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Die Vereinten

von Maya Shepherd (Autor:in)
268 Seiten
Reihe: Radioactive, Band 4

Zusammenfassung

Gibt es Hoffnung für die Liebe? Gibt es Hoffnung für ein Leben ohne die Legion? Cleo ist mit den Freiheitskämpfern die Flucht aus der Zentrallegion gelungen. Allerdings bedeutet das noch lange keinen Sieg für die Liebe, denn Finn verhält sich ihr gegenüber abweisend. Cleo versteht nicht wie es zu dem Bruch zwischen ihnen kommen konnte. Die Legion plant die endgültige Vernichtung der Rebellen, dafür ist ihnen jedes Mittel recht. Betrug, Folter und Mord stehen an der Tagesordnung und fordern ein Opfer nach dem anderen. Die Rebellen sehen sich einem übermächtigen Feind gegenüber. Lohnt es sich für die Freiheit zu kämpfen, wenn der eigene Tod bereits festzustehen scheint? Das große Finale der „Radioactive“-Reihe voller überraschender Wendungen, knisternder Spannung und einer verzweifelten Liebe gegen jeden Widerstand.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis



01. Wenn das Herz bricht (Cleo)

Ich starre Finn fassungslos hinterher und kann nicht glauben, dass das gerade wirklich passiert. All die Wochen in der Zentrallegion habe ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als ihn wiederzusehen, und jetzt, wo es endlich so weit ist, dreht er sich einfach um und geht. Womit habe ich das verdient? Es gibt absolut nichts, das ich mir vorzuwerfen hätte. Meine Tränen weichen einer verständnislosen Wut.

Ungeachtet der anderen Flüchtlinge und Rebellen stürme ich los. Meine Beine fühlen sich schwach an und ich weiß nicht, wie lange sie mich noch tragen werden. Aber ich kann Finn nicht einfach gehen lassen. Nicht ohne ein Wort, nicht ohne eine Erklärung.

Ich hole ihn schnell ein und baue mich herausfordernd vor ihm auf. Meine Augen funkeln ihm feindselig entgegen, während er überallhin blickt, nur nicht in mein Gesicht.

»Was soll das? Erkennst du mich nicht?«, fahre ich ihn aufgebracht an und bin froh, dass sich meine Stimme dabei stark und fest anhört. Ganz im Gegensatz zu dem, wie ich mich fühle. Natürlich weiß ich, dass er mich erkannt haben muss, sonst wäre er nicht gegangen. Aber ich suche verzweifelt nach einer Erklärung.

»Ich habe nicht damit gerechnet, dich je wiederzusehen«, erwidert er sehr leise und ernst. Seine Augen betrachten den Boden zu meinen Füßen. Er hat mich aufgegeben. Er hat uns aufgegeben. Sosehr mich seine Worte auch verletzen, versuche ich, mich an der unumstößlichen Wahrheit festzuklammern, dass wir nun beide hier sind.

»Ich habe nie die Hoffnung verloren«, sage ich etwas sanfter und strecke meine Hände erneut nach seinen aus. Der Gedanke an dich hat mich am Leben gehalten.

Unsere Fingerspitzen berühren sich und als er sie nicht zurückzieht, fasse ich den Mut, seine Hände mit meinen zu umschließen. »Finn«, flehe ich und versuche, Blickkontakt zu ihm aufzunehmen. »Bitte sieh mich an!«

Er hebt den Kopf und ich starre in seine wundervollen himmelblauen Augen, deren Anblick mir nach wie vor den Atem raubt. Ich habe ihn immer in meinen Gedanken vor mir gesehen, aber das ist kein Vergleich zur Realität. Mein ganzer Körper zieht mich zu ihm wie ein Magnet. Doch etwas hält mich davon ab, mich an ihn zu drängen und ihn mit Küssen zu überhäufen. Es sind seine steife Körperhaltung und der kühle Ausdruck seiner Augen.

»Was ist passiert?«, flüstere ich. Finns Anblick raubt mir jede Kraft. Ich kann seinen Schmerz spüren, auch wenn ich ihn noch nicht verstehen kann.

Finn schüttelt den Kopf und unterbricht unseren Blickkontakt. Er löst seine Hände von meinen. Er könnte mir genauso gut eine Ohrfeige geben, es würde nicht weniger wehtun. »Zu viel, als dass du es verstehen könntest.«

Er wendet mir erneut den Rücken zu und läuft los. Erst langsam, dann immer schneller, bis er schließlich rennt. Er stößt mich nicht nur von sich und schließt mich aus, sondern er flieht vor. Für den Moment vergesse ich, dass wir nicht allein sind. Ich denke nicht an meine Familie oder an meine Freunde, sondern lasse mich von meiner Wut überwältigen. Sie ist so mächtig, dass sie mich all den körperlichen Schmerz vergessen lässt. Er ist nichts im Vergleich zu dem Sturm, der in meinem Inneren wütet.

Ich renne los. Der rote Sand der Wüste bricht immer wieder unter meinen Füßen weg, aber ich renne unbeirrt weiter. So kann er mich nicht stehen lassen. So kann er mich nicht abwimmeln. Nicht, nachdem ich Wochen auf ihn gehofft habe. Nicht, nachdem er meine einzige Hoffnung war, mein einziger Lichtblick. Ich verdiene mehr als ein paar leere Worte.

Finns Rücken ist mir bereits so nah, dass ich nur meine Hand ausstrecken müsste, um ihn berühren zu können. Er ist schnell, aber ich kann mit ihm mithalten. Das konnte ich schon immer.

»Bleib stehen«, brülle ich gegen den Wind an.

»Verschwinde«, schreit Finn eisig zurück.

Dieses eine Wort trifft mich wie der Schuss einer Laserwaffe. Ich stoße meine Füße vom Boden ab und springe in seinen Rücken, bereit, ihn zu verletzen. Er stolpert und stürzt zu Boden. Sein Gesicht knallt auf den Sand, während ich auf ihm lande. Ich drehe ihn zu mir herum und kralle meine Hände in sein Oberteil. Am liebsten würde ich ihn schlagen, weil er mir so wehtut. Ich verstehe es nicht. Tränen rinnen mir über die Wangen.

»Du verdammter Idiot«, schreie ich ihn an. »Warum tust du mir das an?«

Finn starrt entsetzt zu mir auf. Er hat wohl nicht mit so einer Reaktion gerechnet. Aber was hat er erwartet? Dachte er, dass ich seine Abweisung einfach stumm hinnehmen würde? Wenn ich so reagiert hätte, würde es nur beweisen, dass er nie von Bedeutung für mich war. Menschen, die man liebt, kann man nicht einfach ziehen lassen. Und schon gar nicht ohne jede Erklärung.

»Rede endlich mit mir«, fordere ich ihn zornig auf, während ich auf ihm sitze – ihn gefangen halte. Doch er starrt mich an, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Ich schüttele ihn und spüre, wie ich immer mehr die Beherrschung verliere. »Du kannst nicht ewig schweigen!«

Endlich öffnet er den Mund. »Es ist aus zwischen uns.«

Das ist nicht, wonach ich gefragt habe, und trotzdem spüre ich einen scharfen Schmerz in meinem Inneren. Mein Herz zieht sich zusammen. »Warum?«, stoße ich hervor und löse meine Hände von ihm, ohne jedoch von ihm zu steigen.

Finn richtet sich auf und schiebt mich von sich. »Ich liebe dich nicht«, behauptet er. »Es tut mir leid.«

Das ist nicht er. Er kann es nicht sein. Finn hat mich geliebt, dessen bin ich mir so sicher wie meiner Existenz. Ich glaube ihm nicht und suche in seinem Gesicht nach dem kleinsten Anzeichen für eine Lüge.

»Was ist passiert?«, keuche ich atemlos. Angst lähmt mich. Was muss ihm Schreckliches widerfahren sein, dass er mich derart von sich stößt? Wir haben beide so viel riskiert, um zusammen sein zu können, und nun soll das alles umsonst gewesen sein?

Finn schaut mich an. Ich sehe, dass es ihn Überwindung kostet, doch sein Blick ist klar. »Ich habe jemand anderen geküsst«, gesteht er mir mit herzbrechender Ehrlichkeit. Seine Worte reißen mir den Boden unter den Füßen weg. Der Mensch, den ich besser zu kennen glaubte als mich selbst, hat sich jemand anderem zugewandt. Während mich der Gedanke an ihn am Leben gehalten hat, hat er mich einfach vergessen und ersetzt.

Ich hätte nicht gedacht, dass er mir jemals so wehtun könnte. »Wen?«, bringe ich mühsam hervor.

Er weicht mir aus. »Das ist nicht von Bedeutung.«

»Sag es mir«, fauche ich außer mir. Wer hat ihn mir genommen? Wer ist es wert, dass er alles, wofür wir gekämpft haben, bereit ist, wegzuwerfen? Wer bedeutet ihm mehr als ich?

Mitleid flackert in seinem Blick auf. Schmerz verdunkelt seine Augen. »Ruby. Ich habe Ruby geküsst«, gesteht er mir schließlich und gibt der Person einen Namen. Es ist nicht nur ein Versuch, mich in die Irre zu führen, um mich von sich fernzuhalten. Seine Behauptung wird zu einer grausamen Wahrheit.

Ruby.

Wir haben Seite an Seite gegen die Legion gekämpft. Ich hätte ihr mein Leben anvertraut. Finn war alles für mich. Mein Leben.

Ich verliere jegliche Kontrolle über meinen Körper, aber anstatt in Tränen auszubrechen, stoße ich meine Faust in Finns Magen. Er lässt mich erschrocken los und weicht zurück, während ich einen Hagel von Faustschlägen auf ihn niedergehen lasse. Ich schreie und weine vor Schmerz. All meine Hoffnungen waren umsonst. Ich habe umsonst gekämpft. Ich habe mein Herz dem Falschen geschenkt. Wie konnte ich mich nur so irren?

Finn krümmt sich zusammen, um seinen Körper vor meinen Schlägen abzuschirmen. Er wehrt sich nicht einmal. Das macht mich nur noch rasender.

Plötzlich werden meine Arme von hinten gepackt und ich werde grob zurückgerissen. Ich schreie und trete um mich. Erst als ich erkenne, dass es Felix ist, halte ich inne. Mein Blick begegnet seinem. Er scheint zu verstehen, ohne dass ich ihm erklären muss, was vorgefallen ist. Mir sacken die Beine weg, während ich in Tränen ausbreche. Felix hält mich fest und drückt mich an sich. Seine Hände streicheln über meinen kahlen Kopf, während ich mich meinem Kummer laut schluchzend hingebe.

Das Lager der Rebellen ist winzig im Vergleich zu den Menschenmassen, die hier untergebracht sind. Es liegt in einer Schlucht, umgeben von Bergen und Hügeln aus rotem Sand. Es gibt nur einen großen Panzer sowie mehrere Planen, die aufgespannt wurden, um Schutz vor der Sonne zu bieten. In der Mitte des Lagers befindet sich eine große Feuerstelle. Überall sitzen Menschen in kleinen Gruppen zusammen, die mich ihre ursprüngliche Herkunft erkennen lassen. Es gibt die große Gruppe der Rebellen und dann noch die verängstigten Überlebenden der Sicherheitszone. Viele von ihnen sind schwangere Frauen.

Außerdem sind da auch noch die Mutanten, die ich bereits auf den ersten Blick erkannt habe. Sie sind größer und breiter als normale Menschen und halten sich abseits von den anderen. Ihre Körper und Gesichter sind von Narben, Beulen und Pusteln entstellt. Sie wirken angsteinflößend und ich habe das Gefühl, dass sie uns nicht mit Wohlwollen beobachten. Ich gehöre zu der vierten Gruppe: die Flüchtlinge der Zentrallegion. Wir werden von den anderen mit Misstrauen betrachtet. Sie wissen nicht, ob sie uns trauen können.

Felix ist zusammen mit unserer Mutter und A5125 aufgebrochen, um sich bei den Rebellenführern vorzustellen und ihnen unsere Situation zu erklären. Sie wollten, dass ich mit ihnen komme, aber ich habe es abgelehnt und bin lieber bei Asha geblieben. Iris ist ebenfalls losgezogen, um nach Emily und ihren anderen Freunden zu suchen. Ich weiß nicht, ob es auch noch meine Freunde sind. Vielleicht habe ich mich in ihnen genauso getäuscht wie in Finn. Meine ganze Welt ist ins Wanken geraten, nichts ist mehr, wie es war.

Asha nimmt mich nicht in den Arm und flüstert mir auch keine Mut machenden Worte zu. Sie sitzt einfach nur still neben mir, wofür ich ihr dankbar bin. Worte können mir Finn auch nicht zurückbringen und keine Umarmung ändert etwas daran, dass er sich gegen mich entschieden hat.

»Zehn sind ertrunken«, murmelt Asha plötzlich beiläufig.

Ich starre sie entsetzt an. »Du meinst zehn Flüchtlinge?«

Asha nickt, ohne mich anzusehen. »Sie konnten nicht schwimmen, wie die meisten von uns.«

Zu meiner Schande war ich nicht dabei, als die Flüchtlinge geborgen wurden. Ich habe die Aufgabe anderen überlassen, während ich selbst in Mitleid versunken bin.

