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Die Vergessenen

von Maya Shepherd (Autor:in)
261 Seiten
Reihe: Radioactive, Band 2

Zusammenfassung

Cleo ist nicht mehr dieselbe, als sie auf der Krankenstation der Legion erwacht. Sie ist entschlossen den Rebellen im Kampf um ihre Freiheit zu helfen. Doch erneut muss sie erfahren, dass nichts so ist wie es scheint und man sie belogen hat… Zerrissen zwischen ihrer Herkunft und ihrem Versprechen, trifft sie eine Entscheidung, die alles verändern könnte. Auf sich allein gestellt, schafft es Cleo nicht länger sich in der Legion zurechtzufinden. Nur die Legionsführerin A350 scheint Interesse an ihr gefunden zu haben und verschafft ihr Gehör. Doch als Finn plötzlich als Gefangener in der Legion auftaucht, scheinen alle Pläne hinfällig zu sein. Cleo wird gezwungen, über Finns Schicksal zu entscheiden: Lässt sie sein Gedächtnis löschen oder verurteilt sie ihn zum Tode...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


RADIOACTIVE

Die Vergessenen

Dystopie

E-Book

Copyright © 2013 Maya Shepherd

Marion Schäfer, c/o SP-Day.de Impressum-Service, Dr. Lutz Kreutzer, Hauptstraße 8, 83395 Freilassing

news@mayashepherd.de

Neuauflage: 2017

Korrektorat: Martina König

Umschlaggestaltung: Casandra Krammer – www.casandrakrammer.de

Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

www.facebook.com/MayaShepherdAutor

E-Mail: mayashepherd@web.de

01. ZURÜCK ZUR NORMALITÄT

Das Licht ist so grell, dass es in meinen Augen brennt. Ich kann nichts erkennen und kneife sie zusammen. Am liebsten würde ich mit der Hand die Augen vor dem Licht abschirmen, doch ich kann meine Arme nicht bewegen. Genauso wenig wie den Rest von meinem Körper. Alles fühlt sich taub und leblos an. Ich habe das Gefühl, in mir selbst gefangen zu sein. Obwohl ich mich nicht rühren kann, spüre ich, dass ich nackt bin. Es ist kalt.

Ein Kopf erscheint in meinem Gesichtsfeld. Er durchbricht das grelle Leuchten. Es ist eine Frau. Ihre Augen erstrahlen in dem Farbton RAL 5012 – Lichtblau. Ihr Kopf ist kahl, während ihr weißer Anzug das brennende Licht der Lampen reflektiert. Ich bin zurück in der Legion.

Bevor ich in irgendeiner Weise reagieren kann, stülpt sie mir eine Art schwarzen Trichter aus Gummi über Mund und Nase. Ich will mich wehren. Ich will schreien. Ich will nicht vergessen.

Obwohl ich weiß, dass Finn und die Rebellen das Letzte sein sollten, woran ich in diesem Moment denke, bin ich machtlos dagegen. Der Glaube daran, Finn irgendwann wiederzusehen, ist das Einzige, was mir Hoffnung gibt, während ich zurück in das bodenlose Nichts gleite, aus dem ich gerade erst erwacht bin.

Es ist still. Keine Stimmen. Kein Vogelgezwitscher. Kein Wind, der durch die Blätter der Bäume weht. Nichts.

Ich öffne meine Augen und starre an die weiße Decke. Es wäre tröstlich gewesen, den unebenen roten Sandstein der Höhlen zu sehen, in denen ich mit den Rebellen gelebt habe. Aber auch ohne meine Augen zu öffnen, hätte ich gewusst, dass ich zurück in der Sicherheitszone der Legion bin. Ich kann es riechen. Die Höhlen duften nach Erde, Tannennadeln, Moos, Sand und oft auch nach Maries frisch gebackenem Brot. Sie verströmen das Aroma von Leben und Freiheit. Die Sicherheitszone hingegen riecht einfach nur steril. Ständig liegt der scharfe Geruch von Reinigungsmitteln in der Luft. Früher ist es mir nie aufgefallen, doch jetzt ist er so stark, dass ich das Gefühl habe, kaum atmen zu können.

Ich richte mich auf und lasse meinen Blick durch die Zelle gleiten. Es gibt weder Tisch und Stuhl noch eine Dampfdusche oder den kleinen Kasten für die Essensausgabe, wie ich es von meinem ehemaligen Zimmer in dem Trakt der Heranwachsenden gewohnt war Es gibt keine Fenster, aber das habe ich auch nicht erwartet. Die Sicherheitszone liegt tief unter der Erde, dort, wo nie ein Licht hinfällt, weshalb die Menschen niemals wissen, ob es Tag oder Nacht ist. Nicht die Sonne und der Mond entscheiden darüber, sondern die Legionsführer.

Das Bett, auf dem ich liege, ist neben der Toilette der einzige Einrichtungsgegenstand in dem kleinen Raum. Es ist anders als die Betten, die ich von früher gewohnt war. In Höhe von Händen und Füßen sind Schnappverschlüsse angebracht, die jedoch nicht verschlossen sind. Vielleicht sollte ich dankbar dafür sein, dass sie mich nicht gefesselt haben, doch ich fühle mich innerlich leer. Unfähig, irgendetwas zu fühlen. Es fällt mir schwer, nachzudenken und einen klaren Gedanken zu fassen.

Die Wände sind aus kaltem Stahl, dessen Oberfläche matt ist, sodass ich mich lediglich als kleinen rosa Fleck darin erkennen kann. Ich streiche mit meinen Händen vorsichtig über den rauen Stoff des braunen Nachthemds. Langsam lasse ich meine Finger höher wandern und berühre meinen Kopf. Er ist so kahl und kalt wie die Decke und die Wände der Zelle. Sie haben mir das kurze braune Haar, das mir bei den Rebellen gewachsen ist, abrasiert. Ich bin jetzt wieder eine von ihnen. Ein Mensch ohne eigene Meinung, Träume oder Gefühle. Mehr ein Roboter als ein Lebewesen.

Ich sehe, dass mein Körper zittert, bevor ich es spüre. Meine Hände beben und ich presse meine Lippen so fest aufeinander, dass sie reißen und ich den metallischen Geschmack des Blutes auf meiner Zunge schmecken kann. Ich spüre einen feuchten Tropfen auf meiner kalten Haut und fahre ungläubig mit der Hand über meine Wange – es ist eine Träne.

Ungläubig betrachte ich ihre glänzende Nässe auf meiner Fingerspitze und entdecke dabei etwas ganz anderes. In meiner Handfläche ist die schmale weiße Linie einer Narbe zu erkennen. Ich erinnere mich genau an den Moment, in dem es passiert ist. Es war einer meiner ersten Tage bei den Rebellen, nachdem sie mich aus der Gefangenschaft entlassen hatten. Ich sollte zum ersten Mal bei der Arbeit auf dem Feld helfen. Dabei habe ich mich so dumm und ungeschickt angestellt, dass ich mich mit dem Messer in die Hand geschnitten habe. Finn hat wie üblich keine Gelegenheit ausgelassen, um mich wissen zu lassen, dass ich in seinen Augen unnütz und wertlos war. Ich wurde in der Hitze ohnmächtig und habe erst von den Zwillingen erfahren, dass Finn mich in die Höhlen getragen hat.

Die Zwillinge! Eigentlich gibt es sie so nicht einmal mehr, denn Jep ist tot. Nur Pep ist noch übrig.

Eigentlich zählt die Erinnerung an den Schnitt nicht zu den schönsten aus meiner Zeit bei den Rebellen, trotzdem drücke ich meine Hand wie einen Schatz an meine Brust. Die Legion konnte mir weder meine Narben noch meine Erinnerungen nehmen. Sie sind ein Teil von mir. Auch wenn ich in den Augen der Legion wieder D518 bin, werde ich Cleo in meinem Herzen bewahren, bis zu dem Tag, an dem ich sie freilassen kann. Dem Tag, an dem ich wieder mit Finn vereint sein werde.

Ich lasse mich zurück auf das Kissen gleiten und schließe meine Augen.

Bereits jetzt fällt es mir schwer, mich daran zu erinnern, wie mein Gesicht an dem letzten Abend bei den Rebellen aussah. Doch umso leichter fällt es mir, mich an Finn zu erinnern. Sein Gesicht ist wie in meine Netzhaut gebrannt. Ich kann die Grübchen in seinen Wangen sehen, wenn ich mir sein sparsam benutztes Lächeln vorstelle, und das spitzbübische Leuchten in seinen Augen, die so blau sind wie der Himmel an einem sonnigen Tag. Die Wellen seiner blonden Haare erscheinen mir so nah, als müsste ich nur meine Finger ausstrecken, um sie berühren zu können. Ich weiß noch ganz genau, wie sie sich anfühlen.

Ich denke an unseren letzten gemeinsamen Moment. Es war unser Abschied für eine ungewisse Zeit. Vielleicht für immer. Aber es war der Moment, der mein Leben für immer verändert hat. Denn es war der, in dem ich liebte. Ich fahre mir mit den Fingerspitzen über meine brüchigen Lippen und fühle Finns Mund hart auf meinem. Unser Kuss war voller Verzweiflung und Angst, aber da war auch so viel mehr. Es war ein unausgesprochenes Versprechen. Wir werden uns wiedersehen. Irgendwann.

Es ist schwer zu sagen, wie viel Zeit vergeht, wenn es keine Sonne gibt, an der man sich orientieren kann. Früher hatte ich in der Sicherheitszone einen durchgeplanten Tagesablauf. Ich stand auf, wenn die Legion mich weckte, arbeitete und ging zu Bett, wenn die Legion mir sagte, dass es nun Zeit dafür sei. Ich war in der Lage, Minuten und Sekunden in meinem Kopf zu zählen. All das habe ich bei den Rebellen verlernt. Dort stand ich auf, wenn die Sonne mich durch das kleine Fenster in dem Zimmer von Iris und mir weckte. Kein Tag war wie der andere. Jeder war neu und schön zugleich.

Am schlimmsten ist jedoch die Ungewissheit. Ich weiß nicht, was die Legionsführer mit mir vorhaben. Sehen sie mich als Feind? Oder erwarten sie meine Mithilfe bei der Vernichtung der Verstoßenen?

Ich gehe davon aus, dass ich mich zurzeit auf der Krankenstation befinde, aber wie wird es weitergehen? Oder geht es vielleicht gar nicht weiter? Werden sie mich jetzt hier für den Rest meines Lebens festhalten? In einer leeren Zelle, gefangen in meinen eigenen Gefühlen und Erinnerungen?

Ich halte inne und lausche. Ein leises Klappern ist zu hören, dann ertönt ein mechanisches Summen und die Stahltür der Zelle gleitet auf. In ihrer Öffnung steht eine Legionsführerin. Sie trägt ein schmales Tablett in den Händen. Hinter ihr kann ich den sterilen Gang des Krankenflügels erkennen, versehen mit grünen Streifen, passend zu den grünen Anzügen der Ärzte und Labormitarbeiter. Als ich noch den Bildungsunterricht besuchte, habe ich selbst gehofft, einmal zu ihnen zu gehören. Ich wollte etwas in der Sicherheitszone erreichen. Etwas Besonderes sein. Doch es kam ganz anders. Anstatt zu B518 wurde ich zu D518, einer Angestellten der Nahrungszuteilung.

Die Tür schließt sich hinter der Legionsführerin und sie tritt mit ruhigem Schritt auf mich zu. Dadurch erweckt sie sofort mein Misstrauen. Niemand in der Legion geht ruhig. Jeder hat Aufgaben, die in vorgegebener Zeit erledigt werden müssen. Es gibt keinen Grund, Zeit zu vergeuden.

Doch die fremde Frau tut noch etwas Eigenartiges, indem sie sich neben mich auf das Bett setzt. Ihre Haltung drückt so etwas wie Mitgefühl aus. Sicher interpretiere ich mehr in ihre Bewegungen, als dort ist. In der Sicherheitszone gibt es keine Gefühle. Sie sind zwar nicht verboten, aber das liegt daran, dass sie einfach nicht existieren. Sie sind genauso wenig Bestandteil des Lebens wie die Sonne.

Neugierig mustere ich die Augen der Frau und erstarre. Ich kenne sie. Zwar sind sie genauso lichtblau wie alle anderen, aber es ist der Funke von Gefühl, den ich in ihnen wiedererkenne. Sie ist die Legionsführerin, die ich bereits getroffen habe, als ich noch ein Kleinkind war. Damals hatte ich mein Nachthemd zerstört, doch anstatt mich zu bestrafen, sagte sie mir eine große Zukunft voraus. Sie lächelte mich an und dabei bildeten sich Grübchen in ihren Wangen. Sie behauptete, ich müsse sehr intelligent sein. Offensichtlich hat sie sich getäuscht, doch wahrscheinlich erinnert sie sich nicht einmal an mich. Für sie bin ich nur eine von vielen. Nun lächelt sie auch nicht – da sind keine Grübchen in ihren Wangen.

»Meine Bezeichnung lautet A350. Ich bringe dir deine Nahrungsration.«

Sie hält mir das Tablett entgegen, auf dem sich neben einem Glas Wasser einige bunte Pillen, Tabletten und Kapseln befinden. Was gäbe ich in diesem Moment nur für ein Stück Brot.

Ich greife als Erstes nach den Cerealienwürfeln. Es sind vier. Einer weniger, als für eine ausgewachsene Frau normal ist. Ich muss es wissen, immerhin war ich in der Nahrungsvergabe tätig.

»Du hast zugenommen«, kommentiert A350 mein Zögern. Ich passe nicht mehr in ihre Perfektion, dabei fing ich gerade an, gesund auszusehen. Bei den Rebellen habe ich mich im Spiegel gesehen. Ich sah, wie sich meine Rippen durch meinen dünnen Anzug pressten. Die Wangenknochen stachen unschön aus meinem Gesicht hervor. Ich sah aus wie jemand, der dem Tod näher als dem Leben ist. Mein Anblick hatte mich so entsetzt, dass ich mich erst nach Monaten getraut habe, erneut in den Spiegel zu blicken. Doch mir ist klar, dass ich für die Legion nicht brauchbar bin, solange ich nicht ihrem Idealmaß entspreche. Ohne zu antworten, schlucke ich die vier Pillen auf einmal hinunter.

Danach folgt die Eiweißkapsel. Offensichtlich ist meinem Körper die schwere Arbeit anzusehen. Ich bin sicher, dass ich in der kurzen Zeit bei den Rebellen mehr Muskeln aufgebaut habe als je in meinem ganzen Leben in der Sicherheitszone.

Für den Schluss habe ich mir die pinken Vitamintabletten aufgehoben. Es sind mehr als normal. Die Legionsführer werden mich gründlich auf Krankheiten untersucht haben, doch die Vitamine sollen zusätzlich mein Immunsystem stärken.

Als Iris noch F701 war, hat sie sich jedes Mal gefreut, wenn sie bei der Essensausgabe besonders viele der pinken Tabletten erhielt. Ich habe ihr deshalb kurz vor meiner Entführung durch die Rebellen mit Absicht mehr als eine zugeteilt. Damals war das meine Art der Rebellion. Wenn ich heute daran denke, erscheint es mir lächerlich. Jemandem zu viele Vitamintabletten zuzuteilen, ist keine Rebellion, nicht einmal ein Aufstand. Es ist nichts. Vollkommen unbedeutend. Lediglich ein Versuch, sich selbst davon zu überzeugen, wenigstens einen Teil des eigenen Lebens kontrollieren zu können.

Während ich die Cerealienwürfel auf einmal geschluckt habe, lege ich mir die vier Vitamintabletten einzeln auf die Zunge.

Eine für Iris.

Eine für Finn.

Eine für die Rebellen.

Eine für Cleo.

Die Legionsführerin beobachtet mich dabei, ohne etwas zu sagen. Sie sitzt nur steif da und mustert mich, während ihr Mund einen schmalen Strich in ihrem Gesicht bildet. Ihr Mitgefühl ist wie weggewischt – vielleicht war es nie da.

»Wie geht es dir?«

Da ist es wieder, dieses eigenartige Funkeln in ihren Augen und der sanfte Klang in ihrer sonst so mechanischen Stimme. Nie hat mich jemand zuvor in der Sicherheitszone gefragt, wie es mir geht.

»Hast du Schmerzen? Ist dein Körper funktionsfähig? Oder spürst du irgendwelche Beeinträchtigungen?«

Das meint sie also. Sie interessiert nicht mein Innenleben, sondern sie erkundigt sich lediglich nach meinem physischen Zustand.

»Mein Körper ist funktionstüchtig.«

A350 zögert noch einen Moment, doch dann steht sie auf und steuert auf die Tür zu. Das war es jetzt also? Will sie mir nicht einmal sagen, was aus mir wird?

»Was passiert jetzt mit mir?«

Die Legionsführerin dreht sich erneut zu mir um. »Du bleibst noch eine Weile auf der Krankenstation, bis du an Gewicht verloren hast und deine Narben nicht mehr zu erkennen sind, danach kannst du zu deiner Arbeitseinheit zurückkehren.«

Ich komme zurück in die Nahrungsvergabe? Einfach so? Was ist mit meiner Zeit bei den Rebellen? Ist das alles unbedeutend?

»In die Nahrungsvergabe?«, frage ich fast dümmlich.

»Natürlich. Du bist D518. Das ist dein dir vorherbestimmtes Leben.«

Die Tür öffnet sich und A350 tritt hinaus. Sie lässt mich zurück mit all den offenen Fragen, die sich in Luft aufzulösen scheinen. Ich hätte mit vielem gerechnet, aber nicht damit. Ich hatte Angst, dass sie mich töten oder foltern würden. Ich dachte, sie rauben mir meine Erinnerung. Ich fürchtete mich davor, dass sie mich gegen die Verstoßenen einsetzen würden. Aber niemals hätte ich gedacht, dass sie so tun würden, als wäre nie etwas geschehen. Sie gehen zur Normalität über, so als hätte es meine Zeit bei den Rebellen niemals gegeben. Niemand spricht mich darauf an. Niemand stellt Fragen. Niemand interessiert sich dafür.

