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Die Vergessenen Sieben

von Maya Shepherd (Autor:in)
153 Seiten
Reihe: Die Grimm-Chroniken, Band 13

Zusammenfassung

Wenn der Teufel die letzte Hoffnung darstellt, kann das Gute dann überhaupt existieren? Der vermeintliche Weg zur Rettung Engellands beruht auf einem Zauber, der ein Herz unter sieben Personen aufzuteilen vermag. Die Vergessenen Sieben, an die sich Jahrhunderte später niemand mehr erinnern wird, nehmen ihren Platz in der Geschichte ein. Sie sind es, die über den Lauf des Schicksals entscheiden werden. Sie werden die Welt retten oder deren Untergang sein. Es ist alles eine Frage der Perspektive, denn das Böse ist Ansichtssache.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Was zuvor geschah

1804

Nachdem Mary von Dorian erfahren hat, dass er Margerys Zwillingsschwester im Auftrag der Erdenmutter an Vlad Dracul ausliefern musste, um das Leben beider Kinder zu retten, ist sie völlig schockiert und von ihrer Trauer überwältigt. Sie hält es nicht länger in seiner Nähe aus und flieht aus dem Schloss.

Es ist die Nacht eines Blutmondes und ein Unwetter zieht herauf, während Mary immer tiefer in den Finsterwald läuft. Durch Zufall stößt sie auf ein leeres Grab und vermutet, dass sich darin der Glassarg mit dem schwarzen Spiegel befunden haben muss, der nun nicht mehr dort ist. Sie sorgt sich um Margery, die sie im Schloss zurückgelassen hat, da die unbekannte Frau im Spiegel immer versucht hat, sie gegen ihre Tochter aufzubringen.

Sie kehrt zurück und sieht bereits aus der Ferne im Nordturm ein Licht brennen. Dort sind die Spiegel verschlossen und niemand sollte diesen Raum betreten. Sie ahnt Schlimmes und eilt die Treppen empor. Oben angekommen, findet sie Margery in einem Spiegelkreis bewusstlos vor.

Sie sind dort allerdings nicht allein, sondern ein siebenjähriges Mädchen ist ebenfalls anwesend. Mary identifiziert sie auf den ersten Blick als ihre tot geglaubte Tochter Rosalie. Diese behauptet, dass Vlad Dracul sie nach Engelland geschickt hat, damit sie ihre Eltern kennenlernen kann. Als Mary ihr offenbart, dass sie ihre Mutter ist, versetzt Rosalie ihr einen Stoß und sie stürzt gegen den schwarzen Spiegel. Das Glas zerbricht und ehe sie sich versieht, findet sie sich in seinem Inneren wieder.

Ihr Körper ist jedoch in dem Turmzimmer zurückgeblieben und jemand anderes hat die Kontrolle über ihn erlangt. Jemand, der zuvor im Spiegel gefangen war und nun mit ihr die Rollen getauscht hat. Die Fremde gibt sich als ihre leibliche Mutter zu erkennen, welche gleichzeitig die namenlose Hexe ist, die sie verflucht hat.

Der Spiegelfluch diente jedoch von jeher dazu, Marys Interesse für Spiegel zu wecken und sie irgendwann dazu zu verleiten, gegen jede Vernunft in einen zu blicken, denn nur eine Blutsverwandte kann den Platz ihrer Mutter in dem Spiegel einnehmen. Ihr Name ist Elisabeth Báthory.

Sie erzählt Mary, dass sie Angst und Schrecken über Engelland und ihre Familie bringen wird. Sie plant, Margery an deren sechzehntem Geburtstag zu töten, um selbst in Marys Körper weiterleben zu können. Mary kann nichts dagegen tun, da sie in dem Spiegel gefangen ist und jeder glauben wird, dass sie sich zum Bösen verändert hat.

1812

Simonja und Arian

Der einunddreißigste Oktober ist nicht nur der Geburtstag von Margery und Rosalie, sondern auch von Simonja. Sie hat ihrer Freundin Gretel ihre Hilfe zugesagt, um die Prinzessin vor der Königin zu retten. Doch als sie am Morgen das Haus verlassen will, stellt ihre Mutter sich ihr in den Weg und verlangt von ihr, zuerst die Nuss des Baums des Lebens zu öffnen.

Simonjas schlimmste Befürchtung bewahrheitet sich und sie findet darin Margerys Namen vor. Sie will die Prinzessin nicht töten, da sie glaubt, dadurch ihre Freunde zu verraten. Ihre Mutter erinnert sie daran, dass es furchtbare Folgen haben wird, wenn sie sich gegen das Schicksal stellt. Simonja gibt widerwillig nach und macht sich auf den Weg zum Schloss, um dort ihre Bestimmung zu erfüllen.

Unterwegs trifft sie auf Arian, der sich ebenfalls nicht an seine Vereinbarung mit Gretel gehalten hat. Das Wolfsrudel, welches durch einen Zauber verpflichtet ist, die Königin zu schützen, verlangt seine Anwesenheit im Schloss. Er kann sich auch in seiner menschlichen Gestalt nicht gegen sie stellen, da seine mentale Bindung an das Rudel stärker ist als sein eigener Wille.

Margery

Margery erwacht aus einem mehrere Tage überdauernden Schlaf im Schloss. Es ist ihr Geburtstag. Wenn es nach ihrer Mutter geht, ist dieser gleichbedeutend mit ihrem Todestag. Ein großes Fest wird vorbereitet, auf dem sie ermordet werden soll.

Überraschend erhält sie Besuch von ihrem Großvater Vlad Dracul, der in Begleitung eines betäubten Wachmannes zu ihr kommt. Vlad offenbart ihr, dass ihre Zwillingsschwester nicht bei der Geburt gestorben ist, wie ihre Mutter sie immer hat glauben lassen. Ihre Schwester Rosalie wuchs bei Dracula auf und ist von klein auf darauf vorbereitet worden, Margery eines Tages zu töten.

Die Königin hingegen plant, beide Töchter an diesem Tag umzubringen, da sie nur so überleben kann.

Margery will von Vlad Dracul wissen, ob er Rosalie vor der Königin beschützen wird, da behauptet dieser, dass er nur eine von ihnen retten wird und dies auch Margery sein könnte, wenn sie sich ihm als würdig erweist. Er weiß, dass sie durch den tiefen Schlaf über eine Woche lang keinen Tropfen Blut zu sich genommen hat und dementsprechend ausgehungert ist. Sie soll von dem Wachmann trinken, um ihren Durst zu stillen.

Auch wenn die Prinzessin sich erst dagegen wehrt, gibt sie schließlich ihrem Trieb nach und stürzt sich auf den hilflosen Mann. Sie verliert die Kontrolle und trinkt so lange von ihm, bis er stirbt.

Sie hofft nun, dass Vlad Dracul ihr helfen wird, doch dieser lässt sie allein zurück.

Ember, Philipp, Maggy, Eva und Jacob

Am Morgen von Schneewittchens Geburtstag schleicht Ember sich aus dem Schloss, um sich mit Maggy, Jacob, dem Tod und einem Wolf zu treffen. Ihr ist es gelungen, Uniformen der Jäger zu stehlen, mit denen sie sich tarnen wollen. Gemeinsam haben sie vor, Margery aus dem Turm zu befreien, in dem sie gefangen gehalten wird.

Um schneller voranzukommen, beschließt Ember, auf einem Pferd zu reiten, und betritt den königlichen Stall. Dort trifft sie auf Prinz Philipp, der sich auch aufmachen wollte, um Margery zu retten. Als er von Embers Plan erfährt, schlägt er ihr vor, ein Ablenkungsmanöver zu starten, um ihr und den anderen Zeit zu verschaffen. Das Aschemädchen willigt ein und entfacht ein Feuer in der Scheune. Sie flieht, während der Prinz zurückbleibt und die Pferde freilässt, die in den angrenzenden Wald laufen. Ohne Tiere, auf denen sie reiten können, wird es der Armee der Königin schwerer fallen, die Verfolgung aufzunehmen.

Ember erreicht den vereinbarten Treffpunkt, trifft dort allerdings nur Jacob und Maggy sowie deren Frosch an. Vom Wolf und dem Tod fehlt jede Spur. Da sie nicht länger auf die beiden warten können, beschließen sie, sich allein zum Turm aufzumachen. Diesen finden sie entgegen ihrer Erwartung unbewacht vor.

Sie knacken das Türschloss und steigen die Treppen empor. An der Spitze angekommen, treffen sie auf Eva, die ihnen verrät, dass Margery bereits am Vortag von den Wachen abgeholt und ins Schloss gebracht wurde.

Den Freunden bleibt nichts anderes übrig, als in den Uniformen der Jäger ebenfalls zu dem abendlichen Fest zu gehen. Eva schließt sich ihnen an, während Jacob sich von der Gruppe trennt, da er sich nicht in die Nähe der Königin begeben kann, ohne dass diese seine Anwesenheit spüren würde. Er verspricht, zu einem späteren Zeitpunkt wieder zu ihnen zu stoßen.

Ember, Eva, Maggy und Hänsel, in der Gestalt des Frosches, treffen im Schloss ein. In den Uniformen der seelenlosen Jäger schleichen sie sich auf das Fest. Dabei wird ihnen bewusst, dass sämtliche anwesende Menschen nur aus Angst vor der Königin erschienen sind. Unter den Gästen befinden sich Vampire, während sich Wölfe und Jäger in der näheren Umgebung aufhalten, bereit, jederzeit anzugreifen. Sie sind von Feinden umzingelt und haben keine Chance, zu entkommen.