»Und was ist mit dem Rest?«, frage ich sie besorgt. Ich fürchte mich vor der Antwort.

»Etwa die Hälfte leidet an Erbrechen und Fieber. Es ist nicht sicher, ob sie überleben werden. Im Wasser waren zu viele Bakterien und das Immunsystem der Sicherheitszonenbewohner ist einfach zu schwach.«

Mein Kopf glüht ebenfalls und ich fühle mich krank, aber ich weiß, dass es eine andere Art von Krankheit ist. Man nennt es Liebeskummer. Es tut weh, aber in Anbetracht dessen, dass andere um ihr Leben kämpfen, erscheint mir mein eigener Schmerz geradezu unbedeutend.

»Wie geht es dir?«, will ich von Asha wissen und blicke ihr prüfend ins Gesicht.

»Ich lasse mich nicht von ein paar Bakterien unterkriegen«, erwidert sie leichthin und ein schwaches Lächeln umspielt ihre Lippen. Sie stößt mich freundschaftlich mit dem Ellbogen an. »Lass nicht zu, dass ein Mann dich runterzieht. Die sind es alle nicht wert.«

Es fühlt sich nicht so an, als ob Finn es nicht wert wäre. Und ein winziger Teil von mir hofft sogar, dass es nur ein böser Traum ist, aus dem ich schon bald schweißgebadet erwachen werde. Aber der klügere Teil von mir weiß, dass das nicht passieren wird.

»Cleo«, höre ich plötzlich jemanden meinen Namen rufen und schaue auf. Es ist Iris, die in Begleitung von Emily und Grace zu uns kommt. Iris’ Wüstenfuchs Fennek rennt mit wehenden Ohren voraus. Ich begrüße ihn mit einem sanften Kopftätscheln. Ihm ist die Freiheit deutlich anzusehen. Hier in der Wüste ist er zu Hause. Die Mauern der Zentrallegion waren immer ein Gefängnis für ihn. Er erinnert mich an eine glücklichere Zeit, in der ich noch Hoffnung hatte.

Emily und Grace umarmen mich gleichzeitig. »Es ist so schön, dich wiederzusehen«, flüstert mir Grace ins Ohr und ich spüre, dass ihre Zuneigung echt ist. Ihr rotes Haar, welches früher immer nach Seife duftete, trägt sie nun streng zurückgesteckt. Es ist fettig und ich rieche ihren Schweiß. Sie sieht mitgenommen aus, genau wie Emily. Die Rebellen müssen viel durchgemacht haben.

»Was macht der denn hier?«, höre ich Asha plötzlich erbost hinter mir schimpfen. Ich drehe mich zu ihr um und sehe, wie sie vom Boden einen Stein aufhebt. Erschrocken blicke ich in die andere Richtung und sehe Florance mit einem fremden Mann zu uns kommen. Der Fremde hat schwarze kurze Haare und Florance muss ihn stützen, weil er kaum laufen kann.

»Oh nein, das kann doch nicht ihr Ernst sein«, höre ich Grace entgeistert ausrufen, bevor sie sich von mir löst und auf Florance zustürmt. »Spinnst du? Wie kannst du den Kerl mit zu ihr bringen? Hast du vergessen, was er ihr angetan hat?«, fährt Grace Florance an und ich runzele erstaunt die Stirn. Grace ist sonst immer gelassen und ruhig. Wer ist der Fremde, dass er sie so aus der Fassung bringt? Und was soll er mir angetan haben?

Asha schießt wie ein Pfeil an mir vorbei und stürzt sich auf den Mann. Sie geht mit ihm zu Boden, während Florance und Grace gleichzeitig zu schreien anfangen. Florance versucht, Asha von dem Mann runterzuziehen, während Grace in Deckung geht. Ich stürze besorgt auf den Tumult zu. Asha ist völlig außer sich und schlägt erbarmungslos auf den Mann unter sich ein. Der Stein in ihrer Hand ist bereits blutverschmiert.

»Du bringst ihn um«, kreischt Florance panisch und reißt an Ashas Schultern.

Ich stürze mich ebenfalls auf sie und schaffe es, sie loszureißen. Erst jetzt sehe ich das Gesicht des Mannes und halte geschockt die Luft an. Es ist A566. Das Monster, das Asha immer wieder missbraucht und vergewaltigt hat. Fast hätte er es auch bei Zoe und mir geschafft. Jetzt verstehe ich Ashas unbändige Wut. Ich dachte, er wäre tot.

Aber was macht dieses Ungeheuer hier bei Florance?

A566 hat eine große Wunde am Kopf, aus der Blut über sein schmutziges Gesicht läuft. Florance geht neben ihm zu Boden und untersucht geradezu fürsorglich seine Wunden.

»Was macht der hier?«, stoße ich fassungslos aus.

Florance fährt zu mir herum. »Ich weiß, was er euch angetan hat, und es tut mir von Herzen leid. Aber Judas ist nicht mehr derselbe Mensch wie damals. Er kann kaum allein laufen, geschweige denn essen oder auch nur die Toilette besuchen. Er ist für niemanden mehr eine Gefahr und auf Hilfe angewiesen.«

Ich schüttele ungläubig den Kopf, während Asha in meinen Armen vor Wut bebt. »Lass mich ihn töten«, fleht sie mich verzweifelt an. Das, was er ihr angetan hat, ist mit nichts wiedergutzumachen. Die Erfahrungen, die sie durch ihn machen musste, werden sie ihr Leben lang nicht mehr loslassen. Selbst wenn Florance die Wahrheit sagt und A566 derart vom Schicksal bestraft wurde, kann ich nicht von Asha verlangen, in einem Lager mit ihrem Peiniger zu leben.

»Nein«, entgegnet Florance hart. »Niemand rührt ihn an!«

»Solange er hier ist, bin ich nicht in Sicherheit«, stößt Asha panisch aus. Sie zittert am ganzen Leib und kann ihre Angst nicht verbergen. In den letzten Monaten hat sie alles versucht, um sich eine gewisse Stärke aufzubauen. Sie ist selbstbewusster geworden und schien endlich neuen Lebensmut gefunden zu haben. Das alles macht A566s bloße Existenz zunichte.

»Er ist harmlos«, beteuert Florance eindringlich. Sie beschützt das Monster, weil sie in ihm nur den hilflosen Menschen und nicht seine grausamen Taten sieht. Ein Teil von mir bewundert sie sogar für ihr großes Herz. Sie hat sich um mich gekümmert wie nie jemand zuvor. Nie hat sie mich dafür verurteilt, wer ich war, sondern mir immer dabei geholfen, in die Zukunft zu blicken. Ohne sie hätte ich es viel schwerer bei den Rebellen gehabt. Aber all meine Zuneigung und Dankbarkeit reichen nicht aus, um zu ihr zu halten. Ich kann nicht. Dabei geht es nicht um meine eigenen prägenden Erfahrungen mit A566, sondern um Asha. In den letzten Monaten hat sie mich aufrecht gehalten. Mit einem Mal erkenne ich, dass ich mich geirrt habe. Nicht der Gedanke an Finn hat mich am Leben gehalten, sondern meine Freundschaft zu Asha und Iris. Sie waren für mich da.

»Lass uns gehen«, bitte ich Asha und drehe Florance den Rücken zu.

Ein verletzter Ausdruck tritt in Ashas Augen. Obwohl ich zu ihr halten möchte, ist sie enttäuscht von meiner Reaktion. Sie möchte, dass ich mit ihr die Waffe gegen A566 richte. JETZT, nicht irgendwann.

Sie senkt den Blick auf Florance. Er ist feindselig. »Ich werde ihn töten«, verspricht sie ihr drohend, ehe sie davoneilt. Ich würde ihr gern nachgehen, aber kenne Asha gut genug, um zu wissen, dass sie mich in diesem Moment nicht an sich heranlassen würde.

Florance blickt ihr schuldbewusst nach, ehe sie mich ansieht und sich erhebt. A566 liegt sabbernd zu ihren Füßen im Sand. Sie breitet zögerlich ihre Arme aus und macht einen Schritt in meine Richtung, um mich zu begrüßen. »Endlich bist du wieder bei uns«, sagt sie zärtlich.

Ich weiche vor ihr zurück und bringe es nicht einmal über mich, meine alte Freundin zu umarmen. Vielleicht bin ich ungerecht, immerhin glaubt sie, das Richtige zu tun. Sie kümmert sich um den, der ohne sie verloren wäre. Doch damit schadet sie der Person, die schon mehr Leid in ihrem kurzen Leben erfahren musste, als andere in zwanzig Leben nicht durchmachen müssen. Wie soll Asha jemals ihr Glück finden, wenn Florance den Mann beschützt, der ihr Leben zur Hölle gemacht hat?

»Willst du mich nicht einmal begrüßen?«, fragt Florance verletzt. »Ich verstehe, dass du entsetzt über seine Anwesenheit bist. Es ist furchtbar, was er euch angetan hat, und mit nichts zu entschuldigen. Aber er erinnert sich nicht einmal daran. Schau ihn dir doch nur an.« Sie deutet auf die Kreatur zu ihren Füßen, die nicht einmal in der Lage ist, sich allein aufzurichten oder Essen zu sich zu nehmen. »Soll ich ihn etwa sich selbst überlassen?«, kontert Florance herausfordernd.

Das solltest du, denke ich. Er hat den Tod verdient. Aber ich spreche es nicht aus, da ich nicht das Recht habe, darüber zu entscheiden. Ich weiß nicht einmal, ob ich in der Lage wäre, ihn zu töten, wenn Florance mich lassen würde. Asha würde keine Sekunde zögern, aber sie musste unter ihm so viel mehr leiden. Er hat sie zerstört, bevor sie überhaupt Liebe erfahren konnte. In der Legion, in der es keine Gefühle geben sollte, hat er ihr nichts als Schmerz bereitet.

»Traue ihm nicht«, bitte ich meine Freundin. »Er erscheint dir jetzt vielleicht harmlos, aber er ist gut darin, seine wahren Absichten zu verbergen. Ich bin auch auf ihn hereingefallen und habe erst viel zu spät die Gefahr erkannt, die von ihm ausgeht.«

Florance spürt die Distanz zwischen uns. Ich kann sehen, wie sehr es sie verletzt. Sie will nur das Richtige tun und ich bestrafe sie dafür mit Zurückweisung. Gleichzeitig zeigen ihr meine Worte, dass ich mich um sie sorge. Ich möchte nicht, dass ihr etwas geschieht. A566 hat schon zu vielen Menschen wehgetan, Florance soll nicht noch eine davon werden.

Am Abend wird das große Lagerfeuer von den Mutanten entfacht. Es ist das erste Mal, dass ich sie von Näherem sehen kann. Die übrige Zeit des Tages sind sie unter sich geblieben, genau wie die Freiheitskämpfer. Wir trauen einander nicht, obwohl wir jetzt so etwas wie Verbündete sind. Ich habe immer geglaubt, dass wir zu einer Einheit mit den Rebellen verschmelzen würden, wenn wir es irgendwie schaffen würden, zu fliehen, aber so ist es nicht. Nicht alle Vorstellungen der FDF (Für die Freiheit) decken sich mit denen der Rebellen.

A5125, Felix und meine Mutter haben lange mit Maggy und den anderen Anführern der Rebellen diskutiert, unter anderem auch mit den Mutanten. Aber sie scheinen zu keiner Einigung gekommen zu sein. Ich weiß, dass die anderen erwartet haben, dass ich an diesen Diskussionen teilnehme, doch sie erscheinen mir sinnlos. Wir sind zu weit gegangen, um noch eine friedliche Lösung mit der Legion finden zu können. Es wird auf einen Krieg hinauslaufen, bei dem zu viele Menschen sterben werden. Die Frage ist nur noch, wer am Ende übrig bleiben wird. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich zu den Überlebenden gehören möchte.

In dieser Situation war ich vor wenigen Wochen schon einmal, als ich dachte, dass Finn tot sei. Alles erschien mir sinnlos, als wäre mir der Boden unter den Füßen weggerissen worden. Es ist aber etwas anderes, wenn man glaubt, der andere sei tot, als zu wissen, dass der andere einen nicht mehr will. Ich weiß nicht, welche Option ich erträglicher finden soll. Vielleicht bin ich nicht selbstlos genug, um mich zu freuen, dass Finn lebt, obwohl er nicht mehr mit mir zusammen sein will.

Ich bin so in meinen Gedanken versunken, dass ich erst merke, dass jemand direkt neben mir steht, als dieser sich räuspert. Überrascht blicke ich auf und sehe Pep vor mir. Meine erste Freude verfliegt jedoch schnell, als ich hinter ihm eine Mutantin entdecke. Sie ist das einzige weibliche Wesen, das ich bisher unter ihnen ausmachen konnte. Ihr Gesicht ist von einer langen Narbe entstellt und ihre gebeugte Körperhaltung lässt einen Buckel auf ihrem Rücken vermuten.

