren, eine Überwachungsstation, mehrere Gebäude zur Essenausgabe, einen Legionärspalast, Stationen für alle täglich anfallenden Aufgaben und noch zahlreiche Gebäude, die ich auf die Schnelle nicht zuordnen kann.

Wir fliegen in einer Art Kapsel durch die Stadt, in der etwa zwanzig Personen Platz finden. Das scheint hier das gängige Transportmittel zu sein, denn auf unserem Weg begegnen wir mehreren dieser Kapseln, gefüllt mit Bewohnern der Sicherheitszone in hauptsächlich braunen, aber teilweise auch blauen und grünen Anzügen. Sie scheinen auf dem Weg zu ihren unterschiedlichen Einsatzstationen zu sein.

Unsere Fahrt endet vor einem relativ kleinen Gebäude, das komplett aus Glas besteht. Es hat die Form eines Würfels. Über dem gut drei Mann hohen Eingang prangt ein großer Schriftzug: »Freiheit in Gleichheit«.

Wir treten ein und vor uns tauchen sechs Türen in verschiedenen Farben auf: Gelb, Rot, Braun, Blau, Grün und Weiß. Gelb steht für die Kleinkinder, Rot für die Heranwachsenden, Braun für die D-Klassifizierung, Blau für die C-Klassifizierung, Grün für die B-Klassifizierung und Weiß für die Legionsführer. Die weiße Tür öffnet sich und wir steigen in einen Fahrstuhl, der uns unter die Erde befördert.

Als wir den Aufzug verlassen, erstreckt sich vor uns ein riesiger Raum mit einem glänzenden Marmorfußboden. Die Decken sind so hoch wie im Atrium und die Wände zeigen ähnliche Videoaufnahmen. Im Moment ist es eine exotische Strandlandschaft. Aus den Lautsprechern an der Decke dringt leises Meeresrauschen und das Zwitschern von Vögeln. Obwohl ich weiß, dass nichts davon echt ist, bin ich beeindruckt.

Wir durchschreiten die Halle und gehen über eine kurze Treppe ein Stockwerk tiefer.

»Normalerweise teilen wir jedem Legionsführer ein eigenes Zimmer zu«, erzählt W300, »aber nach dem Zusammenbruch der nördlichen und nun auch noch der westlichen Legion sind wir derzeit etwas überbelegt. Deshalb müssen wir in diesen schweren Zeiten ein wenig zusammenrücken. Wir arbeiten jedoch bereits an einer Lösung.«

»Das ist kein Problem«, versichere ich ihm. Ganz im Gegenteil, es kommt uns sogar gelegen, da ich mich ohnehin nicht von Asha und Iris hätte trennen wollen.

W300 öffnet eine Tür am Ende des Gangs. Es ist ein vergleichsweise kleines Zimmer, wenn ich an meinen Raum in der westlichen Legion denke. Es thront ein großer Schreibtisch in der Mitte, rundherum vier Betten. Eine zweite Tür führt vermutlich zu einem Badezimmer.

Vier Betten?

Ich stutze und fahre zu A350 herum. Sie meidet meinen Blick. Geradezu schuldbewusst. »Ich habe darum gebeten, mit euch untergebracht zu werden, anstatt bei den anderen Legionsführern.«

Ich weiß genau, was sie damit bezweckt. Sie will mich im Auge behalten. Aber nur weil sie jetzt das Zimmer mit uns teilt, braucht sie nicht zu meinen, dass ich es nicht dennoch schaffe, ihr aus dem Weg zu gehen. Solange sie in meiner Nähe ist, kann ich keinen klaren Gedanken darüber fassen, wie ich in Zukunft mit ihr umgehen möchte. Ich hätte gern Abstand und Zeit zum Nachdenken. Stattdessen nimmt sie mir meinen einzigen Rückzugsort.

»Es ist nur als Übergang«, meint W300 versöhnlich.

Er ahnt nicht, wie recht er damit hat. Mich stört nicht, dass das Zimmer klein ist. Die unüberwindbaren Mauern, die es umgeben, stören mich viel mehr. Ich habe beinahe mein ganzes Leben in der Gefangenschaft der Legion verbracht. In den letzten Wochen habe ich mich der Hoffnung hingegeben, dass ich alles zum Besseren wenden kann. Jeder Versuch, den ich unternommen habe, war letztendlich umsonst. Von der westlichen Legion ist nicht mehr als ein Haufen Schutt und Asche übrig. Mein Weg hat mich nicht weitergebracht. Nun werde ich Finns Weg gehen. Er wird aus weniger Worten, aber dafür mehr Taten bestehen. Ich bin es ihm schuldig, dass ich seinen Kampf um die Freiheit der Rebellen fortführe, selbst wenn er nicht mehr davon profitieren kann.


06. Finn

Finn bildet die Spitze des Jagdtrupps. Sie sind bereits am frühen Morgen aufgebrochen, um die nachtaktiven Tiere aufzuspüren – bisher jedoch erfolglos. In den Weiten der roten Wüste finden sie weder Tiere noch Wesen, vor denen Cleo sie gewarnt hat. Obwohl die Suche aussichtslos erscheint, marschiert Finn unerbittlich weiter. Die Verzweiflung treibt ihn voran. Wenn sie keine Nahrung finden, wartet auf sie der Tod.

Sie haben kaum etwas zu essen und nicht genug Benzin, um es bis zur Zentrallegion zu schaffen. Und selbst wenn, was sollten sie dort tun? Sie wären völlig entkräftet. Ein Angriff würde einem Selbstmordkommando gleichkommen.

Weder Sharon noch Ruby begleiten ihren Trupp. Sie haben offenbar Besseres zu tun – Finn hat eine Ahnung, worum es sich dabei handeln könnte. Er kann nur hoffen, dass sie mehr Glück haben. Um nicht zu verhungern, würde er sogar noch einmal die entsetzlichen Nahrungstabletten der Legion schlucken.

Zu seiner Überraschung wollte auch Maggie den Trupp begleiten. Sie war nie eine große Jägerin, auch nicht, als sein Vater noch lebte. Sie blieb immer mit Grace bei den Höhlen und kümmerte sich um die Kinder oder das Essen. Doch er muss gestehen, dass sie sich nicht schlecht schlägt. Obwohl sie das vergangene Jahr in einer Zelle gefangen war, ist ihre Kondition ordentlich. Jeder Schritt erfüllt sie mit mehr Leben. Sie lebt für jeden Moment, ganz egal, wie viele Tage ihnen noch bleiben mögen.

Sie holt zu Finn auf. »Man könnte meinen, du wolltest einen Marathon laufen«, feixt sie mit einem Lächeln auf den Lippen. »Seitdem wir aus der Legion entkommen sind, hatten wir kaum Zeit, miteinander zu reden«, fährt seine Mutter fort.