Wie konnten die Rebellen nur glauben, dass man mich zu einer Legionsführerin ernennen würde? Sie haben ihre ganze Hoffnung in mich gesetzt, dabei bin ich vollkommen nutzlos. Als eine kleine Arbeiterin in der Nahrungszuteilung bin ich für niemanden hilfreich. Dort kann ich weder das Leben der Rebellen noch das der Menschen in der Sicherheitszone verändern. Ich schaffe es ja nicht einmal, mein eigenes Leben zu verändern. Ich hatte die Chance, neu anzufangen. Ich hatte ein Leben bei den Rebellen. Ich hatte ein Leben mit Finn. Aber ich habe es aufgegeben für einen dummen Traum. Völlig umsonst.

02. VERSTÄRKUNG VON UNERWARTETER SEITE

Ich trage den braunen Anzug, der mich als Angehörige der Klassifizierung »D« auszeichnet. Der Stoff schmiegt sich eng an meinen Körper und wirkt fast wie eine zweite Haut, doch ich fühle mich zum ersten Mal in meinem Leben in dem Anzug entblößt. Ich sehne mich nach der lockeren Kleidung der Rebellen. Sie war individuell, ein Abbild des Charakters der Menschen. Hier sind alle gleich, wenn auch nur äußerlich. In mir wütet ein Sturm, den von außen niemand sehen kann. Auch wenn meine Situation aussichtslos erscheint, werde ich nicht aufgeben. Ich werde kämpfen. Für die Rebellen. Und für mich.

Die Tür der Krankenzelle gleitet schwungvoll auf und ein junger Mann in blauem Anzug erwartet mich. Ich muss genauer hinschauen, um zu erkennen, dass es nicht C515 ist. Es wäre schön gewesen, ein bekanntes Gesicht zu sehen. Zwar waren wir nie Freunde in dem Sinn, wie ich die Rebellen kennengelernt habe, aber zwischen uns bestand eine Verbindung. Vielleicht lag es auch nur daran, dass ich ihn von allen anderen unterscheiden konnte und er mich offensichtlich auch. Wir haben einander stets wiedererkannt und uns ohne Worte verständigt. Es waren die Blicke, die oft mehr sagten, als Worte es hätten können.

»C590. Folge mir, ich bringe dich zu deiner Einheit.«

Während er spricht, sind seine Augen völlig bewegungslos, wie erstarrt. Sein Gesicht verrät keinerlei Emotion. Selbst seine Bewegungen wirken mechanisch, als ich ihm aus der Krankenstation folge.

Der Flur unterscheidet sich, abgesehen von dem grünen Streifen an der Wand, nicht von jedem anderen Gang der Sicherheitszone. Er ist leer und kalt. Es reiht sich eine Stahltür an die andere. Das Licht der Deckenbeleuchtung ist so unnatürlich hell, dass mir beinahe schlecht davon wird. Der einzige Grund, warum ich mich auf meine Arbeit in der Nahrungsvergabe freue, ist Zoe. Ich kann kaum erwarten, ihr von Finn und den anderen zu erzählen. Wir werden Verbündete sein. Keine von uns muss länger ihr Geheimnis allein tragen. Wir können uns die Last teilen und gemeinsam Pläne schmieden. Ich bin bereit dafür.

Doch als wir den Kontrollraum der Nahrungsvergabe betreten, verliere ich auch diesen letzten Funken Hoffnung. Es gibt über zwanzig Tische mit PCs und Arbeitern dahinter, trotzdem erkenne ich auf den ersten Blick, dass Zoe nicht unter ihnen ist. Auf ihrem Platz sitzt jetzt eine andere Arbeiterin.

C590 bohrt mir unangenehm seinen Zeigefinger in den Rücken. »Melde dich zum Dienst.« Er wirkt verärgert darüber, dass er mich dazu auffordern muss. Er spürt, dass ich nicht so funktioniere, wie ich sollte, und dafür hat er kein Verständnis. Weiß er überhaupt, was mit mir geschehen ist, oder hält er mich einfach nur für defekt?

»D518 meldet sich zum Dienst.«

Der Abteilungsleiter nickt mir unbeteiligt zu. »D375 empfängt D518.«

Das ist das Stichwort für C590, das Weite zu suchen. Er hat mich in meiner Einheit abgeliefert und damit ist seine Aufgabe erledigt. Auch der Abteilungsleiter interessiert sich nicht weiter für mich. Eine Einweisung hatte ich an meinem ersten Tag, jetzt wird von mir erwartet, dass ich meine Aufgaben kenne.

Verwirrt tapse ich zu meinem ehemaligen Platz und lasse mich auf den Stuhl niedersinken. Vor mir flackert der Bildschirm und zeigt die Bewohner, für deren Nahrung ich heute zuständig bin. Meine Gedanken sind jedoch bei Zoe. Was ist mit ihr passiert? Ist sie durchgedreht, nachdem ihre Rettung scheiterte? Hätte sie mich überhaupt wiedersehen wollen? Ich habe an ihrer Stelle die Legion verlassen. Ich habe für eine kurze Zeit ihr Leben gelebt. Was, wenn Zoe gar nicht mehr am Leben ist? Finn würde daran zerbrechen und unsere Liebe vielleicht direkt mit. Denn ich müsste mit der Schuld leben, dass sie vielleicht noch am Leben wäre, wenn ich nicht ihren Platz eingenommen hätte. Es war nie meine Absicht, ich wusste ja gar nicht, was geschah. Und selbst wenn ich es gewusst hätte, wäre ich nicht freiwillig gegangen. Ich habe mir in den ersten Tagen bei den Rebellen nichts sehnlicher gewünscht, als in die Legion zurückkehren zu können.

Ich blicke mich in dem Raum um. Jeder Einzelne sitzt wie angekettet auf seinem Stuhl und starrt apathisch den Bildschirm vor sich an. Hat überhaupt irgendjemand mitbekommen, dass ich verschwunden war? Niemand interessiert sich dafür, wo ich war – nicht einmal ein neugieriger Blick wird mir zugeworfen. Wie können sie alle nur so ignorant sein? Ihnen kann doch unmöglich alles gleichgültig sein. Sie sind Menschen, genau wie ich. Menschen fühlen. Das kann doch auch hier nicht anders sein. Ich würde am liebsten alle laut anschreien, sie wachrütteln, doch ich beherrsche mich.

Mit geballten Fäusten stehe ich auf. »Ich habe eine Frage.«

Irritiert hebt D375 den Blick. Er ist es nicht gewohnt, Fragen gestellt zu bekommen. »Eine Frage?« Es hört sich an, als wüsste er nicht einmal, was das ist.

»Wo ist D523?«

Verwirrt legt er die Stirn in Falten. Ich kann ihm ansehen, wie sein Gehirn versucht, meine Frage zu analysieren. Er wirkt völlig aus dem Konzept gebracht. »Warum interessiert dich das?«

Ich registriere, wie sich nun auch weitere Köpfe von den Bildschirmen losreißen und mich scheu mustern. Die Arbeiter haben mir ihre Aufmerksamkeit zugewendet. Vielleicht halten sie mich allesamt für wahnsinnig, aber eine bessere Chance als diese werde ich nicht so bald bekommen. Das ist meine Möglichkeit, die Menschen zu erreichen.

»D523 ist ein Mitglied unserer Einheit. Sie gehört zu uns. Ich sorge mich um sie, weil sie nicht mehr da ist.«

Der Abteilungsleiter schüttelt nur verständnislos den Kopf. »Wir sind alle gleich. Jeder ist ersetzbar. D523 bildet da keine Ausnahme.«

Gleich zu sein ist doch nicht automatisch gleichbedeutend mit ersetzbar zu sein. Es fällt mir schwer, mich unter Kontrolle zu halten.

»Hat sich niemand von euch gefragt, was mit ihr geschehen ist?«, rufe ich laut in den Raum und ernte nur teilnahmslose Blicke. Wollen sie mich nicht verstehen? »Hat überhaupt jemand von euch gemerkt, dass sie weg ist?«

Verzweiflung liegt nun in meiner Stimme und ich spüre, dass ich erneut den Tränen nahe bin. Meine Hände zittern bei dem Versuch, sie krampfhaft zurückzudrängen.

»D518, es ist nicht deine Aufgabe, Entscheidungen der Legionsführer zu hinterfragen. Setz dich auf deinen Platz und nimm deine Arbeit wieder auf oder ich werde die Wachen verständigen.«

Die Drohung sitzt. Ich lasse mich frustriert auf meinen Stuhl zurücksinken. Was soll ich nur ohne Zoe tun? Wie soll ich in der Sicherheitszone überleben, wenn es nicht einmal einen Menschen gibt, mit dem ich ein normales Wort wechseln kann?

Der Bildschirm vor mir beginnt zu blinken. Auf acht kleinen Fenstern sehe ich Menschen, die auf ihre Nahrungsration warten. Der Computer verlangt von mir eine Bestätigung für die vorgegebene Anzahl an Tabletten. Doch ich schaue mir die Bewohner der Sicherheitszone genauer an. Einer von ihnen stammt aus der zweiten Generation und ist somit einer der ältesten in der Sicherheitszone. Alle Menschen dieser Generation sind zum jetzigen Zeitpunkt neunundfünfzig Jahre alt. Im Alter von genau sechzig Jahren wird ihr Leben enden. In einem Jahr, im Alter von genau sechzig Jahren, wird sein Leben enden. Dadurch wird die Bevölkerungsdichte der Sicherheitszone kontrolliert. Früher war es für mich normal, doch heute weiß ich, dass Menschen viel älter werden können. Gustav und Marie sind beide über sechzig und sehr glücklich. Es gibt keinen Grund, warum sie sterben sollten.

Der Mann steht wie versteinert vor der Essensausgabe. Er wundert sich nicht einmal darüber, warum die Zuteilung seiner Nahrung so lange dauert. Genauso auch alle anderen sieben. Keiner von ihnen macht Anstalten, den Sensor zur Nahrungsanforderung noch einmal zu betätigen, oder schaut ungeduldig in die Öffnung. Keiner von ihnen tippt mit dem Fuß oder trommelt mit den Fingern gegen die Wand. Sie wirken allesamt leblos.

Ihre Blicke sind starr und ihre Körper bewegungslos. Niemand von ihnen ist wie Iris, die sich so sehr über die pinken Vitamintabletten gefreut hat. Keiner von ihnen scheint dazu in der Lage zu sein, Freude oder Leid zu empfinden. Auch wenn ihre Körper funktionieren, muss ihr Innerstes vor langer Zeit gestorben sein. Sie sind nur noch leblose Hüllen ohne Seelen. Waren sie schon immer so? Früher habe ich die Menschen nie so gesehen. Ich sah das Besondere in jedem Einzelnen. Ich achtete auf die Kleinigkeiten, die kaum einer sonst wahrnahm. Wollte ich vielleicht einfach mehr in ihnen sehen, als dort war? Oder habe ich bei den Rebellen verlernt, hinter die Fassade der Menschen zu blicken? Bin ich blind geworden für die Details? Kann ich nur noch das Offensichtliche sehen?

Ohne es weiter zu prüfen, bestätige ich alles, was der Computer mir vorgibt. Das System macht keine Fehler und es ist zwecklos, sich dagegen zu wehren.

Nach meiner Schicht in der Nahrungsvergabe schreite ich durch das Atrium mit seinen bunten Bildern. Heute zeigen sie einen Wald mit Vögeln in den Ästen der Bäume und Rehe, die hier und da hinter einem Baum hervorschauen. Früher hätten mich diese Bilder beeindruckt und ich wäre stehen geblieben, um sie zu bewundern. Doch wer nur einmal in seinem Leben einen echten Wald mit eigenen Augen gesehen hat, wird in den Bildern des Atriums nicht mehr sehen als das, was sie sind: Bilder. Keines von ihnen kann die Emotionen hervorrufen, die einen in der Wirklichkeit überfluten. Es ist weder der Geruch des von Moos überwucherten Bodens zu riechen, noch ist der Wind, der durch die Blätter weht, zu hören. Es fehlt das Knirschen unter den Füßen bei jedem Schritt. Deshalb bleibe ich heute nicht stehen, weil ich beeindruckt bin, sondern weil es mir davor graut, allein in meiner Zelle zu sitzen. Die ganze Sicherheitszone ist nichts anderes als ein Gefängnis. Es gibt weder Fenster noch Türen, die sich ohne Anweisung der Legionsführer öffnen ließen.

Während die anderen Menschen eilig an mir vorbeihasten, halte ich Ausschau nach einem bekannten Gesicht. Wenn ich schon Zoe nicht finden kann, dann vielleicht wenigstens C515. Es wäre tröstlich, so etwas wie ein Wiedererkennen in seinen Augen zu sehen. Doch auch ihn kann ich unter den wenigen anwesenden Kämpfern nicht ausmachen. Wann wird sich der Kontaktmann der Rebellen wohl bei mir melden? Wird es Ruby sein oder jemand mir völlig Unbekanntes? Ich hatte immer angenommen, dass er der C-Klassifizierung angehören müsse. Aber selbst wenn er sich meldet, was soll ich ihm sagen? Wie werden die Rebellen reagieren, wenn sie hören, dass ich es nicht unter die Legionsführer geschafft habe und sogar Zoe verschwunden ist? Wie wird Finn reagieren? Wird er aus Verzweiflung etwas Dummes tun?

Oder ist das vielleicht der Grund, warum sich bisher niemand bei mir gemeldet hat? Weiß der Kontaktmann bereits, dass meine Mission erfolglos war, und meldet sich deshalb erst gar nicht bei mir? Bin ich den Rebellen jetzt, wo ich nutzlos für sie geworden bin, egal?

Zurück in meinem Zimmer, lege ich mich in meinem Anzug flach auf das Bett. Ich weiß, dass ich ihn eigentlich in die Wäschekammer legen und mein Nachthemd anziehen müsste, doch dazu fehlt mir die Kraft. Ich habe nicht hart gearbeitet, so wie ich es täglich bei den Rebellen musste. Im Grunde habe ich sogar das Gefühl, den ganzen Tag nichts getan zu haben, trotzdem fühle ich mich vollkommen erledigt. Ich weiß einfach nicht, was ich jetzt tun soll. Ich hatte mir fest vorgenommen, mich anzupassen, denn es gab ein Ziel, für das es sich zu kämpfen gelohnt hatte. Die Legionsführer sollten glauben, dass mir die Rebellen nichts bedeuten. Sie sollten glauben, dass ich eine von ihnen bin. Doch ich bin genauso nutzlos für sie wie für die Rebellen. Niemand braucht mich. Warum sollte ich dann noch länger stark sein? Was macht es noch für einen Sinn, die Fassade weiter aufrechtzuerhalten?

Ich spüre, wie mir die Tränen heiß die Wangen hinunterrinnen. Mein Blick gleitet zu der Kamera in der rechten Ecke meiner Zelle. Tränen sind verboten. Doch was soll mir noch passieren? Wie sollten sie mich mehr bestrafen als jetzt? Selbst wenn sie mich foltern würden, wäre es besser als das, was ich im Moment empfinde. Unter Folter hätte ich wenigstens das Gefühl, für etwas zu leiden, für das es sich zu kämpfen lohnt. Ich könnte mir einreden, etwas Ehrenhaftes zu tun. Aber mich zurück in mein altes Leben zu stecken und so zu tun, als wäre nie etwas passiert, ist das Schlimmste, was sie mir antun konnten. Deshalb ist es mir in diesem Moment egal, wer meine Tränen sieht.

Die Tage ziehen an mir vorbei, ohne dass sich irgendetwas an meiner Situation ändert. Ob ich es nun will oder nicht, beginne ich, mich anzupassen. Ich tue genau das, was die Legion von mir erwartet, mehr als je zuvor. Ich erfülle meine Aufgaben, ohne dabei über ihren Sinn nachzudenken. Jedes Aufkommen von Gefühlen dränge ich zurück. Sie machen mich nur schwach. Emotionen haben in dieser Welt keinen Platz. Sie sind etwas für Menschen, die es sich leisten können, Hoffnungen und Träume zu haben, eine Aussicht auf Veränderung – aber nicht für mich.

Cleo ist an dem Tag, an dem sie Finn verließ, so gut wie gestorben. Ihr Lebenslicht flackert nur noch schwach in meinem Inneren, wie die Flamme einer erlöschenden Kerze. Sie lebt von den Erinnerungen, die von Tag zu Tag schwächer werden. Dank der Sensoren in meinem Bett sind selbst meine Nächte traumlos. Der einzige Moment, in dem ich mir etwas Schwäche eingestehe, ist vor dem Schlafen. In der Dunkelheit der Nacht überkommt mich die Sehnsucht oft so stark, dass ich mich nicht gegen die Tränen wehre. Sie gleiten lautlos über mein Gesicht. Oft weiß ich nicht einmal, warum ich weine. Weine ich um mich? Um Iris? Um Finn? Um die Rebellen? Oder vielleicht sogar um die ganze Welt? Ich verabscheue meine Tränen, denn sie sind so nutzlos wie ich. Selbst wenn ich ein ganzes Meer von ihnen weinen würde, würde es nichts ändern.

An diesem Tag bin ich für die Nachtschicht eingeteilt, sodass das Atrium wie verlassen wirkt, als ich es betrete. Ohne innezuhalten und einen Blick auf die falschen Bilder zu verschwenden, eile ich zu der Nahrungsvergabe. Doch kaum dass ich den Gang betrete, legt sich von hinten eine Hand über meinen Mund. Ich erstarre und halte den Atem an. Erst jetzt denke ich wieder an den Kontaktmann der Rebellen. Hat er mich doch nicht aufgegeben?