Pep schließt mich in die Arme, während ich achtsam die Fremde mustere. »Cleo, ich möchte dir jemanden vorstellen«, sagt er und deutet auf die Mutantin, die scheu hinter ihm steht. »Das ist Lauren. Lauren, das ist Cleo.«

Die Fremde streckt mir zögernd ihre Hand entgegen, die mit Beulen und Pusteln übersät ist. Ihr fehlt zudem der kleine Finger – wie mir. Nur zögerlich reiche ich ihr die Hand. Es ist eine kurze Berührung, die kaum als Händedruck zu bezeichnen ist. Schnell lösen wir uns wieder voneinander. Lauren scheint mein Misstrauen zu spüren und weicht scheu meinem verurteilenden Blick aus.

»Sicher hast du viel über uns gehört«, murmelt sie unsicher.

»Das habe ich«, bestätige ich ihr. »Es heißt, dass ihr Menschenfleisch esst.« In meiner Antwort liegt eine unausgesprochene Frage.

»Das haben wir«, gibt Lauren zu und jagt mir damit einen Schauer über den Rücken. Es ist mir ein Rätsel, wie die Rebellen damit leben können. Selbst wenn sie es mithilfe der Mutanten schaffen, die Legion zu stürzen, dann nur, um danach von den nächsten unterdrückt zu werden. Auf der Erde herrscht das Gesetz des Stärkeren und die Mutanten sind uns eindeutig überlegen. Sowohl körperlich als auch geistig. Sie besitzen keine moralischen Fesseln.

Lauren spürt meine Ablehnung. Sie fühlt sich in meiner Gegenwart genauso unwohl wie ich mich in ihrer. »Ich gehe mir etwas zu trinken holen«, sagt sie leise, ehe sie Pep und mich allein zurücklässt.

»Warum bist du so zu ihr?«, fährt Pep mich wütend an, sobald sie außer Hörweite ist.

»Das sind Kannibalen«, stoße ich verständnislos aus. »Sie haben einander getötet …«

Er fällt mir scharf ins Wort: »Um zu überleben! Sie haben getötet, um zu überleben.«

Ich schüttele den Kopf. »Sicher waren sie in großer Not, aber könntest du einen anderen Menschen essen? Ich nicht!«

Peps Augen weiten sich vor Enttäuschung. Es scheint, als könne ich heute nichts richtig machen. »Ich kann nicht glauben, dass ausgerechnet du dich so verhältst. Von allen Menschen, die ich kenne, hätte ich es von dir am wenigsten erwartet.« Er wirkt ehrlich schockiert. »Unter gewissen Umständen übernimmt unser Überlebenswille die Kontrolle über uns. Weißt du, dass die Mutanten nur töten mussten, weil die Legion ihnen keinen Einlass gewährt hat?«

Glaubt er wirklich, das kann mich schocken? Es ist mir nicht neu, dass die Legion grausam und rücksichtslos ist. Ich gehöre nicht mehr zu ihnen. Bevor ich in die Zentrallegion kam, stand ich zwischen den Rebellen und der Legion und wusste nicht, wo ich hingehöre. Aber in der Zentrallegion habe ich die Freiheitskämpfer gefunden. Es sind Menschen wie ich. Bei ihnen fühle ich mich zu Hause, dort gehöre ich wirklich dazu.

»Weißt du noch, wie es war, als du zu den Rebellen gekommen bist?«, fährt er fort. »Weißt du noch, wie jeder dich als gefühllosen Roboter angesehen hat?«

Ich weiß nicht, was er damit bezwecken will. Er kann mich nicht mit den Mutanten vergleichen. Selbst als Bewohnerin der Sicherheitszone habe ich nie jemanden umgebracht. Mein einziges Verbrechen war meine Unwissenheit.

»Du hast uns bewiesen, dass nicht alle Menschen der Legion gleich sind. Warum gibst du Lauren nicht die Chance, dir zu beweisen, dass nicht alle Mutanten gleich sind?«

Ich blicke Pep ins Gesicht und spüre seine Wut. Ich dachte, dass alles besser werden würde, wenn wir erst einmal alle wieder zusammen wären. Scheinbar habe ich mich getäuscht. Nichts ist mehr wie zuvor. Wer von uns hat sich verändert? Pep? Ich? Oder wir alle?

Es fühlt sich an, als würde das Bild, das ich von meinem Leben in Freiheit hatte, immer mehr zerfallen. Es war ein Trugbild. Mir bleiben weder Finn noch meine Freunde. Ich schüttele traurig den Kopf. Es tut mir wirklich leid, Pep zu enttäuschen, aber ich bin noch nicht bereit, über meinen Schatten zu springen. Vielleicht habe ich Lauren tatsächlich unrecht getan. Vielleicht ist sie nett. Aber es interessiert mich nicht. Ich brauche keine neuen Freundschaften, während meine alten alle nacheinander zerbrechen.

»Es tut mir leid«, sage ich schwach und wende mein Gesicht von Pep ab, ehe ich gehe.

In den Flammen des Lagerfeuers liegt eine Blechschale, in der Wurzeln gekocht werden. Obwohl die Landschaft um die Zentrallegion nicht fruchtbar ist, gibt es zumindest ein paar wenige halb verdorrte Wurzeln im Boden und Kakteen, deren Milch trinkbar ist. Es ist alles, was wir haben, und es wird bei Weitem nicht für alle Menschen reichen, die sich im Lager befinden. Nicht einmal für die Hälfte. Trotzdem bin ich froh, dass ich nicht mit ansehen muss, wie ein Mensch in den Flammen gebraten wird. Generell muss ich zugeben, dass die Mutanten sich eher im Hintergrund halten und sich uns anzupassen scheinen.

Die Kinder bekommen als Erste etwas zu essen, danach die schwangeren Frauen. Für den Rest von uns bleibt kaum etwas übrig. Ich mache mir nicht einmal die Mühe, mich für Essen anzustellen, sondern bleibe still am Feuer sitzen. Meine letzte Mahlzeit ist bereits drei Tage her, doch Hunger verspüre ich keinen. Es gibt zu viele andere Dinge, die mir Sorgen bereiten und für Bauchschmerzen sorgen.

Als ich mich gedankenverloren erhebe, um mich zurückzuziehen, stoße ich mit jemandem zusammen. Erschrocken stolpere ich zurück, werde aber von zwei starken Armen aufgefangen. Ich blicke in das Gesicht von Clyde. Er hat sich verändert. Auf seinem Kopf wachsen nun dunkle Haare und seine Augen haben eine warme goldbraune Farbe. Sein gutmütiges Lächeln ist jedoch unverwechselbar.

Man merkt uns unsere Herkunft an, denn niemand von uns tritt vor, um den anderen zu umarmen. Stattdessen lässt Clyde mich los und tritt respektvoll einen Schritt zurück. Obwohl wir beide nicht mehr der Legion angehören, lässt sich so manches Verhaltensmuster nur schwer ablegen. Wir sind körperlichen Kontakt nicht gewohnt, doch das Lächeln, welches wir teilen, verbindet uns mehr, als es eine Berührung könnte. Damit hat unsere Freundschaft begonnen – mit einem scheuen Lächeln.

»Wie geht es dir?«, frage ich ihn mit aufrichtigem Interesse. Clyde ist mein längster Freund. Ich kenne ihn mein ganzes Leben.

»Es könnte besser sein, aber ich bin froh, noch am Leben zu sein«, antwortet er mir sanft. »Ich glaube, das ist zurzeit alles, was zählt. Jeder weitere Tag ist wie ein Wunder.«

Er hat recht. Obwohl ich kein Wort von Finn gesagt habe, erscheint mir mein Liebeskummer nun sehr kleinlich und unbedeutend. Er wird vorübergehen. Ich werde über Finn hinwegkommen, so wie er über mich. Irgendwann wird es vielleicht auch in meinem Leben wieder einen Menschen geben, dem ich mein Herz öffne, auch wenn momentan allein die Vorstellung, mit Finn endgültig abzuschließen, wehtut. Aber habe ich eine Wahl?

»Wie hast du dich bei den Rebellen eingelebt?«, hake ich bei Clyde nach, um meine Gedanken zu verdrängen. Ich mustere seine neue Kleidung. Wenn ich es nicht besser wüsste, wäre er gar nicht als ein ehemaliger Kämpfer der Legion zu erkennen.

»Um ehrlich zu sein, war ich kaum hier«, erwidert er und fügt dann erklärend hinzu: »Ich war ein Gefangener der Mutanten.«

Entsetzt starre ich ihn an. »Ist es wahr, was uns in der Legion erzählt wurde? Sind sie so grausam, wie man sagt? Haben sie versucht, dich zu töten?«

Clyde lächelt unglücklich. »Lass uns ein Stück gehen«, schlägt er vor.

Ich bin froh, den anderen für eine kurze Zeit entkommen zu können, und nehme sein Angebot an.

Wir lassen das Lagerfeuer hinter uns zurück und gehen in der Dämmerung durch die Windungen der Hügel und Berge, von denen wir umgeben sind.

»Ich habe gesehen, wie die Mutanten Menschen getötet und gegessen haben«, eröffnet er mir, dabei klingt seine Stimme weder anklagend noch verurteilend, sondern nüchtern. »Sie waren wie Tiere und nur wenig menschlich. Aber sie sind genauso Opfer der Legion wie wir. Die Einsamkeit und die Verzweiflung haben sie zu dem gemacht, was sie heute sind.«

Ich spüre sein Mitleid. Es geht auf mich über. Trotzdem bleibe ich skeptisch. »Wie können die Rebellen mit solchen Wesen zusammenarbeiten? Ich verstehe es einfach nicht. Sobald der Kampf gegen die Legion vorbei ist, werden die Mutanten sich gegen sie wenden.«

»Ohne die Mutanten gäbe es keinen Kampf gegen die Legion. Wir hätten keine Chance«, erwidert Clyde überzeugt.

Mir fällt auf, dass er von WIR spricht. Er sieht sich als Teil der Rebellen. Ich beneide ihn um dieses Gefühl. Es gab eine Zeit, in der es mir genauso ging, doch sicher war ich mir nie. Ich weiß nicht einmal, ob es anders wäre, wenn Finn mich noch lieben würde. Die Rebellen haben mich nie so verstanden, wie es die FDF tut.

»Die Mutanten hassen die Menschen, weil die Legion sie dazu gezwungen hat, ihre Familie und Freunde zu töten. Anders hätten sie nicht überlebt. Für sie gab es keine andere Wahl, aber sie haben es nie gern getan«, erzählt Clyde weiter.

Ich versuche, mir die Verzweiflung vorzustellen, die einen dazu zwingt, so zu handeln. Wenn ich mir unseren Nahrungsmangel ansehe, wird es wohl bald wieder so weit sein. Die Rebellen sehen ausnahmslos abgemagert aus. Menschen, die sich kaum auf den eigenen Beinen halten können, werden keinen Krieg gewinnen.

»Es muss schrecklich gewesen sein«, erwidere ich mitfühlend. Im Vergleich zu dem, was Clyde durchmachen musste, erscheint mir die Zeit in der Zentrallegion als ein Spaziergang. Dabei dachte ich, mir wäre es schlecht ergangen, aber es ist kein Vergleich zu dem, was Clyde durchleben musste.

Er hält plötzlich an und sieht mich ernst an. »Es war schwer und ich habe Albträume, aber es gibt nur einen von uns, den sie gebrochen haben.«

Fragend blicke ich zu ihm auf.

»Finn«, sagt er. »Sie haben ihn gezwungen, einen der gefangenen Bewohner der Sicherheitszone zu töten und sein Herz zu essen, um seine Loyalität unter Beweis zu stellen. Seitdem ist er nicht mehr derselbe.«

Mein Herz schmerzt bei seinen Worten auf unerträgliche Weise. Obwohl Finn mich mehr verletzt hat als irgendjemand zuvor, tut es mir weh, zu erfahren, was er durchmachen musste.

Clyde legt seine Hände auf meine Schultern. Es ist eine ungewohnt eindringliche Geste. »Ich habe mitbekommen, was heute zwischen dir und ihm vorgefallen ist. Er hat dich sehr verletzt, aber du solltest wissen, dass Ruby bei den Mutanten mit ihm gefangen war. Sie war Tag und Nacht an seiner Seite. Finn war verzweifelt und am Ende. Aber er hat dich jeden einzelnen Tag vermisst.«

Es tut weh, zu hören, wie viel die beiden gemeinsam durchgestanden haben. Sie war für ihn da, als ich meilenweit weg war und nicht einmal wusste, ob er noch am Leben ist. Ich hätte dort an seiner Seite sein sollen, doch er hat mir nie die Chance dazu gegeben.

»Ich wünschte, ich hätte bei euch sein können«, erwidere ich mit brüchiger Stimme. Wäre ich bei den Rebellen geblieben, würde ich mich nun wenigstens wie ein Teil von ihnen fühlen und nicht wie eine Fremde, der die anderen mit Misstrauen begegnen.

»Ich bin froh, dass du es nicht warst«, sagt Clyde entschieden. »Niemand hätte das erleben sollen. Die Mutanten hassen die Legion. Du bist eine Legionsführerin und das hätte dich dein Leben gekostet. Finn wollte dich in Sicherheit wissen, deshalb hat er dich in die Legion geschickt. Wie hätte er dir seine Liebe mehr beweisen können?«

»Was bedeutet seine Liebe von damals, wenn sie heute nicht mehr vorhanden ist?«, entfährt es mir verletzt. Tränen sammeln sich erneut in meinen Augen und lassen mich beschämt den Blick abwenden. Es geht überhaupt nicht um Ruby. Ich könnte Finn einen Kuss, der aus Einsamkeit und Verzweiflung entstanden ist, verzeihen. Doch er will mich nicht mehr. Ich erinnere mich schmerzlich an seine Worte: Ich liebe dich nicht. Nicht Ich liebe dich nicht mehr, sondern einfach nur Ich liebe dich nicht. So als wäre nie Liebe zwischen uns gewesen.