Zögerlich wendet er ihr den Blick zu. »Worüber sollten wir reden?«, erwidert Finn. Seine Worte klingen härter, als er es beabsichtigt hat. Als er sie in dem Zellentrakt der Legion zum ersten Mal wiedersah, fiel es ihm so verdammt schwer, weiter den Unnahbaren zu spielen. Er wäre ihr am liebsten wie ein kleiner Junge unter Tränen um den Hals gefallen. Stattdessen musste er so tun, als würde er sich nicht an sie erinnern. Doch jetzt, wo er seinen Gefühlen endlich freien Lauf lassen könnte, wagt er es nicht. Es ist fast, als hätte er Angst, dass seine Mutter wieder verschwindet, wenn er sie nur berührt. Es war schwer genug, ein Mal mit ihrem Tod fertigzuwerden. Ein zweites Mal würde er das nicht schaffen.

Maggie scheint ihm seine ruppige Art nicht übelzunehmen, denn sie lächelt ihm unbeirrt entgegen. »Du hast dich verändert, seitdem ich weg war.«

Finn empfindet Schuldgefühle. Seine Zurückweisung muss verletzend für sie sein. »Es tut mir leid«, erwidert er.

Sie lacht gutmütig über seine Entschuldigung und legt ihm sanft ihre Hand auf den Oberarm. »Entschuldige dich nicht«, bittet sie ihn. »Du bist erwachsen geworden. Dein Vater wäre stolz auf dich. Du übernimmst Verantwortung.«

»Mir blieb nichts anderes übrig.« Finn weiß selbst nicht, warum sich alles, was er zu seiner Mutter sagt, wie ein Vorwurf anhört. Es war weder ihre Schuld, dass sie von der Legion entführt wurde, noch, dass alle glaubten, sie wäre tot.

»Es war sehr fürsorglich von dir, Cleo gehen zu lassen. Ich weiß, dass du sie sehr gernhast.«

Finns Stimmung ist ohnehin schon auf dem Tiefpunkt, aber sobald jemand Cleos Namen erwähnt, sinkt sie ins Bodenlose. »Es war weder fürsorglich noch mutig oder ehrenvoll, sondern schlichtweg feige und dumm.«

Seine Mutter reagiert bestürzt. »Sag so etwas nicht! Du wolltest nur das Beste für sie. Ich bin sicher, ihr geht es gut.«

»Aber es stimmt. Ich habe über ihren Kopf hinweg entschieden. Ich hätte sie fragen sollen, was sie möchte. Das verzeiht sie mir nie.« In ruhigen Momenten gestattet er sich, an sie zu denken. Dann stellt er sich vor, wie ihr Wiedersehen in ferner Zukunft verlaufen könnte. Es endet meistens damit, dass Cleo sich von ihm abwendet. Sie kann ihm nicht mehr vertrauen, weil er sich ein Mal zu viel von ihr getrennt hat. Dieses Mal hätte es für immer sein sollen.

»Was glaubst du denn, wie sie entschieden hätte?«, fragt ihn seine Mutter.

Genau das ist die Frage, die ihm durch den Kopf geht, seitdem der Hubschrauber abgehoben hat, und ihm keine Ruhe lässt. »Ich weiß es nicht.«

»Was hättest du dir gewünscht?«

Finn stöhnt gequält auf. »Das weiß ich auch nicht. Wenn sie bei mir geblieben wäre, würde mir das zwar ihre Liebe beweisen, aber vielleicht wäre sie dann gar nicht mehr das Mädchen, in das ich mich verliebt habe. Cleo ist ehrlich, gerecht und furchtlos. Sie weiß immer, was das Richtige ist, auch wenn es nicht immer das ist, was sie selbst gern tun würde.«

»Das hört sich so an, als ob du davon ausgehst, dass sie sich gegen dich entschieden hätte. Wäre das denn so schlimm gewesen?« Maggie spricht mit ihm, ohne zu richten. Sie hilft ihm, seine eigenen Gedanken zu ordnen.

»Cleo wollte immer das Leben der Bewohner der Sicherheitszone verbessern. Sie hat sich dafür eingesetzt. Es war ihr wichtiger als alles andere.« Er stoppt, unsicher, ob er das, was ihm durch den Kopf geht, hinzufügen soll. »Selbst wichtiger als ich.« Maggie ist seine Mutter. Er kann sich ihr anvertrauen, auch wenn es ihm schwerfällt. Aber er möchte, dass sie wieder zu dem wichtigen Teil in seinem Leben wird, der sie früher war. Sein Vater ist tot, aber seine Mutter ist noch da.

»Hast du schon einmal überlegt, dass das eine das andere nicht unbedingt ausschließt?« Fragend blickt Finn ihr entgegen, da fährt Maggie fort. »Wenn es keine Menschheit gibt, kann es auch dich und sie nicht geben. Vielleicht möchte Cleo einfach nur einen Raum schaffen, in dem ihr eine Chance habt, glücklich zu sein.«

»Wir könnten fliehen«, entgegnet Finn. Er hat sie nie darum gebeten. Auch nicht, als sie in die Legion zurückkehrte. Er wollte es. Sein Herz hat ihn angefleht, sie aufzuhalten. Aber er ließ sie gehen, in dem Wissen, dass es ihr Ende bedeuten könnte.

»Und wohin?«, fragt seine Mutter herausfordernd. »Die Welt ist zerstört.«

In diesem Punkt scheint sie mit den Behauptungen der Legion übereinzustimmen. Doch sie haben in so vielen Punkten gelogen, warum sollten sie in diesem einen die Wahrheit gesagt haben? »Das weißt du doch gar nicht. Vielleicht sieht es in anderen Ländern anders aus.«

»Und du würdest uns zurücklassen?« Er hört ihre Bestürzung.

Finn schüttelt den Kopf. »Ich bin hier, oder?«, entgegnet er, kann ihr dabei jedoch nicht in die Augen schauen. Er hätte mit Cleo gehen können. Er hätte in den Hubschrauber einsteigen können, so wie er es ihr gesagt hat. »Ihr seid meine Familie und werdet es immer bleiben.«

»Aber?«, hakt Maggie nach.

»Ich möchte, dass Cleo irgendwann ein Teil dieser Familie ist.« Er schaut seiner Mutter eindringlich in die Augen. »Mama, ich liebe sie.«

Maggies prüfender Blick wird bei dem Geständnis ihres Sohns weich. »Ich bin sicher, dass sie dich auch liebt«, erwidert sie einfühlsam. Dann verzieht sie jedoch das Gesicht, als befürchte sie, dass das, was sie als Nächstes sagen wird, ihm nicht gefallen wird. »Cleos Familie ist die Legion. Sie ist auch ein Teil von ihr. Es ist ihre Vergangenheit. Wie kannst du von ihr erwarten, diesen Teil aufzugeben, wenn du selbst nicht dazu bereit bist?«

»Aber das ist doch etwas ganz anderes«, widerspricht Finn ihr verständnislos. »Die Legion hat Cleo immer nur belogen und unterdrückt.«

»Und trotzdem ist sie ihr Zuhause«, sagt Maggie. »Die Welt ist nicht nur schwarz oder weiß, gut oder böse. Und das ist die Legion auch nicht. Die Menschen in der Sicherheitszone wussten nichts von alledem. Sie hatten nie eine Chance, ihr Schicksal selbst zu wählen. Um ehrlich zu sein, erinnert mich deine Cleo an jemanden.«

»An wen?«

»An mich«, gesteht seine Mutter mit einem Lächeln auf den Lippen. »Ich war einmal genau wie sie und habe davon geträumt, für die Menschen einen besseren Lebensraum zu schaffen. Ich wollte ihnen Freiheit schenken, und das ohne Gewalt und Waffen.«

Bevor er Cleo kannte, gab es für ihn nur ein Ziel in seinem Leben: die Rache an der Legion. Er wollte sie bis auf die letzte Person auslöschen. Er hasste sie dafür, dass sie ihm nicht nur seine Eltern, sondern auch seine Schwester genommen hatte. Er war richtiggehend blind vor Hass. Dann kam Cleo, die mit dem Staunen eines Kindes den Himmel betrachtete und vor Gefühl sprühte, obwohl sie nie Liebe in der Legion erfahren hatte.