Eva sieht im Festsaal zum ersten Mal Rumpelstein und erkennt ihn als ihren Vater wieder. Sie ist schockiert darüber, was aus ihm geworden ist. Ihr bleibt jedoch keine Zeit, ihn anzusprechen, da das Fest voranschreitet.

Die Königin betritt den Saal und verkündet ihren Untertanen, dass sie eine Blutsteuer einführen wird, um ein friedliches Zusammenleben zwischen Menschen und Vampiren zu ermöglichen.

Kurz danach wird Margery von Prinz Philipp in den Saal geführt. Ihre Mutter lässt ihr eine Geburtstagstorte servieren, die aus goldenen Äpfeln gefertigt ist. Die Prinzessin soll davon essen, um sich einen schmerzhaften Tod zu ersparen. Durch das Kuchenstück wird sie in einen tiefen Schlaf fallen, sodass sie nicht merken wird, wie ihr Leber, Niere und Herz aus dem Körper geschnitten werden.

Anstatt der Bitte ihrer Mutter zu folgen, schleudert Margery ihr den dargebotenen Teller ins Gesicht. Philipp eilt ihr zur Seite, bereit, sie mit seinem Schwert zu verteidigen. Vlad Dracul nimmt den Kampf mit ihm auf, woraufhin Ember ihre Tarnung als Jäger fallen lässt, um den Prinzen mit ihrer Feuermagie zu unterstützen.

Es bricht Chaos aus, als auch noch die anwesenden Menschen beginnen, gegen die Vampire zu rebellieren. Die Königin befiehlt Wilhelm, den sie durch sein Medaillon weiterhin kontrolliert, ihr das Herz der Prinzessin zu bringen.

Maggy versteht, dass Will sich nicht gegen ihren Befehl wehren kann, und stellt sich ihm entgegen, um zu verhindern, dass er etwas tut, das er sich niemals verzeihen könnte. Es gelingt ihr mithilfe des Frosches, ihm seinen Dolch zu entwenden. Will kann sich nicht mehr an ihr gemeinsames Leben in der Zukunft erinnern und richtet seine Armbrust auf sie, bereit, sie zu töten.

Gerade noch rechtzeitig schlägt Simonja ihn mit dem Stab ihrer Sense bewusstlos, bevor sie den Kampf mit den Wölfen aufnimmt, die Margery und Eva eingekreist haben.

Die Königin setzt ihre Blutmagie ein und lässt Dornen aus dem Boden wachsen, die sich um die Träumerin schlingen. Sie droht ihrer Tochter, Eva zu töten, wenn Margery sich nicht selbst das Leben nimmt.

Maggy will den beiden helfen und sich auf die Königin stürzen, um ihr Wills Medaillon zu entwenden. Daran wird sie jedoch von Jacob gehindert, der sich ihr in den Weg stellt. Er erinnert sie daran, dass für ihr aller Überleben entscheidend ist, dass Margery in Sicherheit ist. Daraufhin beschwört er mit seiner magischen Pfeife einen grünen Nebel herauf, der allen die Sicht raubt. Nur Maggy ist durch ihre Magiebegabung in der Lage, sich darin mit geschlossenen Augen zurechtzufinden. Sie führt Margery, Eva, Ember und Philipp aus dem Saal, um mit ihnen durch einen Geheimgang in den Finsterwald zu fliehen.

Dabei stellt sich ihnen Arian in seiner Wolfsgestalt in den Weg. Simonja schafft es, ihn davon abzuhalten, sich auf die Gruppe zu stürzen, und verlangt von ihm, sich in einen Menschen zu verwandeln, da sie ihn sonst töten wird. Sie schafft es, zu ihm durchzudringen, und zu siebt treten sie die Flucht an.

Kurze Zeit später eröffnen die Anhänger der Königin die Jagd auf sie. Um ihnen die Verfolgung zu erschweren, bittet Arian den Mond, vom Himmel herabzusteigen. Der Mond entpuppt sich als Mädchen, dessen Name Lavena lautet. Sie verbirgt ihr Licht unter einem Umhang, sodass es nur noch den Weg der Freunde erhellt, während ihre Feinde im Dunkeln tappen.

2012

Am Abend gehen Ember, Joe und Julia zusammen auf das Konzert von Phil Harmonic. Als Julia ihnen Getränke spendiert, wagen Joe und Ember nicht, davon zu trinken, aus Angst, dass sie ihnen etwas in die Gläser gemischt hat. Julia reagiert darauf wütend und verletzt. Sie versucht, ihnen deutlich zu machen, wie abwegig diese Unterstellung ist. Dadurch bringt sie Joe dazu, doch aus dem Glas zu trinken.

Kurze Zeit später wirkt er tatsächlich wie berauscht, sodass Ember auf sich allein gestellt ist. In dem vollen Club bemerkt der DJ, der einst Prinz Philipp war, sie nicht. Kurz vor dem Ende seines Auftritts gerät Ember in Verzweiflung und verliert die Kontrolle über ihre Phönixmagie. Eine Stichflamme schießt aus ihrer Hand empor und löst den Feueralarm aus. Es bricht Panik aus, als die Sprinkleranlage anspringt und alle Besucher aufgefordert werden, die Diskothek zu verlassen.

Im Chaos erhascht Ember einen Blick auf Phil, der durch das Feuer auf sie aufmerksam geworden ist. Sobald sie einander ansehen, drängen sich ihnen die Erinnerungen an Engelland ins Gedächtnis, begleitet von einem stechenden Schmerz in ihren Herzen. Beide gehören zu den Vergessenen Sieben und tragen somit ein Stück von Margerys Herz in sich, das wieder vereint werden will.

Philipp, der bis zu Embers Auftauchen nichts mehr von seiner Vergangenheit wusste, erkennt das Aschemädchen wieder und gemeinsam gehen sie in den Backstage-Bereich des Clubs. Bei der Evakuierung haben sie allerdings Joe und Julia aus den Augen verloren und können diese auch nicht mit der Hilfe des Sicherheitspersonals wiederfinden. Deshalb beschließen sie, mit der Limousine zu Julias Hotel zu fahren, um dort nach den beiden zu suchen.

Während der Fahrt sind Ember und Philipp derart in ihr Gespräch vertieft, dass sie erst spät bemerken, dass der Fahrer sie nicht nach Königswinter fährt. Als sie diesen darauf ansprechen, gibt er sich als Rumpelstein zu erkennen, der plant, sie zur bösen Königin zu bringen. Gefangen in dem Wagen, steuern sie auf die Kommende Ramersdorf zu. Dort nahm die Geschichte 1575 mit dem Einzug der Apfelprinzessin ihren Anfang.

Je näher Ember und Philipp dem Gebäude kommen, umso deutlicher können sie in ihren Herzen spüren, dass Margery sich dort ebenfalls aufhält.

Währenddessen haben Joe und Julia bereits Königswinter erreicht und befinden sich auf dem Weg zum Hotel. Dabei machen sie einen Abstecher in eine Tankstelle, um sich etwas zu trinken zu kaufen. Dort treffen sie auf drei angetrunkene Männer, die Interesse an Julia zeigen.

Joe weist sie mithilfe des Kassierers zurück. Als er und Julia jedoch später das Hotel beinahe erreicht haben, fangen die Männer sie auf der Straße ab und werden handgreiflich. Joe versucht, Julia zu beschützen, und wird dabei von einem Messer verletzt und mit einer Bierflasche niedergeschlagen. Benommen beobachtet er, wie Julia sich mühelos allein gegen die drei zur Wehr setzt. Es gelingt ihr, die Angreifer bewusstlos zu schlagen, danach will sie aber nicht die Polizei verständigen. Ihre Entscheidung erregt Joes Misstrauen, kommt ihm aber gleichzeitig gelegen, da er sicher von den Betreuern seiner Wohngruppe als vermisst gemeldet wurde.

Zusammen fliehen sie ins Hotelzimmer, wo Julia seine Wunden verarztet und ihm eine Schlaftablette für die Nacht gibt. Kurz bevor er wegdämmert, kommt es zu einem Kuss zwischen ihnen.

Die Vergessenen Sieben

Engelland, Finsterwald, Oktober 1812

Das Licht der Sterne reichte nicht aus, um den Finsterwald zu erhellen. Es war der dunkelste und gefährlichste Ort ganz Engellands, abgesehen von dem Blutkeller der Königin. Menschen verschwanden gleichermaßen dort wie zwischen den Bäumen. Manch einer war schon im Dickicht verloren gegangen und nie zu seinen Lieben zurückgekehrt.

Der silbrige Glanz des Mondmädchens drang unter dem dunklen Umhang hervor, der seinen Körper verhüllte. Er strahlte heller, als jede Fackel es vermochte, und diente nur dazu, den Weg von acht Menschen und einem Frosch auf der Flucht zu erhellen, während der Rest des Waldes in Dunkelheit versank.

Arian führte sie quer durch das Unterholz. Während die anderen ihm orientierungslos hinterherstolperten, kannte er jeden Strauch und wusste genau, wo sie sich befanden. Er trieb sie zur Eile an, denn ihre Verfolger, besonders die Wölfe unter ihnen, würden bald ihre Witterung aufgenommen haben. Wenn das geschah, mussten sie bereits ihr Ziel erreicht haben.