Der Fremde zieht mich in eine dunkle Ecke des Flurs. Dorthin, wo es den Kameras schwerfällt, uns zu erreichen. Die Hand löst sich von meinem Mund und ich drehe mich erwartungsvoll um. Doch der Anblick des Mannes irritiert mich. Ich hätte nicht mit ihm gerechnet – es ist C515. Sein Mund verzieht sich zu einem Lächeln.

Seit wann kann er lächeln? Egal! Ich kann mich nicht länger zurückhalten und falle ihm um den Hals. Laute Schluchzer dringen aus meinem Mund. Ein Lächeln in der Sicherheitszone zu sehen, überfordert mich. Ich hatte jegliche Hoffnung, ihn oder Zoe jemals wiederzusehen, bereits aufgegeben und jetzt steht er vor mir und lächelt. Er, der es nie gelernt haben dürfte, zu fühlen. Müsste er von meiner Reaktion nicht völlig überfordert sein? Ich wusste immer, dass er anders ist, doch ich hatte nicht geahnt, wie sehr.

Er drückt mich bestimmt von sich und sucht meinen Blick. »Triff mich um drei Uhr vor der Krankenstation.«

Ich verstehe seine Worte nicht. Warum? Doch ehe ich eine Frage stellen könnte, lässt C515 mich bereits allein in dem Gang zurück. Was ist mit ihm passiert? Warum lächelt er? Ist er etwa der Kontaktmann der Rebellen? War er schon immer einer von ihnen? War er ein Rebell, schon lange bevor ich überhaupt von ihrer Existenz wusste? Wie hat er von ihnen erfahren? Ich bin mit C515 aufgewachsen. Wie kann es dann sein, dass er so viel mehr weiß als ich?

03. FALSCHE FREUNDE

Während meiner Arbeit in der Nahrungszuteilung vergeht keine Minute, ohne dass ich einen Blick auf die Uhr werfe. Ich kann nicht erwarten, C515 wiederzusehen. Warum will er mich vor der Krankenstation treffen? Will er mir etwas zeigen?

Allein bei dem Gedanken an ihn fängt mein Herz wild zu klopfen an. Warum hat er mich nur so lange warten lassen? Aber vielleicht hätte er sich auch keinen besseren Zeitpunkt aussuchen können, um in mein Leben zu treten. Er erscheint mir wie ein Silberstreifen am Horizont.

Um fünf Minuten vor drei Uhr schiebe ich meinen Stuhl zurück und marschiere auf D375 zu. Ungeduldig hebt er den Blick und scheint bereits Schlimmes zu ahnen.

»Was willst du?«, fragt er mich barsch.

»Ich muss auf die Toilette.«

»Es ist nicht die richtige Zeit dafür.«

Er legt seine Stirn in Falten. Die Skepsis steht ihm förmlich ins Gesicht geschrieben und trotzdem sagt er nichts dazu. Es muss ihm doch auffallen, dass vor ein paar Monaten schon einmal eine der Arbeiterinnen mit so einer ungewöhnlichen Bitte an ihn herangetreten ist. Es ist ein Verhalten außerhalb jeder Norm – so etwas vergisst man doch nicht!

»Ich muss trotzdem. Das spüre ich.«

»Ich werde dich den Legionsführern melden müssen. Dein Verhalten ist auffällig und bedenklich.«

»Dann melde mich eben. Das ändert nichts daran, dass ich jetzt auf die Toilette muss«, entgegne ich ungeduldig.

Er wirkt unsicher, was er nun tun soll. Ich überfordere ihn mit meinem unvorhergesehenen Verhalten. Auch die anderen Arbeiter im Raum heben bereits die Blicke. Sie haben Angst vor mir.

»Ich kann dich nicht ohne eine Wache gehen lassen …« Er will bereits den Alarmknopf an seinem Tisch betätigen, doch ich hebe meine Hand, um ihm Einhalt zu gebieten.

»Warte!«

Alarmiert hebt er den Blick.

»Ich weiß, wo die Toiletten sind! Es ist wirklich nicht nötig, einen Kämpfer damit zu behelligen. Die haben Wichtigeres zu tun.«

D375 schluckt. Es ist genau die Reaktion, auf die ich gehofft habe. Als er beim letzten Mal erst Zoe auf die Toilette gehen ließ und ich dann zusammen mit anderen entführt wurde, müssen die Legionsführer ihm daran zum Teil die Schuld gegeben haben. Wir standen immerhin unter seiner Obhut. Wenn auch nur ein bisschen Mensch in ihm steckt, dann erinnert er sich daran, dass ich auch damals schon an den Komplikationen beteiligt war.

»Dann geh auf die Toilette«, knurrt er widerwillig und fügt drohend hinzu: »Wenn du in fünf Minuten nicht zurück bist, rufe ich die Wachen.«

Seine Hoffnung ist, dass ich wieder auftauchen werde, ohne dass irgendjemand etwas davon mitbekommt. Dann ist in dieser Nacht kein auffälliges Verhalten unter seinem Kommando zu verzeichnen.

Ohne ihn weiter zu beachten, betätige ich den Scanner an der Tür. »Außerplanmäßiges Verlassen des Arbeitsplatzes. Bestätigung erforderlich.«

Ich beiße mir auf die Lippe und sehe mich verärgert nach D375 um. Er tritt mit erhobenem Kopf neben mich. »Ich bin der Abteilungsleiter. Du stehst unter meiner Aufsicht«, kommentiert er und legt seinen Finger auf den Scanner.

In dem Moment erkenne ich, dass ich mich geirrt habe. Auch hier sind die Menschen nicht gefühllos. Denn der Abteilungsleiter empfindet eindeutig so etwas wie Triumph. Er ist stolz auf seine Position.

»Bestätigung erfolgt«, verkündet die Computerstimme und die Stahltüren gleiten zur Seite. Ich trete eilig in den Flur und höre noch, wie mich D375 an die fünf Minuten erinnert.

Schnell laufe ich zur Krankenstation. Hoffentlich bin ich nicht zu spät. Doch als ich an der grünen Tür ankomme, ist von C515 nichts zu sehen. Ist etwas schiefgegangen? Panisch blicke ich mich um. Was, wenn er nicht kommt? Wenn ich länger als fünf Minuten wegbleibe, ruft der Abteilungsleiter die Wachen und sie sperren mich weg. Dann habe ich keine Möglichkeit, mit C515 zu sprechen. Ich muss wissen, was er mir sagen wollte.

Plötzlich höre ich hinter mir ein Geräusch. Es kommt aus der Krankenstation. Verschreckt stehe ich vor der Tür und überlege, was ich jetzt tun soll. Wenn jemand anderes als C515 aus der Tür tritt und mich in meinem braunen Anzug davorstehen sieht, wird derjenige wissen wollen, was ich hier tue. Was soll ich dann sagen? Die Ausrede mit der Toilette wird nur Aufsehen erregen. Wir halten uns an Zeiten. Alles in unserem Leben ist geplant, selbst der Gang zur Toilette.

Schnell renne ich zurück zu dem braunen Gang der Hilfskräfte und verstecke mich. Von dort höre ich, wie die Tür zur Krankenstation aufgleitet. Angespannt lausche ich in die Stille, doch es bleibt ruhig. Weder Schritte noch Stimmen sind zu hören.

Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, da höre ich eine leise Stimme. »D518?«

Ich verlasse mein Versteck und stürze auf C515 zu, der vor der Krankenstation steht.

»Ich hatte Angst, du kommst nicht mehr.«

»Wir haben nicht viel Zeit«, drängt er und öffnet die Tür zur Krankenstation mittels seines Fingerabdrucks auf dem Scanner. Er hat es eilig.

»Wofür?«

»Zoe will dich sprechen.« Er spricht ihren Namen aus, als wäre es das Normalste der Welt, dass Menschen Namen tragen und keine Bezeichnungen. Sollte er wirklich ein Spion sein? Wie kann das sein? Ich bin doch mit ihm aufgewachsen! Meine Fragen müssen jedoch noch etwas warten.

»Sie ist hier?«, rufe ich erfreut aus. Immerhin ist sie am Leben! Ich hatte schon mit dem Schlimmsten gerechnet.

Sofort fährt C515 panisch zu mir herum. »Nicht so laut«, zischt er und schaut sich dabei ängstlich um.

Ich bin so glücklich, dass ich nicht aufhören kann zu lächeln. Natürlich sind wir nach wie vor Gefangene der Legion. Aber zusammen mit Zoe und C515 gibt es zumindest Hoffnung. Die Tage der Ungewissheit liegen mir jedoch noch schwer auf dem Herzen.

»Warum hast du so lange gewartet, mich zu kontaktieren? Ich dachte schon, ihr hättet mich aufgegeben«, gestehe ich, während ich ihm durch die schmalen und verwinkelten Gänge der Krankenstation folge. Abrupt bleibt er stehen und dreht sich zu mir herum.

»Ich bin kein Rebell.« Seine Worte sind deutlich, aber es liegt auch etwas Entschuldigendes in ihnen. »Ich bin Zoes Wache.«

Das erklärt gar nichts, sondern wirft nur noch mehr Fragen auf. Er gehört nicht zu den Rebellen, kennt aber trotzdem Zoes Namen und nennt sie auch so anstatt D523, wie es in der Legion angebracht wäre. Warum hätte sie sich ihm anvertrauen sollen? Sie hätte doch davon ausgehen müssen, dass er sie verraten würde. Wann hat er sich dazu entschlossen, ihr zu helfen? Wahrscheinlich dürfte er nicht einmal mit ihr reden. Doch ich kann mir gut vorstellen, dass er sich an diese Regel nicht lange halten konnte. Ich konnte es auch nicht.

Für Menschen wie uns, die nie ein freundliches Wort oder ein schlichtes Lächeln erfahren haben, ist ein Mensch wie Zoe, die vor Leben sprüht, faszinierend. Ich nehme an, er konnte sich ihrem Zauber genauso wenig entziehen wie ich damals.

Wir bleiben vor einer der vielen Stahltüren stehen und C515 klopft dagegen. Fünf kurze Schläge, ein langer und noch einmal fünf kurze.

5. 1. 5. Das muss ihr vereinbartes Zeichen sein.

»Clyde?«, ertönt Zoes fragende Stimme aus dem Inneren. Irritiert blicke ich C515 an.

»Den Namen hat sie mir gegeben«, erklärt er schulterzuckend. »Ich habe es mir anders überlegt«, zischt er danach in Richtung der verschlossenen Tür. Er hat es sich anders überlegt? Wollte er mich zuerst nicht zu ihr bringen? Wem traut er nicht? Mir oder ihr?

»Ist sie da?«, will Zoe aus dem Inneren wissen und ich weiß, dass sie mich damit meint. Ihre Stimme wirkt scheu. In den Wochen und Monaten bei den Rebellen fühlte ich mich ihr so nah. Durch die Erzählungen der anderen und vor allem von Finn war sie immer ein Teil der Gruppe, auch wenn sie nicht da war. Ich sah sie als meine Freundin an, obwohl wir in der Sicherheitszone kaum Zeit miteinander hatten.

Ich räuspere mich verlegen. »Finn geht es gut.«

Es bleibt still hinter der Tür und ich verspüre den Drang, sie in die Arme zu schließen. Sie zu wiegen, so wie Florance mich immer getröstet hat. Wie sehr muss ihr die menschliche Nähe an diesem kalten Ort fehlen. Ich bin ohne Gefühle aufgewachsen und sollte es nicht anders gewöhnt sein, und trotzdem schmerzt mein Herz vor Sehnsucht. Wie muss es da erst Zoe gehen, die behütet in den liebevollen Armen ihrer Eltern groß wurde?

»Er vermisst dich«, füge ich hinzu und glaube, ein Schluchzen aus der Zelle zu hören.

»Kannst du die Tür öffnen?«, dränge ich C515, der jetzt Clyde heißt.

Er schüttelt entschuldigend den Kopf. »Das wäre zu riskant. Es könnte jemand vorbeikommen.«

»Bist du eine Spionin?«, kommt es leise aus dem Inneren der Zelle.

Ich erstarre. Wie kann sie von den Plänen der Rebellen wissen? Ertappt schiele ich zu Clyde, der mich mit großen, entsetzten Augen mustert.

»Ja, aber es ist alles schiefgelaufen«, setze ich an, werde jedoch von Clyde mit einem Stoß in die Rippen unterbrochen, denn in diesem Moment tritt eine Legionsführerin in den Flur. Sie steuert geradewegs auf Clyde und mich zu, dabei sind ihre Schritte so leise, dass sie kaum wahrnehmbar sind. Deshalb haben wir sie auch nicht kommen gehört. Panisch blicke ich zu Clyde, doch er scheint genauso ratlos wie ich.

Als die Legionsführerin vor uns anhält, erkenne ich sie wieder. Es ist A350. Anstatt uns festzunehmen oder anzufahren, was wir hier tun, schenkt sie Clyde einen zwar erhabenen, aber gleichzeitig wohlwollenden Blick.

»Gute Arbeit, C515. Sie haben D518 erfolgreich festgehalten, ab hier übernehme ich.«

Sowohl Clyde als auch ich starren sie ungläubig an. Ist das ihr Ernst?

»Folge mir«, befiehlt sie und marschiert eilig den Flur entlang. Mir bleibt nichts anderes übrig, als ihr hinterherzugehen. Glaubt sie wirklich, dass Clyde mich gefangen hat? Wie soll ich denn allein in die Krankenstation gekommen sein? Und woher sollte ich von Zoe wissen? Oder tut sie nur so, als würde sie es glauben? Aber warum sollte sie? Sie erschien mir bereits bei unserer letzten Begegnung ungewöhnlich emotional für eine Legionsführerin. Verheimlicht sie etwas? Ist sie vielleicht mehr, als sie zu sein vorgibt?

Die Fragen türmen sich in meinem Kopf, als sie vor einer Tür stehen bleibt und sie aufstößt. Es ist eine der wenigen, die sich nicht über einen Scanner öffnen lassen, sondern altmodisch durch einen Schlüssel.

Als die Tür hinter uns ins Schloss fällt, blicke ich mich in dem kleinen Raum um. Es ist eine Art Behandlungszimmer mit einem Schreibtisch, zwei Stühlen und einer Liege. Von der Decke baumelt eine Glühbirne, wahrscheinlich die letzte in der gesamten Sicherheitszone. Doch noch etwas fällt mir auf: Es gibt keine Kameras.

Fragend schaue ich zu A350. Ihr Mund ist zu einem ärgerlichen Strich verkniffen.

»Glaube nicht, dass ich nicht wüsste, was hier vor sich geht.«

Mein Hals wird plötzlich ganz trocken. Doch der wütende Blick in A350s Augen wird etwas milder.

»Aber vielleicht solltest du etwas über die Menschen wissen, für die du bereit bist, dein Leben aufs Spiel zu setzen.«

Mir ist nicht ganz klar, von wem genau sie spricht. Von Zoe? Oder den Rebellen? Wie viel weiß sie wirklich?

A350 geht um den Schreibtisch herum und holt aus der Schublade einen Monitor hervor. Als sie den Bildschirm berührt, erstrahlt ein bläuliches Licht und erhellt den kleinen Raum. Vor ihrem Gesicht erscheinen viele kleine Würfel in 3D. Sie wirken so real, als könne man nach ihnen greifen.

»Vielleicht erinnerst du dich nicht mehr an sie, aber du warst nicht die Einzige, die von den Verstoßenen entführt wurde.«

Doch, ich erinnere mich sehr gut. Nicht nur an Iris, sondern auch an die anderen: D276, D456 und D389. Ich habe keinen von ihnen vergessen, auch wenn ich nie erfahren habe, was aus ihnen wurde, nachdem Ruby sie mit sich genommen hatte. Allerdings habe ich auch nie danach gefragt. Ständig habe ich den Gedanken an sie von mir weggeschoben. Vielleicht wollte ich es einfach nicht wissen.

Die Legionsführerin betrachtet mich für einen Moment zögernd, dann tippt sie gegen einen der blauen Würfel vor sich. Die Kästen lösen sich langsam auf und lassen ein neues Bild vor unseren Augen entstehen.

Keuchend entfährt mir der Atem. Das Bild, das sich mir bietet, ist entsetzlich. Ich erkenne sie sofort und spüre, wie mir Tränen in die Augen steigen. Panisch schüttele ich den Kopf. Nein, das ist nicht wahr!

Vor mir sind die drei Leichen der anderen Gefangenen zu sehen. Ihre braunen Anzüge sind schmutzig, zerrissen und tragen noch den roten Sand der Höhlen an sich. Sie sind alle mit einem einzigen Schuss in den Kopf getötet worden. Ihre offenen Augen starren leblos in den Himmel. Ich möchte die Angst in ihrem Blick nicht sehen, doch ich schaffe es nicht, wegzuschauen. Zu lange habe ich die Augen verschlossen. Zu lange habe ich den Gedanken an sie verdrängt.

»Das ist, was die Verstoßenen mit Menschen machen, die nicht bereit sind, so zu leben, wie sie es für richtig halten«, erklärt mir A350 mit weicher und fast rücksichtsvoller Stimme. Sie blickt mich ernst an, doch ich kann und will ihren Worten keinen Glauben schenken. Automatisch schüttele ich erneut meinen Kopf. Nein, so etwas würden die Rebellen nicht tun.

»Du glaubst mir nicht? Was hast du denn gedacht, was mit ihnen passiert wäre? Hast du sie auch nur einmal während deiner Gefangenschaft wiedergesehen?«

Ich schweige.