Er hat sein Gedächtnis verloren, aber sie hat sich trotzdem einen Weg zurück in sein Herz gebahnt. Und nicht nur sie. Er hat die Bewohner der Sicherheitszone in einem neuen Licht gesehen. Er hat sie zum ersten Mal in seinem Leben so gesehen, wie Cleo sie sah: Menschen mit Gefühlen und Gedanken, die nur darauf warteten, freigelassen zu werden. Alles, was sie brauchten, war eine Hoffnung, an die sie glauben konnten.

Sie legt ihre Hand auf seine und schenkt ihm Hoffnung und Zuspruch. »Finn, es ist unwichtig, ob ihr jeden Tag zusammen verbringt, solange ihr beide dasselbe wollt. Euch verbindet ein gemeinsames Ziel.«

Es ist, als würde sich plötzlich ein Puzzlestück an das andere setzen. Seine Gefühle, die wild durch sein Herz und seinen Kopf wirbelten, erhalten endlich Ordnung. Finn sieht seiner Mutter dankbar in die Augen. Irgendwie ist sie erst jetzt wirklich zu ihm zurückgekehrt. Er drückt ihre Hand. »Du hast mir gefehlt.«

»Du mir auch, mein Sohn. Mehr, als du dir vorstellen kannst.« Sie schließt ihn in ihre Arme. »Ich liebe dich.«

Niedergeschlagen sind Finn und der Rest des Jagdtrupps auf dem Rückweg, während die Abendsonne ihnen auf den Rücken scheint. Sie hatten keinen Erfolg. Der Wald wirkt wie ausgestorben. Die Aussicht auf Jagdbeute war so etwas wie ihre letzte Hoffnung. Wenn sie nicht bald eine Lösung finden, werden sie innerhalb des nächsten Monats verhungern. Vielleicht wäre es doch am besten, wenn sie gleich morgen in Richtung der Zentrallegion aufbrechen würden. Es macht schließlich keinen Unterschied, ob sie hier oder auf dem Weg sterben.

Am Horizont heben sich die Hügel der Höhlen dunkel gegen den violetten Himmel ab. Seitdem die Sizos bei ihnen sind, herrscht ein ständiges Getümmel, fast wie in einem Ameisenhaufen.

Doch je näher sie den Höhlen kommen, umso deutlicher wird, dass heute nicht nur die Ansammlung von zu vielen Menschen für Unruhe sorgt. Irgendetwas muss passiert sein.

Sharon kommt ihnen auf halbem Weg entgegen. »Seid ihr James und Devon begegnet?«

Sie sind beide Rebellen aus der südlichen Legion.

Finn schüttelt irritiert den Kopf. »Nein, warum?«

»Sie sind verschwunden«, erklärt Sharon verzweifelt.

»Wie das?«, wundert sich Paul, der neben Finn getreten ist.

»Wir waren heute noch mal mit einem Trupp bei der Legion, um nach Nützlichem zu suchen. James und Devon waren auch dabei, aber sie sind seitdem nicht mehr aufgetaucht. Irgendetwas muss passiert sein.«

»Und an was denkst du?«, hakt Paul neugierig nach.

Sharons Blick wandert zu den Kämpfern der Legion. Das genügt als Antwort.

»Was hätten sie davon?«, will Finn mit gedämpfter Stimme wissen.

»Macht«, antwortet Sharon und klingt dabei sehr nach Ruby. Sie macht sich nicht die Mühe, leise zu sprechen.

»Was ist mit den Wesen, von denen Cleo gesprochen hat?«, wendet Paul ein, wobei er sich fast ängstlich umschaut, als könnte eines von ihnen aus dem Boden hervorbrechen.

Sharon schnaubt verächtlich. »Wer weiß, ob sie die Wahrheit gesagt hat und nicht nur die Explosion verhindern wollte.«

»Cleo hätte uns nicht belogen«, widerspricht Finn. Er würde für sie die Hand ins Feuer legen.

»Ach nein? Und warum ist sie dann nicht hier, sondern feige mit den Legionsführern abgehauen?«

»Sie ist nicht abgehauen«, knurrt Finn. »Ich habe sie weggeschickt.« Er hat sich keine Gedanken darüber gemacht, wie es auf die anderen Rebellen wirken könnte, wenn Cleo sie verlässt. Es ging ihm nur darum, sie zu retten.

»Na, wenn das so ist, wird sie sicher bald mit Hilfe zurückkommen«, erwidert Sharon sarkastisch. Damit spricht sie jedoch eine Möglichkeit an, auf die Finn bisher selbst nicht gekommen ist. Wird Cleo nach ihm suchen? Sie muss annehmen, dass er und alle anderen bei der Explosion ums Leben gekommen sind.

James und Devon bleiben verschwunden. Es kursieren die wildesten Gerüchte über ihr Verschwinden, weshalb die Kinder noch verängstigter sind als ohnehin schon. Zudem heizen die Gerüchte die gereizte Stimmung zwischen den Rebellen und den Sizos an. Sie werden nicht müde, sich gegenseitig zu beschuldigen, jedoch nicht offen, sondern nur hinter den Rücken der anderen. Während sie am Vortag noch fast so etwas wie eine Einheit gegen einen gemeinsamen Feind waren, bildet sich heute eine Mauer des Schweigens zwischen ihnen.

Überraschenderweise sucht Ruby erneut das Gespräch mit Finn. »Es war schade, dass du heute nicht dabei warst«, beginnt sie die Unterhaltung.

»Warum?«, entgegnet er ihr.

»Sharon hat die Angewohnheit, schnell die Kontrolle an sich zu reißen«, erwidert sie zerknirscht.

»Na und?«

»Sie erregt schnell mehr Aufsehen, als einem lieb ist. Egal, ob nun bei den Sizos oder Fremden.« Sie senkt ihre Stimme zu einem Flüstern. »Was, glaubst du, ist mit James und Devon passiert?«

»Was meinst du mit Fremden? Sprichst du von den Wesen, vor denen Cleo uns gewarnt hat?«, wundert sich Finn. Sharon glaubt nicht an sie.

»Gesehen habe ich nichts«, gibt sie zu. »Aber wer weiß.«

Sie schweigen einen Moment. Es ist ein hoffnungsloses Schweigen. Eines, das einem Angst macht.

»Morgen will sich ein Trupp der Sizos noch mal zu der Legion aufmachen. Ich überlege, sie zu begleiten«, beginnt Ruby erneut.