Nach und nach wurde der laubbedeckte Boden von einem steinigen Untergrund abgelöst, der immer steiler anstieg. Auf Händen und Füßen kletterten sie einen Hügel hinauf. Vom aufziehenden Frost waren die Felsen rutschig, sodass sie nur mühsam vorankamen. Ihr Atem dampfte in der kühlen Nachtluft.

Sie erreichten eine flache Anhöhe, die aus den dichten Baumkronen aufragte. In der Ferne konnte Maggy das flackernde Licht von Fackeln erkennen, die sich in ihre Richtung bewegten. Es schien aussichtslos, dass sie sich eine ganze Nacht verstecken könnten, aber das mussten sie vielleicht auch gar nicht.

»Wartet hier«, wies Arian sie und die anderen an. »Ich muss erst nachsehen, ob die Luft rein ist.«

Ohne auf eine Antwort von ihnen zu warten, lief er auf die Büsche zu, die an die Anhöhe grenzten, und verschwand dahinter. Simonja folgte ihm mit erhobener Sense.

»Es gibt hier eine Höhle, in der ein Wolfsrudel lebt«, erklärte Lavena, als sie die ratlosen Gesichter der anderen bemerkte.

Maggy erschauderte und schlang die Arme um den Oberkörper. Sie lauschte auf verräterische Geräusche, die auf einen Kampf hindeuteten. Doch nach wenigen Sekunden erklang lediglich ein Rascheln und Simonja tauchte hinter dem Strauch wieder auf.

»Kommt«, forderte sie die anderen auf.

Die Wölfe waren nicht in ihrem Unterschlupf, vermutlich waren sie auf der Jagd – auf der Jagd nach ihnen.

Schnell verließen sie das Plateau und traten in die dunkle Höhle ein. Sie tasteten sich durch gewundene Gänge tiefer in das Gestein vor. Ihre Schritte hallten von den Wänden wider und vermischten sich mit dem furchtsamen Pochen ihrer Herzen. Erst als sie den Eingang nicht mehr einsehen konnten, streifte das Mondmädchen sich seine Kapuze vom Kopf und erhellte das Innere mit seinem silbernen Schein. Jeder Winkel wurde wie bei Tag erleuchtet. Sie blickte in ängstlich geweitete Augen und blasse Gesichter. Die Körper warfen lange Schatten hinter sich, sodass es aussah, als würden sie von gewaltigen Monstern umringt.

»Hat diese Höhle einen zweiten Ausgang?«, wollte Ember von dem Gestaltwandler wissen. Ihr war anzusehen, dass sie sich umgeben von Stein unwohl fühlte.

»Nicht dass ich wüsste«, gab Arian zu. »Wir könnten versuchen, uns hier zu verbarrikadieren, indem wir Felsen vor dem Durchgang anhäufen. Wenn ich mich nicht täusche, brauchen wir nur bis Mitternacht auszuharren und dann ist der Spuk vorbei, oder?«

»Nur?«, quakte der Frosch spöttisch. Er hielt sich an einem von Maggys geflochtenen Zöpfen fest. »Wie sollen wir gegen Wölfe, Jäger und Vampire standhalten?«

Maggy legte ihre Hand um ihn und nahm ihn sich von der Schulter. »Dafür haben wir doch dich«, meinte sie schmunzelnd und drückte ihm einen Kuss auf den grünen Kopf. Sie hatte genauso große Angst wie alle anderen und versuchte, sich mit einem kleinen Scherz abzulenken.

Das Tier zappelte widerspenstig zwischen ihren Fingern und versuchte, sich zu befreien. »Du kannst mich so oft knutschen, wie du willst, deshalb verwandle ich mich trotzdem nicht in einen Prinzen, der dich rettet«, schimpfte der verfluchte Hänsel zur Belustigung der anderen.

»Der Grünling hat schon recht«, ergriff der wahre Prinz Partei für ihn. »Wenn wir in dieser Höhle bleiben, sitzen wir in der Falle und haben keine Möglichkeit zur Flucht.«

»Früher oder später werden uns die Wölfe ohnehin finden«, entgegnete Simonja. »Wir können in der kurzen Zeit nicht weit genug davonlaufen. Im Schutz der Höhle ist es sicherer, als wenn wir irgendwo durch den Wald irren.«

»Zudem wird es eine Weile dauern, bis sie uns finden«, stimmte Arian ihr zu. »Wenn wir den Durchgang blockieren, wird sie das zusätzlich aufhalten.«

»Was bringt uns das, wenn sie uns letztendlich doch bekommen?«, widersprach Ember ihnen verständnislos. »Damit können wir sie vielleicht aufhalten, aber ihnen nicht entkommen.«

»Hast du denn einen besseren Vorschlag?«, konterte Simonja herausfordernd. Die Stimmung war angespannt, da aufgrund ihrer aussichtslosen Lage bei allen die Nerven blank lagen.

Als Ember nur betreten den Kopf schüttelte, breitete sich ein erdrückendes Schweigen aus. Ihre kleine Gruppe bestand nicht aus Personen, die einander jahrelang kannten und vertrauten, sondern aus Fremden, die das Schicksal zusammengeführt hatte. Trotzdem hing von ihnen nicht nur das Überleben eines einzelnen Menschen ab, sondern das einer ganzen Welt – Engelland.

»Ich kann nicht von euch erwarten, dass ihr bei mir bleibt und eure Leben für eine ungewisse Zukunft riskiert«, sprach die Prinzessin alle an. Sie fühlte sich schuldig, weil sie so viele mit sich ins Unglück riss. »Ihr habt mir bereits geholfen, indem ihr mich aus dem Schloss gebracht habt. Das ist mehr, als ich je zu hoffen gewagt hätte. Geht und lasst mich hier zurück. Der Rest liegt nun bei mir.«

»Auf keinen Fall«, widersprach Ember ihr energisch und schlang ihre Arme um ihre Freundin. »Ich bleibe bei dir, ganz gleich, was geschieht.«

Philipp stellte sich zu den beiden Mädchen. »Dasselbe gilt für mich.« Er sah ihr nachdrücklich in die Augen. »Margery, es geht hierbei nicht nur um dich. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Königin gewinnt. Engelland ist für uns alle zu unserem Zuhause geworden und ihre Herrschaft würde unsere Heimat zerstören.«

»Das sehe ich auch so«, pflichtete Eva ihm bei. »Wenn ich helfen kann, werde ich nichts unversucht lassen.«

»Ich habe beinahe mein Leben lang dabei zusehen müssen, wie Menschen unter der Königin leiden mussten, und habe nie etwas unternommen«, erzählte Lavena schuldbewusst. »Ich könnte nicht ertragen, wenn es noch schlimmer werden würde. In solch einer Welt wäre mein Licht völlig nutzlos.«

»Seit Jahren sind die Wölfe an die Königin gebunden und dazu verdammt, sich ihrem Willen zu beugen«, meinte Arian. »Mit ihrem Tod würde das ein Ende haben und wir wären endlich wieder frei.« Er zwinkerte der Prinzessin zu. »Du siehst, ich bin nicht deinetwegen hier, sondern um meine eigene Haut zu retten.«

Tränen der Rührung standen in Margerys Augen, als sie ihm dankbar zunickte.

Simonja zuckte mit den Schultern. »Ich habe nur zwei Möglichkeiten. Entweder helfe ich dir oder ich töte dich, wie es der Baum des Lebens von mir verlangt. Wenn ich seinen Auftrag erfüllen wollte, hätte ich euch niemals bei der Flucht helfen dürfen. Ich habe meine Entscheidung getroffen und nun gibt es kein Zurück mehr.«

Während alle ihre Überzeugung für den Kampf gegen die böse Königin begründeten, spürte Maggy ein Kitzeln auf ihrer Wange.

»Da ist eine Spinne«, raunte Hänsel ihr zu. »Soll ich dich von ihr befreien?« Er schmatzte und ließ seine lange Zunge vorschnellen.

»Untersteh dich«, zischte Maggy und streckte ihren Zeigefinger nach dem winzigen Tier aus, das auf ihre Handfläche krabbelte.

Anders als viele Mädchen hatte sie sich noch nie vor Spinnen gefürchtet. So ordnungsliebend sie auch war, lag es ihr fern, die Krabbeltiere mit einem Staubsauger zu entfernen, totzuschlagen oder gar mit Haarspray zu besprühen. Sie störte sich nicht an ihnen, wenn sie an der Decke saßen. Gerade wenn es draußen kälter wurde, suchten die Winzlinge vermehrt Zuflucht in der Wohnung. Jeder brauchte doch ein warmes Plätzchen zum Überwintern, selbst Spinnen. Sie taten ihr nichts, warum sollte sie die armen Tierchen dann quälen?

Als sich der schwarze Körper über ihre Hand bewegte, erinnerte sie sich an einen Zauber, den sie vor wenigen Tagen in dem Hexenbuch von Baba Zima gelesen hatte. Schnell zog sie das dicke Werk aus ihrer Umhängetasche hervor und legte es auf einem der Felsen ab. Sie begann, hastig darin zu blättern, bis sie gefunden hatte, wonach sie suchte. Erst da bemerkte sie, dass alle anderen sie erwartungsvoll anstarrten.