»Er liebt dich noch immer«, beteuert Clyde.

Er versucht, mich zu trösten, doch seine Worte bewirken das Gegenteil. Ich habe bereits zweimal um Finn gekämpft. Beim ersten Mal musste ich ihm beweisen, dass ich es wert bin, geliebt zu werden. Beim zweiten Mal musste ich ihn dazu bringen, sich an mich zu erinnern. Beide Male habe ich ihn dennoch verloren, egal wie sehr ich auch gekämpft habe. Ich weiß nicht, ob ich für einen weiteren Kampf stark genug bin. Unsere Welt liegt in Trümmern und ich kann nicht an allen Fronten gleichzeitig kämpfen.

Spät in der Nacht liege ich auf dem harten Boden zwischen A5125 und Asha und blicke in den Sternenhimmel. Die schlimmste Art, jemanden zu vermissen, ist, wenn dieser direkt neben einem steht und man ihn trotzdem nicht berühren darf. Ich fühle mich innerlich wund und versuche mir einzureden, dass der Schmerz vergehen wird. Es gibt so viele wichtigere Dinge, auf die ich mich konzentrieren sollte, aber mein Kopf weigert sich, zu funktionieren, wenn mein Herz sich im Ausnahmezustand befindet.

»Kannst du nicht schlafen?«, wispert A5125 plötzlich neben mir.

»Nein, mir geht zu viel im Kopf herum«, antworte ich ihm ehrlich.

»Finn?«

Es ist offensichtlich.

»Er ist ein Idiot«, entfährt es ihm und ich höre die Wut in seiner Stimme auflodern.

Ein Gefühl der Zuneigung breitet sich in meinem Bauch aus, als ich A5125 das Gesicht zuwende. »Ist er nicht«, erwidere ich, lächle aber dennoch über seine Worte. Manchmal gab es Momente zwischen ihm und mir, in denen ich dachte, dass dort mehr als Freundschaft sein könnte, wenn wir uns nur früher kennengelernt hätten. Vor Finn …

»Wir sind nun zum ersten Mal frei. Selbst wenn es nur für eine kurze Zeit sein sollte, fühle ich mich gerade lebendiger als je zuvor. Das verdanke ich dir.« Seine Augen funkeln mir in der Dunkelheit entgegen und ich spüre die Anziehungskraft, die von ihm ausgeht, wogegen ich mich aber immer gewehrt habe.

Ich schüttle den Kopf. »Du hast mehr als jeder andere für die Freiheit der Menschen der Legion riskiert.« Er hat für sie getötet. »Nicht ich habe dich oder irgendjemanden befreit, das wart ihr selbst. Tatsächlich schulde ich dir mein Leben, denn ohne dich hätte die Legion mich umgebracht. Wenn ihr nur eine Minute später gekommen wärt …« Meine Stimme bricht mir weg. Ich könnte jetzt tot sein. Das hätte mich zwar vor dem Schmerz der Zurückweisung bewahrt, aber ich möchte nicht sterben. Noch nicht. Ich will das, was alle Menschen wollen: ein Leben in Freiheit.

»Mir fehlt noch etwas Entscheidendes, um mich wirklich frei fühlen zu können«, flüstert er vertraut. »Ein Name.«

»Hast du dich schon für einen entschieden?«

»Ich möchte mir nicht selbst einen aussuchen, sondern hoffe, dass du dies für mich übernimmst. Namen sollten nicht von einem selbst gewählt werden. Man bekommt sie von Menschen verliehen, denen man etwas bedeutet.«

A5125 bedeutet mir viel. Er ist mein Freund und wir teilen die gleichen Ansichten. Ich fühle mich ihm mehr verbunden als Finn. Von Anfang an stand etwas zwischen uns. Wir waren uns nur selten einig. Liebe ist ein großes Wort. Ich dachte einmal, dass ich wüsste, was es bedeutet. Aber heute habe ich das Gefühl, keinen Schimmer davon zu haben.

»Was hältst du von Khaan?«, frage ich ihn spontan.

Er runzelt überrascht die Stirn. »Das bedeutet Anführer, oder?«

Wir kennen uns mit der Bedeutung von Namen aus, da ihre Erforschung ein Bestandteil unserer Ausbildung darstellte. Man wollte uns damit zeigen, dass Namen zu Unterschieden führen und deshalb schlecht für den Frieden sind. Nummerierungen sind frei von jeder Bedeutung, keine ist besser oder schlechter als die andere.

»Ja«, bestätige ich ihm schmunzelnd. »Wir können uns auch einen anderen überlegen, wenn dir der Name nicht gefällt. Ich finde jedoch, dass die Bedeutung zu dir passen würde. Du führst die Freiheitskämpfer an und niemand könnte das besser als du.«

Er lächelt mich zufrieden an. »Der Name ist toll. Ich weiß nur nicht, ob ich ihm gewachsen bin.«

»Du wirst in ihn hineinwachsen«, erwidere ich zuversichtlich.

Er dreht sich zu mir und streckt mir seine Hand hin. »Darf ich mich vorstellen? Ich heiße Khaan.«

Ich erwidere sein Lächeln und ergreife seine Hand. »Freut mich, dich kennenzulernen, Khaan.«


02. Wassernot (Cleo)

Ich habe es erstaunlicherweise geschafft, in der Nacht für einige Stunden Schlaf zu finden. Umso enttäuschender ist es, dass bei meinem Erwachen die Welt immer noch dieselbe ist und der Schmerz mit kalter Hand mein Herz umschließt. Am liebsten würde ich mich in eine dunkle Ecke zurückziehen und mich um gar nichts mehr kümmern. Ich weiß, dass Finn mir gestern den Rest des Tages aus dem Weg gegangen ist, genau wie Ruby. Aber das wird nicht ewig so weitergehen. Irgendwann muss ich sie wiedersehen und dafür fühle ich mich nicht stark genug. Noch nicht. Vielleicht nie.

Schritte nähern sich meinem Schlaflager und ich setze mich auf. Es ist meine Mutter. Sie blickt abschätzend auf mich hinab. »Wir müssen mit den Rebellen über die Wasserversorgung sprechen.«

Ich will sie an Khaan verweisen, doch er ist nicht mehr neben mir. Ich habe nicht einmal gemerkt, dass er gegangen ist. Ich blicke zu meiner Linken, wo Asha geschlafen hat. Sie sitzt nun ebenfalls aufrecht.

A350 spürt, dass ich nicht vorhabe, sie zu dem Gespräch zu begleiten. Doch anstatt mit Verständnis reagiert sie ungehalten. »Was ist mit dir los? Sind dir die Menschen der Sicherheitszone plötzlich egal? Und das alles nur wegen eines Mannes?«

Ihre harte Wortwahl verletzt mich. »Was weißt du schon? Du hast doch nie jemanden geliebt!«

»Ich liebe dich«, stößt sie aus und packt mich an den Schultern. »Deshalb werde ich nicht dabei zusehen, wie du dich von allem abkapselst, was dir wichtig ist. Komm jetzt mit mir und kämpfe für deine Überzeugung. Du bist so viel mehr als eine Frau, die verlassen wurde. Du bist meine Tochter und das macht dich zu einer geborenen Kämpferin.«

Ihre Worte berühren mich zutiefst. Es überwältigt mich immer wieder, meine Mutter voller Gefühl zu erleben. Es sind seltene Momente, die sie sich nur in meiner Gegenwart gestattet. Ich will sie nicht enttäuschen. Sie glaubt an mich und ich möchte der Mensch sein, den sie in mir sieht: eine Kämpferin, die nicht aufgibt.

Asha stupst mich mit dem Ellbogen an. »Steh auf und hör auf deine Mutter!«

Ich stemme mich vom Boden auf und reiche meiner Freundin einladend die Hand. »Komm mit uns. Dieses Gespräch kann mehr als zwei starke Frauen vertragen.«

Ashas Augen weiten sich ungläubig. Obwohl wir Freundinnen sind und ich alles versuche, um ihr auf Augenhöhe zu begegnen, fällt es ihr manchmal noch schwer, zu vergessen, dass sie der D-Klassifizierung angehörte. Nun nimmt sie aber mein Angebot an und lässt sich von mir hochziehen. »Ich werde meine Meinung nicht zurückhalten«, verspricht sie mir. Es klingt jedoch mehr wie eine Drohung, die mich grinsen lässt. Gerade für ihre erbarmungslose Ehrlichkeit schätze ich Asha.

Wir durchqueren das Lager, auf dessen Boden überall Menschen sitzen. Viele von ihnen müssen ehemalige Bewohner der westlichen Sicherheitszone sein. Menschen, mit denen ich aufgewachsen bin, aber ich erkenne niemanden von ihnen. Sie sehen durch die gewachsenen Haare und veränderten Augenfarben wie Fremde für mich aus.

A350 steuert den Panzer an, vor dem ich bereits Felix, Khaan und N600 ausmache. Seitdem sie behauptet hat, dass ich anstelle von Felix für den Anschlag auf S300 verantwortlich gewesen sei, habe ich sie nicht mehr gesehen. Ich verurteile sie dafür nicht einmal. Wir wollten beide Felix beschützen. N600 funkelt mich jedoch wie üblich feindselig an. Vielleicht wäre es ihr sogar lieber gewesen, wenn ich gestorben wäre. Seitdem ich sie kenne, ist sie eifersüchtig auf mich. Dabei sollte sich das eigentlich gelegt haben, jetzt, wo sie weiß, dass Felix und ich Geschwister sind.

»Die anderen sind schon drin«, erklärt Khaan und tritt beiseite, um mir den Vortritt beim Einsteigen in den Panzer zu lassen. Ich verdränge meine Angst vor dem Wiedersehen mit Finn und klettere die schmale Leiter zu der Luke hoch. Sie steht bereits offen, sodass ich mich nur hineingleiten lassen muss.

Im Inneren des Panzers ist es extrem warm und zudem duster. Schweißperlen treten mir bereits nach wenigen Sekunden auf die Stirn. Ich erkenne Maggie, die mir kurz zulächelt. Neben ihr stehen einer der Mutanten sowie Sharon, Raymond und Ruby. Finn ist ebenfalls da, doch er hält sich im Hintergrund. Er schaut nicht einmal zu mir, sondern starrt auf den Rücken des Mutanten, der wie ein Schutzschild vor ihm steht.

Mir kommen Clydes Worte vom Vorabend in den Sinn. Die Mutanten haben Finn dazu gezwungen, einen Menschen nicht nur zu töten, sondern auch noch dessen Herz zu essen. Sie haben ihm jegliche Würde genommen und trotzdem ist er bereit, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Er stellt sein eigenes Wohl weit hinter das der Gemeinschaft. Könnte ich genauso selbstlos sein? Ich weiß nicht einmal, ob ich ihn dafür bewundern oder bemitleiden soll. Warum kann er mir nicht davon erzählen? Warum lässt er mich nicht an seinen Gedanken teilhaben? Glaubt er, dass ich ihn verurteilen würde? Das könnte ich gar nicht. Er hat getan, was er tun musste, um zu überleben – das ist das Einzige, was für mich zählt.

Ich wende meinen Blick von ihm ab und stelle fest, dass Ruby mich mit zu Schlitzen geformten Augen mustert. Wir waren nie wirklich Freunde, sondern immer mehr Verbündete. Hat sie auch nur einen Moment gezögert, bevor es zu dem Kuss mit Finn kam? Hat sie auch nur einmal an mich gedacht? Was hätte ich an ihrer Stelle getan?

Ich schaue zwischen den beiden hin und her und frage mich, was nun aus ihnen geworden ist. Sind sie jetzt ein Paar?

Als Khaan zuletzt in den Panzer steigt, schüttle ich die Gedanken ab und versuche, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren, auch wenn es mir mein Herz schwer macht.

Zu zwölft ist es sehr eng und die Luft so schwer, dass ich das Gefühl habe, nicht atmen zu können. Der Geruch von Schweiß, Sand und Motorenöl erfüllt den winzigen Raum.

»Ich möchte euch alle bitten, dass ihr die Dinge, die wir hier besprechen, für euch behaltet. Wir möchten niemanden belügen, aber wir möchten den Menschen auch nicht mehr Angst als nötig machen. Bevor wir alle über die Lage informieren, müssen wir uns erst auf eine Lösung einigen«, eröffnet Maggie die Versammlung und ich frage mich unwillkürlich, ob es in der Legion auch so begonnen hat. Die Legion hat mich mein ganzes Leben lang belogen und viele Generationen vor mir genauso. Alles angeblich nur, um uns zu schützen. Wann war der Zeitpunkt, an dem aus ihrem Schutz Unterdrückung wurde? Wird es bei den Rebellen früher oder später genauso laufen? Ich verstehe, dass wir keine öffentlichen Diskussionen führen können. Gerade wenn es um so etwas Lebensnotwendiges wie das Wasser geht, würde das zu Panik führen. Aber müssen wir die anderen nicht zumindest teilweise informieren?