Finn runzelt die Stirn. »Fragst du mich, ob ich mich euch anschließe?«

»Ich dachte, du könntest mitkommen, um dir selbst ein Bild über die Lage zu machen.«

Als sie ihn gestern gefragt hat, ging es darum, wer zuerst Waffen findet, um die Macht an sich zu reißen. Nun geht es darum, das Verschwinden zweier Personen zu klären.

»In Ordnung«, stimmt er zu.

Ruby grinst und versetzt ihm einen Stups mit der Schulter. »Wusste ich es doch.«

Es ist ein ungewohnt vertrauter Moment. Finn kennt sie bereits sein ganzes Leben. Bevor sie zur Spionin wurde, waren sie Freunde. Ruby ist zehn Jahre älter als er. Er hat immer zu ihr aufgesehen und sie bewundert. Nun begegnen sie sich auf Augenhöhe. Sie sind ein Team.


07. Cleo

W300 lässt uns mit den Worten, dass er sich später wieder bei uns melden würde, in unserem Zimmer zurück. Wir sitzen fest. Ich hätte mich gern mit Asha und Iris ausgetauscht, doch vor A350 kann ich das nicht. Zudem habe ich die Zentrallegion im Verdacht, dass sie uns abhören. Das herrschende Schweigen ist erdrückend.

Etwa eine Stunde später öffnet sich die Tür erneut. Im Gegensatz zu der westlichen Legion lässt sich in der Zentrallegion jede Tür von einem der vier Führungsmitglieder öffnen. Es ist W300, der offenbar nun für uns zuständig ist.

»Folgt mir, ich werde euch nun den anderen Legionsführern vorstellen und euch euren zukünftigen Arbeitsplätzen zuweisen«, fordert er uns ohne jede Höflichkeitsfloskel auf. Kein Bitten und kein Fragen, sondern schlichte und eindeutige Befehle. Zudem wusste ich nicht, dass die Legionsführer hier in bestimmte Arbeitsbereiche eingeteilt werden. Ich habe erwartet, dass sie sich genauso den ganzen Tag beratschlagen würden, wie wir es zu Hause immer getan haben. Aber dafür ist die Zentrallegion wohl zu groß.

Ohne Murren gehorchen wir seinem Befehl und folgen ihm zurück zu dem weißen Aufzug, der uns erneut an die Erdoberfläche bringt. Ein Flugshuttle steht schon für uns bereit. Wie zu erwarten, steuern wir damit direkt zu dem Führungspalast der Zentrallegion. Sowohl vor als auch in dem Palast tummeln sich unzählige Kämpfer der Legion. Bei uns war dieser Schutz nie nötig, da wir in der Legionskugel ohnehin abgeschottet von dem Rest der Bewohner gelebt haben. Lediglich unser Aufzug musste bewacht werden. Die große Anzahl an Kämpfern jagt mir Angst ein. Vielleicht sind die anderen Klassifizierungen hier nicht so friedlich und unwissend, wie sie es bei uns waren.

Wir verlassen die volle Empfangshalle durch einen weiteren Aufzug.

»Eure Fingerabdrücke werden zurzeit noch im System erfasst, danach könnt auch ihr den Aufzug bedienen. Er reagiert nur auf registrierte Legionsführer.« Also nicht anders, als es bei uns war.

Das nächste Stockwerk, in dem wir aussteigen, ist deutlich leerer. Der Boden ist mit einem royalblauen Teppich belegt, der das Geräusch unserer Schritte dämpft. Es ist fast, als würde man über den Boden schleichen. Die Wände bestehen aus glänzendem Marmor und die Decke ist bedeckt mit Leuchtplatten, die den Einfall von Tageslicht simulieren.

Mit schnellem Schritt folgen wir W300, der sich nicht mit unnötigen Erklärungen aufhält. Er weiß, dass uns die Größe des Palastes auch ohne sein Zutun beeindruckt.

Zu unserer Rechten befindet sich ein Zimmer. Die großen Flügeltüren sind geöffnet, es dringen jedoch keine Geräusche daraus hervor. Erst als wir eintreten, entdecke ich die versammelten Legionsführer. Der Raum ist gewaltig und erinnert mich etwas an die Arena der westlichen Legion. In der Mitte befinden sich ein Rednerpult sowie eine große, dreidimensionale Leinwandprojektion, die von allen Seiten einsehbar ist. Rund um das Pult verteilen sich Sitzplätze, die mit großen weißen Lederstühlen und Mahagonischreibtischen ausgestattet sind. Ich würde die Anzahl der anwesenden Legionsführer auf etwa einhundert schätzen. Es sind alle Generationen vertreten. Angefangen bei der zweiten Generation, endend bei der sechsten.

Die sechste Generation müsste gerade ein Alter von sechzehn Jahren erreicht haben. In der westlichen Legion gehörte man in diesem Alter nicht einmal einer Klassifizierung an, doch hier sitzen vier junge Menschen direkt neben dem Rednerpult. Es sind drei Jungen und ein Mädchen. Offenbar sind sie Vertreter der Legionen, die später einmal ihre Plätze in der Führungsebene einnehmen werden. Ihre Klassifizierung ist bereits von Geburt an bestimmt.

W300 führt uns zu den anderen Überlebenden der westlichen Legion. Wir quetschen uns zu dritt an jeweils einen Schreibtisch. Direkt neben uns sitzen die ehemaligen Legionsführer der nördlichen Legion. Sie mussten, genau wie wir, vor wenigen Wochen fliehen.

W300 steuert danach auf das Rednerpult zu, hinter dem bereits S300, O300 und N300 auf ihn warten. Es sind die vier mächtigsten Menschen unserer Welt. Sie wurden als Hundertste Kinder der dritten Generation einer der vier Legionen geboren und in die Zentrallegion abgesandt, um eines Tages den Platz in der Führungsebene zu übernehmen. Ihr Schicksal stand seit ihrer Geburt fest.

»W300 begrüßt die Zentrallegion zur Konferenz anlässlich der Auslöschung der westlichen Legion.« Er macht eine bedeutungsschwere Pause und verweilt danach mit seinem Blick auf uns. »Wir befinden uns in der dunkelsten Zeit nach dem Ende des Dritten Weltkriegs. Obwohl uns die Rebellen zahlenmäßig weit unterlegen sind, haben sie es geschafft, zwei unserer Stützpunkte dem Erdboden gleichzumachen. Dabei waren ihnen die zahlreichen menschlichen Opfer egal.«

Alles in mir rebelliert bei seinen Anschuldigungen. Die vielen Toten gehen nicht auf das Konto der Rebellen, sondern sind das Werk der Legion. Wenn sie die Sicherheitszonen nicht so ausgestattet hätten, dass sie sich bei einer feindlichen Übernahme selbst zerstören, dann gäbe es wahrscheinlich kaum ein Opfer. Aber in den Augen der Legion ist eine Selbstzerstörung immer noch besser, als von den sogenannten Feinden übernommen zu werden. Wobei zu den Toten stets nur die unwissenden Bewohner der Sicherheitszone zählen und nicht die Legionsführer, die vorher ihre eigene Haut retten.