»Wenn die Verstoßenen sie freigelassen hätten, wären sie jetzt hier. So wie du auch.«

Ich erinnere mich daran, wie Paul mir erzählte, dass die Legion ihre Feinde rücksichtslos erschießen würde. Damals habe ich ihm nicht geglaubt, doch jetzt liegt der Beweis für seine Worte in einem digitalen Bild direkt vor mir. Es ist genau das passiert, was er mir vorhergesagt hat, und ich hätte eine von diesen leblosen Körpern sein können. An dem Tag, als Ruby die Gefangenen mitgenommen hat, wollte ein Teil von mir mit ihnen gehen.

»Willst du wirklich für solche Menschen kämpfen? Für Menschen, die Unschuldige entführen, gegen ihren Willen festhalten und töten? Menschen, die einen Krieg provozieren, ohne dabei an die Verluste zu denken? Menschen, denen es egal ist, wie viele Unschuldige sterben müssen, solange sie selbst leben?«

Wenn sie so genau weiß, dass ich für die Rebellen arbeite, warum hat sie mich dann nicht getötet? Warum lässt sie zu, dass ich durch die Sicherheitszone spaziere, wo ich jedem mein Geheimnis anvertrauen könnte? Es stimmt nicht, was sie über die Rebellen sagt – nicht alle von ihnen sind so. Doch trotzdem steckt ein Funke Wahrheit in den Worten der Legionsführerin.

Ich beginne, über ihre Worte nachzudenken. Den Rebellen waren die Menschen in der Sicherheitszone immer egal.

Es bestand immer die Gefahr, dass die Legion mich töten würde, sobald sie mich vor ihren Toren sehen. Doch nichts dergleichen ist passiert. Sie haben mich bei sich aufgenommen, als wäre nie etwas geschehen. Selbst meine Erinnerungen haben sie mir gelassen. Warum? Ich bin nichts Besonderes für sie – nur eine von vielen.

Für die Rebellen war ich etwas Besonderes. Für sie waren Iris und ich anders. Wir waren als Einzige in der Lage, zu fühlen, wie die Rebellen es ausdrückten. Doch wäre das Grund genug für sie, die anderen Entführten einfach ihrem Schicksal zu überlassen? Ich ziehe nicht für einen Moment in Erwägung, dass einer der Rebellen selbst die Waffe auf diese wehrlosen Menschen gerichtet und abgedrückt haben könnte. Aber haben sie ihren Tod billigend in Kauf genommen, indem sie sie zurückgeschickt haben?

Ohne dass ich es möchte, muss ich an Finn und den Hass in seinen Augen denken, mit dem er mir am Anfang begegnete. Er hasste mich aus tiefstem Herzen, so wie er mich jetzt aus tiefstem Herzen liebt. Er konnte in mir nur die Legion sehen, die seine Eltern getötet und seine Schwester entführt hat. Als wir damals zusammen in die Grube stürzten, wusste ich genau, dass er mich dort zurückgelassen hätte, wenn ich allein hineingefallen wäre. Er wäre nicht zurückgekommen, um mich zu retten, so wie ich es für ihn getan habe. Es gibt nichts in Finns Leben, das er mehr hasst als die Legion. Die traurige Wahrheit ist, dass er für die Freiheit seiner Familie jeden einzelnen Bewohner der Sicherheitszone opfern würde. Für ihn sind die Menschen hier nur seelenlose Roboter.

Plötzlich legt sich die Hand der Legionsführerin auf meinen Arm. In ihren Augen lese ich Mitgefühl. »Ich bringe dich jetzt zurück zu deinem Dienst, aber denk über meine Worte nach. Ein weiterer Fehler deinerseits ist inakzeptabel.«

Als ich in den frühen Morgenstunden in mein Bett falle, ist das Gefühl der Leere in mein Herz zurückgekehrt. Zoe und C515 wiederzusehen, erfüllte mich mit Hoffnung, doch die Worte der Legionsführerin haben mich nachdenklich gestimmt. Was will sie von mir?

Ich werde das Bild der ermordeten Menschen nicht mehr los. Wer trägt Schuld an ihrem sinnlosen Tod? Die Legion oder die Rebellen? Vielleicht beide gleichermaßen. Wie viel wusste Finn? Wusste er, dass sie ihrem sicheren Tod entgegengehen, als sie das Lager der Rebellen verließen?

Plötzlich öffnet sich die Tür meines Zimmers und eine Frau im blauen Anzug der Kämpfer tritt ein.

»Hast du eine Nachricht für mich?«, fragt sie mit tonloser Stimme. Ich richte mich auf und mustere sie genauer: ihren kahlen Kopf, die lichtblauen Augen, das ausdruckslose Gesicht … Fast hätte ich sie nicht wiedererkannt, aber es ist Ruby. In der Legion scheint sie ein völlig anderer Mensch zu sein. Bei den Rebellen wirkte sie tough und humorvoll auf mich. Sie war eine der wenigen, die Finn ein Lachen entringen konnten. Die Rebellen haben sie mit Respekt behandelt. Hier ist sie genauso kalt und leblos wie jeder andere Bewohner – sie passt perfekt ins Bild.

Warum taucht sie ausgerechnet jetzt auf? Jetzt, wo die Zweifel an meinem Herzen nagen und ich nicht mehr weiß, ob ich wirklich das Richtige tue.

»Meine Mission ist gescheitert.«

»Für eine Einschätzung dieses Ausmaßes ist es noch etwas zu früh.«

Ich blicke sie durchdringend an. Sie war es, die die Gefangenen zurück zur Legion gebracht hat. Sie kann mir all meine Fragen beantworten.

»Wusstet ihr, dass sie die Gefangenen umbringen würden?«

Sie runzelt die Stirn. »Welche Gefangenen?«

Sie kann doch unmöglich vergessen haben, von wem ich rede.

Als sie meine Bestürzung über ihre Reaktion sieht, scheint es ihr zu dämmern. »Ach so!«

»Wusstet ihr es?«, wiederhole ich meine Frage noch drängender.

»Die Rebellen haben ihnen die Chance auf ein Leben gegeben. Sie wollten diese jedoch nicht annehmen. Das, was danach kam, lag in den Händen der Legion. Sie haben die Entscheidung getroffen, nicht die Rebellen.«

»Die Rebellen haben sie entführt!«, werfe ich ihr vor, völlig außer mir. »Sie hatten ein Leben und das hat man ihnen entrissen!«

Ruby zieht argwöhnisch ihre linke Augenbraue hoch. So sieht sie mehr wie die Person aus, die ich kennengelernt habe. »Kaum bist du ein paar Tage zurück, schon weißt du nicht mehr, auf welcher Seite du stehst«, zischt sie mir anklagend entgegen.

»Vielleicht liegt es daran, dass beide Seiten falsch sind!« Keiner von ihnen schert sich um das Leben der einfachen Bewohner der Sicherheitszone.

»Ist das deine Nachricht, die ich übermitteln soll?«, fragt sie mich herausfordernd.

Für Finn wird es ein Schlag ins Gesicht sein. Ich möchte ihn nicht verletzen, aber ich kann auch nicht für Menschen arbeiten, hinter deren Zielen ich nicht stehe. Ich weiß, sie würden in ihrem Kampf gegen die Legion keine Rücksicht auf die Menschen der Sicherheitszone nehmen, und das kann ich nicht zulassen. Vielleicht sind diese Menschen nicht so voller Gefühl wie sie selbst, aber das ändert nichts daran, dass es Menschen sind, die genauso atmen wie sie. Niemand hat das Recht, ihnen das zu nehmen.

Ich habe das Gefühl, endlich wieder zu mir selbst zu finden und klar zu sehen: Ich bin keine Rebellin, aber ich bin auch keine Anhängerin der Legion. Ich sehe mich in jedem einzelnen Bewohner der Sicherheitszone und ich möchte, dass jeder von ihnen das sehen und fühlen darf, was ich erfahren habe. Sie sollen spüren, was Freiheit bedeutet.

»Ich kämpfe weder für die Rebellen noch für die Legion, sondern für das Recht auf Leben eines JEDEN Menschen.«

04. TREUE WIRD BELOHNT

Es ist leichter, die Tage mit einem Ziel vor Augen zu überstehen. Wenn man weiß, wofür man morgens aufsteht, hat der Tag einen Sinn. Früher war es mein Ziel, eine gute Klassifizierung zu erreichen. Während der Entführung war es das blanke Überleben. Danach, zurück in der Legion, so viel wie möglich herauszufinden, um den Rebellen helfen zu können.

Ich wusste immer, wo ich hingehöre, doch jetzt fühle ich mich einsamer denn je. Enttäuschungen waren meinem Leben fremd. Wer nie hofft, kann nicht enttäuscht werden. Wer keine eigenen Entscheidungen trifft, kann keine falschen treffen. Mir wird bewusst, dass Freiheit einen Preis hat. Aber ich weiß nicht, was ich bereit bin, dafür zu zahlen, und so sitze ich in einer endlosen Schleife aus Arbeit und Schlafen fest. Es ist jeden Tag das Gleiche. Der einzige Sinn in meinem Leben besteht darin, die Nahrungsrationen zu verteilen, und selbst diese Aufgabe ist unnötig, denn das System macht keine Fehler. Es gibt nichts in meinem Leben, wofür es sich noch zu leben lohnen würde. Alles, worauf ich meine Hoffnungen gesetzt habe, hat sich als falsch herausgestellt. Ich fühle mich wie gefangen in meiner eigenen Hülle.

Diese Gedanken schleichen sich wie Nebel in meinen Kopf, während ich vor dem Monitor sitze und mechanisch die Pillen und Tabletten bestätige. Vor meinen Augen verschwimmt alles. Das passiert immer, wenn man lange Zeit auf einen Punkt starrt. In meinen Ohren beginnt es zu rauschen. Wie lange wird es wohl dauern, bis sich meine Seele aus meinem Körper zurückzieht? Wochen? Monate? Jahre? Ich wäre fast dankbar dafür, denn jedes Gefühl und jeder Gedanke schmerzt.

Selbst als das Signal zum Ende der Schicht ertönt, stellt sich bei mir keine Erleichterung ein. Auch jetzt erwartet mich keine aufregende Abwechslung. In der Sicherheitszone haben die Menschen keine Freizeit. Es gibt keine Hobbys und nicht einmal Zeit, um sich zu unterhalten. Niemand redet mit dem anderen, wenn es nicht sein muss. Kommunikation ist unnötig.

Obwohl ich mich wieder anpassen wollte, schaffe ich es nicht, den Computerraum in dem gleichen eiligen Schritt der anderen Arbeiter zu verlassen. Ich muss mich zwingen, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Am liebsten würde ich mich auf den Boden schmeißen und schreien, schluchzen und weinen. Sie würden mich in der Krankenstation wegschließen – so wie Zoe. Es wäre nichts anderes. Egal wo sie mich auch hinbringen, in der Sicherheitszone ist man immer gefangen.

Ohne auch nur den Kopf zu heben, schleiche ich durchs Atrium. Die beweglichen Bilder interessieren mich nicht mehr. Es ist alles nur eine Illusion. Plötzlich stellt sich mir jemand in den Weg. Überrascht hebe ich den Kopf. Es ist Clyde.

»Geht es dir gut?«, fragt er mich und ich bilde mir ein, Sorge aus seiner Stimme herauszuhören. Rund um uns herum hasten die anderen Bewohner vorbei, ohne überhaupt Notiz von uns zu nehmen. Es ist, als würde für uns die Zeit stillstehen, während sie für alle anderen weiter rennt.

»Ich bin funktionsfähig«, antworte ich ihm nüchtern. Doch Clyde scheint hinter die Mauer blicken zu können, die ich mir sorgfältig errichtet habe. Er sieht den Schmerz und die Verzweiflung in meinem Inneren.

»Danach habe ich nicht gefragt.« Er schweigt und wir blicken uns in die Augen. Es ist ein vertrauter Moment. Wir kennen uns, seitdem wir denken können, aber wissen trotzdem nichts über den anderen. Nichts, was wichtig ist.

»Ich habe dich gesehen«, sagt er plötzlich und ich verstehe nicht, was er damit meint. Fragend lege ich meine Stirn in Falten. »Draußen.«

Ungläubig reiße ich meine Augen auf und starre ihn entsetzt an. Wie soll das möglich sein?

»Ich war bei dem Einsatz dabei, als die Verstoßenen auf die Strommauer gestoßen sind. Du bist in die Hügellandschaft geflüchtet und ich bin dir gefolgt.«

Er war es. Der C-ler, der das Gewehr vor mir sinken ließ. Der Kämpfer, den Finn niederschlug.

»Ich habe dich sofort erkannt, obwohl du anders aussahst.«

Allein die Erinnerung an Cleo, die hoffnungsvolle Person, die ich damals war, treibt mir die Tränen in die Augen. »Meine Haare waren gewachsen und meine Augenfarbe hatte sich verändert …«

Er unterbricht mich. »Das meine ich nicht. Du sahst lebendig aus.«

Das Wort schwebt zwischen uns wie eine Wolke. Er hat Recht. Genau so habe ich mich damals gefühlt. Ich habe geglaubt, ich könnte die Welt verändern und alles schaffen, wenn ich nur den Mut dafür finde. Dieses Gefühl ist es, das ich jeden Menschen in der Sicherheitszone wenigstens einmal in seinem Leben spüren lassen möchte. Aber es soll nicht der letzte Moment ihres Lebens sein. Deshalb habe ich mich von den Rebellen abgewandt. Ihnen ist das Schicksal der Bewohner egal, mir nicht.

»Die Legion hat uns gesagt, dass die Reste der Radioaktivität die Verstoßenen verrückt und aggressiv gemacht hätten. Aber du warst nichts von beidem. Das hat meine ganze Sichtweise verändert.«

»Die Rebellen haben mich entführt«, erwidere ich kleinlaut.

»Du bist freiwillig bei ihnen geblieben«, entgegnet er jedoch. »Du hast an ihrer Seite gekämpft.«

Damals dachte ich, wir hätten dieselben Ziele. Damals war ich wie sie. Damals war ich eine Rebellin, wenn auch nur kurz.

Weil ich nichts sage, spricht er weiter. »Zoe hat mir von ihrem Leben erzählt. Von ihren Eltern, ihrem Bruder, dem Essen, den Tieren, den Pflanzen und so vielem mehr, das ich mir gar nicht alles merken kann. Ich habe nie zuvor jemanden mit solch einer Begeisterung und Liebe sprechen hören. Ihre Worte waren wie eine Melodie, die mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf geht. Ich sehne mich danach, all das mit eigenen Augen zu sehen. Ich möchte Kuchen schmecken und den Wind in meinen Haaren spüren. Ist es wirklich so schön, wie Zoe sagt?«

Ich spüre, wie meine Hände zu zittern beginnen. Die Art, wie er mich ansieht, lässt mich wissen, dass viel mehr von meiner Antwort abhängt, als es den Anschein macht. Er hat als Kämpfer die Welt außerhalb der Sicherheitszone gesehen und ist trotzdem zurückgekehrt. Er muss voller Zweifel sein, genau wie ich. Er weiß nicht mehr, wem er glauben kann. Die Wahrheit ist: niemandem. Zoes Worte haben die Sehnsucht nach Freiheit in ihm geweckt. Eine Sehnsucht, die wohl immer ein Traum bleiben wird.

Ich greife nach seiner Hand, die genauso kalt ist wie meine. Ich denke nicht an all die Kameras, die uns beobachten, und auch nicht an die Menschen um uns herum. Für sie sind wir unsichtbar. Sie sind nicht in der Lage, sich für andere zu interessieren. Es ist egal, was wir tun und worüber wir miteinander sprechen.

»Es ist wunderschön, aber der Preis, den die Freiheit kostet, ist zu hoch.«

Irritiert blickt er mich an. »Was für ein Preis?«

»Die Verstoßenen interessieren sich nicht für Menschen wie uns. Wir sind für sie nur Mittel zum Zweck. Sie sehen uns nicht einmal als Menschen an. Für sie sind wir Roboter, ohne die Fähigkeit, zu fühlen.«

Clyde schüttelt ungläubig den Kopf. »Warum warst du dann eine von ihnen?«

»Weil sie in mir etwas gesehen haben, das ich nicht bin.« Als ich ihre Gefangene war, wollte ich nichts lieber, als zu sein wie sie. Nun bin ich froh, dass ich es nicht bin. Ich kenne meine Wurzeln und sie reichen so tief, dass ich ohne sie nicht existieren kann. »Die Verstoßenen möchten die Legion zerstören und ihnen ist egal, wie viele Bewohner der Sicherheitszone dabei sterben werden.« Sie wollten mich dafür benutzen.

Geschockt blickt er mir entgegen und entzieht seine Hand der meinen. »Zoe ist anders.«

»Solange sie hier ist. Aber müsste sie sich zwischen uns und ihrer Familie entscheiden, würde sie nicht eine Sekunde zögern.« Ich kann es ihr nicht einmal verübeln. Die Rebellen sind ihre Wurzeln, so wie meine die Sicherheitszone sind.

Clyde wirkt erschüttert. »Warum sagst du so etwas? Was hat die Legionsführerin mit dir gemacht?«

»Sie hat mir die Augen geöffnet.« Eindringlich schaue ich ihn an. »Vergiss, was Zoe dir erzählt hat. Vergiss, was du dort draußen in meinen Augen gesehen hast. Es war eine Lüge. So unecht wie die Bilder des Atriums.«

Clyde schüttelt energisch den Kopf. »Nein! Du weißt, dass das nicht stimmt. Augen können nicht lügen.«

Mit diesen Worten lässt er mich stehen und geht. Nun bin ich wirklich allein. Das Atrium hat sich geleert. Die anderen Bewohner sind schon längst in ihren Zimmern, während ich mitten im Blick der Kameras stehe. Ich schaue ihnen provozierend entgegen. Es gibt nichts, das die Legion mir noch antun könnte. Mein Wille ist gebrochen und jegliche Hoffnung gestorben.