»Wir haben kein Wasser mehr. Die letzten Reste sind gestern für das Abendessen draufgegangen. Es sind bereits mehrere Truppen unterwegs, die die Umgebung nach einer Wasserquelle absuchen, doch wir machen uns nur wenig Hoffnung, eine zu finden. Ihr wisst selbst, dass der Boden staubtrocken ist«, berichtet sie uns sachlich.

»Was ist mit der Kanalisation?«, wendet N600 irritiert ein. »Dort gibt es so viel Wasser, dass einige von uns sogar darin ertrunken sind.«

»Und einige andere werden innerhalb der nächsten Tage an den Bakterien sterben«, setzt Asha nach.

»Das wollen wir nicht hoffen«, meint Maggie. »Aber es stimmt, dass das Wasser zu unrein ist, um es trinken zu können.«

»Wir können es abkochen«, beharrt N600.

»Es gibt Bakterien, die sich nicht einmal durch das Abkochen völlig zerstören lassen«, schaltet sich A350 in die Diskussion ein. »Zudem kommt das Wasser direkt aus der Zentrallegion. Wenn sie mitbekommen, dass wir davon trinken, werden sie es bald stoppen und dann sitzen wir wieder auf dem Trockenen.«

»Wir könnten ein Loch graben, bis wir auf Wasser stoßen«, schlägt Felix euphorisch vor, wodurch er einige der Anwesenden zum Schmunzeln bringt.

»Das haben wir bereits versucht. Es hat einen ganzen Tag gedauert, bis wir auf Wasser gestoßen sind, und die Menge war so gering, dass es nicht einmal gereicht hat, um ein Glas zu füllen«, entgegnet Raymond.

»Dann müssen wir noch tiefer graben«, beharrt mein jüngerer Bruder und lässt sich nicht unterkriegen. Schon bevor ich überhaupt wusste, dass wir miteinander verwandt sind, hat er mich durch seinen Gerechtigkeitssinn und seinen unbeugbaren Willen beeindruckt. Ich bin stolz, seine Schwester zu sein. Ebenso wie auf meine Mutter, die zwar in ihrem Leben viele falsche Entscheidungen getroffen hat, aber niemals aufgegeben hat.

»Wo kein Wasser ist, kann man auch keines herbeizaubern«, faucht Ruby ungeduldig. »Glaubt ihr, wir hätten nicht bereits alles versucht?«

»Wir sind hier, um gemeinsam nach einer Lösung zu suchen«, fahre ich sie an. »Es muss jedem erlaubt sein, Vorschläge zu äußern, sonst können wir direkt wieder gehen.«

Ruby funkelt mich verärgert an. Sie hasst es, wenn man ihr widerspricht. Aber vielleicht hasst sie es bei mir ganz besonders.

»Ich stimme dir zu, Cleo«, pflichtet mir Maggie versöhnlich bei. »Jeder Vorschlag ist hilfreich, aber wir bezweifeln, dass sich eine friedliche Lösung finden lassen wird.«

»Was soll das heißen?«, will meine Mutter wissen.

»Wir werden nicht um einen weiteren Angriff auf die Zentrallegion herumkommen«, sagt Sharon ernst. »Weiß einer von euch, wo sich ihre Wasserreserven befinden oder woher sie überhaupt Wasser beziehen?«

»Es kommt aus dem Boden«, antwortet Felix und blickt dabei Ruby triumphierend in die Augen.

Diese fühlt sich sofort persönlich angegriffen und entgegnet: »Die Zentrallegion hat ganz andere Möglichkeiten als wir. Sie müssen nicht mit einem Stück Blech graben. Aber du kannst es ja gern selbst versuchen, wenn du mir nicht glauben willst.«

»Beruhigt euch bitte«, herrscht Maggie beide an. Sie wendet sich meiner Mutter zu. »Gibt es mehrere Wassertanks oder nur einen?«

Weder Maggie noch sonst einer der Rebellen scheint zu wissen, dass meine Mutter die meiste Zeit in der Zentrallegion in einer Zelle verbracht hat. Nur weil sie in der westlichen Legion eine hohe Legionsführerin war, erwarten sie, dass sie auch in der Zentrallegion das Sagen hatte. Tatsache ist, dass meine Mutter diese Chance aufgegeben hat. Für mich.

»Es gibt vier Wassertanks«, antwortet Khaan für meine Mutter. »In jedem Legionssektor einen.«

»Gibt es eine Chance, einen von ihnen einzunehmen?«, hakt Sharon nach.

»Am ehesten den im östlichen Sektor. Dort habt ihr bereits beim letzten Mal angegriffen. Aber ich weiß nicht, wie viel ihr beschädigt habt und ob der Wassertank dabei war.«

»Wie groß ist der Wassertank?«

»Sagen wir mal so: Ihr müsstet es gemerkt haben, wenn er geplatzt wäre«, grinst Khaan. »Es hätte eine ordentliche Flutwelle gegeben.«

»Hältst du es für möglich, dass wir den kompletten östlichen Sektor der Stadt einnehmen und halten könnten?«

Ich sehe Khaans ungläubigen Blick. Obwohl die Rebellen die Zentrallegion angegriffen haben, scheinen sie sich nicht der Menschenmassen bewusst zu sein, die dort leben. Sie kennen alle nur ihre kleinen Heimatlegionen. Keine von ihnen ist mit der Zentrallegion zu vergleichen. Die anderen Legionen bestanden alle aus einer Legionsführerkuppel und einer unterirdischen Sicherheitszone. Die Zentrallegion hingegen ist eine richtige Stadt, die viele Tausende Menschen beherbergt.

»Mit viel Glück ist es möglich, einen Sektor einzunehmen, aber es ist unmöglich, ihn länger als ein paar Stunden zu halten«, antwortet Khaan zögerlich. »Die Zentrallegion wird jeden Kämpfer und jede Waffe, die sie besitzen, auf uns loslassen. In einem frontalen Angriff können wir nur verlieren.«

»Wir brauchen das Wasser, sonst können wir direkt aufgeben«, sagt Ruby entschieden.

»Was für Waffen haben wir, um uns zu verteidigen?«, will Khaan im Gegenzug wissen. Er übernimmt das Kommando und beweist Stärke in dieser aussichtslosen Situation. Seinen Namen habe ich ihm zu Recht verliehen.

»Ich bringe dich zu Paul«, entscheidet Maggie. Damit ist die Versammlung wohl beendet. Paul ist neben Zoe einer der wenigen Rebellen, die ich noch nicht wiedergesehen habe.

Maggie steigt als Erste aus dem Panzer, Khaan folgt ihr. Doch als er die Luke erreicht, hält er inne und sieht sich nach mir um. »Kommst du mit?«

Zögernd blicke ich zu Finn, der die gesamte Versammlung geschwiegen hat. Ich kenne ihn nicht so in sich gekehrt und schweigsam. Ruby steht nun bei ihm und redet leise auf ihn ein. Er braucht mich nicht mehr.

Ich laufe zu Khaan und klettere vor ihm aus dem Panzer. Ich hätte es im Vorfeld nicht für möglich gehalten, aber die Planung des Angriffs hat mich tatsächlich von meinem Liebeskummer abgelenkt. Daran werde ich festhalten. Solange ich beschäftigt bin, kann ich wenigstens nicht zu oft an Finn denken, vor allem wenn er sich auch noch aus allem raushält.

Ein schwacher Windhauch bläst mir ins Gesicht, als ich den Kopf aus der Öffnung strecke. Länger hätte ich es in dem stickigen Panzer nicht ausgehalten. Ich steige die Leiter runter und warte neben Maggie auf Khaan. Sie lächelt mich liebevoll an, aber ich weiß nicht, wie ich mit ihrer Freundlichkeit umgehen soll. Ich kenne sie kaum und dazu ist sie Finns Mutter. Es ist ihr vermutlich egal, ob ihr Sohn nun mit mir oder Ruby zusammen ist – Hauptsache, er ist glücklich. Vielleicht bevorzugt sie Ruby sogar, weil sie eine Rebellin ist. Eventuell hat sie nur Mitleid mit mir, die von ihrem Sohn verlassen wurde.

»Zoe lässt dir liebe Grüße ausrichten. Sie hat es gestern nicht mehr geschafft, nach dir zu sehen, weil sie mit den Kranken und Verletzten beschäftigt war.«

Ich hebe überrascht die Augenbrauen. »Ist sie nicht schwanger?« Es wundert mich, dass sie sich in ihrem Zustand der Gefahr einer Ansteckung aussetzt.

»Doch, aber nicht krank«, erwidert Maggie. »Das sind ihre Worte, nicht meine!« Ein leises Lachen über ihre sture Tochter entfährt ihr.

»Wie geht es ihr denn?«

»Am besten fragst du sie selbst und besuchst sie im Krankenlager. Sie würde sich bestimmt freuen und sie können jede Hilfe gebrauchen, vor allem solange wir kein Wasser haben.«

Zusammen mit Khaan und Asha lassen wir die Feuerstelle hinter uns zurück und verschwinden hinter einem der Hügel. Ich höre wildes Fußstampfen und Kampfgeräusche. Der Grund dafür zeigt sich nach wenigen Metern. Etwa zweihundert Menschen befinden sich auf der Lichtung und sind mit unterschiedlichen Kampfübungen beschäftigt. Es sind sowohl Rebellen als auch wenige Mutanten, die jedoch durch ihre Größe aus der Menge herausragen. Ich erkenne auch ein paar der ehemaligen Freiheitskämpfer wieder.

»Wusstest du davon?«, frage ich Khaan überrascht, was er nickend bestätigt.

»Wir wurden schon gestern Abend dazu eingeladen, mit zu trainieren.«

»Warum hast du uns nichts davon erzählt?«, fährt Asha ihn vorwurfsvoll an. Schon in der westlichen Legion hat sie die Trainingseinheiten für die Paarungskämpfe genossen. Es hat ihr dabei geholfen, sich stärker vorzukommen und zumindest das Gefühl zu haben, sich verteidigen zu können. Diese Stärke könnte sie nun gut gebrauchen, wo A566 nicht nur am Leben, sondern ganz in ihrer Nähe ist.

»Ich dachte, ihr könntet beide eine Ruhepause gebrauchen. Wenigstens einen Tag«, entgegnet Khaan, woraufhin Asha ihn wütend anfunkelt.

»Weder Cleo noch ich brauchen jemanden, der über unseren Kopf hinweg entscheidet. Nicht einmal jemanden, der sich ›Anführer‹ nennt.«

Mir wird augenblicklich klar, dass sie in der letzten Nacht, während ich mit Khaan geredet habe, nicht geschlafen hat. Irgendwie ist es mir peinlich, dass sie unser Gespräch mit angehört hat. Es war so vertraut. Zwar möchte ich Asha nichts verheimlichen, aber meine Antworten wären vielleicht doch etwas anders ausgefallen, wenn ich gewusst hätte, dass sie mithört.

Maggie führt uns durch die Menschen, bis sie die große, muskulöse Gestalt von Paul ausmacht. Sie ruft ihn beim Namen und als er sich zu uns herumdreht, weiten sich seine Augen vor Überraschung, bevor sich sein Mund zu einem breiten Grinsen verzieht.

Er kommt uns entgegengerannt, hebt mich hoch und wirbelt mich wie ein kleines Kind durch die Luft. Ich kann nicht anders, als in ein losgelöstes Lachen auszubrechen. Paul war genau wie Pep und Florance einer meiner ersten Freunde bei den Rebellen. Er ist ein ehrlicher Mensch, der immer nach seinem Herzen handelt.

»Du bist härter als Granit, oder?«, grinst er mich an. »Du lässt dich von nichts und niemandem unterkriegen!«

Ich freue mich über seine Worte, habe aber nicht das Gefühl, dass sie stimmen. Eigentlich habe ich mich die letzten Stunden wie eine komplette Heulsuse benommen und mich in purem Selbstmitleid ertränkt. Alles nur wegen Finn.

»Ich nehme an, wir haben keine andere Wahl, wenn wir überleben wollen«, erwidere ich ernst.

»Genau deshalb sind wir hier«, erklärt Maggie und übernimmt das Wort. »Wir sind uns einig darüber, dass wir die Zentrallegion noch einmal angreifen müssen, um an ihre Wasservorräte zu kommen.« Sie deutet auf Khaan. »Das ist Khaan. Er ist einer der Anführer der Freiheitskämpfer aus der Zentrallegion. Er wird den Angriff leiten. Kannst du uns bitte unsere Waffen zeigen?«

Pauls Grinsen verschwindet schlagartig und er wird ernster, als ich es je bei ihm erlebt habe. Selbst ihm, der immer für einen Scherz zu haben ist, ist klar, wie schwierig unsere Situation ist.

Er führt uns über die Lichtung zu einem kleinen Lager, bestehend aus mehreren Stahlkisten. Er öffnet sie nacheinander und es kommen mehrere Ferngläser, Laserwaffen und Leuchtraketen zum Vorschein. Jedoch sind alle Kisten nur etwa zur Hälfte gefüllt.