»Bisher haben wir uns mit der Bekämpfung der Rebellen zurückgehalten, aus Rücksicht auf den Wert des menschlichen Lebens. Aber wir können es nicht riskieren, noch weitere unschuldige Menschen dem Tod zu überlassen. Wir müssen härter gegen die Rebellen vorgehen. Wir müssen mit denselben Waffen wie sie kämpfen. Das sind Tod, Chaos und vollkommene Zerstörung.«

W300 tritt von dem Podium zurück und gibt den Platz frei für O300, eine der beiden Frauen. Nicht nur die Führungsebene besteht aus gleich vielen Männern wie Frauen, auch der Anteil der restlichen Legionsführer ist gleichberechtigt. In jeder Generation werden genauso viele Männer wie Frauen geboren.

Ich lasse meinen Blick über die anderen Legionsführer schweifen. Die meisten von ihnen nicken zustimmend und sind völlig W300s Meinung. Es gibt nur wenige unter ihnen, deren Miene nicht zu deuten ist. Niemand, der deutlich dagegen ist. Ich weiß nicht, wie lange ich mich noch zurückhalten kann. Bei jedem Wort, das gegen die Rebellen fällt und bei dem ich meinen Mund halte, habe ich das Gefühl, sie und mich selbst zu verraten.

»Es ist davon auszugehen, dass bei der Explosion der westlichen Legion nicht alle Rebellen beseitigt wurden. Sie sind wie Ungeziefer, das immer wieder an die Oberfläche strömt und sich bei jedem Anschlag um ein Vielfaches vermehrt.«

Ungeziefer. Das Wort hallt schmerzhaft in meinem Kopf nach. Die Rebellen werden immer mehr, weil sie keine Druckmittel brauchen, um die Menschen zu überzeugen. Es reicht die Wahrheit.

»Mit der Zentrallegion sowie der östlichen und südlichen Legion bieten wir den Rebellen mehr Angriffsfläche, deshalb haben wir beschlossen, die beiden Außenlegionen aufzugeben und uns alle hier zu vereinen. Die Legionsführer der anderen beiden Legionen werden in den nächsten Tagen zu uns stoßen.«

Entsetzen wird unter den anderen Legionsführern laut. Offenbar war den wenigsten von ihnen bewusst, wie ernst die Lage ist.

Mich lässt jedoch ein ganz anderer Gedanke nicht los. O300 hat von den Legionsführern aus dem Osten und Süden gesprochen, aber was ist mit den restlichen Menschen? Ich habe mich gezwungen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, aber das kann ich nicht länger.

Ehe A350 mich aufhalten könnte, schnellt mein Finger vor zu dem Knopf auf dem Tisch vor mir, der das Mikrofon betätigt. Ich räuspere mich und dränge meine brodelnde Wut zurück. »Entschuldigung, ich habe eine Frage.«

Das Gemurmel verstummt augenblicklich und alle Augenpaare richten sich auf mich. Ich sehe, wie A350 jegliche Farbe aus dem Gesicht weicht. Ich kann ihre aufwallende Panik förmlich spüren und fühle mich dadurch nur noch bestätigt.

»Was ist mit den Bewohnern der Sicherheitszonen aus der südlichen und östlichen Legion? Wann werden sie in der Zentrallegion eintreffen?«

O300 wirkt unvorbereitet auf meine Frage und verzieht die Mundwinkel nach unten. »Gar nicht.«

Es herrscht ein einvernehmliches Schweigen. Das Ausmaß ihrer Antwort ist entsetzlich.

»Verstehe ich das richtig? Ist es wirklich der Wille der Führungsebene, unschuldige und unwissende Menschen ihrem sicheren Tod zu überlassen?« Ich habe meiner Frage mit Absicht diese Schärfe verliehen. Sie soll den anderen Legionsführern die unermessliche Grausamkeit, die ihre Entscheidung mit sich ziehen würde, bewusst machen.

O300s Wangen färben sich vor Zorn rot. »Es ist gewiss nicht unser Wille«, schimpft sie empört. »Die Rebellen zwingen uns dazu. Sie lassen uns keine andere Wahl.«

»Wir haben immer eine Wahl«, widerspreche ich ihr ungehalten.

Die Blicke der anderen jagen zwischen mir und der Führungsebene hin und her.

»Ach ja? Und wie sieht deine Lösung des Problems aus?«, fordert sie mich heraus. »Gerade du als Flüchtling der westlichen Legion solltest am besten über die Grausamkeit der Rebellen Bescheid wissen.«

»Das Einzige, was ich weiß, ist, dass die Rebellen den Tod keines einzigen Menschen wollten. Alles, wofür sie kämpfen, ist ihre Freiheit. Den Tod der Bewohner der Sicherheitszonen aus der nördlichen und westlichen Legion hat die Zentrallegion zu verantworten. Unser System der selbstständigen Zerstörung hat das Leben dieser Menschen auf dem Gewissen und nicht die Rebellen.« Es ertönen laute Gegenrufe der Empörung. Aber ich lasse mich nicht einschüchtern. »Die Rebellen haben bisher keinerlei Versuche unternommen, um die beiden verbliebenen Legionen anzugreifen. Vielleicht haben sie die Explosion nicht einmal überlebt.« Meine Stimme bricht und ich schließe für einen Moment die Augen, um mich zu sammeln. DAS ist wichtiger als meine Gefühle. Es geht um Menschenleben. »Trotzdem seid ihr bereit, die anderen Legionen ebenfalls zu zerstören, nur um den Rebellen zuvorzukommen. Das ist nicht nur bescheuert, sondern vor allem grausam und unmenschlich!«

Der Widerspruch der anderen ist nun so laut, dass ich mein eigenes Wort nicht mehr verstehe. A350 zerrt mich mit Leibeskräften von dem Mikrofon weg. »Sei endlich still«, warnt sie mich erzürnt.

»Verrat!«, schreit es von weit oben aus dem Konferenzsaal. Vielleicht bin ich zu weit gegangen, aber zumindest bin ich so den Stein, der auf meinem Herzen lastete, losgeworden. Es war die Wahrheit und das Richtige, und das ist alles, was für mich zählt. Wenn sie mich dafür nun wegsperren wollen, bitte!

W300 blickt vom Rednerpult voller Verachtung auf mich herab. Meine Worte stoßen nicht auf Verständnis, sondern Zurückweisung von sämtlichen Seiten. »Die Legion hat das Überleben der Menschheit gesichert«, schreit er aufgebracht. »Ohne die Legion wären wir alle nach dem Dritten Weltkrieg ausgestorben. Wie kannst du uns vorwerfen, dass wir bereitwillig Menschenleben opfern würden? Es sind harte Zeiten und wir sind dazu gezwungen!«

A350 reißt das Mikrofon an sich. »Verzeiht ihr, sie wurde bei dem Angriff der Rebellen verletzt und weiß nicht, was sie sagt.« Ihre Stimme ist verzweifelt und ihre Angst beinahe greifbar.

Doch ehe sich A350 versieht, entwendet Asha ihr das Mikrofon. »Wenn ihr nur bereit wärt, auch nur eine Sekunde über ihre Worte nachzudenken, würde euch auffallen, wie viel Wahres in ihnen steckt.«

»Wie kannst du es wagen, das Wort gegen uns zu erheben? Du bist nur eine D-lerin«, ereifert sich S300 völlig außer sich. Ich bin mir sicher, dass Asha zum letzten Mal in diesem Raum gewesen ist. Es hat mich ohnehin gewundert, dass sie mich begleiten durfte. Ebenso wie Iris.