Mir fallen langsam die Augen zu, während ich auf den Bildschirm vor mir starre. Ein herzhaftes Gähnen entfährt mir und ich schlage erschrocken die Hand vor meinen Mund. Was ist denn nur los mit mir? Früher war ich doch nicht so. Früher habe ich mich wenigstens bemüht, einen Sinn in meiner Arbeit zu sehen.

Früher saß Zoe neben mir.

Ich blicke mich gelangweilt in dem Raum um, doch niemand erwidert meinen Blick. Alle sind vertieft in die Monitore vor sich. Niemand gähnt oder streckt sich, stattdessen sitzen sie alle mit aufrechter Haltung da, so als gebe es auf dem Bildschirm etwas Interessantes zu sehen.

Unruhig tippe ich mit meinen Fingern auf die Tischplatte, sodass ein leises Geräusch entsteht. Ich ändere den Rhythmus und versuche ein Lied nachzuspielen, das ich bei Jep und Pep gehört habe. Zu spät bemerke ich, dass ich damit nun doch die Aufmerksamkeit auf mich ziehe. Ich schaue erst empor, als sich der Dienstleiter bereits missbilligend vor mir aufbaut.

»Was tust du da?«, will er von mir wissen. In seinen Augen lese ich deutlich, was er über mich denkt: Verrückte!

»Musik«, entgegne ich schlicht und klopfe wie zur Bestätigung noch ein paarmal auf den Tisch.

»Ich werde dich melden«, droht er mir erneut. Aber was soll schon passieren? Es ist egal, ob sie mich hier oder in der Krankenstation gefangen halten. Die Zeit bei den Rebellen hat mich irreparabel zerstört. Ich bin nicht mehr derselbe Mensch und werde es auch nie wieder sein. Fast wünsche ich mir, dass die Legion mir meine Erinnerungen einfach genommen hätte. Es wäre so viel leichter.

Plötzlich ertönt eine laute Sirene und die Lautsprecher beginnen zu knistern. Besorgt blicken wir alle nach oben. Es folgt ein Räuspern und schließlich ertönt die Stimme eines männlichen Legionsführers.

»Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung. Unterbrechen Sie Ihre Arbeit und finden Sie sich im Atrium ein.«

Bisher wurde die Arbeit nur für Dokumentationen oder andere Informationsveranstaltungen unterbrochen. Ich habe das ungute Gefühl, dass es dieses Mal etwas anderes ist. Ist etwas passiert? Gab es etwa einen Angriff der Rebellen?

Mein Magen rebelliert vor Aufregung, als ich mich in die Schlange der Bewohner einreihe und den anderen im Gleichschritt in zügigem, aber beherrschtem Tempo in das Atrium folge. Dort haben sich bereits alle versammelt – jede Generation ist vertreten, selbst die Kleinkinder sind da. Zuvor habe ich die knapp siebenhundert Menschen, die die Sicherheitszone bewohnen, nur in den Reihen der Arena gesehen. Doch sie auf so engem Raum zusammengedrängt zu sehen, überwältigt mich. Es sind so viele. So viele Menschen, deren Tod die Rebellen für ihre eigene Freiheit in Kauf nehmen würden.

Auf der Treppe zu dem verbotenen Aufzug haben sich alle zwanzig Legionsführer versammelt. Ihre Mienen sind ernst, doch das hat nichts zu bedeuten, denn das sind sie schließlich immer.

Unter ihnen entdecke ich A350. Bilde ich es mir ein oder hat sie ebenfalls nach mir Ausschau gehalten? Als unsere Blicke sich begegnen, habe ich das Gefühl, eine Art Aufblitzen in ihren Augen zu sehen. So als wolle sie mich ermuntern. Aber warum sollte sie? Sie dürfte mich mit bloßem Auge ja nicht einmal erkennen, immerhin sind wir doch angeblich alle gleich.

Einer der älteren Legionsführer tritt vor. Ich erinnere mich an ihn. Nach der Klassifizierung hat er die Entscheidung verkündet, die den Verlauf meines Lebens bestimmt hat.

»Die Welt liegt im Wandel. Sie verändert sich jeden Tag ein kleines Stückchen mehr. Ob es positive oder negative Entwicklungen sind, liegt bis zu einem bestimmten Grad in unseren Händen.«

Er legt eine kurze Pause ein, um seine Worte wirken zu lassen, bevor er fortfährt.

»Nur wenn wir bereit sind, uns gemeinsam mit unserer Umwelt zu entwickeln, haben wir eine Chance, zu überleben. Veränderungen passieren nicht von heute auf morgen, sondern in kleinen, berechenbaren Schritten.«

Sein Blick gleitet über die Menge, die ihm gespannt lauscht. Von welchen Veränderungen spricht er nur? Was ist passiert? Hat es etwas mit den Rebellen zu tun? Obwohl ich mich entschlossen habe, nicht länger ein Teil von ihnen zu sein, spüre ich deutlich, wie mein Herz allein bei dem Gedanken daran, dass ihnen etwas passiert sein könnte, heftig zu pochen und zu schmerzen beginnt. Iris. Finn. All die anderen.

»Heute ist der Tag, an dem wir bereit sind, den ersten kleinen Schritt zu gehen. Es ist ein Tag, der in die Geschichte der Legion eingehen wird. Ein Tag, über den wir alle noch lange reden werden. Aber seid unbesorgt, denn es ist ein Tag der Freude.«

Wieder hält er inne und ich möchte ihn dafür ohrfeigen. Warum muss er es so verdammt spannend machen? Ein Tag der Freude für die Legion bedeutet selten etwas Gutes für die Rebellen. Haben sie etwa ihr Lager zerstört? Oder sie womöglich alle getötet? Aber warum sollten sie damit heute beginnen? Sie wussten doch immer von ihrer Existenz und ihr letzter Angriff ist noch nicht lange her.

»Wir verkünden heute zum ersten Mal in der noch jungen Geschichte unserer Gemeinschaft einen Klassifizierungswechsel.«

Während ein aufgeregtes Raunen durch die Menge geht, setzt mein Herz für einen kurzen Moment aus. Das gab es wirklich noch nie. Zum ersten Mal kann ich in den Gesichtern der Menschen rund um mich herum so etwas wie Freude und Hoffnung erkennen. Jeder von uns könnte damit gemeint sein.

»Das System macht keine Fehler. Jede Klassifizierung war zu dem Zeitpunkt, in dem sie getroffen wurde, richtig. Doch Menschen verändern sich genauso, wie die Welt um uns herum es tut. Es gibt einen ständigen Wandel und wir haben die Aufgabe, uns diesem anzupassen.«

Man sollte meinen, dass die Vergangenheit mich gelehrt hätte, wie gefährlich Hoffnung sein kann. Trotzdem kann ich mich nicht dagegen wehren, dass ein Teil von mir die betreffende Person sein möchte. Vielleicht wäre ich genauso machtlos wie jetzt, aber es wäre eine Veränderung. Es gäbe meinem Leben einen neuen Sinn.

»D518, tritt bitte zu uns auf die Treppe.«

Ich erstarre. War das wirklich meine Bezeichnung oder spielen meine Ohren mir Streiche? Aufgeregt blicke ich umher. Niemand betritt die Treppe. Ich blicke zu A350, die schnell in meine Richtung nickt. Ihre Lippen formen lautlos das Wort Komm.

Eilig setze ich meine Füße in Bewegung, wobei mir mein Herz bis zum Hals schlägt. Die anderen treten vor mir zur Seite und geben den Weg zur Treppe frei. Obwohl es nur wenige Meter sind, erscheint es mir wie der längste Gang meines bisherigen Lebens. Was wird jetzt passieren?

Als ich den Fuß der Treppe erreiche, zittern meine Knie so sehr, dass ich mich kaum noch auf meinen Beinen halten kann. Ich hebe den Kopf und blicke in die lichtblauen Augen des Legionsführers vor mir.

»D518, im Namen der Legion ernenne ich dich zu A518. Du erhältst mit dem heutigen Tag den weißen Anzug.«

Ich spüre, wie meine Lippen zittern, und höre kaum den Applaus, der rund um mich herum ausbricht. A350 tritt mir entgegen und drückt mir einen sorgfältig gefalteten weißen Anzug in die Hände. Für einen kurzen Moment berühren sich unsere Finger. Ihre sind genauso feucht wie meine. Ich blicke in ihre Augen und sehe tatsächlich Stolz in ihnen aufleuchten.

»Willkommen«, flüstert sie fast zärtlich und lächelt mich an. Warum ist sie so anders? Sie war es schon immer. Kann es sein, dass sie sich wirklich für mich freut? Womit habe ich die Ernennung verdient? Vor ein paar Tagen bin ich noch in die Krankenstation eingebrochen und meine Arbeit in der Nahrungsvergabe nehme ich schon lange nicht mehr ernst.

Ich weiß, dass mich diese Entwicklung beunruhigen sollte, doch für einen Moment genieße ich den Applaus und freue mich über diese unerwartete Entwicklung. Ironischerweise ist der Plan der Rebellen aufgegangen – zu spät. Ich gehöre nicht mehr zu ihnen. Habe es nie. Ich stehe weder auf ihrer Seite noch auf der der Legion. Aber vielleicht kann ich meine neue Position dazu nutzen, wirklich etwas zu verändern.

05. NICHTS ALS DIE WAHRHEIT

Zusammen mit den zwanzig anderen Legionsführern stehe ich vor den gläsernen Türen des Aufzuges, der mich nicht nur über die Erde, sondern auch in ein neues Leben befördern wird. Neben der Tür befindet sich ein Sensorfeld, auf das nun einer der anderen seinen Daumen presst. Erst jetzt fällt mir auf, wie jung er ist. Die meisten A-ler sind deutlich älter als ich, aus der vierten, dritten oder sogar zweiten Generation, doch dieser scheint in meinem Alter zu sein.

»Zugang gewährt«, verkündet eine Computerstimme und die Türen gleiten auseinander. Dahinter befindet sich ein kleiner Raum, kaum größer als meine ehemalige Zelle auf der Krankenstation, doch die Wände sind aus Glas. Nacheinander treten wir alle ein, bis sich die Türen wieder schließen.

Zuletzt bin ich mit einem Aufzug gefahren, als ich von den Rebellen entführt wurde. Danach wachte ich in den Höhlen auf.

Der Aufzug setzt sich in Bewegung und ich werfe einen letzten Blick zurück auf die Sicherheitszone, bevor sie unter mir verschwindet. Für einen Moment sind wir in komplette Dunkelheit gehüllt, doch dann öffnet sich eine Klappe und strahlendes Licht flutet die Kabine. Es ist so hell, dass ich meine Augen zusammenkneifen muss. Als ich sie wieder öffnen kann, schweben wir praktisch in der Luft. Rund um uns herum ist die rote Weite der Wüste zu sehen. Unter uns erkenne ich die vielen Fahrzeuge der Legion sowie Wasser- und Benzintanks, während über uns die große gläserne Kugel der Legionsführer schwebt.

Nur kurz lasse ich meinen Blick über die Umgebung gleiten, bevor ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die roten Sandberge richte. Ich presse meine Handflächen gegen das kalte Glas. Dort ist der Hügel, von dem mir Finn eines Nachts die Legion gezeigt hat. Die Sterne standen über uns am Himmel, während wir auf allen vieren den Berg hinaufkrochen und dann hinab in das Tal der Legion blickten. Natürlich haben wir uns auch damals gestritten – wir stritten immer. Aber an einen Satz erinnere ich mich noch, als wäre es erst gestern gewesen. Ich kann ihn Finn förmlich aussprechen hören. Es waren Worte, die mich dazu brachten, eine Rebellin sein zu wollen.

Vielleicht haben die Menschen irgendwann eine Wahl. Wir wollen, dass sie eine Wahl haben, und da sind wir nicht die Einzigen.

Damals habe ich ihm geglaubt. Doch wenn ich heute daran denke, wie sie einfach zugelassen haben, dass die anderen Gefangenen ihrem sicheren Tod entgegengehen, steigt Wut in mir auf. Diese Menschen hatten keine Wahl, denn sie waren nicht in der Lage, eine Entscheidung zu fällen. Diese Entscheidung haben ihnen die Rebellen abgenommen, indem sie ihnen nicht die Zeit gelassen haben, die sie gebraucht hätten.

Ich löse meinen Blick von der Weite und wende mich den anderen Legionsführern zu. Erst jetzt fällt mir auf, dass sie mich alle beobachten. Nicht offensichtlich, doch aus dem Augenwinkel. In ihren Augen liegt Missbilligung. Während sie bei der Verkündung noch feierlich wirkten, scheinen sie jetzt wie versteinert. Ihre Münder sind schmale Striche und ihre Augen kalt wie Eis. Fast scheint es mir so, als wollten sie mich nicht bei sich haben. Als wäre ich nur ein lästiger Eindringling, der nichts in ihrer Welt zu suchen hat. Aber sie haben mich doch ernannt. Warum hätten sie das tun sollen? Zu meiner Neugier mischt sich Angst. Was wird mich nun erwarten?

Langsam gleitet der Aufzug in die gläserne Kugel und rastet schließlich vor einem Gang ein. Eilig strömen alle heraus, dabei rammen sie mich mit ihren Schultern oder stoßen mir ihre Ellbogen in den Bauch. Natürlich rein zufällig, doch ein Wort der Entschuldigung fällt kein einziges Mal. Für Entschuldigungen ist in der Welt der Legion kein Platz.

Verunsichert trete ich als Letzte aus der Kabine und erhasche dabei einen kurzen Gesprächsfetzen.

»Du wolltest sie haben, dann kümmere dich auch um sie.«

Der Legionsführer, aus dessen Mund die Worte stammen, eilt bereits davon. Doch vor dem Aufzug wartet A350 auf mich. Hat er mit ihr gesprochen? Hat sie sich erneut für mich eingesetzt? Warum sollte sie? In dem Moment huscht dieses eigenartige und fremde Lächeln über ihr Gesicht.

»Willkommen in deinem neuen Zuhause.«

Zuhause. Ich dachte mein Leben lang, die Sicherheitszone wäre mein Zuhause. Bei den Rebellen musste ich lernen, dass alles, woran ich geglaubt habe, eine Lüge war. Ich habe geglaubt, dass ich bei ihnen wirklich angekommen wäre und einen Platz gefunden hätte, an den ich gehöre – wo ich zu Hause bin. Zurück in der Legion musste ich erkennen, dass ich mich auch dieses Mal getäuscht hatte. Ich habe das Gefühl, nirgendwo hinzugehören, gerade deshalb lösen die Worte von A350 eine tiefe Sehnsucht in mir aus. Ich kann nicht anders, als ihr Lächeln zu erwidern.

Unbeirrt fährt sie fort. »Ich nehme an, das alles hier ist nicht so neu für dich, wie es sein sollte. Du hast die gläserne Kugel bereits gesehen, oder?«

Ich nicke vorsichtig und frage mich erneut, wie viel sie wirklich über meine Zeit bei den Verstoßenen weiß. »Nur von außen«, erwidere ich leise.

»Dachte ich mir. Komm mit, ich zeige dir deine neue Unterkunft.«

Mit energischem Schritt läuft sie los, sodass mir nichts anderes übrig bleibt, als ihr zu folgen. »Wie geht es jetzt weiter? Was werden meine Aufgaben sein?«

Mit gerunzelter Stirn dreht sie sich zu mir um. »So weit sind wir noch lange nicht«, erwidert sie kühl. »Erst einmal musst du in die Geheimnisse der Legion eingeführt werden.«

»Was für Geheimnisse?« Sofort ist ihr meine ungeteilte Aufmerksamkeit sicher. Spricht sie etwa von der Strommauer? Sollte ich als Legionsführerin wirklich in der Lage sein, diese abzuschalten, wenn ich es nur wollte?

»Eines nach dem anderen«, wehrt A350 mich nüchtern ab.

Wir halten vor einer Tür.

»Probier es aus«, fordert A350 und deutet auf den Sensor vor mir. Gespannt lege ich meinen Finger auf die kühle Fläche.

Ein rotes Licht fährt über meinen Daumen, bevor es grün aufleuchtet und die Computerstimme verkündet: »Zugang gewährt.«

Die Tür gleitet auf. Der Anblick, der mich erwartet, verschlägt mir die Sprache. Während die Wand mit der Tür aus Stahl besteht, ist die gegenüberliegende Wand komplett aus Glas. Ich blicke geradewegs in die untergehende Sonne, die die Berge praktisch in Flammen stehen lässt.

Als ich zu A350 blicke, sehe ich, dass sie die Augen geschlossen hält und den Kopf der Sonne entgegenstreckt, so als könne sie durch das Glas ihre wärmenden Strahlen auf ihrer Haut spüren. Erneut kocht Wut in mir hoch.

»Finden Sie nicht, dass jeder Mensch ein Recht auf die Sonne haben sollte?«, platzt es aus mir heraus.

Jetzt öffnet sie ihre Augen und richtet den Blick auf mich. »Diese Entscheidung liegt nicht bei mir.«

»Bei wem dann?«

»Es gibt so vieles, das du nicht weißt. Zu Beginn könnten wir damit anfangen, dass du mich duzt. Wir werden in den kommenden Wochen viel Zeit miteinander verbringen.«

Sie macht mich neugierig, aber ich will nicht auf Antworten warten. »Die Verstoßenen leben praktisch in der Sonne, ohne dass sie ihnen je geschadet hätte. Die Radioaktivität stellt keine Gefahr mehr da«, fahre ich sie aufgebracht an. Es ist gefährlich und riskant, aber sie vermittelt mir das Gefühl, ohnehin schon alles über mich zu wissen, sodass ich ihr gegenüber ehrlich sein kann. Ich bin es leid, mich zu verstellen und zu lügen. Ich möchte sein, wie ich bin, auch wenn ich selbst erst noch herausfinden muss, was das genau bedeutet.