»Ein großer Teil ist schon für den ersten Angriff draufgegangen«, erklärt Paul, als er mein enttäuschtes Gesicht bemerkt.

Ratlos blicke ich zu Khaan. Er begutachtet die Waffen kritisch, aber nicht verzweifelt. »Wie viele Kämpfer der ehemaligen Legion sind gesund genug, um zu kämpfen?«

Paul lässt seinen Blick über die trainierenden Menschen schweifen. Kaum einer von ihnen ist noch eindeutig als ehemaliger Legionsbewohner zu identifizieren. Doch Paul scheint alle zu kennen. »Etwa hundert«, antwortet er.

Khaan blickt abschätzend in die Kisten. Es könnten auch etwa so viele Laserwaffen vorhanden sein. »Was ist mit den Rebellen? Wie viele von ihnen können wirklich kämpfen?«

»Wir haben viele in den letzten Wochen verloren«, sagt Paul unglücklich. »Mit den Mutanten werden es zurzeit nicht mehr als hundertfünfzig sein.«

Ich bemerke, wie Asha zwischen Khaan und Paul hin und her blickt, im Gegensatz zu mir scheint sie zu verstehen, worauf Khaan hinauswill. »Das könnte klappen«, sagt sie, ohne dass jemand ausgesprochen hat, wie der Plan aussehen soll.

Khaan mustert sie erstaunt. Er scheint sie erst jetzt t wahrgenommen zu haben.

»Die Laserwaffen gehen an die ehemaligen Legionsmitglieder«, sagt sie, wird jedoch sofort von Maggie unterbrochen.

»Damit werden sich die Rebellen nicht einverstanden zeigen.«

»Warum?«, fragen Khaan und ich gleichzeitig.

»Auch wenn wir alle einen gemeinsamen Feind haben, gibt es immer noch Unstimmigkeiten«, gibt Maggie zu. »Die Rebellen werden sich bedroht fühlen, wenn die ehemaligen Legionäre mit Waffen ausgestattet sind, während sie selbst mit leeren Händen dastehen.«

»Aber die Kämpfer der Legion sind die Einzigen, die wirklich gut mit den Laserwaffen umgehen können. Wir haben keine Zeit, es den Rebellen innerhalb eines Tages beizubringen«, entgegnet Khaan verständnislos.

Ich unterstütze seinen Standpunkt. »Die Kämpfer können nach dem Angriff die Waffen wieder abgeben und sollte uns die Zeit bleiben, können die Rebellen den Umgang mit den Lasern lernen.«

Maggie wirkt unzufrieden, aber Paul schlägt sich überraschend auf unsere Seite. »Wir brauchen Wasser, und das so schnell wie möglich. Wenn wir einander nicht vertrauen, können wir direkt aufgeben.«

Asha fährt mit dem Plan fort: »Die Rebellen übernehmen die Leuchtraketen und starten damit ein Ablenkungsmanöver, um die Kämpfer der Zentrallegion in einen anderen Stadtsektor zu locken, während der eigentliche Angriff im Ostsektor stattfindet, wo wir ihnen das Wasser abpumpen werden.«

Über Khaans Lippen huscht ein schwaches Lächeln. »Nicht ganz.«

Ashas Augen funkeln ihn feindselig an. »Wie dann, Anführer?« Wieder macht sie sich über seinen Namen lustig und lässt mich dadurch beinahe meine Wahl bereuen, auch wenn Khaan ihre Sticheleien kaltzulassen scheinen.

»Die Leuchtraketen kommen im Süden der Stadt als Erstes zum Einsatz. Daraufhin wird die Zentrallegion dort ihre Leute zur Verteidigung hinschicken. Wenige Minuten später starten wir einen zweiten Angriff mit den Laserwaffen im Westen der Stadt. Die Zentrallegion wird genug damit zu tun haben, von einem Sektor zum anderen zu hasten. Diese Zeitfenster nutzt eine kleine Gruppe von uns, um am anderen Ende der Stadt, im Osten, den Wassertank mit dem Panzer zu stehlen.«

In Ashas Blick spiegelt sich beinahe so etwas wie Anerkennung wider. »Das ist gut«, gibt sie zu.

»Wer wird zu der kleinen Gruppe gehören?«, fragt Maggie.

»Wer kann den Panzer fahren?«, entgegnet Khaan.

»Ruby hat es bisher immer gemacht.«

»Dann wird sie es auch dieses Mal tun. Außerdem brauchen wir noch jemanden, der die Sicherung an dem Wassertank anbringt, mit der wie ihn aus seiner Halterung reißen, sowie jemanden, der demjenigen Rückendeckung gibt. Beide müssen sich schnell bewegen können und einer sollte mit den Laserwaffen umgehen können.«

»Ich mache das«, erkläre ich mich bereit, ohne zu zögern. Das Adrenalin wird mich jeden Gedanken an Finn vergessen lassen, da ist mir sogar Rubys Anwesenheit egal.

Ich sehe Khaan an, dass er sich als meine Begleitung melden möchte, doch jemand kommt ihm zuvor.

»Ich komme auch mit.«

Die anderen fahren überrascht herum, doch ich brauche mich nicht umzudrehen, um zu wissen, wem die Stimme gehört: Finn. Sie löst eine Gänsehaut in meinem Nacken aus, die sich wie ein Schauer über meinen gesamten Rücken zieht.

Niemand von uns hat gemerkt, wie er zu uns gestoßen ist.

»Cleo und ich sind zwei der schnellsten Läufer. Wir können beide mit den Laserwaffen umgehen, wobei sie besser ist als ich.«

Bilder von unseren Paarungskämpfen in der Arena der westlichen Legion schießen mir unwillkürlich durch den Kopf.

Sein Schlag trifft mich ins Gesicht, aber ich spüre keinen Schmerz. Ich suche in seinen Augen nach dem Aufblitzen einer Erkenntnis. Feuer lodert in ihnen und so viel Wärme, dass mir schwindelig wird. Ich schaffe es nicht, mich aufzurichten, und sacke auf den Boden zurück. Die grellen Deckenleuchten verschwimmen vor meinen Augen. Finn baut sich mit erhobenem Laser vor mir auf. Er hat so gut wie gewonnen. Ich brauche nur liegen zu bleiben und mich erschießen zu lassen. Dann wird es sein Samen sein, der in mir heranwachsen wird. Durch ein Kind werden wir für immer miteinander verbunden sein. Ich liebe ihn und möchte eine Zukunft mit ihm.

Aber nicht so.

Ich trete ihm die Beine weg und mein grüner Laserstrahl trifft ihn. Sein Blick ist entsetzt. Er kann kaum glauben, was gerade passiert ist. Als er begreift, was ich getan habe, blickt er mich so fassungslos an, als hätte mein Strahl ihn nicht besiegt, sondern getötet.

Seine Wirkung auf mich ist trotz allem ungebrochen. Es wird noch lange dauern, bis mein Herz nicht mehr schneller schlägt, wenn er in meiner Nähe ist.

Ich spüre, wie die anderen mich anstarren. Sie erwarten, dass ich Finn widerspreche, dass ich mich weigere, mit ihm und Ruby in einem Panzer zu fahren, aber ich schweige. Ich weiß nicht, was Finn sich davon erhofft oder ob er sich überhaupt etwas erhofft, aber ich werde nicht diejenige sein, die einen Rückzieher macht.

»In Ordnung«, sage ich nur und gehe davon. Ich habe Finn nicht einmal angesehen.

»Pass auf, dass sie dich nicht erschießt, anstatt dir Rückendeckung zu geben«, höre ich Asha noch an Finn gewandt fauchen. Es entlockt mir ein schwaches Schmunzeln. Ich würde Finn niemals absichtlich wehtun, nicht einmal jetzt.

Das Krankenlager ist schnell gefunden. Ein ständiges schmerzvolles Stöhnen liegt in der Luft. Die Menschen liegen im Schatten einer der wenigen Planen. Die meisten von ihnen leiden an Erbrechen durch das schmutzige Wasser der Kanalisation, aber einige haben auch offene Wunden von Kämpfen. Es sind etwa hundert Kranke, von denen nicht alle überleben werden.

Auf die große Anzahl der Pflegebedürftigen kommen nur fünf Frauen, die sich um sie kümmern. Eine von ihnen ist Zoe. Sie ist die Einzige, die eine kleine Kugel vor sich herschiebt. Obwohl ich wusste, dass sie schwanger ist, schockt mich ihr Anblick.

Zoe bemerkt mich erst, als ich direkt hinter ihr stehe. Sie kniet neben einem der Freiheitskämpfer und wischt ihm Schweiß von der Stirn. Der saure Geruch von Erbrochenem liegt in der Luft und macht es mir schwer, zu atmen.

Zoe dreht sich um und blickt zu mir auf. Ihre Wangen sind rosig und sie sieht trotz des vielen Leids irgendwie glücklich aus. Sie lächelt, steht auf und schließt mich wortlos in die Arme. Seitdem ich sie kenne, bewundere ich sie für ihre Stärke.

Sie nimmt mich an der Hand und führt mich aus dem Krankenlager. Selbst als die Luft wieder nach dem roten Sand riecht, lässt sie mich nicht los. Wir setzen uns nebeneinander auf den Boden. Seitdem ich sie das letzte Mal gesehen habe, hat sie sich sehr verändert. Ich kannte sie immer nur mit kahlem Kopf und den lichtblauen Augen der Legion. Jetzt sehe ich, dass ihre Haare in einem warmen Blondton nachwachsen und ihre Augen das gleiche strahlende Blau eines wolkenlosen Himmels haben wie Finns. Die Ähnlichkeit der beiden Geschwister war nie deutlicher.

Zoe streichelt mir über die Hand, ohne etwas zu sagen. Sie lächelt nur still in sich hinein.

»Wie geht es dir?«, eröffne ich das Gespräch und deute mit den Augen auf ihren Bauch.

Sie streichelt mit ihrer freien Hand über die Rundung. »Wir gewöhnen uns langsam aneinander.«

»Das ist gut«, erwidere ich und freue mich wirklich für sie. Es tat mir leid, dass ich sie damals nicht vor der Befruchtung retten konnte. Ich hatte immer gehofft, dass sie vielleicht irgendwann die gleiche Liebe für ihr Kind entdecken könnte wie A350 für mich.

Sie legt den Kopf leicht schief und mustert mich besorgt. »Wie geht es dir

Ich fühle mich ertappt und senke beschämt den Blick. Warum fragen mich alle nach Finn? Was erwarten sie, zu hören? Wie schlecht es mir geht? Oder wie wütend ich auf ihn bin? »Ich versuche, mir keine Gedanken zu machen und mich auf unser Ziel zu konzentrieren. Der Kampf gegen die Zentrallegion steht an erster Stelle.«

Sie lächelt wissend und ich sehe ihr an, dass sie mir nicht glaubt. »Man kann nur kämpfen, wenn man mit dem Herzen dabei ist.«

»Wer sagt, dass ich nicht mit dem Herzen dabei bin?!«, konterte ich. Ich möchte Finn weit aus meinen Gedanken schieben, aber das ist nicht möglich, wenn jeder mich auf ihn anspricht.

»Ich weiß, was Finn getan hat«, fährt Zoe mitfühlend fort. »Er hat es mir selbst erzählt und es war das Bescheuertste, was ich je gehört habe.«

Ich will ihr Mitleid nicht. Weder ihres noch das der anderen.

»Es gibt auch noch andere Männer«, behaupte ich, um stärker zu erscheinen, als ich mich fühle. Wenn Finn es geschafft hat, sein Herz jemand anderem – Ruby – zu öffnen, und sei es auch nur in einem kurzen Moment, kann ich das auch. Theoretisch.

»Ach ja? Wen denn zum Beispiel?«, fragt sie interessiert mit hochgezogenen Augenbrauen.

Wenn ich ihr jetzt keinen Namen nennen kann, wird sie mir nicht glauben. »Khaan und ich verstehen uns auch sehr gut.« Es ist die Wahrheit und trotzdem hört es sich wie eine Lüge an. »Er ist der Anführer der Freiheitskämpfer«, setze ich nach, um ihr zu beweisen, wie gut er und ich zusammenpassen würden. Wir haben dieselbe Herkunft und teilen dieselben Ziele.

Aber ich kann Zoe nichts vormachen. Sie hat mich schon immer durchschaut. »Ich wünsche dir wirklich, dass du glücklich bist, aber ich hatte nicht erwartet, dass du dich für einen anderen als Finn interessieren könntest.«

»Warum nicht?«, fahre ich sie an und kann meine aufflammende Wut kaum noch zurückhalten. »Finn hat schließlich auch eine andere geküsst.«

»Ist es das? Willst du ihn eifersüchtig machen?«, fragt sie mich höhnisch. »Das wird nicht funktionieren, dafür liebt er dich zu sehr.«

Ihre Worte schmerzen und lassen mich die letzte Selbstbeherrschung verlieren. »Es ist mir völlig egal, was Finn tut, denkt oder fühlt. Bitte tu mir einen Gefallen und sprich mich nicht mehr auf ihn an!« Meine Stimme bebt und mein Hals schnürt sich zu. Ich muss hier weg.

Als ich mich zum Gehen wende, steht Clyde direkt hinter mir und starrt mich fassungslos, beinahe anklagend, an. »Was ist denn los?«

»Cleo wollte gerade gehen«, mault Zoe nur beleidigt und mit vor der Brust verschränkten Armen.