Maggy hob den Kopf und grinste sie zufrieden an. »Schön, dass wir uns einig sind. Während ihr euch ausgesprochen habt, habe ich eine Lösung für unser Problem mit dem Höhleneingang gefunden.« Sie hielt die Spinne hoch. »Dabei werden dieses hübsche Fräulein und seine Familie uns behilflich sein.«

»Spinnen?«, stieß der Prinz ungläubig aus.

»Sie mögen winzig sein, aber in einer großen Gemeinschaft können sie Unglaubliches bewirken«, versicherte Maggy ihm geheimnisvoll. »Und das in kürzester Zeit. Ihr werdet schon sehen!« Sie setzte das Krabbeltier auf dem Buch ab. »Nun lauf, meine Kleine, und hol Verstärkung«, wisperte sie ihm liebevoll zu, bevor sie sich dem Zauber zuwandte.

Viele der Sprüche waren in Latein verfasst und nie in eine andere Sprache übersetzt worden. Zum ersten Mal erschien es Maggy sinnvoll, dass sie das Fach in der Schule belegt und sich nicht für Spanisch entschieden hatte, wie die Mehrheit der Stufe. Das half ihr zumindest etwas beim Verständnis und der Aussprache.

Sie streckte ihre Arme aus und richtete ihre Handflächen auf den schmalen Gang, den sie gerade passiert hatten. Dann begann sie, die Worte aus dem Buch laut vorzulesen.

»Spheara

Ich rufe Euch, seid mir zu Willen.«

Zuerst schien gar nichts zu passieren, doch dann wackelten plötzlich sämtliche Steine um sie herum. Von überallher krochen Spinnen in den verschiedensten Größen aus ihren Löchern hervor und bewegten sich auf den Durchgang zu. Sie strömten über den Boden, glitten von der Decke und sprangen quer durch die Luft. Ein lebendiger schwarzer Teppich formte sich zu ihren Füßen.

Die anderen wichen erschrocken zurück. Zwar hatte keiner von ihnen eine grundsätzliche Abneigung gegen die Tiere, aber in dieser Überzahl lösten sie dennoch ein mulmiges Gefühl bei ihnen aus.

»Igitt«, entfuhr es Ember, während sich eine Gänsehaut auf ihrem Körper ausbreitete.

Die Krabbeltiere nahmen keinerlei Notiz von ihnen und begaben sich an die Arbeit. In Sekundenschnelle zogen sich vor ihren Augen silbrige Fäden durch den Gang und ein Spinnennetz von gewaltiger Größe entstand. Es wurde immer dichter und bald waren keine Lücken mehr zu erkennen. Eine undurchdringliche, klebrige weiße Wand war entstanden, die jeden gefangen nehmen würde, der sich in ihr verfing.

Die Spinnen zogen sich in die Ecken zurück, aus denen sie zuvor gekommen waren, und der Zauber hatte ein Ende.

»Ich danke euch«, sagte Maggy lächelnd zu ihren kleinen Helfern.

»Wow«, stieß Simonja anerkennend aus. »Ich wusste zwar, dass du eine Magiebegabung hast, aber das war beeindruckend. Hat dir das etwa Baba beigebracht?«

Maggy schüttelte den Kopf. »Wenn ich das schon früher gekonnt hätte, wäre die Hexe jedes Mal in einem Netz gelandet, wenn sie auch nur daran gedacht hätte, sich einem Jungen zu nähern. An Spinnen hätte es im Lebkuchenhaus nicht gemangelt.«

Simonja kicherte. »Ich hätte sie zu gern in einem Netz hängen und mit ihren krummen Beinen zappeln sehen.«

Der Frosch applaudierte ihr glucksend bei dieser Vorstellung.

»Das erspart uns einiges an Arbeit«, meinte Arian. »Und ist vermutlich nützlicher, als jede Steinwand es sein könnte. Wenn sich die ersten Wölfe, oder wer auch immer, darin verfangen, werden sie den Durchgang für alle anderen, die nach ihnen kommen, blockieren. Das ist genial!«

»Ewig wird sie das allerdings nicht aufhalten«, gab Ember zu bedenken. »Die Königin ist skrupellos und wird einen Weg zu uns finden. Zur Not lässt sie die Höhle über unseren Köpfen einstürzen.«

»Mir ist bewusst, dass dies nicht unsere Rettung ist«, entgegnete Maggy.

Sie atmete tief durch, denn sie war die Einzige, die wusste, was nun kommen musste. Sie hätte nur nicht gedacht, dass sie die treibende Kraft dabei sein würde. Aber vielleicht war es schon immer so gewesen. Vielleicht hatte es nie eine andere Vergangenheit gegeben als jene, die sie gerade durchlebten.

»Die Königin braucht Margerys Herz, um sie endgültig töten zu können«, setzte sie entschieden an und richtete sich an die Prinzessin. »Würdest du jedoch nur noch ein halbes Herz in der Brust tragen und hättest die andere Hälfte unter sieben Personen aufgeteilt, die überall auf Engelland sein könnten, müsste die Königin erst jeden Einzelnen von ihnen finden und umbringen. Eine Nacht erscheint mir dafür reichlich kurz. Selbst wenn es ihr gelingen würde, einige der Splitterträger zu töten, würdest du überleben, solange es nicht alle wären.« Sie ließ ihren Blick über die anderen gleiten. »Das würde den Tod für die Königin bedeuten und somit wäre Engelland vor ihr sicher.«

Margery starrte sie mit großen Augen an. »Kann ich denn mit nur einem halben Herz leben?«

»Das ist möglich«, bestätigte Maggy ihr. »Allerdings wärst du dadurch sehr geschwächt. Deshalb würde ich dich in eine Art Tiefschlaf versetzen. Dieser würde anhalten, bis dein Herz wieder vereint ist.«

Die Prinzessin wirkte noch nicht vollkommen überzeugt. »Gibt es denn eine Möglichkeit, mich früher zu wecken?«

»Dafür genügt bereits ein Tropfen Blut«, antwortete Maggy ihr. »Allerdings muss dein Körper mindestens eine Nacht ruhen, um sich an dein halbes Herz zu gewöhnen. Würde man dich früher wecken, könnte es zu schwach sein, um dich am Leben zu erhalten.«

Margery nickte und glaubte, zu verstehen. »So ähnlich wie bei Wilhelm«, murmelte sie nachdenklich. Als sie die verständnislosen Gesichter bemerkte, erklärte sie es. »Der Teufel hat ihm sein Herz gestohlen und er war viele Jahre in einem Glassarg gefangen, bis meine Mutter ihm ein neues Herz besorgt hat. Es war mein Blut, das ihn aus seinem Schlaf weckte.«

Maggy hatte nicht gewusst, dass Wilhelm in der Vergangenheit kein Herz besessen hatte. Es gab vieles, das sie nicht über ihn wusste. Die Eifersucht nagte an ihr, als ihr bewusst wurde, wie eng Margery und er miteinander verbunden waren. Doch sie schüttelte dieses gemeine Gefühl wie eine lästige Fliege von sich ab. Sie wollte sich davon weder beeinflussen noch ablenken lassen.

Aufgeregt begann sie, in dem alten Buch nach der betreffenden Seite zu suchen. »Es macht einen Unterschied, dass du ein Vampir bist«, entgegnete sie. »Solange sich die Splitter deines Herzens in lebenden Körpern befinden, kannst du nicht sterben. Dein Körper würde auch ohne Herz weiterexistieren, selbst außerhalb eines Glassargs.«

»Und was geschieht mit den Trägern dieser Splitter?«, hakte Arian misstrauisch nach. Ihm gefiel die Vorstellung nicht, ein Stück einer fremden Person in sich zu tragen. »Würde uns das irgendwie verändern?«

Maggy hatte die Stelle gefunden und überflog alles noch einmal hastig, wobei ihr Zeigefinger über die Zeilen tanzte. »Dazu steht hier nichts«, antwortete sie entschuldigend. »Allerdings würde dieser Splitter nur einen winzigen Teil unseres eigenen Herzens ausmachen. Seine Wirkung müsste deshalb eher gering sein.«

Die anderen blickten sich unsicher an. Zwar hatten sie alle zugestimmt, Margery zu beschützen, aber einen Teil von ihr in sich aufzunehmen, war so, als würden sie sich ein Fadenkreuz direkt auf die Stirn zeichnen. Die Königin würde unerbittlich Jagd auf sie machen, bis sie jeden von ihnen getötet hätte.

»Ich bin bereit, wenn ihr es seid«, zerbrach Margery die Stille. »Wenn das der Weg ist, um uns alle zu retten, werde ich mein Herz mit euch teilen.«

»Hast du das schon einmal gemacht?«, wollte Eva von Maggy wissen, der sogleich ein nervöses Lachen entfuhr.

Sie schüttelte den Kopf. »Noch nie. Alles, was ich weiß, habe ich in diesem Buch gelesen. Ich kann nicht versprechen, dass es funktioniert. Vielleicht ist meine Macht nicht groß genug oder ich mache etwas falsch. Vielleicht bringe ich uns alle …«

Ember unterbrach sie energisch. »Nein, du schaffst das«, sagte sie bestimmt. »Zweifle nicht an dir!«

Die Prinzessin wandte sich Maggy ebenfalls zu und ergriff ihre Hände. »Ich vertraue dir! Du würdest es nicht vorschlagen, wenn du nicht glauben würdest, dass du es kannst.«

Maggys Zuversicht beruhte nicht auf ihren Fähigkeiten, sondern auf der Tatsache, dass zweihundert Jahre später das Herz unter den sieben anwesenden Personen aufgeteilt war. Das war der Beweis dafür, dass es möglich war.