»Die Verstoßenen sind ein Experiment, das gescheitert ist. Es war ein Fehler.«

»Was für ein Experiment?«

A350 schüttelt mit der Andeutung eines Lächelns den Kopf. »Wir werden noch genug Zeit haben, um das zu diskutieren.«

Für mich fühlt es sich wie eine Ausrede an. Wird sie mir überhaupt jemals die Wahrheit sagen?

»Dusch dich und zieh dich um. Ich hole dich in einer halben Stunde zum Essen ab.«

Ehe ich etwas erwidern könnte, verlässt sie bereits den Raum. Offensichtlich läuft die Nahrungsvergabe hier anders als in der Sicherheitszone.

Doch wie anders, wird mir erst bewusst, als ich am Abend zusammen mit A350 den großen Konferenzraum betrete. In der Mitte befindet sich ein großer runder Tisch, um den sich alle Legionsführer versammelt haben. Vor ihnen stehen Teller und Gläser, Besteck liegt bereit. Das werden sie sicher nicht brauchen, um ein paar Tabletten zu schlucken.

A350 weist mir den Platz zu ihrer Rechten zu, während rechts von mir eine weitere Frau aus der dritten Generation sitzt. Auch dieser Raum ist wie die meisten auf einer Seite komplett verglast und auf der anderen durch eine Stahlwand begrenzt. Hinter mir befindet sich eine weitere Tür, die ich jedoch erst bemerke, als sie sich öffnet. Zwei Frauen mit braunen Anzügen treten ein und servieren auf großen, silbernen Platten dampfendes Essen. Also keine Pillen und keine Tabletten.

Sie platzieren die Platten auf dem Tisch. Es gibt eine Art Brathuhn, dazu Kartoffeln und Möhren. Doch anders als ich es von den Rebellen gewöhnt bin, verströmt dieses Essen keinen Geruch, der mir das Wasser im Mund zusammenlaufen ließe. Denn das Komische ist: Es hat überhaupt keinen Geruch.

Nachdem das Essen auf dem Tisch verteilt ist, gehen die beiden Frauen der D-Klassifizierung herum und schenken jedem von uns eine rote Flüssigkeit in die Gläser. Danach ziehen sie sich schnell in den Raum zurück, aus dem sie kamen. Verwirrter könnten sie mich kaum zurücklassen.

Bei den Rebellen hat man sich gegenseitig zugeprostet oder einen guten Appetit gewünscht, bevor man mit dem Essen begann, doch hier fehlt jegliches Ritual. Die Legionsführer nehmen sich einfach von den Platten, ohne auch nur ein Wort miteinander zu sprechen. Irritiert tue ich es ihnen gleich. Vorsichtig schneide ich mit dem Messer ein Stück von dem Huhn ab und stecke es mir in den Mund. Auch wenn es nicht nach Huhn duftet, so schmeckt es zumindest entfernt danach. Jedoch ist es deutlich zäher, als ich es in Erinnerung habe. Es fühlt sich in meinem Mund fast wie Gummi an. Auch als ich es herunterschlucke, habe ich das Gefühl, als wäre noch ein dünner Film auf meiner Zunge zurückgeblieben.

Bei den Kartoffeln und Möhren ergeht es mir kaum anders. Alles schmeckt irgendwie künstlich, sodass ich mich nicht länger zurückhalten kann und mich an A350 wende.

»Woher kommt das Essen?«, frage ich sie leise. Sie kaut mechanisch auf ihrem Fleisch herum. Es vergehen mehrere Sekunden, bis sie es schafft, den Brocken herunterzuschlucken, und sich dazu bequemt, mir ihre Aufmerksamkeit zuzuwenden.

»Es gibt in den Laboren eine eigene Nahrungsproduktion.«

»Mit echten Hühnern?«

Sie denkt kurz über die Frage nach, bevor sie antwortet. »Es sind nicht die Art von Hühnern, wie du sie aus dem Bildungsunterricht kennst. Sie sind gezüchtet und weiterentwickelt aus dem Genmaterial, das uns von Hühnern vorliegt.«

»Und die Kartoffeln und Möhren?«

»Damit funktioniert es genauso. Wir haben ihre Gene so verändert, dass sie ohne Licht wachsen. So sind sie geschützt vor radioaktivem Befall.«

Ich verkneife es mir, ihr zu sagen, dass man die Genmanipulation auch schmeckt. Stattdessen stelle ich ihr eine weitere Frage, denn immerhin ist sie bereit, mir zu antworten.

»Warum sind Frauen der D-Klassifizierung hier oben? Ich dachte, dieser Bereich wäre nur den Legionsführern vorbehalten.«

»Sie kochen für uns. Genauso gibt es D-ler, die putzen oder andere Aufgaben erledigen, für die wir keine Zeit haben. Wir haben auch einen eigenen Arzt.« Sie sagt es so, als sei es selbstverständlich, doch das ist es nicht.

»Habt ihr denn keine Angst, dass sie den anderen davon erzählen könnten, was sie hier sehen?«

A350 winkt lässig ab. »Das kann nicht passieren. Sie verlassen die Glaskugel nicht mehr, sobald sie sie einmal betreten haben. Sie leben bei uns.«

»Essen sie das gleiche Essen wie wir?«

A350 will mir gerade antworten, doch wird von der anderen Tischseite unterbrochen. Ein Legionsführer der vierten Generation hat wütend die Hände auf den Tisch geschlagen und funkelt mich verärgert an.

»Es reicht! Kaum ist sie hier, gibt es auch schon Probleme!«, klagt er vorwurfsvoll.

»Sie ist interessiert, mehr nicht«, ergreift A350 sofort Partei für mich.

»Sie steckt ihre Nase in Dinge, die sie nichts angehen«, entgegnet der Mann unnachgiebig.

»Sie muss verstehen, was passiert, um uns vertrauen zu können«, verteidigt mich A350 weiter. Ich weiß nicht, was sie in mir sieht, um sich derart für mich einzusetzen, aber es stört mich, dass die beiden über mich reden, als sei ich gar nicht da. Ich bin kein Spielball zwischen den Rebellen und der Legion.

»Wir sollten nicht erst ihr Vertrauen gewinnen müssen, sondern sie sollte uns gar nicht erst in Frage stellen. Wir sind die Legionsführer. Was wir sagen, ist Gesetz.«

Mit einem Schlag wird mir bewusst, dass ich diesen Legionsführer bereits kenne. Das ist A489. Er war es, der mich so rücksichtslos behandelt hat, nachdem ich während des Leistungstests auf dem Laufband zusammengebrochen war.

»Meine korrekte Bezeichnung lautet A518 und ich verfüge über einen Mund und Stimmbänder, die mich dazu befähigen, für mich selbst zu sprechen«, fahre ich den Mann an, womit ich ihn völlig aus der Bahn werfe. Offensichtlich hielt er mich für stumm oder zu ängstlich, um es zu wagen, die Stimme zu erheben.

»Niemand hat dir die Erlaubnis zum Sprechen erteilt«, stammelt er, während er um Fassung ringt.

»Ich brauche keine Erlaubnis. Ich bin eine Legionsführerin«, entgegne ich mit erhobenem Kopf. Wenn ich wirklich etwas in der Legion verändern möchte, dann muss ich lernen, mich gegen andere zu behaupten, und darf mich nicht von jedem herumschubsen lassen. Es ist Zeit, aus dem sicheren Schatten in das Licht zu treten, auch wenn die Gefahr besteht, dass ich mich verbrennen werde.

A489 studiert mein Gesicht, als sei ich eine bisher unbekannte Spezies. »Ach, sieh an. Und was glaubst du, warum du hier bist?«

»Ich bin hier, um für den Schutz der Menschen in der Sicherheitszone zu sorgen.«

»Ganz genau, und dazu gehört nicht, alles in Frage zu stellen, was wir erreicht haben. Ohne die Legion gebe es mit großer Wahrscheinlichkeit nicht einmal mehr einen Menschen auf der Erde. Es gibt keinen Grund, uns zu kritisieren.«

Offensichtlich fühlt er sich angegriffen. Ob das an einem schlechten Gewissen oder einem zu großen Selbstbewusstsein liegt, weiß ich nicht einzuschätzen.

»Ich kritisiere niemanden, ich bin nur ehrlich. Was spräche zum Beispiel dagegen, die Menschen in der Sicherheitszone mit der gleichen Nahrung zu versorgen?«

Entsetzt reißen einige der Anwesenden die Augen auf, während die Mienen der anderen so ausdruckslos bleiben, dass es mir unmöglich ist, ihre Gedanken zu deuten.

»Wir können einen Speisesaal einrichten, in dem alle ihre Nahrung gemeinsam zu sich nehmen. Die Nahrungsvergabe könnte lernen, zu kochen.«

A489 schüttelt nur den Kopf. »Du würdest die Menschen damit total überfordern. Sie bekämen Angst. Sie fürchten Veränderungen.«

»Sie fürchten sie nur, weil sie sie nicht kennen. Aber wie ihr heute selbst gesagt habt, ist es Zeit für Veränderungen. Ihr könnt die Menschen dort unten nicht ewig gefangen halten.« Ich versuche, nicht vorwurfsvoll zu klingen, sondern meine Meinung so sachlich und ehrlich wie möglich zu vertreten, doch die Mehrheit der Anwesenden fasst es nicht so auf. Die sonst so gesitteten Führer der Legion beginnen aufgebracht durcheinanderzureden.

»Sie sieht die Sicherheitszone als ein Gefängnis!«

»Sie wird uns zerstören, sobald sie die Möglichkeit dazu bekommt!«

»Wir haben ihr die Möglichkeit selbst geliefert, indem wir sie zu uns geholt haben!«

»Sie wird unser Untergang sein!«

»Das ist alles deine Schuld, A350!«

Schnell schüttele ich den Kopf und versuche, mich zu erklären. »Die Legion hat Großes geleistet. Ich würde niemals versuchen, das zu zerstören. Aber ich möchte das Leben für die Menschen in der Sicherheitszone verbessern. Nicht von heute auf morgen, aber in kleinen Schritten. Die Einführung von normalem Essen wäre ein Anfang.«

Es folgt keine Antwort, stattdessen betretenes Schweigen. A350 räuspert sich neben mir. »Ich denke, wir sollten A518s Vorschlag im Hinterkopf behalten und bei der nächsten Konferenz darüber diskutieren. Sind alle damit einverstanden?«

Niemand erwidert etwas. Die Stimmung ist genauso kalt und gefühllos wie vor der Diskussion. Der Ärger liegt wie eine drohende Gewitterwolke in der Luft.

»Du solltest dich jetzt schlafen legen. Es war ein aufregender Tag. Wir sehen uns morgen«, wendet sich A350 an mich und fordert mich damit indirekt auf, zu gehen.

Ich gehorche und verlasse das Zimmer. Ob ich jemals erfahren werde, was sie dazu bewogen hat, mir zu helfen? Sie hat dafür viel riskiert. Die anderen verachten nicht nur mich, sondern auch sie. Wenn ich irgendetwas tue, das in ihren Augen der Legion schadet, wird auch A350 für mich büßen müssen.

Als ich am nächsten Morgen den Konferenzsaal betrete, finde ich ihn verlassen vor. Lediglich ein Platz ist noch gedeckt. Offensichtlich haben die anderen schon gegessen. Auf dem Teller befindet sich eine Art Brötchen, dazu gibt es ein Glas Saft. Beides ist vollkommen geruchlos. Eigentlich habe ich keinen großen Hunger, trotzdem zwinge ich mich, zu essen.

Während ich allein an dem großen Tisch sitze, lasse ich meinen Blick durch die Fensterwand nach draußen gleiten. Die Sonne taucht das Zimmer in ein goldenes Licht, während der Himmel noch leicht roséfarben erstrahlt. Ich schließe meine Augen und stelle mir den taufrischen Geruch im Wald und den leichten Wind vor, der durch meine kurzen Haare fährt. Die Morgenstunden hatten immer etwas Magisches an sich. Die Welt war stets ruhig, so als würde sie selbst erst müde die Augen öffnen.

Ein lautes Klirren reißt mich aus meinen Erinnerungen und ich fahre erschrocken in Richtung Küchentür herum. Dort kniet eine der Bediensteten und sammelt Scherben eines Glases ein, das ihr offensichtlich heruntergefallen ist. Sie hat den Kopf gesenkt, sodass ich ihr Alter nur schwer einschätzen kann. Als sie alle Scherben eingesammelt hat, verharrt sie regungslos auf dem Boden, so als würde sie sich fürchten, meinem Blick zu begegnen.

Plötzlich ist es totenstill in dem Raum. Wir scheinen beide den Atem anzuhalten und wirken dabei wie erstarrt. Doch dann sehe ich, wie Blut aus ihren Händen auf den Boden tropft. Sie presst die Scherben förmlich in ihre Handflächen. Alarmiert springe ich auf und stürze zu ihr, während sie weiter bewegungslos auf dem Boden kauert.

Behutsam lege ich meine Hände um ihre und löse vorsichtig ihre verkrampften Finger, sodass die roten Scherben zu Boden fallen.

»Fürchte dich nicht«, flüstere ich behutsam. Ich kann mich noch gut daran erinnern, in welchen Schock es mich versetzt hat, als ich zum ersten Mal mein eigenes Blut gesehen habe. Ich dachte, ich müsste sterben. »Dir passiert nichts.«

Ich versuche Blickkontakt zu ihr herzustellen, doch sie starrt stur auf den Boden vor sich, wo ihr Blut eine kleine Lache hinterlassen hat.

»Wie ist deine Bezeichnung?«

»D560«, bringt sie leise hervor. Dabei zittert ihre Stimme vor Angst.

Sie ist aus meiner Generation. Wie schrecklich muss es für sie sein, den Luxus der Legionsführer täglich zu sehen und nie ein Teil davon sein zu können.

»Ich bin A518. Kann ich dir irgendwie helfen?«

Endlich wagt sie es, mir in die Augen zu blicken. Tränen verschleiern ihre Sicht. Der Anblick verschlägt mir die Sprache. Tränen sind in der Legion genauso selten wie ein Lachen. Ich selbst habe erst bei den Rebellen gelernt, zu weinen.

»Was ist hier los?«

Eine strenge Stimme hallt durch den Raum und als ich mich umdrehe, steht A350 hinter uns.

»D560 hat sich geschnitten. Sie braucht einen Arzt«, erkläre ich ihr schnell die Situation.

»Sie hat sich geschnitten?«, wiederholt A350 ungläubig meine Worte, so als wäre es etwas völlig Unvorstellbares. D560 ist ein Mensch und kein Roboter – muss ich sie etwa wirklich daran erinnern?

»Ja, es war keine Absicht«, bestätige ich ihr und verheimliche ihr dabei bewusst, dass sich D560 förmlich die Scherben in die Hand gepresst hat.

A350 runzelt missbilligend die Stirn, aber betätigt einen Knopf hinter ihrem rechten Ohr, mit dem sie einen Arzt in den Konferenzraum bestellt.

»Es wird sich jemand um sie kümmern. Folge mir.«

»Ich würde gern mit ihr warten, bis der Arzt da ist«, entgegne ich und lasse meine Hand auf der von D560 liegen. Ihre Haut ist ganz kalt.

»Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«

Ihre Antwort ist kurz und duldet keine Widerrede. Besorgt blicke ich zu dem Mädchen, das ausdruckslos an mir vorbeistarrt. Es macht nicht den Anschein, als würde sie Wert auf meine Gesellschaft legen. Aber ich weiß nur zu gut, dass in der Legion selten etwas so ist, wie es scheint. Mit schwerem Herzen löse ich mich dennoch von ihr und folge A350 aus dem Konferenzsaal in die gläsernen Gänge der Legionskugel.

Wir betreten einen Raum, der mit einem riesigen Computersystem ausgestattet ist. Der Tisch vor uns beherbergt blinkende Lichter, Schaltknöpfe und verschiedene Hebel. Das Beeindruckendste ist jedoch, dass dieser Tisch mindestens zehn Meter lang ist. Es ist unmöglich für mich, da auf Anhieb durchzublicken. Hinter dem Kontrollboard befinden sich mehrere Bildschirme, die Kameraaufnahmen aus der Sicherheitszone zeigen.

»Das ist das Herz der Legion«, verkündet mir A350 stolz und auf ihren Lippen liegt wieder dieses ungewisse Lächeln. »Von hier aus steuern wir alles und können jeden überwachen.«

Wie zum Beweis drückt sie auf einen Knopf vor sich auf dem Board und auf einem der Bildschirme ist das Zimmer einer Bewohnerin der Sicherheitszone zu sehen. In der rechten Bildschirmecke ist ihre Bezeichnung eingeblendet, B287. Die Frau steht gerade vor dem Fenster der Nahrungszuteilung.

»Das ist unglaublich«, gestehe ich.

A350 nickt zufrieden und fährt fort. »Wir sind jedoch nicht hier, damit ich dir das Kontrollboard erkläre, sondern um einen Teil deiner Fragen zu beantworten, so wie ich es dir versprochen habe.«

Die Verstoßenen sind ein Experiment, das gescheitert ist. Es war ein Fehler.

Ich hätte nicht gedacht, dass sie darauf von sich aus noch einmal zurückkommen würde, und schon gar nicht so schnell, umso gespannter bin ich nun auf ihre Antwort. »Du wolltest mir von einem Experiment erzählen.«

A350 lässt ihren Blick über die Monitore gleiten. »Es gab eine Zeit, in der wir selbst Einblicke in die Höhlen der Verstoßenen hatten.« Gedankenverloren fährt sie mit den Fingern über eine Art Funkgerät. »Wir konnten sogar mit ihnen kommunizieren.«

Gustav hatte so etwas einmal angedeutet, dennoch überrascht es mich, dass sie mich nur einen Tag nach meiner Ankunft bei den Legionsführern in ein derart großes Geheimnis einweiht.