Bei all der Wiedersehensfreude habe ich vollkommen vergessen, dass unsere Freundschaft schon immer aus jeder Menge Diskussionen bestanden hat. Wir streiten uns mindestens genauso oft, wie wir uns vertragen.


03. Die beiden schnellsten Läufer (Cleo)

Als die Dämmerung einsetzt, verlasse ich meinen einsamen Platz hinter den Hügeln und kehre ins Lager zurück. Es herrscht heller Aufruhr.

Paul entdeckt mich als Erster und kommt auf mich zugestürmt. »Wo warst du die ganze Zeit? Wir haben dich bereits gesucht«, wirft er mir verständnislos vor.

Ich zucke stumm mit den Schultern.

Sein verärgerter Gesichtsausdruck wird etwas sanfter, als er mich mustert. Ich kann ihm seine Gedanken förmlich von den Augen ablesen: Die arme, von Liebeskummer gepeinigte Cleo.

»Schon gut, jetzt bist du ja da«, sagt Paul schnell und legt seine Hand auf meinen Rücken. Er schiebt mich vorwärts. Rund um den Panzer hat sich eine große Menschengruppe versammelt, die hauptsächlich aus den einzelnen Einsatzleitern besteht. Khaan führt zusammen mit Clyde und Felix die Gruppe der ehemaligen C-ler an, während Paul mit Maggie und dem Oberhaupt der Mutanten die Rebellen anführt.

Ich entdecke Asha, die sich unter eine Gruppe Rebellen gemischt hat. Sie hätte in beiden Teams mitkämpfen können, da sie mit der Laserwaffe umgehen kann, aber offenbar möchte sie einen eindeutigen Strich unter ihr Leben in der Legion ziehen. Das kann ich nur zu gut verstehen.

An der Fahrertür des Panzers lehnen Finn und Ruby. Obwohl mir mein Kopf einschärft, sie nicht zu beachten, kann ich nicht anders, als sie zu beobachten. Ich schaue auf Finns Hände, die schlapp nach unten hängen, und blicke in sein Gesicht, das von Ruby abgewandt ist. Er sieht nicht glücklich aus. Eigentlich kein Wunder, wenn man bedenkt, dass wir planen, in weniger als einer Stunde die uns überlegene Zentrallegion anzugreifen. Aber irgendwie vermisse ich den entschlossenen Ausdruck in seinen Augen – die Kampfeslust.

Wenn er mit mir zusammen war, schien er ständig unter Strom zu stehen. Seine Augen waren ein Spiegel seines unbeugsamen Kampfgeistes. Unsere Finger waren immer miteinander verwoben und sein Händedruck gab mir Mut und Zuversicht.

Ich suche mein Inneres nach einem Gefühl des Triumphes ab. Finn hat mich verlassen, aber glücklich ist er dennoch nicht. Doch ich verspüre keine Freude über seinen Kummer. Nicht einmal ein bisschen. Ganz im Gegenteil, es tut weh, ihn so leiden zu sehen. Mein Körper sehnt sich nach ihm. Ich möchte seine Hände in meine nehmen und ihm versichern, dass alles ein gutes Ende nehmen wird. Ich möchte ihn zum Lachen bringen und seine Augen strahlen sehen. Doch ich bin zu verletzt und zu verwirrt, um einfach auf ihn zuzugehen.

Auch wenn Finn mich nicht beachtet, behält mich Ruby dafür umso besser im Auge. Sie hat meinen sehnsuchtsvollen Blick bemerkt und starrt mir nun warnend direkt ins Gesicht. Ihre Augen sind zu schmalen Schlitzen geformt. Sie ist ohne Zweifel wütend auf mich, dabei ist sie es doch, die meinen Freund geküsst hat. Ich sollte zornig auf sie sein und nicht andersherum. Was wirft sie mir vor?

Khaan stellt sich in die Mitte unserer Gruppe. »Hört mir bitte alle mal zu«, ruft er laut und die aufgeregten Gespräche verstummen langsam. »Bevor wir aufbrechen, möchte ich noch einmal den Plan wiederholen«, erklärt er, wobei seine Hände zu einem Trichter geformt sind, damit alle ihn hören können. Seine gesamte Körperhaltung drückt Stärke und Entschlossenheit aus. »Als Erstes brechen die Rebellen auf und entzünden an der Südgrenze die Leuchtraketen. Sobald ihr das getan habt, zieht ihr euch zurück. Es gibt keinen Grund, sich einem Kampf mit der Legion zu stellen. Wir wollen überleben und nicht sterben.«

Er weiß genauso gut wie ich und die meisten anderen, dass wir gegen die Zentrallegion keine Chance haben. Es geht nur noch darum, so lange wie möglich am Leben zu bleiben. Und dafür brauchen wir dringend Wasser.

»Die FDF bricht mit den Laserwaffen wenige Minuten nach den Rebellen auf. Bis zur Westseite sind wir zwar länger unterwegs, aber in dieser Zeit werden sich alle Kämpfer der Legion im Süden zur Verteidigung versammeln. Wenn der Westen praktisch unbewacht ist, greifen wir an, um so die Legionäre von dem Kampf mit den Rebellen wegzulocken. Solange noch keine Wachen da sind, ist es unser Ziel, so viele Kameras wie möglich zu zerstören. Sobald die ersten Wachen der Legion kommen, werden wir sie in einen Kampf verwickeln, der jedoch nicht länger als zehn Minuten dauern darf. Diese zehn Minuten sind die Zeit, die wir der Panzergruppe einräumen, um den Wassertank im Ostsektor zu stehlen.« Er blickt erst zu Finn und Ruby, lässt dann aber seinen Blick auf mir verweilen. »Je länger ihr braucht, um den Wassertank aus seiner Fassung zu reißen, desto brenzliger wird es für uns, da wieder rauszukommen. Sobald ihr den Tank habt, wird A350 ein Signal an A233 senden. Erst dann treten wir den Rückzug an.«

Ich runzele verwirrt die Stirn. Der Teil des Plans ist mir neu. Ich wusste nicht einmal, dass A233 überhaupt hier ist, geschweige denn, dass meine Mutter mich in dem Panzer begleitet. Ich sehe mich nach ihr um, doch da spüre ich bereits ihre Hand auf meiner. Überrascht drehe ich mich zur Seite und blicke in ihr Gesicht. Sie lächelt mich zuversichtlich an. »Ich begleite dich«, flüstert sie leise.

Erst jetzt spüre ich, dass ich tatsächlich Angst davor hatte, mit Ruby und Finn allein zu sein. Es hat mir mehr ausgemacht, als ich wahrhaben wollte. Zudem ist es ein guter Plan, denn die ehemaligen Legionsführer der westlichen Legion verfügen alle über einen Chip, der ihnen ermöglicht, wortlos und über weite Strecken miteinander zu kommunizieren. Die Legion hat uns damit sogar einen Gefallen getan. Bei mir kam dieser Chip nie zum Einsatz, da meine Ausbildung noch nicht abgeschlossen war, bevor die westliche Legion in die Luft gejagt wurde.

»Ich wünsche allen Teams viel Erfolg. Geht keine unnötigen Risiken ein«, sagt Khaan zum Abschluss.

Alle brechen in einen kollektiven Applaus aus und plötzlich ist das Motto der Freiheitskämpfer das von allen. »Für die Freiheit«, höre ich immer wieder Menschen rufen. Eine Gänsehaut breitet sich auf meinen Armen aus, denn in diesem Moment sind wir eine Einheit und irgendwie verdanken wir das Khaans Ansprache. Er hat uns zusammengeführt und uns ein Ziel gegeben, für das wir gemeinsam kämpfen können.

Die Gruppe mit den Rebellen ist bereits aufgebrochen und die der ehemaligen C-ler wird ihr in wenigen Minuten folgen. Ich drücke mich unruhig bei Felix herum, dabei entgehen mir nicht N600s feindselige Blicke. Seitdem Felix erfahren hat, dass N600 mich seinetwegen sterben lassen wollte, beachtet er sie nicht mehr. Das muss sie sehr verletzen, immerhin wollte sie ihn nur schützen. Zudem weiß ich, wie viel er ihr bedeutet.

Mein kleiner Bruder wirkt genauso nervös wie ich. Sein Blick jagt von einem zum anderen und er prüft immer wieder, ob seine Laserwaffe angeht. Ich selbst trage auch eine um mein Handgelenk, aber ich vertraue darauf, dass Khaan sie überprüft hat, bevor er sie an mich weitergegeben hat.

»Weißt du eigentlich, wie mutig du bist?«, sagt Felix plötzlich und schaut mich bewundernd an.

Ich spüre, wie ich unter seinem Blick erröte. Mit Komplimenten kann ich nach wie vor nicht umgehen, und schon gar nicht, wenn ich sie nicht verstehe. »Warum das denn? Wir riskieren heute alle unser Leben!«

»Das meine ich gar nicht. Ich finde es unglaublich, dass es dich völlig kaltlässt, allein mit Finn zu sein. Und das nach all dem, was er dir angetan hat.«

Ich rolle mit den Augen. Ich kann es nicht mehr hören! Von Kaltlassen kann keine Rede sein, aber gut, wenn es mir mittlerweile gelingt, diesen Eindruck zu erwecken. »Das Leben muss weitergehen, außerdem sind wir nicht allein.«

In Wahrheit wäre ich gern mit ihm allein. Ich weiß zwar nicht, was sich dadurch ändern sollte, aber mein Herz sehnt sich zu sehr nach ihm. Ruby sieht dies jedes Mal, wenn sie mich anblickt.

Ich nicke mit dem Kopf in N600s Richtung und flüstere: »Was ist mit dir und ihr?«

Felix folgt meinem Blick und verzieht missbilligend das Gesicht. »Nichts, und da wird auch nichts mehr sein.«

Ich muss über seine harten Worte lächeln, denn ich bin mir sicher, dass er sie nicht so meint. Er und N600 sind miteinander aufgewachsen. Sie teilen ihr ganzes Leben miteinander, das ist etwas, was ihnen niemand nehmen kann. Auch ich komme gegen eine gemeinsame Vergangenheit nicht an, egal ob wir durch unser Blut miteinander verbunden sind.

»Sie wollte dich nur schützen«, erinnere ich ihn nachdrücklich.

»Ich weiß«, erwidert er. »Aber ich hätte ihr niemals verzeihen können, wenn du wirklich gestorben wärst.«

Überwältigt von der Zuneigung für meinen jüngeren Bruder, ziehe ich ihn in eine Umarmung. Es fällt mir immer noch schwer, zu begreifen, dass ich wirklich eine Familie habe.

Khaan tritt nun zu uns. »Seid ihr bereit?«

Wie könnte ich je bereit sein, um eventuell zu sterben? Unsere Leben hängen am seidenen Faden.

Während Felix seinen Platz in der Gruppe einnimmt, merke ich, wie gehetzt und unruhig Khaan wirkt. Langsam bekommt wohl selbst er es mit der Angst zu tun. Ich berühre seine Schulter und lächle ihm aufmunternd zu. »Ich werde mich beeilen«, versichere ich ihm. Je schneller Finn und ich unseren Auftrag erfüllen, umso eher können sich alle zurückziehen.

Er nimmt meine Hand in seine. »Das weiß ich. Viel Erfolg!«

Wir umarmen uns, wobei Khaan mich etwas länger festhält als nötig. Danach läuft er zur Spitze des Trupps und gibt das Zeichen zum Abmarsch. Der Panzer bleibt allein mit Finn, Ruby, A350 und mir zurück. Es ist ein komisches Gefühl, nun allein auf der Lichtung zu stehen, die vor wenigen Minuten noch voller Menschen war.

Als ich den Panzer erreiche, ist Ruby bereits im Inneren verschwunden.

»Wir haben beschlossen, einen kleinen Umweg zu fahren, damit die Zentrallegion uns nicht direkt kommen sieht, falls sie den Ostsektor noch bewachen«, erklärt Finn und schaut mir dabei sogar in die Augen. Er verhält sich sachlich und kühl, so als wären wir zwei Fremde.

»In Ordnung«, sage ich nur und steige in das Gefährt.

Während meine Mutter und ich uns in den Innenraum begeben, nimmt Finn neben Ruby auf dem Beifahrersitz Platz. Der Panzer setzt sich holpernd in Bewegung. Es beunruhigt mich, nicht sehen zu können, wo wir hinfahren. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich auf Ruby und Finn zu verlassen. Ausgerechnet die beiden letzten Personen, denen ich im Moment mein Vertrauen schenken möchte.

Während der Fahrt überprüft A350 mehrmals meine Laserwaffe, um sicherzugehen, dass sie funktioniert. Ich habe sie jedoch im Verdacht, dass sie nur auf sehr unbeholfene Art und Weise versucht, mich von Finn abzulenken. Es funktioniert auch mehr oder weniger, denn ich bin geradezu erstaunt, als der Panzer schließlich hält. Die ersten Minuten der Fahrt kamen mir wie eine Ewigkeit vor, während die restliche Fahrtzeit so schnell an mir vorbeizog, dass ich nun gar nicht sagen könnte, wie lange wir unterwegs waren.