»Was ist mit mir?«, beklagte sich der Frosch. »Bekomme ich kein Stück vom Kuchen ab?«

»Ich kann ihr Herz nicht mit einem Tier teilen«, erwiderte Maggy bedauernd. Es war Gretels Schuld, dass er in dem Körper eines Tieres feststeckte. Sie hatte es zwar aus gutem Grund getan, aber weder ihr noch Maggy war es gelungen, den Fluch zu brechen.

Hänsel winkte ab, als mache es ihm nichts aus. »Nicht, dass ich wild drauf wäre«, behauptete er. »Ich will mir nur später nicht sagen lassen, dass ich mich rausgehalten und es nicht zumindest angeboten hätte. Soll mir recht sein.«

An einem Ziehen in ihrer Brust spürte Maggy, dass das nicht die ganze Wahrheit war. Hänsel war zwar nicht Joe, aber sie hatten dieselbe Persönlichkeit und deshalb wusste sie, dass es für ihn nichts Schlimmeres gab, als außen vor zu sein. In ihrer Kindheit hatte es eine ganze Weile gedauert, bis er Will als Teil ihrer Gemeinschaft akzeptiert hatte. Zuerst hatte es gewirkt, als würde er fürchten, seine Schwester an den fremden Jungen zu verlieren. Maggy machte es ihm nie zum Vorwurf, denn sie hatten lange nur einander gehabt und Joe fühlte sich als der Ältere für sie verantwortlich.

»Braucht es denn unbedingt sieben Personen, um das Herz zu teilen, oder würden auch weniger reichen?«, hakte Arian erneut nach. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und machte nicht den Eindruck, als ob er bereit dazu wäre, ein Stück der Prinzessin in sich aufzunehmen.

Maggy überraschte seine Frage, da sie wusste, dass es in der Zukunft sieben Personen wären – die Vergessenen Sieben. Dies war der Augenblick, in dem sie erfuhr, wie es dazu gekommen war.

»Es würde theoretisch auch mit weniger Personen funktionieren«, gab sie zu. »Aber je mehr Menschen einen Splitter in sich tragen, umso unwahrscheinlicher ist es, dass die Königin alle vor Mitternacht finden wird.«

Arian nickte zwar, doch seine Worte waren kein Zuspruch. »Tut mir leid, aber ihr müsst das ohne mich durchziehen«, meinte er entschuldigend. »Ich bin bereit, der Prinzessin bei der Flucht zu helfen, aber mein Herz würde ich doch gern für mich allein behalten.«

Margery zeigte sofort Verständnis für seine Haltung. »Ich mache dir das nicht zum Vorwurf. Du hast schon genug für mich getan.« Sie wandte sich an die Runde. »Ihr alle habt bereits euer Leben für mich riskiert. Das ist mehr, als ich jemals zu hoffen gewagt hätte. Ich werde immer in eurer Schuld stehen. Niemand zwingt euch dazu, einen Zauber über euch ergehen zu lassen, der euer eigenes Herz betrifft.«

Ember drückte ihre Schulter. »Ich fühlte mich dir vom ersten Moment an verbunden. Ein Teil von dir wird wie mein eigenes Herz sein.«

Philipp bekräftigte diese Ansicht. »Es wäre mir eine Ehre, für eine Weile auf einen Teil deines Herzens achtgeben zu dürfen.«

»Es ist nicht für immer«, erinnerte Maggy die anderen. »Sobald diese Nacht überstanden ist, kann ich den Zauber rückgängig machen. Wir werden Margerys Herz wieder zusammensetzen und alles wird sein wie zuvor. Es geht im Grunde nur um diese eine Nacht!«

»Diese eine Nacht, in der die Königin mitsamt ihrem gesamten Gefolge hinter uns her sein wird«, widersprach Arian ihr. »Das ist mir zu riskant!«

»Du bist wohl doch ein Angsthase«, stichelte Simonja plötzlich.

Er fuhr entrüstet zu ihr herum und hob seine Augenbrauen. Von ihr hätte er am wenigsten einen Widerspruch erwartet, sondern eher Zustimmung.

»Es geht hier nicht um irgendeine Nacht, sondern um eine, die über unser gesamtes Leben entscheiden kann«, sagte sie leidenschaftlich zu ihm. »Wenn du dich dagegen entscheidest, den Splitter in dir aufzunehmen, überlebst du vielleicht, aber was, wenn das nicht für den Rest von uns gilt? Was, wenn wir alle sterben und die Königin siegt? Willst du wirklich in einer Welt leben, in der das Böse regiert?«

Ihre Überzeugung verunsicherte ihn. Seitdem sie sich vor einem Jahr begegnet waren, hatten sie sich beinahe täglich gesehen. Ihre Meinung war ihm wichtig und er wollte nicht wie ein Feigling dastehen, dennoch blieb er skeptisch. Die anderen waren immerhin nicht in seiner Situation. Sie würden nicht von ihrem Rudel, ihrer Familie, gejagt werden.

»Ich bin dabei«, erklang die sanfte Stimme von Lavena. »Ich werde einen Splitter in mir aufnehmen und mit ihm in den Himmel zurückkehren. Dorthin wird die Königin mir niemals folgen können.«

Arian starrte sie entsetzt an. Er wollte nicht, dass sie ein Risiko einging, das er selbst scheute.

Auf einmal war ein Knirschen zu hören, das nicht von den Anwesenden verursacht wurde. Augenblicklich hielten sie den Atem an und lauschten in die Stille. Lavena warf sich hastig den Umhang über, sodass es zudem dunkel wurde.

Von draußen erklangen Geräusche. Steine wurden bewegt und Stimmen waren zu hören. Die Schritte näherten sich dem Durchgang.

Ein Jaulen erklang, als sich offenbar ein Wolf in dem Spinnennetz verfing und versuchte, sich daraus zu befreien. Durch sein Zappeln geriet er jedoch nur tiefer in die klebrige Masse.

»Was ist das?«, hörten sie jemanden sagen. Vielleicht ein Jäger?

»Zauberei«, keuchte ein anderer.

Das Knurren der Wölfe schwoll an und Arian zuckte zusammen. Alles in ihm sehnte sich danach, sich zu verwandeln, um seinem Rudel beizustehen. Er ballte seine Hände zu Fäusten und kämpfte dagegen an. Zumindest die Königin schien nicht in der Nähe zu sein, denn sonst hätte er dem Drang nicht standhalten können.

Messer wurden gezogen, um das Netz zu zerschneiden, doch stattdessen blieben die Klingen an den Spinnenfäden hängen.

»Prinzessin Margery«, brüllte eine männliche Stimme, die nicht nur Schneewittchen, sondern auch Maggy erschaudern ließ. Sie erkannten sie beide.

Es war Wilhelm.

Er musste wieder zu sich gekommen sein und hatte sich der Jagd nach ihnen angeschlossen.

»Komm heraus und niemandem wird etwas geschehen.« Er klang ungeduldig und zornig.

Margery starrte auf den Durchgang. Es schmerzte sie sichtlich, dass sich Wilhelm auf der anderen Seite befand. Aber sie durfte auf ihn keine Rücksicht nehmen.

»Du meinst, niemand außer mir?«, rief sie laut. »Wenn du mein Herz willst, wirst du es dir schon holen müssen.«

»Das werde ich«, versicherte Wilhelm ihr entschlossen. »Aber es wird ein böses Ende nehmen für alle, die sich bei dir befinden.«

Die sieben waren sich einig darin, dass sie nicht aufgeben würden. Nachdem sie nun umstellt waren, blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als sich auf den Zauber des geteilten Herzens einzulassen.

»Wir müssen es jetzt tun«, stieß Ember aus und schaute in die Runde. »Seid ihr alle dabei?« Ihr Blick blieb an Arian haften, der sich als Einziger dagegen ausgesprochen hatte.

Vermutlich war es nicht seine eigene Überzeugung, die ihn widerwillig nicken ließ, doch er erklärte sich dennoch dazu bereit, so wie auch der Rest von ihnen.

»Lavena, nimm bitte den Umhang ab. Ich brauche Licht«, bat Maggy das Mondmädchen, um mit dem Ritual zu beginnen. Dieses kam der Aufforderung nach und sogleich erstrahlte das Innere der Höhle in einem silbrigen Glanz.

Als Nächstes wandte Maggy sich der Prinzessin zu. »Du musst dich jetzt in deinen Finger schneiden und jeden von uns mit deinem Blut markieren.«

Von draußen waren die Jäger und Wölfe zu hören, die versuchten, sich einen Weg zu ihnen zu bahnen.

Prinz Philipp hielt Margery sein Schwert hin, sodass sie ihren Daumen über die scharfe Spitze ziehen konnte. Sie presste dabei ihre Lippen aufeinander, um keinen Schmerz zu zeigen. Blut quoll aus ihrer Haut hervor, lief ihr über die Hand und sickerte in den weißen Stoff ihres Kleides.

Sie blickte fragend zu Maggy, die ihre Hand mit ihrer eigenen umschloss und an ihre Stirn führte, wo Margery einen blutigen Daumenabdruck hinterließ.