»Beantwortet das nicht jede Frage?«, brüllt Asha aufgebracht zurück. »Die Klassifizierungen sind nichts weiter als Demütigungen der Legion.«

»Wachen!«, brüllen die vier obersten Führer der Zentrallegion gleichzeitig in das Mikrofon und sofort stürmen von allen Seiten blaue Kämpfer auf uns zu. Besorgt strecke ich meine Hand nach Asha aus. Ich bin ihr für ihre Unterstützung dankbar, aber wir haben es zu weit getrieben. Ich wollte den anderen die Augen öffnen, stattdessen habe ich alle gegen mich aufgehetzt. Dazu habe ich Asha animiert, ihre Meinung zu äußern, und völlig außer Acht gelassen, dass eine falsche Ansicht in der Legion das Leben kosten kann.

»Beruhigt euch!«, ertönt es plötzlich laut aus einer unerwarteten Ecke. Einer der jungen Legionsführer der sechsten Generation hat sich von seinem Platz erhoben. »Seht ihr denn nicht, dass es genau das ist, was die Rebellen wollen? Sie entzweien uns!«

Alle starren zu dem jungen Mann und verstummen. Es ist, als hätten seine Worte die Zeit angehalten. Die Wachen blicken fragend zu den Mitgliedern der Führungsebene.

»Ich bitte euch, hört einander zu, ohne den anderen direkt für seine Meinung zu verurteilen«, spricht der Junge eindringlich weiter.

W300 ringt um Fassung, aber nimmt dann seinen Befehl an die Kämpfer zurück. »Tretet beiseite!«

Er sieht aus wie alle anderen. Der kahle Kopf. Die lichtblauen Augen. Trotzdem sticht er aus der Menge hervor. Er ist mutig.

»Ich bin jung und habe kaum Erfahrung, aber vielleicht hilft gerade meine Unwissenheit, nicht das Wesentliche aus den Augen zu verlieren«, redet der Anführer weiter. »Die Legion hat sich gebildet, um in Einheit und Gleichheit zu leben. Unser höchstes Ziel ist es, jeden Krieg zu verhindern. Doch genau das Gegenteil passiert gerade.«

Seine Worte sind ein Tadel und treffen wie eine Pfeilspitze direkt in mein Herz. Ich erkenne mich in ihm wieder. Genau so habe ich auch einmal gesprochen. Ich habe daran geglaubt, Frieden mit Worten und ohne Waffen schaffen zu können.

»WA518 tut uns unrecht, wenn sie uns als Mörder abstempelt.« Sein anklagender Blick trifft mich. Dieser Satz reicht, um sich die Zustimmung der Legionsführer zu sichern. »Aber sie ist eine Legionsführerin, die ihre Verpflichtung ernster nimmt als manch ein anderer von uns.« Etwas Sanftes, Verständnisvolles tritt in seine Augen. Er fixiert mich und spricht nun nur noch zu mir, als wären die anderen gar nicht da. »Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Bewohner der Sicherheitszone zu schützen und vor jedem Leid zu bewahren.« Er wendet sich nun auch wieder an die anderen und lässt seinen Blick über die Menge schweifen. »Das ist es, was wir alle tun sollten. Es muss für WA518 ein schwerer Schlag gewesen sein, genau die Menschen, die sie geschworen hat, zu schützen, ihrem sicheren Tod überlassen zu müssen.«

Es ist mehr als beeindruckend, wie er es schafft, in den Legionsführern, die mich gerade noch am liebsten in Stücke gerissen hätten, Mitleid für mich hervorzurufen. Doch ihre Reaktion ist eindeutig: Sie nicken zustimmend und schenken mir beinahe entschuldigende Blicke.

»Die Menschen der südlichen und östlichen Legion zurückzulassen, würde gegen jeden einzelnen unserer Grundsätze verstoßen«, fährt der Junge entschieden fort.

S300 wendet sich ihm sachlich zu. »Was schlägst du stattdessen vor?«

»Auch wenn es eng werden wird, gibt es für uns keine andere Lösung, als auch die Bewohner der Sicherheitszonen bei uns aufzunehmen. Wir sind eine Einheit und niemand ist mehr wert als ein anderer, egal ob Legionsführer oder D-ler.«

Bei den letzten Worten blickt er Asha mit Anerkennung entgegen. Sie erwidert seinen Blick mit derselben Achtung. Obwohl ich den Jungen nicht kenne, hat er allein durch diese Geste mein Vertrauen gewonnen.

Jedoch ist den Mitgliedern der Führungsebene deutlich anzusehen, dass sie von seinem Vorschlag weniger begeistert sind. »Die Legion hat ihre Entscheidungen schon immer demokratisch getroffen und so sollten wir auch hier verfahren. Wer ist für den Vorschlag von W600?«, richtet W300 sein Wort an alle Anwesenden.

Der Junge wurde in derselben Legion wie ich geboren, nur fünf Jahre später. Ich fühle mich dadurch mit ihm verbunden. Nach seiner bewegenden Ansprache hätten sämtliche Anführer überzeugt sein sollen, doch tatsächlich sind es nur wenig mehr als die Hälfte, die ihre Hand für seinen Vorschlag heben. Es ist enttäuschend, aber dennoch reicht es, um das Leben von rund eintausendsechshundert Menschen zu retten.

Nach der Konferenz teilt uns W300 unsere neuen Aufgabengebiete zu. Dabei ist er alles andere als freundlich, womit ich bereits gerechnet habe. Auch, dass er mich und Asha der Müllbeseitigung zuteilt, überrascht mich nur wenig. Iris hingegen muss, wie alle anderen Heranwachsenden, den Bildungsunterricht besuchen. A350 erhält ihr Einsatzgebiet in der Paarungskontrolle, was ich als überaus passend empfinde, nachdem sie selbst das Vorbild einer Legionsmutter abgibt.


08. Finn

Noch vor Sonnenaufgang rüttelt Ruby unnachgiebig an Finns Schulter. »Wir brechen auf!«, zischt sie ihm zu.

Finn würde am liebsten laut aufstöhnen, aber er schluckt jeden Fluch hinunter und rappelt sich auf. Er hat den Gedanken verdrängt, dass er Ruby mehr oder weniger zugestimmt hat, sie zu begleiten. Doch zu seiner Überraschung ist er nicht der Einzige, denn Ruby nähert sich bereits gemeinsam mit Pep dem Lagerausgang. Schnell folgt Finn ihnen.

Sie sprechen kein Wort, während sie die Hügel der Höhlen immer weiter hinter sich zurücklassen. Vor ihnen liegt die schier endlose Ebene mit ihrem roten Sand, der über Nacht erkaltet ist. Der Himmel leuchtet violett, sodass sie zumindest etwas sehen können. Ruby muss diesen Zeitpunkt perfekt abgepasst haben. Hat sie überhaupt geschlafen?

Erst als die Hügel nicht mehr als ein paar winzige Erhebungen in der Ebene hinter ihnen sind, wagt Finn zu sprechen.