A350 bemerkt mein Misstrauen und zuckt mit den Schultern. »Das war jedoch lange vor deiner Zeit, selbst ich habe davon kaum noch etwas mitbekommen. Die Verstoßenen, oder die Rebellen, wie du sie wahrscheinlich nennst, waren nicht immer so, wie sie heute sind. Ganz im Gegenteil. Früher waren sie ein Teil der Legion.«

»Bis sie sich entschlossen, zu gehen …«, ergänze ich vorsichtig, doch A350 schüttelt den Kopf.

»Vor etwa dreißig Jahren erschuf die Legion die Strommauer. Sie grenzt ein großes Gebiet von der Außenwelt ab und bildet eine Art Kuppel über das gesamte Gelände. Zu dieser Zeit war ein Leben außerhalb der Sicherheitszone noch unvorstellbar, doch innerhalb der Kuppel begann die Legion, die Luft zu filtern. Sie nahm sowohl Boden- als auch Wasserproben. Als die Werte stabil waren, begann sie, die ersten Pflanzen zu setzen und danach die ersten Tiere durch Züchtung wieder auszuwildern. Das Ganze hat etwa zehn Jahre gedauert und war immer das Geheimnis der Legionsführer. Niemand wollte den Menschen zu früh Hoffnung auf ein Leben außerhalb der Sicherheitszone machen.«

»Was ist mit der Luft und dem Boden außerhalb der Kuppel? Sind sie nach wie vor radioaktiv verseucht?«

A350 zuckt nur mit den Schultern. »Das wissen wir nicht.«

Es fällt mir schwer, ihr zu glauben. Die Legion würde doch niemals im Ungewissen darüber bleiben. »Warum wurde es nicht überprüft?«

»Weil es keinen Grund gab, weiter an eine Aussiedlung der Menschen zu denken. Denn selbst die Kuppel war ein Fehler.«

Ich habe das Gefühl, dass sie in diesem Punkt nicht ehrlich zu mir ist und etwas verheimlicht. »Warum?«, will ich deshalb verständnislos von ihr wissen.

»Dazu kommen wir jetzt«, sagt sie so geduldig, als würde sie mit einem Kleinkind reden, das nicht in der Lage ist, die Bedeutung ihrer Worte zu erfassen. »Nachdem sich die Pflanzen und Tiere erfolgreich in der neuen Umwelt eingliederten, meldeten sich fünf Legionsführer freiwillig für den Auszug ins freie Land. Zwei von ihnen kennst du sogar, A175 und A176.«

Sofort sehe ich die beiden liebevollen Gesichter von Marie und Gustav vor meinen Augen. Ich kann ihre faltigen, aber warmen Hände förmlich auf meinen Wangen fühlen. Sie waren von Anfang an herzlich zu mir und hatten oft mehr Verständnis für mich als irgendjemand sonst. Vor allem Marie strahlt eine innere Wärme aus, in deren Nähe man sich einfach geborgen fühlen muss. Doch von all dem sage ich zu A350 nichts, sondern nicke nur mit dem Kopf.

»Sie organisierten zusammen mit drei anderen den Auszug aus der Legion und die Einrichtung eines Lagers in den Höhlen. Dafür nahmen sie den ganzen Schrott der alten Erde mit sich, den wir als Antiquitäten gelagert hatten. Egal ob es nun um Matratzen, Kleidung oder Möbel ging. Sogar die alten Autos mit den Benzintanks ließen sie vor die Höhlen karren. Sie wollten damals alles der alten Erde so ähnlich wie möglich gestalten, obwohl zu der Zeit kaum noch jemand lebte, der eigene Erinnerungen an die Welt vor dem Dritten Weltkrieg hatte. Nachdem sie alles eingerichtet hatten, wählten sie aus der Sicherheitszone Menschen unterschiedlicher Altersklassen aus, die sie bei dem Experiment begleiten sollten. Am Anfang waren die Menschen überfordert mit der Situation, aber sie nahmen ihre neuen Aufgaben schnell an. Hauptsächlich beschäftigten sie sich mit der Feldarbeit. Während die Legionsführer anfangs noch täglich Kontakt zur Legion hielten, wurde es mit der Zeit immer weniger. Sie begannen, ihr Leben außerhalb der Legion zu leben, und vergaßen ihr eigentliches Ziel. Sie verloren den Anschluss an die Legion und wollten selbst immer stärker werden. Bei jedem Treffen forderten sie mehr Leute, sodass die Legion zustimmte, ihnen die Verweigerer und Querulanten zu schicken, die eigentlichen Verstoßenen. Ein fataler Fehler.«

In der Erzählung der Rebellen hatte sich das alles etwas anders angehört. Es war immer die Rede von einem freiwilligen Auszug gewesen und nie von einer Zwangsaussiedlung. Ich weiß nicht mehr, wem oder was ich glauben kann. Letztendlich macht es aber keinen Unterschied, oder?

A350 löst den Blick von den Monitoren und schaut über die Wüstenlandschaft hinter den Fenstern. »Es brach Streit in den Höhlen aus, weil sich die Menschen uneinig über ihre Ziele waren. Ein Teil von ihnen wollte weiterhin mit der Legion zusammenarbeiten, um so eine Zukunft für alle Bewohner der Sicherheitszone schaffen zu können, aber andere wollten sich komplett von der Legion lösen. Die Legion bat sie mehrmals zum Gespräch, doch nur einer von ihnen nahm das Angebot an. Als er von der Lage in den Höhlen berichtete, waren die Legionsführer geschockt. Es war weit schlimmer, als sie gedacht hatten. Die Menschen hatten angefangen, sich gegenseitig umzubringen, und brachten damit das ganze Projekt in Gefahr. Deshalb sah sich die Legion gezwungen, einzugreifen.«

Mir ist klar, dass A350 es so darzustellen versucht, dass die Rebellen diejenigen waren, die den Krieg ausgelöst haben. Aber ich glaube ihr nicht – ein entscheidender Punkt spricht dagegen: Die Legion war immer in der Übermacht.

Trotzdem frage ich: »Wie griff die Legion ein?«

»Der Mann schloss einen Handel mit der Legion. Er wollte Freiheit für sich und seine Angehörigen – Unabhängigkeit. Der Rest der Rebellen war ihm egal. So vereinbarten sie einen Tag für einen Angriff. An diesem Tag verließ der Legionsführer mit seinen Angehörigen die Höhlen. Als sie zurückkamen, waren die anderen verschwunden.«

Der Legionsführer hatte die anderen verraten, um sich selbst zu schützen. Ohne fragen zu müssen, weiß ich, dass dieser Legionsführer Gustav gewesen sein muss. Er hat seine Familie, zu der mittlerweile alle Rebellen zählen, schon immer über alle anderen gestellt. Nichtsdestotrotz war es die Legion, die die anderen beseitigt hat, anstatt zu versuchen, eine Lösung zu finden.

»Das Experiment war somit zwar gescheitert, aber die Verstoßenen verhielten sich ruhig, sodass wir jahrelang in Frieden nebeneinander leben konnten. Bis vor einem Jahr die ersten Angriffe kamen.«

Ich glaube ihr kein Wort. Es wäre purer Selbstmord, wenn die Rebellen versuchen würden, die Legion anzugreifen. Der Angriff ging von der Legion aus, dessen bin ich mir sicher.

»Was sollte sie dazu bewogen haben?«

»Die Kinder von damals sind erwachsen geworden. Sie wissen nichts von der Legion und sehen in uns nur den Feind. Für alles, was in ihrem Leben schiefläuft, geben sie uns die Schuld. Und die Älteren erinnern sich zwar an die Legion, aber sehen sich schon lange nicht mehr als ein Teil von ihr. Sie wollen das, was die anderen Rebellen schon damals wollten – vollkommene Unabhängigkeit. Es reicht ihnen nicht mehr, neben uns zu leben. Sie fordern, dass wir die Strommauer abschalten.«

Zum ersten Mal kann ich einen Funken Wahrheit in ihren Worten erkennen. Die Strommauer ist der Grund, warum ich überhaupt wieder hier bin.

»Was spricht dagegen?«, frage ich verständnislos.

»Wir wissen nicht, was sich außerhalb der Strommauer befindet. Das alles ist unerforschtes Gebiet und könnte nicht nur für die Rebellen, sondern auch für die ganze Legion eine Gefahr darstellen.«

»Wir könnten das Gebiet erforschen …«

Sie fällt mir ins Wort. »Wir können nicht an zwei Fronten gleichzeitig kämpfen.«

Warum kämpfen? Ich sprach von Forschung. Gibt es da noch mehr, das ich wissen sollte?

Sie lässt mir keine Gelegenheit, zu fragen, sondern wechselt abrupt das Thema. »Mir hat dein Vorschlag zur Veränderung der Nahrungszuteilung in der Sicherheitszone übrigens gut gefallen. Wenn du ihn bei der Konferenz noch einmal ansprechen möchtest, werde ich dich dabei unterstützen.«

Ich studiere zweifelnd ihr Gesicht. Sie weiß genau, was sie sagen muss, damit ich schweige. Das Wohl der Bewohner der Sicherheitszone steht für mich an erster Stelle, denn sie sind die Einzigen, mit denen ich mich wirklich verbunden fühle. Ich bin eine von ihnen.

06. KOMPROMISSE

Als ich am Abend in dem weichen, aber viel zu großen Bett liege und das Licht der Abertausenden Sterne in mein Zimmer leuchtet, schaffe ich es nicht, die Augen zu schließen. Zu viele Gedanken rasen durch meinen Kopf. Auf der einen Seite möchte ich mich voll und ganz den Bewohnern der Sicherheitszone widmen und alles dafür tun, um ihr Leben zu einem Besseren zu wenden, aber auf der anderen Seite fühlt es sich wie Verrat gegenüber den Rebellen an, die für mich trotz allem zu Freunden wurden. Ich glaube nicht, dass sie mich absichtlich belogen haben. Es gibt immer zwei Seiten einer Geschichte und sie haben mir ihre Seite erzählt, während die Legion ihre eigene hat. Ich stehe dazwischen.

Was würde Finn sagen, wenn er meine Gedanken in diesem Moment hören könnte? Würde er mich verstehen? Wohl kaum – ich kann seinen enttäuschten und verletzten Blick förmlich vor mir sehen. Wahrscheinlich würde er etwas sagen wie: Ich wusste immer, dass du eine von ihnen bist. Ich hätte niemals daran zweifeln dürfen.

Vielleicht stimmt es sogar. Seit meiner Geburt gehöre ich zur Legion und je mehr ich über sie erfahre, umso mehr beginne ich, ihre Beweggründe zu verstehen, auch wenn ich sie nicht gutheißen kann. Es gibt so vieles, das ich ändern möchte, aber ohne einen weiteren Krieg. Ich glaube, dass wir zusammen viel erreichen könnten, wenn alle versuchen würden, sich in die Gegenseite hineinzuversetzen. Finn sagte immer, man müsse etwas riskieren, um etwas gewinnen zu können. Aber meiner Meinung nach gibt es nichts, das es wert wäre, das Leben weiterer unschuldiger Menschen zu gefährden. Zu viele sind schon gestorben, sodass jeder weitere Tote eine Niederlage bedeuten würde – egal, ob er der Legion oder den Rebellen angehört. Das würde Finn nicht verstehen, aber vielleicht würde seine Schwester es anders sehen. Zoe hat in der Sicherheitszone gelebt. Sie kennt die Menschen. Wäre sie wirklich bereit, ihrer aller Leben aufs Spiel zu setzen, nur um selbst in Freiheit zu leben? Wären ihr Clyde und ich egal? Sie hat uns kennengelernt und weiß, dass wir uns nicht von ihr oder den Rebellen unterscheiden. Genauso ist es mit jedem anderen Menschen in der Sicherheitszone. Jeder trägt eine einmalige Persönlichkeit in sich, die nur darauf wartet, sich entfalten zu dürfen.

Wenn ich doch nur mit ihr reden, meine Gedanken mit ihr teilen könnte.

Ich bin jetzt eine Legionsführerin. Bedeutet das, dass ich dieselben Rechte wie sie habe? Könnte ich auf der Stelle mein Bett verlassen, mit dem Aufzug in die Sicherheitszone fahren und Zoe besuchen? Ist es möglich, dass es wirklich so einfach ist? Ich kann es mir kaum vorstellen, aber der pure Gedanke ist zu verlockend, um es nicht wenigstens zu versuchen.

Aufgeregt schlage ich meine Decke zurück und schwinge meine Beine über die Bettkante. Schnell streife ich das weiße Nachthemd über meinen Kopf und steige erneut in den Anzug der Legion. Die Tür meines Zimmers öffnet sich problemlos, allein das erfüllte mich mit einem befreienden Gefühl. Zumindest bin ich nicht in meinem Zimmer gefangen wie in einer Zelle. Aber wie weit reicht meine Freiheit?

Mein Herz klopft wild gegen meine Brust, als ich durch den verlassenen Gang laufe, denn ich rechne förmlich damit, von jemandem aufgehalten zu werden. Sobald ich den Aufzug erreiche, presse ich nervös meinen Daumen auf den Scanner und warte ab. Es dauert einen Moment, dann erscheint ein rotes Licht und der Computer verkündet: »Zugriff verweigert.«

Enttäuschung macht sich in mir breit. Ich hatte mir zwar schon gedacht, dass es so einfach kaum sein könnte, aber ein Teil von mir hatte dennoch Hoffnung geschöpft. Die Legion ist nach wie vor ein Gefängnis für mich, nur dass sich der Bereich, in dem ich mich bewegen kann, vergrößert hat.

»Wohin soll es denn gehen?«

Erschrocken fahre ich herum. Hinter mir steht der einzige Legionsführer aus meiner Generation. Ich habe ihn nicht einmal kommen gehört. Er blickt skeptisch auf mich herab.

»Ich wollte nur …« Ich stocke und suche verzweifelt nach einer logischen Erklärung. Auch wenn ich in den letzten Monaten mehr Lügen aufgedeckt habe, als ich zählen kann, fällt es mir selbst schwer, zu lügen. Es ist mir zuwider, aber in diesem Moment leider unerlässlich. »Ich wollte ins Atrium fahren«, beende ich den Satz. »In den Betten der Legionsführer wird der Schlaf scheinbar nicht gesteuert und deshalb fällt es mir schwer, einzuschlafen. Ich wollte mir nur ein bisschen die Beine vertreten.« Selbst für mich hört es sich nach einer schwachen Ausrede an.

»Daraus wird wohl nichts«, erwidert er und ich glaube, in seinen Augen für einen kurzen Moment Triumph aufflammen zu sehen. »Du hast noch keine Berechtigung«, entgegnet er herablassend.

»Keine Berechtigung?«, wiederhole ich nachdenklich. Das hätte ich mir denken können.

»Du musst dich erst als vertrauenswürdig erweisen«, erklärt er schulterzuckend, bevor er hinzufügt: »Ich erhielt meine vollen Rechte nach einer Woche.«

Er sagt es in einem Tonfall, der mir deutlich macht, dass er nicht erwartet, dass es bei mir genauso schnell gehen wird. Allgemein fällt es mir schwer, ihn einzuschätzen. Zwar strahlt er nicht die typische Kälte der älteren Legionsführer aus, trotzdem hat er etwas an sich, das es mir nicht leicht macht, eine Verbindung zu ihm aufzubauen.

Er scheint zu merken, dass ich ihn mustere, denn plötzlich winkt er lachend ab. »Entschuldige bitte, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Ich bin A566. Früher der einzige Legionsführer der fünften Generation. Doch seitdem du da bist, hat sich das wohl erledigt.«

Obwohl er bei seinen Worten lächelt, scheint er mir meine bloße Anwesenheit übel zu nehmen.

»Freut mich, dich kennenzulernen. Ich bin A518«, antworte ich ihm höflichkeitshalber.

»Ich weiß«, erwidert er mit diesem undefinierbaren Lächeln auf den Lippen. »Ich freue mich, dass du jetzt zu uns gehörst.«

Seine Worte sind alles andere als ehrlich, sondern klingen wie auswendig gelernt – mechanisch. Ich kann jedoch nicht sagen, ob es an seinem unsicheren Umgang mit Gefühlen im Allgemeinen liegt oder ob er bewusst lügt.

»Ach wirklich?«, entgegne ich abweisend. »Habt ihr eigentlich darüber abgestimmt, ob ihr mich bei euch aufnehmt?«

Er runzelt die Stirn. »Warum willst du das wissen?«

»Es wirkt so, als wären nicht alle mit meiner Anwesenheit einverstanden.«

Er hebt entschuldigend die Hände. »Das hast du gut erkannt, aber lass dich von den anderen nicht verunsichern. Du kannst beruhigt sein, denn ich habe für dich gestimmt. Wenn du dich mit mir gut stellst, hast du einen wahren Freund an deiner Seite.«

Ich bezweifle stark, dass er weiß, was Freundschaft bedeutet. Woher sollte er auch? Doch umso komischer ist es, dass er dieses ihm fremde Wort benutzt.

»Danke«, erwidere ich zurückhaltend, weil ich nicht weiß, was ich sonst dazu sagen soll.

»Wenn du willst, fahre ich mit dir ins Atrium«, bietet er mir an, doch ich schüttele schnell den Kopf. Etwas an ihm löst bei mir einen Fluchtreflex aus. Ich möchte nicht länger in seiner Nähe sein.

»Nein danke, so wichtig ist es mir nicht.«

Zumal ich nicht einmal wirklich in das Atrium, sondern auf die Krankenstation wollte. Es wird wohl noch eine Weile vergehen, bis Zoe und ich uns wiedersehen können. Ich stehe nun mehr unter Beobachtung als je zuvor.

»Kein Problem, war nur ein Vorschlag«, entgegnet er schulterzuckend. Eine Geste, die er oft benutzt. Bei anderen Menschen wirkt sie unwissend oder sogar unsicher, doch bei ihm drückt sie völlige Gleichgültigkeit aus.