»Wird es wehtun?«, wollte sie wissen, wobei sie ein Beben in ihrer Stimme nicht unterdrücken konnte.

»Ich weiß es nicht«, gab Maggy offen zu. Sie wollte Margery nicht anlügen.

Diese fand zwar keinen Trost in der Antwort der Hexe, aber nickte dennoch. Sie hatten ohnehin keine andere Wahl. Selbst wenn es so wehtun sollte, dass Margery sich nach dem Tod sehnen würde, musste sie es nun durchziehen.

Sie begann, die anderen ebenfalls mit ihrem Blut zu kennzeichnen.

»Das ist eure letzte Chance«, schrie Wilhelm hinter dem Spinnennetz. »Wenn ihr jetzt nicht rauskommt, werden wir ein Feuer legen. Entweder treibt euch der Rauch heraus oder ihr sterbt in den Flammen.«

Es bestand kein Zweifel daran, dass er seine Drohung wahr machen würde. Aber es gab für die sieben kein Zurück mehr.

»Feuer tötet mich nicht«, brüllte Ember zurück, wobei ihre Hände vor unterdrückter Wut aufloderten. Für sie mochte ihre Aussage sogar gelten, aber gewiss nicht für den Rest von ihnen.

Wilhelm ließ seinen Worten Taten folgen und entzündete ein Feuer dicht bei dem Spinnennetz. Sie hörten den Wolf, der sich darin verfangen hatte, schmerzlich aufheulen und winseln. Ein Tumult brach aus, als die Wölfe sich auf die Jäger stürzten, um ihren Gefährten zu befreien. Ihre Hilfe kam jedoch zu spät, denn die Flammen breiteten sich rasend schnell aus.

Arian krümmte sich vor Qual. Das Tier in ihm verlangte, freigelassen zu werden, und er konnte nicht mehr lange dagegen standhalten.

»Mach weiter«, forderte Simonja Maggy auf. Sie wollte nicht in den Zwang geraten, Arian töten zu müssen, weil er sich sonst in seiner Wolfsgestalt auf sie stürzte.

Lavena hatte die Arme um ihn geschlungen und redete ihm beruhigend zu. Eine Weile konnte sie ihn so vielleicht bei sich halten, aber der Wolf in ihm wurde immer stärker.

»Leg dich hin«, bat Maggy die Prinzessin und deutete auf einen flachen Felsen, der groß genug war, dass das Mädchen darauf Platz finden konnte. »Wir anderen müssen jetzt unser Blut teilen«, fuhr sie fort. Angst schwang in ihrer Stimme mit, denn sie fürchtete, zu versagen. Alles hing nun von ihr ab und sie fühlte sich dem Druck nicht gewachsen. Wer war sie schon, dass sie glaubte, einen solch gewaltigen Zauber ausführen zu können? Ein Spinnennetz wachsen zu lassen, war etwas anderes, als ein Herz zu teilen.

Simonja wartete keine weitere Erklärung ab, sondern zog ihre Hand über die Sense. Ihr Blut tropfte auf den Boden. »Und jetzt?«, wollte sie gehetzt wissen.

»Berühre damit Margery«, forderte Maggy sie auf und schnitt sich ebenfalls an der Sense.

So machten es auch alle anderen, bis sechs Hände auf dem Körper der Prinzessin ruhten. Ihr weißes Kleid war von rotem Blut getränkt.

Maggys Hand zitterte, als sie diese auf Margerys Brust legte. Sie spürte den rasenden Herzschlag der Prinzessin, die mit geweiteten Augen zu ihr emporstarrte.

»Sprecht mir nach«, sagte sie zu den anderen und warf einen letzten Blick in das alte Zauberbuch, um sich den Spruch zu verinnerlichen.

»Mein Herz ist dein,

dein Herz ist mein.

Die Teilung ein Schutz

unser aller Sein.

Durch Splitter verbunden,

im Herzen geeint,

entfliehen dem Tod,

bis wir wieder vereint.«

Die anderen wiederholten, was Maggy vorgelesen hatte. Ihre Stimmen hallten verstärkt von den Höhlenwänden wider.

Jetzt kam der schwierigste Teil, denn Maggy musste das Herz zerbrechen, um die Splitter zu verteilen. Sie atmete tief durch, bevor sie die Augen schloss und sich vorstellte, wie ihre Finger erst durch den Stoff des Kleides und dann in Margerys Fleisch eindrangen. Dieser Vorgang war rein imaginär, auch wenn sie glaubte, spüren zu können, wie warmes Blut ihre Haut umgab.

Schneewittchen bäumte sich schreiend unter ihr auf. Sie fühlte Maggys Vordringen, als wäre es nicht mental, sondern körperlich.

Maggy zwang sich zur Konzentration und versuchte, das qualvolle Keuchen auszublenden, als sie ihre Hand um das pulsierende Organ schloss. Darin ruhte das Leben der Prinzessin. Die Hexe musste ihre ganze Willenskraft aufbringen, um das Herz zu zerbrechen. Es kam ihr grausam vor, als würde sie Schneewittchen töten, obwohl sie mit dem Zauber genau das Gegenteil bezweckte. Sie brach es in der Mitte entzwei, wie ein Stück Brot, und ließ die eine Hälfte zurück an seinen Platz gleiten, während sie die andere behielt.

Margerys Schreie erstarben und ihr Körper sank in einen tiefen Schlaf, als müsse er sich erst daran gewöhnen, dass ihn nur noch ein halbes Herz am Leben hielt.

Ermutigt fuhr Maggy fort und teilte gedanklich die zweite Herzhälfte in sieben gleich große Stücke. Jedes schlug für sich weiter, während das Blut um sie rauschte. Die Splitter hatten eine magnetische Wirkung und versuchten, sich erneut zu einem Ganzen zu verbinden.

Sie löste eines aus der Mitte und tastete gedanklich nach einem Pfad, der sie zum Aschemädchen führte. Dort war Embers Blut und sie schickte das Herzstück auf eine Reise.

Als sie Ember schreien hörte, riss sie erschrocken die Augen auf und sah, wie das Mädchen mit dem kupferfarbenen Haar am Boden kauerte und sich die Hand auf die Brust presste. Ihr Gesicht war kreidebleich. Sie hatte sich von Margery gelöst. Eine Berührung war auch nicht mehr nötig, denn sie trug nun einen Splitter der Prinzessin in sich.

»Spürst du es?«, hakte Maggy dennoch unsicher nach.

Ember nickte benommen. »Ich habe gemerkt, wie sich etwas an mein Herz gehängt hat. Es fühlt sich nun schwerer an.«

Das war es auch, denn Embers Herz wog nun ein Siebtel mehr.

»Du blutest«, stellte Eva bestürzt fest und deutete auf Maggys Nase. »Bist du sicher, dass du das durchstehen kannst?«

»Ich muss«, erwiderte Maggy nur und schloss erneut die Augen, um sich ganz ihrer Aufgabe widmen zu können. Sie wusste nun, dass sie es konnte.

Gedanklich nahm sie sich das nächste Stück vor. Während der kurzen Ablenkung hatten die einzelnen Teile sich wieder zusammengezogen, um miteinander zu verschmelzen. Die Bruchstellen waren jedoch noch zu erkennen.

Sie löste einen weiteren Splitter und schickte ihn zu seinem neuen Träger – Prinz Philipp.

Auch ihn hörte sie vor Schmerz keuchen und wusste dadurch, dass die Teilung erfolgt vor.

Sie musste sich eingestehen, dass sie nicht bedacht hatte, welche Kraft solch ein Zauber von der Ausführenden verlangte. Es war nicht nur das Nasenbluten. Ihr ganzer Körper fühlte sich zittrig und schwach an, als ob eine Bewegung schon reichen würde, um Knochen brechen zu lassen.

Das nächste Stück übergab sie an Eva. Die Qual, welche die Träumerin ereilte, traf sie in abgeschwächter Form auch selbst. Vereinzelte Adern platzten. Eine warme Flüssigkeit floss aus ihren Ohren.

»Hör auf«, drängte der Frosch sie und zog an ihren Zöpfen, aber Maggy ignorierte ihn. Sie musste beenden, was sie begonnen hatte.

Die Nächste war Simonja. Kaum dass die Teilung erfolgt war, nahm Maggy den Geruch von Feuer wahr. Rauch drang in ihre Lungen vor und erschwerte ihr das Atmen. Nicht mehr lange und die Flammen würden den Durchgang zu ihnen freigebrannt haben. Im Hintergrund hörte sie die anderen husten und schnaufen. Sie musste sich beeilen.

Arian jaulte animalisch, als sich der Splitter in sein Herz bohrte.

Danach war das Mondmädchen dran. Der Schmerz war so groß, dass sogar sein Licht für wenige Sekunden erlosch.

Ein letztes Stück war noch geblieben, das Maggy für sich selbst vorgesehen hatte. Ihr Körper zitterte unkontrolliert und sie lag bereits auf der Prinzessin, da sie sich selbst nicht mehr aufrecht halten konnte. Hänsel flehte sie verzweifelt an, es sein zu lassen, doch sie konnte jetzt nicht mehr abbrechen.

Sie schloss ihre imaginären Finger um den Splitter, riss ihn Schneewittchen aus der Brust und setzte ihn sich selbst ein. Es fühlte sich an, als dringe eine rostige Klinge in ihr Herz vor. Alles um sie herum drehte sich.