»Womit hat sie dich bestochen?«, wendet er sich scherzhaft an Pep.

»Musste sie nicht. Ich bin freiwillig hier«, entgegnet dieser kühl. Seitdem sein Zwillingsbruder Jep gestorben ist, ist er nicht mehr derselbe. Die beiden Brüder waren unzertrennlich und hatten nur Unsinn im Kopf. Meistens sah man sie in irgendeiner Ecke zusammensitzen und den nächsten Streich aushecken. Sie brachten das Lachen zu den Rebellen, als sie gemeinsam mit ihrer älteren Schwester Florance zu ihnen stießen. Doch die Freude scheint mit Jeps Tod aus Peps Leben verschwunden zu sein. Genauso wie die Musik. Denn Jep und Pep waren nicht nur für ihre Scherze bekannt, sondern auch für ihre Lieder. Meistens spielte Pep die Gitarre und Jep übernahm den Gesangspart. Aber das Instrument ist seit Monaten verstummt.

»Mir ist ehrlich gesagt nicht ganz klar, was du zu finden hoffst«, richtet Finn das Wort an Ruby. »Du warst erst gestern hier, ohne mit irgendetwas Brauchbarem zurückzukommen.«

»Es geht weniger um das Was, als mehr um das Wen

Finn runzelt die Stirn. »Hast du etwas gesehen?« Er verkneift es sich, direkt nach den Wesen zu fragen. Es hört sich zu verrückt an, um wahr zu sein.

Ruby zögert mit ihrer Antwort, als hätte sie Angst, sich lächerlich zu machen. »Nein, habe ich nicht«, gibt sie zu. »Aber es lag ein seltsamer Geruch in der Luft und irgendjemand muss schließlich für das Verschwinden von James und Devon verantwortlich sein.«

»Was für ein Geruch?«, wundert sich Finn. Er hält sie keineswegs für verrückt, sondern ist neugierig. Vielleicht gibt es für ihre Empfindung eine logische Erklärung.

»Faulig mit einer süßlichen Note«, sagt Ruby. »Verwesungsgestank.«

Finn runzelt die Stirn. »Könnte das nicht eher an den Leichen liegen?«

»Die sind alle verbrannt«, widerspricht Ruby. »Es hat natürlich auch nach Rauch gerochen, aber da war zusätzlich noch diese feine Note. Sie hat sich wie ein roter Faden durch das gesamte Gebiet gezogen. Wenn es noch so etwas wie Spürhunde geben würde, hätten wir ihr sicher folgen können.«

Ihre Worte lösen bei Finn eine Gänsehaut aus. Ist es wirklich möglich, dass dort draußen all die Jahre noch jemand war? Andere Überlebende? Aber wovon haben sie sich ernährt? Vielleicht haben sie einen Weg gefunden, der den Rebellen nicht bekannt ist. Sie könnten ihnen helfen. Vorausgesetzt, dass es sie wirklich gibt.

Ruby schaut über ihre Schulter zurück, bevor sie abrupt stehen bleibt, aufstöhnt und genervt mit den Augen rollt.

Finn folgt ihrem Blick und dreht sich ebenfalls um. »Das darf doch nicht wahr sein!«, entfährt es ihm, als er Zoe und Clyde entdeckt, die ihnen in einigem Abstand folgen. Dies sollte eine geheime Mission sein, die kein großes Aufsehen erregen sollte.

»Was machst du hier?«, fährt er seine Schwester an, kaum, dass sie vor ihm steht.

»Das könnte ich dich genauso gut fragen«, schießt Zoe zurück und verschränkt bockig die Arme vor der Brust.

»Wir sind auf dem Weg zur Legion«, beantwortet Pep ihr die Frage.

»Was wollt ihr da? Reicht es nicht, dass James und Devon verschwunden sind? Ihr habt ja nicht einmal jemandem Bescheid gesagt«, schimpft sie aufgebracht.

»Das ist ja der Sinn der Sache, wenn man sich davonschleicht«, kontert Ruby.

»Und wofür das Ganze?«, faucht Zoe.

Finn ist sich ziemlich sicher, dass sie ihnen keinen Vorwurf machen würde, wenn sie gefragt hätten, ob Zoe sie begleiten will. Gewiss ist sie nur beleidigt darüber, nicht gefragt worden zu sein.

Ruby lässt ihren Blick von Zoe zu ihrem Begleiter wandern. Obwohl sie jahrelang selbst in der Legion gelebt hat, liegt Verachtung darin. »Es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber ich rechne nicht damit, dass wir James und Devon lebend wiedersehen werden. Es gibt meiner Ansicht nach genau zwei Möglichkeiten, was mit ihnen passiert sein könnte. Entweder wurden sie von Fremden entführt oder die Sizos haben sie sich geschnappt.«

»Ich tendiere eher zu Nummer zwei«, fügt Pep finster hinzu. »Verstehst du jetzt, warum wir nichts gesagt haben?«, wendet er sich an Zoe, dabei ignoriert er wissentlich Clyde.

So ruhig Clyde normalerweise auch ist, kann er sich nun nicht länger zurückhalten. »Aber die Kämpfer der Legion machen sich doch heute auch auf die Suche. Es interessiert sie genauso sehr wie euch, zu erfahren, was mit den beiden geschehen ist.«

»Und was machst du dann hier?«, knurrt Pep.

»Er gehört jetzt zu den Rebellen«, antwortet Zoe für ihn. Sie greift nach Clydes Hand. »Und zu mir.«

Für einen Moment tauschen die beiden einen vertrauten Blick miteinander. Ein Lächeln liegt auf ihren Lippen. Für Finn ist es ein bittersüßer Anblick. Er freut sich für seine Schwester, dass sie jemanden hat, der ihr in diesen schweren Zeiten Hoffnung schenkt. Gleichzeitig muss er immer an Cleo denken, wenn er Clyde sieht. Die beiden haben viel gemeinsam. Beide stammen aus der Legion und beide begegnen der Welt aufgrund ihrer Unerfahrenheit mit einem offenen Herzen. Sie wissen nichts von Intrigen, Missgunst und Hass. Die Legion hat sie ihr Leben lang belogen und dennoch zum Frieden erzogen. Es liegt ihnen mehr im Blut, Kämpfe zu meiden als auszuführen.

»Kommt ihr jetzt mit oder wollt ihr hier Wurzeln schlagen?«, faucht Ruby, die kein Fan von langen Diskussionen ist. Um ihre Aussage zu untermauern, geht sie los, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie ist sicher, dass die anderen ihr schon folgen werden.

Obwohl es nun schon zwei Tage her ist und die Nächte so kalt sind, dass sich morgens eine Tauschicht bildet, steigen aus dem zerstörten Legionsgebäude nach wie vor Rauchfahnen in den Himmel empor und der beißende Geruch von Qualm liegt in der Luft. Er ist so konzentriert, dass Finn das Gefühl hat, sich beim Einatmen die Luftröhre zu verätzen.

Zoe beginnt zu husten, wobei ihre Augen tränen. »Der Gestank ist ja schrecklich.«

»Wenn es zu viel für dein verwöhntes Näschen ist, kannst du jederzeit gehen«, schnauzt Ruby sie an.