»Danke, ich weiß das zu schätzen, aber ich merke gerade, dass ich doch schon ziemlich müde bin«, verabschiede ich mich und trete den Rückweg zu meinem Zimmer an, das mir nun doch wieder mehr wie eine Zelle erscheint.

»Das ist eine gute Idee, du solltest morgen ausgeschlafen sein. Immerhin musst du noch viel lernen.«

Wenn Jep oder Pep diesen Satz gesagt hätten, wäre dabei ein freches Funkeln in ihren Augen gewesen, das mir gezeigt hätte, dass sie mich nur damit aufziehen wollen. Doch A566 meint es ernst. Recht hat er, aber die Art, wie er es sagt, gefällt mir nicht. Er gefällt mir nicht. Die Legionsführer haben alle etwas Überlegenes und Kaltes an sich, aber bei ihm ist es mehr als das. Ich kann es jedoch nicht benennen.

Ich nicke und drehe mich bereits um, als er mich kurz an meinem Ellbogen berührt. Ein kalter Schauer jagt durch meinen gesamten Körper.

»Wenn du es dir anders überlegst, lass es mich wissen.«

Wieder nicke ich, jedoch ohne ihn anzusehen. Während ich zurück in mein Zimmer eile, kann ich seinen Blick auf meinem Rücken spüren. Er bohrt sich wie glühendes Metall direkt zwischen meine Schulterblätter. Erst als sich die Tür hinter mir schließt, bemerke ich, dass ich die Luft angehalten habe. Erleichtert atme ich aus.

Die Konferenz findet bereits am nächsten Tag in dem großen Sitzungssaal statt, in dem wir auch unser Essen serviert bekommen. Es sind alle zwanzig Legionsführer gekommen, dazu aber auch ein Arzt in grünem Anzug und ein Kämpfer in blauer Uniform. Er erinnert mich unweigerlich an Clyde. Ich würde ihn gern wiedersehen. Es wäre schön, mit jemandem reden zu können, zu dem man ehrlich sein kann.

Was würde ich ihm sagen? Wahrscheinlich würde ich ihn als Erstes nach Zoe fragen. Aber im Grunde ist es völlig egal, worüber wir reden würden, selbst einfach neben ihm zu sitzen und zu schweigen, würde sich gut anfühlen. Obwohl wir kaum ein Wort miteinander gewechselt haben, fühle ich mich ihm verbunden, mehr als irgendjemandem sonst. Mehr noch als Finn. Wir teilen die gleiche Vergangenheit. Clyde ist der Einzige, der mich verstehen kann.

Die Konferenz wird von A489 eröffnet und beginnt mit einer Zusammenfassung der Ereignisse der vergangenen Woche. Das Highlight bietet dabei meine Ernennung. Die Legionsführer der anderen Legionen lassen mir ihre Gratulationen ausrichten. Auch für sie ist die Situation neu.

Erst durch meine Zeit bei den Rebellen habe ich von den anderen Legionen erfahren. Eigentlich müsste ich über ihre Existenz schockiert sein, doch es ist nur eine weitere Lüge, die ich einer langen Liste hinzufügen kann.

Die anderen Legionsführer wundert es nicht, dass ich nicht einmal mit der Wimper zucke. Niemand von ihnen kann einschätzen, wie viel ich wirklich weiß, und vielleicht macht gerade das ihnen Angst. Doch ich weiß längst noch nicht genug – A350 schuldet mir noch so viele Antworten.

Wie üblich sitzt sie direkt neben mir und als die Rede auf die Zentrallegion kommt, zwinkert sie mir vielsagend zu. Was sieht sie in mir? Nur ein weiteres Experiment?

Weiter geht es mit Berichten aus den anderen Sicherheitszonen. In der nördlichen Legion ist es zu Angriffen durch die Rebellen gekommen. Sie haben es geschafft, die Stromversorgung für mehrere Stunden lahmzulegen, sodass in der Sicherheitszone Panik ausbrach und es zu mehreren Toten, Verletzten sowie Flüchtigen kam. Die Rebellen konnten bisher nicht gefasst werden.

Ich erinnere mich an Raymond, der aus der nördlichen Legion kam. Bei dem Angriff auf dem Schwarzmarkt starb seine Frau. Sie war eine der Unglücklichen, die bei der Explosion nah an der Strommauer standen. Danach fehlten ihr ein Arm und eine komplette Gesichtshälfte. Raymond hielt sie in seinen Armen, bis sie ihren Verletzungen erlag.

Ich wusste, dass er ihren Tod rächen würde. Es ist eher erstaunlich, dass er damit so lange gewartet hat.

Ich erwische mich dabei, dass es mich erleichtert, zu hören, dass er und die anderen Rebellen bisher nicht gefasst werden konnten. Offensichtlich habe ich mich nach wie vor nicht für eine Seite entschieden.

Es folgt ein Bericht des obersten Kämpfers unserer Legion. Zur Freude aller gab es bei uns keinerlei Komplikationen. Die Rebellen verhalten sich ruhig und auch innerhalb der Sicherheitszone kam es zu keinen Aufständen. Ähnliches weiß der leitende Mediziner zu erzählen. Die Insassen der Krankenstation gehorchen den Anweisungen und leisten keinerlei Widerstand.

Sofort muss ich an Zoe denken. Bereits in der Sicherheitszone war sie in der Lage, sich gut anzupassen.

Etwas zögernd hebe ich meine Hand. Irritiert blickt mich A489 an. Offensichtlich ist es nicht üblich, seinen Vortrag zu unterbrechen, trotzdem erteilt er mir die Erlaubnis, zu sprechen.

»Wenn sich die Patienten der Krankenstation positiv entwickeln, wäre dann nicht eine Wiedereingliederung möglich?«

»Nein«, entgegnet er sofort, ohne auch nur über meine Worte nachzudenken. Es folgt auch keine Erklärung seinerseits, sodass ich mich gezwungen sehe, weiter nachzufragen.

»Und warum nicht?«

»Sie haben ihre Chance vertan«, antwortet er gleichgültig.

»Sind sie nicht auf der Krankenstation, weil man sie als krank eingestuft hat?«, frage ich scheinbar ahnungslos. »Seltsam, ich dachte immer, Krankheiten seien heilbar.«

Verärgert formt er seine Augen zu schmalen Schlitzen. »Die Insassen der Krankenstation leiden nicht an körperlichen Krankheiten, sondern an Erkrankungen des Geistes, welche sich als irreparabel erwiesen haben. Eine Wiedereingliederung ist deshalb ausgeschlossen.«

Obwohl ich ihm deutlich ansehen kann, dass er von mir erwartet, endlich meinen Mund zu halten, fahre ich fort. »Man könnte die Patienten stundenweise ihrer alten Arbeit zuteilen, sodass man ihr Verhalten gegenüber ihren Mitmenschen beobachten kann. Bei positivem Verlauf wäre eine Wiedereingliederung nicht auszuschließen.«

Ich sehe, wie die Lippen von A489 vor Wut beben und seine Hände sich zu Fäusten ballen. Er muss sich schwer beherrschen, um diese nicht auf den Tisch zu knallen, wie es Emily, die kleine Tochter von Grace, getan hätte, wenn sie ihren Willen nicht bekommt. Stattdessen wendet er den Blick von mir ab und richtet ihn auf A350. Als er spricht, ist seine Stimme spitz und schneidend. »Mir scheint, du bist nicht in der Lage, ihr die Grundregeln der Legion beizubringen.«

A350 zeigt sich jedoch unbeeindruckt von seinem verbalen Angriff. »A518 ist Legionsführerin. Sie hat ein Recht darauf, ihre freie Meinung mit uns zu teilen. Genau deshalb haben wir sie ernannt.«

»Ihre Meinung ist von Grund auf falsch«, zischt A489, wobei er sich bedrohlich über den Tisch beugt.

A350 lehnt sich stattdessen lässig in ihrem Stuhl zurück und geht auf seine Provokation nicht ein. »Ihre Meinung ist neu und kann uns dabei helfen, nicht die Kontrolle zu verlieren. Es ist wichtig, sich dem Wandel der Zeit anzupassen.«

»Die Legion wird niemals die Kontrolle verlieren.«

»Das hoffen wir alle.«

Obwohl das Gespräch damit beendet scheint, fixieren sie sich noch für einen Moment. Niemand will die Schwäche offenbaren, als Erstes den Blick abzuwenden. Um die Situation zu beenden, ergreift nun eine weitere Frau das Wort. Sie sitzt rechts von A350 und ist eine der ältesten Legionsführer. Ihre Bezeichnung ist A233. Sie räuspert sich, wobei ihr anzumerken ist, dass sie sich unwohl dabei fühlt.

»Ich nehme an, wir können die Berichte damit abschließen, und kommen zu den Verbesserungsvorschlägen.« Unsicher blickt sie in meine Richtung. »Möchte jemand beginnen?«

Das ist mein Stichwort. Ich kann mir ein gehässiges Lächeln in A489s Richtung nicht verkneifen und hebe erneut meine Hand. Wenn es so weitergeht, wird er bald vor Wut auf den Boden stampfen. A233 erteilt mir das Wort.

»Wir sprachen bereits beim Essen über die Einführung einer gemeinsamen Nahrungsvergabe sowie über eine Abschaffung der Tablettenversorgung in der Sicherheitszone. Darauf möchte ich jetzt zurückkommen. Nach wie vor glaube ich, dass eine schrittweise Veränderung für die Menschen unerlässlich ist. Tabletten sollten nur eine Notlösung sein, um Menschen am Leben zu erhalten, aber keine Dauerlösung, weil es am einfachsten erscheint.«

Ich erwarte einen weiteren Widerspruch von A489, doch stattdessen meldet sich A566 zu Wort, der neben A489 sitzt. Doch im Gegensatz zu ihm bleibt er ruhig und sachlich. »Du sprichst so, als würdest du glauben, dass wir die Menschen in der Sicherheitszone wie Gefangene halten. Hast du dich dort je gefangen gefühlt?«

Alles in mir möchte laut JA schreien, doch ich kann mich gerade noch beherrschen. Ich weiß, dass kein Legionsführer meine Antwort verstehen würde. Stattdessen würde ich sie damit nur gegen mich aufbringen. Zudem habe ich so eine direkte und dazu persönliche Frage nicht erwartet, sondern eher mit einer sofortigen Ablehnung gerechnet. Ich muss zugeben, dass mich A566 damit leicht aus dem Konzept bringt. Wahrscheinlich war genau das seine Absicht.

»Nein, die Sicherheitszone ist unser aller Zuhause. Die Menschen kennen nichts anderes und sind froh darüber, in Sicherheit zu sein«, antworte ich wahrheitsgemäß.

»Warum sollte man dann irgendetwas an ihrer Situation ändern? Du sagst selbst, dass sie zufrieden sind.«

»Sie sind zufrieden, weil sie nicht wissen, dass es andere Möglichkeiten gibt. Sollten sie je davon erfahren, werden sie sich gegen die Legion stellen.« Meine Stimme klingt bedrohlich.

»Wie sollten sie jemals davon erfahren?«

»Ich hätte auch niemals davon erfahren sollen und trotzdem ist es passiert.«

»Und dennoch sitzt du jetzt mit uns an einem Tisch und isst unser Essen. Allzu schlimm kann der Schock wohl nicht gewesen sein.«

A566 und A489 tauschen siegessichere Blicke. Sie wollen mich offenbar vor den anderen Legionsführern bloßstellen.

»Ich habe mich betrogen gefühlt«, antworte ich ehrlich.

Einige der anderen schütteln aufgebracht den Kopf und flüstern erregt miteinander. A350 legt mir eine Hand auf den Arm und blickt mich alarmiert an. Ihre Augen flehen mich an, zu verstummen.

A566 grinst mich stattdessen triumphierend an. »Und was willst du dann hier? Planst du bereits deine Rache?«

»Ich verspüre keine Wut auf die Legion. Es gibt nichts, wofür ich mich rächen wollen würde, denn ich weiß, dass die Legion immer in bester Absicht handelte. Aber die Zeiten haben sich geändert und ich bin hier, um diese Veränderungen auch in die Legion zu bringen.«

»Und wie willst du das anstellen, A518?« Die Art, wie er meine Bezeichnung ausspricht, hat etwas Belustigendes an sich. So als würde er mich und die ganze Diskussion nicht ernst nehmen, sondern mehr als Zeitvertreib oder Spiel ansehen.

»Ich glaube an die Menschen der Sicherheitszone«, erkläre ich und als mich niemand unterbricht, fahre ich fort. »Der Mensch braucht mehr als Sicherheit, Nahrung und eine Aufgabe. Er braucht etwas, für das es sich zu leben lohnt. Ein Ziel, eine Hoffnung, einen Traum oder ein Licht am Horizont. Menschen bleiben in ihrer Entwicklung nicht stehen, sondern wollen nach den Sternen greifen. Wenn man ihnen die Hoffnung nimmt, hören sie auf, zu leben, und werden zu Robotern. Das ist, was in der Sicherheitszone passiert. Doch wenn wir ihnen ein Ziel geben, werden sie vor Leben neu erblühen.«

Wieder ist es still geworden. Meine Worte scheinen die Legionsführer nachdenklich zu stimmen. Selbst A566 wirkt etwas verunsichert. »Was für ein Ziel soll das sein?«

Die Antwort ist für mich offensichtlich. »Ich möchte, dass die Bewohner sich wieder mehr wie Menschen fühlen.«

A566 starrt mich an, als sei ich übergeschnappt. Er schüttelt nur den Kopf, während A489 skeptisch die Augen zusammenkneift. Auch die anderen Legionsführer scheinen nicht ganz zu verstehen, was ich meine. Vielleicht können sie es nicht. Vielleicht haben sie selbst vor langer Zeit verlernt, was das Menschsein auszeichnet. Ihnen fehlt das, was für die Pflanzen die Sonne ist – die Liebe.

»Ich denke, wir sollten zurück zum Thema kommen«, versucht A350 zu vermitteln. »Der Vorschlag war die Einführung von Nahrungsmitteln in der Sicherheitszone sowie eine gemeinsame Essensverteilung. Gibt es irgendwelche Meinungen dazu?«

A489 meldet sich erstaunlich sachlich zu Wort. »Würden wir die Lebensmittel einführen, müssten wir den Menschen erklären, woher sie stammen. Wie sollten wir das tun, wo sie doch in dem Glauben leben, dass alles oberhalb der Erde radioaktiv verseucht ist?«

»Wir könnten ihnen die Wahrheit sagen«, schlägt A350 vor, bevor ich irgendetwas erwidern kann.

»Es würde sie überfordern«, wendet nun A233 ein. »Sie würden sich betrogen fühlen, so wie A518. Denn sie wüssten, dass wir ihnen etwas verheimlicht haben, und das über einen längeren Zeitraum. Kartoffeln wachsen nicht vom einen auf den anderen Tag. Das wissen selbst die Menschen in der Sicherheitszone.«

In diesem Punkt muss ich ihr recht geben, doch ich will nicht erfolglos aus der Konferenz gehen. »Die Lebensmittel, die die Legionsführer jeden Tag verzehren, werden von Helfern angebaut. Sie sehen mit eigenen Augen, dass es möglich ist, erhalten aber nie selbst etwas von der Nahrung, die sie mühevoll ernten. Sie werden nicht für immer schweigen. Irgendwann werden sie ihr Wissen mit anderen teilen und bevor es so weit kommt, müssen wir eingreifen.«

»Ganz genau«, stimmt mir A489 überraschend zu. »Wir müssen dafür sorgen, dass sie nicht in der Lage sein werden, zu plaudern …«

»Nein!«, unterbreche ich ihn scharf. »Wir kommen ihnen entgegen! Wir könnten zur Vorbereitung eine gemeinsame Tablettenverteilung einführen und den Bewohnern dabei von der Forschung an Lebensmitteln berichten, sodass wir später auch mit dieser Vergabe beginnen könnten. Anhand der gemeinsamen Tablettenverteilung könnten sie sich langsam an die Umstellung gewöhnen.«

»Und wie sollen wir ihnen die plötzliche Veränderung erklären?«, hakt A489 missbilligend nach.

»Genau so, wie wir ihnen A518s Ernennung erklärt haben. Die Welt befindet sich im Wandel und die Legion geht mit der Zeit«, unterstützt mich A350.

»Werden sich die Menschen nicht fragen, von welchem Wandel wir sprechen? Würden sie sich nicht unnötig Gedanken machen?«, entgegnet A489, weiterhin wenig überzeugt.

»Nein, das würden sie nicht. Sie wären dankbar für jede Veränderung«, widerspreche ich ihm standhaft. »Ich spreche aus eigener Erfahrung.«

»Ich denke, wir haben alle genug gehört, um uns selbst ein Bild darüber machen zu können. Deshalb sollten wir nun abstimmen«, beschließt A233. »Wer ist für die Einführung einer gemeinsamen Nahrungsvergabe in der Sicherheitszone?«

A350 hebt sofort mit mir die Hand, während die Hand von A489 natürlich eisern auf dem Tisch liegen bleibt. Zu meiner Überraschung schließt auch A233 sich uns an. Nach wenigen Sekunden zähle ich zehn erhobene Hände gegen elf liegende. Wir haben verloren.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739391618
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (August)
Schlagworte
Rebellion Finn Cleo Dystopie Legion Liebe Sicherheitszone Rebellen Romance Fantasy Science Fiction

Autor

  • Maya Shepherd (Autor:in)

Maya Shepherd wurde 1988 in Stuttgart geboren. Zusammen mit Mann, zwei Kindern und Hund lebt sie mittlerweile im Rheinland und träumt von einem eigenen Schreibzimmer mit Wänden voller Bücher. Seit 2014 lebt sie ihren ganz persönlichen Traum und widmet sich hauptberuflich dem Erfinden von fremden Welten und Charakteren.
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Titel: Die Vergessenen