Jemand zerrte sie von der Prinzessin herunter, gerade rechtzeitig, um einem Gesteinsbrocken auszuweichen, der von der Decke stürzte. Ihre Sicht war verschwommen von dem Blut, das aus ihren Augen floss. Sie fand sich neben Ember wieder, während Philipp die bewusstlose Margery in seinen Armen hielt. Der Boden unter ihnen vibrierte und überall lösten sich Steine. Die Luft war erfüllt von dichtem Qualm, der in ihren Atemwegen brannte.

»Du scheinst ein Erdbeben ausgelöst zu haben«, raunte Ember ihr zu. »Es setzte schlagartig ein, als das letzte Stück seinen Platz in deiner Brust eingenommen hat.«

»Du hättest uns ruhig vorwarnen können«, schimpfte der Frosch, der sich immer noch an einen von Maggys Zöpfen klammerte. Sie war noch nie glücklicher darüber gewesen, ihn zu hören.

»Die Jäger und Wölfe wurden davon genauso sehr überrascht wie wir«, ergänzte der Prinz. »Sie mussten die Höhle verlassen. Allerdings werden sie nicht weit sein, sondern draußen auf uns warten.«

»Lieber erleichtere ich ein paar Jäger um ihre Köpfe, als lebendig begraben zu werden«, knurrte Simonja trotzig und stützte sich auf ihre Sense. »Wer ist dabei?«

»Ich brenne uns den Weg frei«, meinte Ember entschlossen. »Mit dem Feuer werde ich unsere Verfolger ablenken können, sodass ihr fliehen könnt.«

»Wir lassen dich nicht zurück«, widersprach Maggy ihr sogleich. »Es wäre ohnehin gut, wenn wir uns aufteilen würden. Sollte die Königin uns alle zusammen antreffen, wäre es für sie ein Leichtes, uns und somit auch Margery zu töten. Je weiter wir über die Insel verteilt sind, umso schwieriger wird es für sie, uns vor Mitternacht zu finden.«

»Außerdem werden sich auch unsere Feinde vor der Höhle aufteilen, sobald sie merken, dass einige von uns die Flucht ergreifen«, stimmte Philipp ihr zu. »Es ist leichter, ihnen zu entkommen, wenn es weniger sind.«

Das Erdbeben ebbte langsam ab. Schon bald würden sich die Jäger und Wölfe zurück in die Höhle wagen. Der Durchgang war nun frei, da nur noch feine Reste des gewaltigen Spinnennetzes übrig geblieben waren. Lediglich der Rauch von vereinzelten Feuern erschwerte die Sicht.

»Wir sollten unseren Vorteil nutzen, solange er noch gegeben ist«, sagte Arian. »Wenn wir alle zeitgleich aus der Höhle stürmen und in unterschiedliche Richtungen rennen, werden sie gezwungen sein, sich ebenfalls aufzuteilen, um uns verfolgen zu können.«

Simonja nickte zustimmend. »Dann ist jetzt wohl jeder auf sich allein gestellt«.

Es schwang Sorge in ihrer Stimme mit, die nicht ihr selbst galt, sondern vor allem den anderen. Es sollte zwar nur ein Abschied für eine Nacht sein, aber sie hegte die Befürchtung, dass sie nicht alle von ihnen wiedersehen würde.

»Bitte tut mir den Gefallen und lasst euch nicht töten, sonst habe ich heute Nacht noch viel zu tun. Außerdem möchte ich euch ungern den Kopf abschlagen müssen.«

»Los jetzt«, drängte Arian sie mit geballten Fäusten und rannte mutig voran.

Lavena war dicht hinter ihm. Wenn sie in der nächsten Nacht wieder als Mond am Himmel erstrahlen würde, wäre alles vorüber und eine bessere Zukunft konnte für Engelland anbrechen.

Beide verschwanden in den dichten Rauchschwaden.

Simonja folgten ihnen mit erhobener Sense. Eva schloss sich ihr an, sodass nur noch Ember, Maggy, Hänsel, Philipp und Margery verblieben.

»Wir sollten zusammenbleiben«, schlug das Aschemädchen vor.

Maggy konnte kaum aufrecht stehen und niemand sollte die Verantwortung für Margery allein tragen müssen. In ihrer Brust klopfte nur noch ein halbes Herz. Die andere Hälfte schlug nun an anderen Stellen – in dem Phönix, dem Prinzen, der Träumerin, dem Tod, dem Wolf, dem Mond und der Hexe.

Sie stiegen über Geröll und kämpften sich durch den beißenden Qualm. Außerhalb der Höhle herrschte Chaos. Die Gruppe der Feinde war zerschlagen worden und kämpfte an mehreren Stellen gleichzeitig. Einige hatten die Verfolgung der Fliehenden aufgenommen, andere stellten sich Simonjas scharfer Sense, die sie zischend durch die Luft wirbelte.

Die Sicht reichte nur wenige Meter weit, da das ganze Gebiet rund um die Höhle in dichten Rauch gehüllt war.

Ein Wolf stürzte sich auf Ember, den sie mit einer Feuersalve winselnd zum Rückzug zwang. Im Schutz des Qualms tasteten sie sich einen Weg zurück in den Wald.

Die Vergessenen Sieben, an die sich Jahrhunderte später niemand mehr erinnern würde, hatten ihren Platz in der Geschichte eingenommen. Sie waren es, die über den Lauf des Schicksals entscheiden würden. Sie würden die Welt retten oder deren Untergang sein.

Es war alles eine Frage der Perspektive, denn das Böse ist Ansichtssache.

Goldene Augen

Bonn, Schlosskommende Ramersdorf, Oktober 2012

Die weißen Türme des Schlosses Ramersdorf ragten vor Ember und Philipp auf, als das Tempo der Limousine sich verlangsamte. Der Mond hatte sich hinter den Wolken hervorgeschoben und sandte sein silbriges Licht auf das majestätische Gebäude, welches auf dem Hügel, umgeben von dichtem Wald, thronte. Dorthin hatte sich die böse Königin zurückgezogen und ihre Tochter mit sich genommen. Ihre Anwesenheit war nicht zu leugnen, wenn man sie zu erkennen wusste. Auf den Giebeln und Dächern hockten unzählige Raben, deren scharfen Augen nichts entging. Sie waren die Begleiter der Königin, die ihr in großen Scharen überallhin folgten.

Irgendwo hinter den dicken Mauern versteckte die Königin Margery und wartete nur darauf, deren Herz wieder zu vereinen, um sie endgültig töten zu können. Dafür musste sie jedoch erst die Vergessenen Sieben finden.

Der Phönix und der Prinz waren bereits ganz nah. Würden sie diese Nacht überleben?

Der Wagen kam zum Stehen und Rumpelstein schlüpfte hinter dem Lenkrad hervor. Umständlich stieg er mit seinen kurzen Beinen aus dem Auto, knallte die Tür hinter sich zu und verschwand im Inneren der Kommende. Er hatte nicht abgeschlossen – ein Versehen oder Absicht?

Wenn sie versuchten zu fliehen, würden sie nicht weit kommen. Vor der Tür standen zwei in Schwarz gekleidete Männer Wache. Waren es seelenlose Jäger?

»Was sollen wir jetzt machen?«, wandte sich Ember verzweifelt an Philipp.

Von draußen war das höhnische Krächzen der Raben zu hören, die ihrer Herrin von der Ankunft des Zwerges berichteten.

Der Prinz hatte eine Hand auf sein rasendes Herz gepresst. »Wir können Margery nicht helfen, wenn wir heute sterben«, brachte er mühsam hervor. »Auch wenn es unmöglich erscheint, müssen wir versuchen, zu fliehen.«

Ember konnte die Hitze, die durch ihren Körper wallte, kaum noch zurückhalten. Es wäre eine Erleichterung, sie auf ihre Feinde loszulassen. Aber würde das reichen? Sie waren nur zu zweit – gegen wie viele?

»Hast du eine Waffe?«, fragte sie skeptisch.

Er wollte erst den Kopf schütteln, doch dann fiel ihm etwas ein und er beugte sich zu der Getränkeablage vor. Achtlos räumte er Gläser, Wasser, Cola und Sekt beiseite, bis er auf die Rückwand stieß und diese leicht eindrückte. Dahinter kam ein kleiner Hohlraum zum Vorschein, in dem eine Pistole verborgen war. Philipp zog sie hervor und schloss seine Finger um den Griff.

Damit hatte Ember nicht gerechnet. »Hätte dir das nicht zehn Minuten früher einfallen können?«

Er zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Ich habe nicht dran gedacht, immerhin werde ich nicht alle paar Tage entführt. Um genau zu sein, ist es heute das erste Mal.«

»Kannst du denn überhaupt damit umgehen?«, fragte sie skeptisch und ließ die Waffe nicht aus den Augen. Sie wusste, dass der falsche Gebrauch einer Handfeuerwaffe zu erheblichen Verletzungen, wenn nicht gar zum Tod führen konnte. Jemand, der davon keine Ahnung hatte, sollte also besser die Finger davon lassen. Aber hatten sie eine Wahl?