Zoe starrt sie ungläubig an, bevor ihre Nasenflügel leicht zu beben beginnen. Finn kennt seine Schwester gut genug, um zu wissen, was jetzt folgen wird: ein unerbittlicher Kampf, der nur dann enden wird, wenn sie das letzte Wort behält.

»Was wirfst du mir eigentlich vor?«, fährt sie Ruby verständnislos an. »Gibst du mir die Schuld daran, dass ich von der Legion entführt wurde?«

»Es gab klare Anweisungen, an die du dich nicht gehalten hast«, entgegnet Ruby kalt.

Zoe schnappt empört nach Luft. »Es wäre deine Aufgabe gewesen, uns rechtzeitig vor dem Angriff zu warnen! Wenn überhaupt jemand Schuld hat, dann du! Wenn du deine Arbeit richtig gemacht hättest, wären sowohl Jep als auch Marie jetzt noch am Leben.«

Ruby starrt sie fassungslos an, bevor sie verletzt zurückschreit: »Du hast doch keine Ahnung, was es bedeutet, sich jeden Tag über Jahre verstellen zu müssen. Dir ist es ja nicht einmal gelungen, wenige Wochen die Füße still zu halten.«

»Du hast mich in meiner Zelle verrotten lassen!«, kreischt Zoe. Sie hat mit Finn bisher nicht darüber gesprochen, wie ihre Zeit in der Legion war. »Wenn Cleo und Clyde nicht gewesen wären, hättest du mich vermutlich auch in den Flammen sterben lassen.«

»Gehen deine verdammten Schwangerschaftshormone mit dir durch?«

Zoe ist sprachlos. Sie starrt Ruby an, als hätte diese ihr eine Ohrfeige verpasst. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. »Du bist ein gefühlskaltes Miststück!«, faucht sie.

Bevor sich die beiden noch gegenseitig an die Kehle gehen, tritt Finn zwischen sie. »Hört auf!« Er kann beide Seiten verstehen. Natürlich ist es nicht Zoes Schuld, dass sie eine Gefangene der Legion war. Genauso sicher ist er sich aber auch, dass Ruby ihr Bestes gegeben hat, um ihr zu helfen.

Die Emotionen kochen hoch. Sie sind alle müde, hungrig und verzweifelt. Die beiden Frauen starren sich feindselig an, weitere Vorwürfe und Beschimpfungen liegen ihnen auf der Zunge und warten nur darauf, zum Einsatz zu kommen.

»Pep ist weg«, stellt Clyde auf einmal fest.

Der Streit ist augenblicklich vergessen und sie blicken sich stattdessen suchend nach ihrem Freund um.

»Seit wann?«, will Ruby wissen, als wäre es Clydes Aufgabe gewesen, auf ihn aufzupassen.

»Er wollte sich euren Streit nicht länger mit anhören und ist deshalb ein Stück abseits gegangen«, berichtet Clyde. »Als ich mich das nächste Mal nach ihm umgedreht habe, war er verschwunden.«

»Wir müssen ihn sofort suchen«, erwidert Zoe besorgt. »In welche Richtung ist er gegangen?«

»Hier lang«, sagt Clyde und läuft los. Die anderen folgen ihm. Nach wenigen Metern geht er in die Hocke und tastet den Boden ab. Die Erde scheint zu dampfen, doch in diesem Fall kommt ihnen das Feuer zugute. Denn es hat sich eine dicke Ascheschicht über das Wrack der Legion gelegt, in der Clyde nun Peps Fußspuren erkennen kann. Sie gehen ihr nach. Es scheint, als hätte Pep sich mehrfach im Kreis gedreht, bis plötzlich die Spur endet. Mitten im Nirgendwo.

»Wie ist das möglich?«, wendet sich Ruby an Clyde. Immerhin haben sie beide die gleiche Kampfausbildung in der Legion genossen. Dazu gehört auch das Spurenlesen.

»Ihm werden wohl kaum Flügel gewachsen sein, mit denen er weggeflogen ist«, mault Zoe sarkastisch. Sie nimmt Ruby ihr Wortgefecht auch jetzt noch übel.

Finn blickt nachdenklich in den Himmel. »Flügel sind ihm sicher nicht gewachsen, aber vielleicht ist er dennoch geflogen. Wäre es möglich, dass ein Flugzeug gelandet ist, ohne dass wir es bemerkt haben?«

Clyde entfährt ein belustigtes Schnauben. »Ich will es nicht ausschließen. Es war ziemlich laut.« Er blickt vielsagend zwischen Zoe und Ruby hin und her, bevor er wieder zu Finn schaut, der sich nun ebenfalls ein Grinsen nicht verkneifen kann. »Aber ich habe zumindest keins gesehen«, fügt Clyde unter den erbosten Mienen der beiden Frauen hinzu.

»Was ist mit einem Wüstendrift?«, überlegt Finn. »Diese schweben immerhin auch über dem Boden, ohne Spuren zu hinterlassen.« Er geht einen großen Kreis um den letzten Stiefelabdruck von Pep, entfernt sich dabei immer weiter von den drei anderen, die auf der Stelle stehen bleiben, um keine Spuren zu verwischen.

Plötzlich hält er inne und geht zu Boden. Er fährt mit der Hand über den staubigen Boden. Als er seine Finger wieder anhebt, klebt dunkelrote Farbe an ihnen. Er nimmt eine metallische Note war.

»Hier ist Blut. Es ist nicht viel, aber frisch«, informiert er die anderen und bemüht sich, seine Stimme wertungsneutral klingen zu lassen. Blut hat noch nichts zu bedeuten.

»Er könnte sich verletzt haben«, vermutet Zoe, auch sie wagt nicht, eine andere Möglichkeit in Betracht zu ziehen.

»Das erklärt dennoch nicht, warum seine Spur plötzlich endet«, wirft Ruby ein und tritt vorsichtig zu Finn, um sich selbst ein Bild machen zu können. »Es sieht fast wie eine Fußspur aus, als wäre jemand barfuß oder auf Socken gegangen.«

»Aber Pep hat Stiefel getragen«, erinnert sich Clyde.

»Vielleicht ist der Abdruck nicht von ihm«, schlussfolgert Ruby.

Auch wenn sie es nicht sagen, weiß Finn genau, was sie damit meint. Die Fremden. Die Wesen.

»Pep wäre nicht einfach mit irgendjemandem mitgegangen, ohne uns Bescheid zu geben«, meint Zoe.

»Wer sagt, dass es freiwillig war?«, entgegnet Ruby mit hochgezogenen Augenbrauen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739393209
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (September)
Schlagworte
Rebellion Dystopie Liebe Apokalypse Rebellen Romantasy Wissenschaft Science Fiction Romance Fantasy

Autor

  • Maya Shepherd (Autor:in)

Maya Shepherd wurde 1988 in Stuttgart geboren. Zusammen mit Mann, Tochter und Hund lebt sie mittlerweile im Rheinland und träumt von einem eigenen Schreibzimmer mit Wänden voller Bücher. Seit 2014 lebt sie ihren ganz persönlichen Traum und widmet sich hauptberuflich dem Erfinden von fremden Welten und Charakteren.
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Titel: Die Verlorenen