»Ich hatte ein paar Trainingsstunden, nur für den Notfall«, meinte Philipp, was nicht unbedingt sicher klang, aber besser war als nichts. »Allerdings hätte ich nie gedacht, dass dieser Fall einmal eintreten würde.«

»Wir müssen das Überraschungsmoment ausnutzen«, entschied Ember. »Das ist unsere einzige Chance, denn sie wissen nichts von der Waffe.«

»Sie wissen aber von dir und deiner Magie, deshalb werden sie gewiss nicht unvorbereitet kommen«, entgegnete Philipp und schaute besorgt zu dem Eingang, in dem Rumpelstein verschwunden war.

Die beiden Wachen, die davor postiert waren, rührten sich nicht von der Stelle. Sie trugen Mützen, die so tief gezogen waren, dass ihre Augen in der Dunkelheit kaum zu erkennen waren. Waffen waren bei ihnen auf den ersten Blick nicht zu entdecken, aber ein Messer ließ sich leicht unter einer Jacke oder in einem Stiefel verstecken.

Würde sich ein seelenloser Jäger von dem Schuss aus einer Pistole aufhalten lassen? Sie waren zwar nicht unsterblich, aber sie spürten keinen Schmerz und fürchteten nicht den Tod. Das machte sie zu sehr gefährlichen Gegnern, die man weder einschüchtern noch mit Vernunft erreichen konnte. War Philipp bereit, jemanden zu töten? Er hatte es in Engelland schon getan, aber es waren eine andere Zeit und ein anderer Ort gewesen. Dort hatte jeder Blut an seinen Händen kleben gehabt. Bis vor etwas mehr als einer Stunde hatte er noch geglaubt, das alles hinter sich gelassen zu haben. Er hatte sich nicht einmal mehr daran erinnern können.

»Wir müssen es jetzt versuchen, bevor Rumpelstein mit Verstärkung zurückkommt«, entschied er. Mit zwei Jägern würden sie eher fertigwerden als mit einem Dutzend.

Ember nickte zustimmend. »In den Wald?«

Wie eine dunkle Mauer erhoben sich die dicht beieinanderstehenden Bäume um das gesamte Anwesen. Sie waren wie ein schwarzes Labyrinth, aus dem die beiden keinen Ausweg kannten. Vielleicht würden sie sich darin verirren.

»In den Wald«, bestätigte Philipp ihr dennoch, ehe er seine Hand fest um den Griff der Waffe legte und mit der anderen Hand die Autotür auf der vom Schloss abgewandten Seite leise öffnete.

Unbemerkt schlüpften sie aus der Tür und hielten sich geduckt hinter den schwarz getönten Scheiben der Limousine verborgen.

Zwischen ihnen und dem Wald befand sich ein geschotterter Platz von etwa zwanzig Metern, der keine Möglichkeit bot, in Deckung zu gehen. Die Jäger hätten dort eine freie Schussbahn.

»Ich habe eine Idee«, flüsterte Philipp plötzlich, streifte sich seine Jacke von den Schultern und zerrte sich sein Shirt über den Kopf.

Ember beobachtete ihn verwirrt, wobei ihr sein muskulöser Körper nicht entging. »Wie soll uns das helfen?«, zischte sie störrisch und verschränkte die Arme vor der Brust, um zu verbergen, wie sehr sein Anblick sie aus der Bahn warf. Sie war froh über die Dunkelheit, die ihre geröteten Wangen verbarg.

Philipp drückte ihr den Stoff in die Hand, der noch warm von seinem Körper war und nach seinem Deodorant roch. »Du kannst es anzünden und in den Tank stecken. Das sollte zu einer Explosion führen, die uns hoffentlich einen kleinen Vorteil verschafft, sofern wir dann weit genug entfernt sind.«

Sie starrte ihn erst ungläubig an, dann lachte sie leise auf. »Das ist genial. Wie bist du darauf gekommen?«

Er zuckte grinsend mit den Schultern. »Zu viele Actionfilme gesehen«, murmelte er verlegen und fuhr sich durchs Haar.

Ember schüttelte schmunzelnd den Kopf. Sie hatte noch nie irgendeinen Film gesehen, auch wenn ihr durchaus bewusst war, worum es sich dabei handelte. Es erschien ihr wie ein ferner Traum, dass sie jemals Zeit dafür finden würde.

Sie ließ eine kleine Flamme in ihrer Hand auflodern und entzündete damit das Shirt, welches sie in den geöffneten Tankdeckel stopfte.

Um von ihrem eigentlichen Ziel abzulenken, jagte sie eine Flammenwelle auf das Polster der Rückbank. Das Leder zischte und fing Feuer, ebenso wie der Boden, welcher mit Teppich ausgelegt war.

Die Wachen bemerkten das lodernde Licht und griffen nach ihren Armbrüsten, die zuvor im Schatten zwei großer Blumenkübel versteckt gewesen waren. Ihre Kleidung mochten sie dem 21. Jahrhundert angepasst haben, aber ihre Waffen waren immer noch dieselben. Diese richteten sie nun auf den Wagen und steuerten darauf zu.

Ember tauchte aus dem Schutz der Limousine auf und machte ihnen deutlich, dass sie vor nichts zurückschrecken würde, indem sie einen Feuerball in ihre Richtung schleuderte.

Den Männern gelang es, diesem auszuweichen, da sie bereits damit gerechnet hatten. Im Gegenzug schossen sie ihre Bolzen ab, die krachend in das Metall der Limousine einschlugen und nur knapp Embers Kopf verfehlten.

Aus der Kommende kamen vier weitere Jäger zur Verstärkung gerannt. Sie hielten alle ihre Armbrüste vor sich, bereit, sie zum Einsatz zu bringen.

Ember und Philipp mussten die Flucht in den Wald wagen, bevor es zur Explosion kommen würde. Der Prinz gab mit der Pistole einen Schuss auf einen ihrer Angreifer ab, der diesen allerdings nur streifte. Nun waren die Jäger gewarnt, auch wenn ihnen die Fähigkeit fehlte, Angst zu empfinden.

Das Feuer im Wagen breitete sich immer mehr aus. Dichte Rauchfahnen stiegen daraus empor, die es Philipp erschwerten, zu atmen. Seine Augen tränten und er musste husten.

»Los«, schrie Ember ihn an, gerade als ein Rudel Wölfe aus dem Gebäude schoss. Sie unterstanden immer noch der Königin und würden sich auf sie stürzen und zerfleischen.

Von dem Adrenalin in seinem Körper angefacht, rannte Philipp los, so schnell er konnte. Dabei gab er blind Schüsse in die Richtung ab, in der er seine Angreifer vermutete. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und er wartete nur darauf, von einem Bolzen getroffen oder von einem der Wölfe zu Boden geschleudert zu werden.

Ember folgte ihm dicht auf den Fersen. Die Flammen krochen an ihren Armen empor und wanden sich bis zu ihren Beinen. Ihre Kleidung loderte und würde bald restlos verbrannt sein. Das Aschemädchen war nicht zu übersehen, gleichzeitig machten die Flammen es schwer, es zu treffen. Funken sprühten rund um sie herum, die ihr die Wölfe vom Leib hielten.

Einen Bolzen, der direkt auf Philipp zusteuerte, verbrannte Ember in der Luft, noch ehe dieser sein Ziel treffen konnte. Ihrer Magie freien Lauf lassen zu können, machte sie stark und wagemutig, aber sie wusste, dass diese Wirkung nur kurz anhalten würde. Je mehr Energie sie verbrauchte, umso schwächer würde sie später sein. Ihr Zauber forderte seinen Preis, so wie alles im Leben.

Gerade als sie die Bäume erreichte, ging mit einem gewaltigen Knall, der den Erdboden erschütterte, die Limousine in die Luft. Philipp fand Halt an einem Baumstamm, während Ember auf ihre Knie geschleudert wurde. Die Luft wurde aus ihren Lungen gedrängt und für den Augenblick verließ sie jede Kraft – ihre Flammen erloschen.

Ihr wurde schwarz vor Augen, aber ehe sie ohnmächtig werden konnte, zerrte Philipp sie auf die Beine. Seine Hände umschlossen fest ihre Arme, obwohl ihre Haut glühte. Die Berührung musste ihm Schmerzen bereiten, doch er verzog nicht einmal das Gesicht.

»Komm«, drängte er sie und schob sie vor sich durch den Wald, der von dem Brand hinter ihnen erhellt wurde. Von ihrer Kleidung war nicht mehr als ein paar Fetzen übrig, die gerade das Nötigste bedeckten. Zumindest ihre Stiefel hatten das Feuer überlebt, wenn sie auch etwas versengt waren.

Neben dem Zischen des Feuers war auch das Heulen einiger Wölfe zu hören, die bei der Explosion verwundet worden waren. Die übrigen Jäger und Wölfe nahmen die Verfolgung auf.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739468891
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Oktober)
Schlagworte
Böse Königin Grimm Rotkäppchen Dornröschen Hexe Märchenadaption Märchen Schneewittchen Vampire Romance Fantasy Urban Fantasy Episch High Fantasy

Autor

  • Maya Shepherd (Autor:in)

Maya Shepherd wurde 1988 in Stuttgart geboren. Zusammen mit Mann, Kindern und Hund lebt sie mittlerweile im Rheinland und träumt von einem eigenen Schreibzimmer mit Wänden voller Bücher. Seit 2014 lebt sie ihren ganz persönlichen Traum und widmet sich hauptberuflich dem Erfinden von fremden Welten und Charakteren.
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Titel: Die Vergessenen Sieben