Durch den dicken Stahl des Panzers sind keine Geräusche von außen zu hören. Es ist totenstill. Ich bekomme eine Gänsehaut, während sich ein ungutes Gefühl in meinem Magen ausbreitet. Ich halte es nicht länger aus und laufe zu der schmalen Fahrerkabine. Ruby und Finn sitzen wie versteinert auf ihren Plätzen. Zwischen ihnen ist ein Monitor, der den zerstörten Ostsektor der Zentrallegion zeigt. Da ich mit der FDF durch das Abwassersystem geflüchtet bin, habe ich nie gesehen, wie groß die Zerstörung ist.

Es ist unglaublich, was die Rebellen in der kurzen Zeit angerichtet haben. Zwar stehen alle Gebäude noch, aber die großen Fensterfassaden weisen große Löcher auf und das ganze Gebiet scheint verlassen zu sein. Scherben und Schutt bedecken den teils aufgeplatzten Betonboden. Die Strommauer ist nicht mehr aktiv, da ihre elektronischen Sendepunkte zerstört wurden. Es gibt in diesem Stadtteil offenbar keine Stromversorgung mehr. Die Rebellen haben der Zentrallegion mit ihrem Angriff definitiv einen harten Stoß versetzt.

Die Legion hielt sich für uneinnehmbar und die Rebellen haben ihnen mit ein paar Laserwaffen und selbst gebauten Bomben das Gegenteil bewiesen. Es wundert mich, dass sie noch nicht zum Gegenschlag angesetzt haben, aber vielleicht sitzt der Schock auch noch zu tief. Doch das wird sich spätestens nach dem heutigen Tag ändern. Vielleicht schaffen wir es, den Wassertank in unseren Besitz zu bringen, aber dafür müssen wir in naher Zukunft mit einem Angriff der Legion rechnen. Sie wird nicht tatenlos dabei zu sehen, wie wir die Macht ergreifen.

»Woher wissen wir, wann wir angreifen müssen?«, frage ich in den Raum hinein.

»A233 gibt mir Meldung, sobald sie die ersten Kampftruppen der Zentrallegion sichten«, antwortet meine Mutter.

»Können wir trotzdem schon einmal aussteigen?«, frage ich Finn, da er für mich immer noch derjenige ist, der das Kommando über unsere Truppe hat, auch wenn er kaum etwas sagt.

Anstatt mir zu antworten, betätigt er den Knopf auf dem Schaltbrett, der die Luke öffnet. Genauso wortlos trete ich aus der Fahrerkabine und steige die Leiter empor. Oben angekommen, strecke ich lediglich meinen Kopf an die frische Luft. In weiter Ferne sind leise Knallgeräusche zu hören, doch sehen kann ich nichts. Gehören die Geräusche noch zu dem Kampf der Rebellen? Es dürfte bei ihnen eigentlich gar keinen Kampf geben. Sie sollten nur die Leuchtraketen abfeuern. Raketen konnte ich bisher am Nachthimmel nicht entdecken, aber die verlassenen Gebäude der östlichen Legion versperren mir auch die Sicht. Sie ragen wie schwarze Riesen in den Nachthimmel. Zwischen ihnen entdecke ich den Wassertank, den Khaan mir beschrieben hat. Für einen Unwissenden sieht er wie ein gewöhnliches Gebäude aus. Um ihn zu erreichen, müssen wir uns ein ganzes Stück in die Zentrallegion hineinwagen.

Ich spüre plötzlich eine Bewegung auf der Leiter unter mir und schaue nach unten. Finns Blick begegnet dem meinen. Er steigt ebenfalls die Leiter empor. Noch ehe ich ins Freie klettern kann, taucht er bereits neben mir auf. Sein Oberkörper streift meinen Arm. Seine Nähe lässt meinen Puls in die Höhe schnellen. Ich kann kaum atmen und drehe meinen Kopf von ihm weg. Ein Teil von mir möchte vor ihm flüchten, aber der andere Teil möchte näher an ihn heranrutschen und sich für einen Augenblick der Vorstellung hingeben, dass wir noch zusammen wären.

»Hat A350 schon eine Nachricht bekommen?«, frage ich leise in die Stille der Nacht.

»Nein, aber es kann jeden Moment so weit sein. Wir sollten uns schon einmal bereit machen«, antwortet Finn sehr sachlich.

Ich steige vor ihm aus der Öffnung und lasse mich außen am Panzer hinuntergleiten. Es fühlt sich gut an, als meine Füße wieder festen Boden berühren. Sicherheitshalber aktiviere ich die Laserwaffe, während Finn die Stahlseile mit den Verankerungen aus dem Panzer zieht. Sie sind schwerer, als ich dachte.

Der Kopf von A350 taucht in der Öffnung des Panzers auf. »Es geht los!«, zischt sie zu uns runter.

Alarmiert blicke ich zu der Stadt, doch es hat sich nichts verändert. Es sind keine Kampfgeräusche zu hören, was nur ein weiterer Beweis für die unglaubliche Größe der Zentrallegion ist.

Ich blicke aufgeregt zu Finn. Er greift sich verbissen eines der Stahlseile, während ich mir das andere unter den Arm klemme. Der Strahl meiner Waffe leuchtet uns den Weg und wir rennen los. Wir sind auf einer Höhe und eng beieinander, doch ich würde einen Angriff wahrscheinlich erst merken, wenn es bereits zu spät wäre und sie auf uns schießen würden. Das Blut rauscht in meinen Ohren, während ich gehetzt meinen Atem ausstoße.

Der Wassertank ist direkt vor uns. Es sind nur noch wenige Meter. Dort angekommen, lasse ich das Seil fallen und trete neben Finn, der mit seinem Seil nun um den Tank herumrennt. Ich gebe ihm mit erhobener Laserwaffe Schutz. Als das erste Seil mit der Verankerung angebracht ist, übernimmt Finn auch noch das zweite. Es läuft alles reibungslos und beinahe zu einfach. Sind wir wirklich unbemerkt geblieben?

Wir hetzen zurück zum Panzer. Finn wedelt mit den Armen über dem Kopf, um Ruby zu signalisieren, dass sie losfahren kann. Kurz bevor wir den Panzer erreichen, setzt dieser sich langsam in Bewegung. Das Seil spannt sich fest und schwebt in der Luft. Es gibt ein leises Knacken seitens des Wassertanks. Wir können nur hoffen, dass der Behälter dem Druck standhält und nicht bricht. Sonst wäre alles umsonst gewesen.

Die Reifen des Panzers drehen durch, als Ruby immer mehr Gas gibt. Das Knacken wird lauter. Panisch blicke ich zu der Stadt und halte Ausschau nach den ersten Laserstrahlen. Je länger wir brauchen, umso gefährlicher wird es für Khaan und all die anderen.

Ein ohrenbetäubender Knall lässt mich zusammenzucken. Es geschieht alles zu schnell, um realisieren zu können, was überhaupt passiert ist. Ich spüre, wie ich zur Seite geschleudert werde, kneife die Augen zusammen, schlittere über den Boden und bleibe schließlich liegen. Mein Herz setzt für einen kurzen Schreckensmoment aus. Ich bin wie benommen von meinem rasenden Puls. Das Blut rauscht mir in den Ohren. Etwas drückt mich fest zu Boden. Als ich die Augen wieder öffne, ist Finns Gesicht direkt vor meinem. Er hat beide Arme um mich geschlungen und sich schützend über mich geworfen.

Hinter ihm liegt der Wasserbehälter. Dieser hat uns nur um wenige Zentimeter verfehlt. Als er sich aus der Verankerung gelöst hat, war der Druck auf das Seil bereits so groß, dass er zur Seite ausgeschlagen ist, anstatt einfach nur zu Boden zu stürzen. Doch das Gute ist: Der Tank scheint noch intakt zu sein. Jedenfalls ist kein austretendes Wasser zu sehen.

»Wir haben es geschafft«, jubele ich in Finns Ohr, der mich noch immer festhält. Er blickt von mir zu dem Tank und wieder zurück. Ein zufriedenes Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus, doch es dauert nur den Bruchteil einer Sekunde an. Dann scheint er sich meiner Nähe bewusst zu werden und lässt mich wieder los. Er rappelt sich auf und wir laufen gemeinsam zu dem Panzer.

Meine Mutter öffnet uns die Luke. »Ich habe A233 Bescheid gegeben. Wir können sofort aufbrechen!«

Ich ergreife die erste Leitersprosse, als meine Mutter einen unterdrückten Schrei von sich gibt. Alarmiert schaue ich auf, doch ihr Gesicht ist verschwunden, stattdessen streckt Ruby ihren Kopf aus der Luke. Sie schmeißt einen Kanister aus der Öffnung, der nur knapp neben mir zu Boden knallt.

»Was soll das?«, rufe ich wütend und verständnislos zugleich. Doch Ruby achtet gar nicht auf mich, sondern schmeißt bereits den nächsten Kanister hinterher, bevor sie aus dem Panzer klettert. Als sie bei mir ankommt, packe ich sie unsanft an der Schulter. »Was hast du mit meiner Mutter gemacht?«, fahre ich sie an.

»Lass mich los! Ich habe zu tun«, schnauzt sie zurück.

Finn kommt zu uns gelaufen. In seiner Hand trägt er einen der Kanister. Der Geruch von Benzin steigt mir in die Nase. »Wir zünden die Trümmer an«, erklärt er mir.

Unsicher trete ich einen Schritt zurück und blicke zu dem Panzer. Ruby muss meine Mutter niedergeschlagen haben, damit sie ihr Vorhaben nicht behindert.

Ruby folgt meinem Blick. »Glaubst du etwa, Ex-Legionsführerin A350 hätte dabei zugesehen, wie wir ihre schöne Zentrallegion anzünden?!«, rechtfertigt sie ihr Handeln und nimmt sich den zweiten Kanister. Sie redet über meine Mutter, als wäre sie immer noch ein Teil der Legion. Als wäre sie eine Verräterin! Dabei hat sich meine Mutter in der Zentrallegion schon lange vor mir gegen die Regierung gestellt. Meinetwegen.

»Du hast keine Ahnung«, brülle ich aufgebracht und reiße Ruby den Behälter aus der Hand. Sie ist so geschockt von meiner Reaktion, dass sie gar nicht daran denkt, sich zu wehren. »Ich mache das«, entscheide ich. »Fahr du den Panzer und bring meine Mutter sicher ins Lager!«

Ruby will protestieren, doch Finn unterbricht sie. »Cleo hat recht! Du bist die Einzige von uns, die den Panzer fahren kann.«

»Aber ich lasse dich hier nicht zurück«, erwidert Ruby verzweifelt. Ich sehe die Zuneigung, die sie für ihn empfindet, in ihrem Blick und höre sie in dem Zittern ihrer Stimme. Sie liebt ihn. Vielleicht hat sie ihn sogar schon vor mir geliebt.

»Uns passiert nichts«, versichert Finn ihr sanft und sieht sich alarmiert zu der Zentrallegion um. Es kann nicht mehr lange dauern, bis die ersten Kämpfer auftauchen. »In maximal zwei Stunden sehen wir uns gesund wieder.«

Ruby zögert, aber steigt dann wieder in den Panzer.

»Los jetzt«, fordert Finn mich auf.

Er läuft mit dem schweren Kanister zurück in den Ostsektor. Als er etwa in der Mitte angekommen ist, öffnet er den Deckel und beginnt, das Benzin zu verteilen. Ich mache es ihm nach. Mein Herz klopft wie verrückt. Ich spüre Angst in mir aufsteigen, aber dränge sie zurück. Aus dem Augenwinkel nehme ich das flackernde Licht von Laserstrahlen wahr, da fällt bereits der erste Schuss. Er schlägt hinter mir in die Hausfassade ein und hinterlässt ein faustgroßes Loch. Mein Kanister ist noch halb voll. Ich lasse ihn fallen und richte stattdessen meinen Laserstrahl auf die sich uns nähernden Feinde, während Finn das Benzin weiter verteilt.

»Wir müssen gehen«, rufe ich ihm zu, doch er reagiert nicht auf mich. Ich renne zu ihm und zerre an seinem Arm, als der nächste Schuss seinen Kopf nur um Zentimeter verfehlt.

Hinter uns höre ich, wie sich der Panzer in Bewegung setzt. Seine schweren Reifen knirschen auf dem Sand. Ich drehe mich um und sehe mit Schrecken, dass er nicht wegfährt, wie ich es von Ruby gefordert habe, sondern genau in unsere Richtung zielt. Der erste Schuss des Panzers löst sich mit einem ohrenbetäubenden Knall und schlägt vor uns in die Gruppe der etwa zehn C-ler der Zentrallegion. Rauch breitet sich aus, sodass ich kaum etwas erkennen kann. Ist Ruby jetzt völlig durchgedreht? Wir befinden uns hier in einer Lache aus Benzin und sie feuert?

Selbst Finn starrt mich nun alarmiert an. Ich zögere nicht länger, fasse ihn bei der Hand und reiße ihn mit mir. Wir rennen los. Zu meiner Erleichterung sehe ich, dass nun auch der Panzer den Rückzug antritt. Ich kann die Schreie der Kämpfer hinter uns hören. Der Panzer hat einige getroffen, aber andere sind bereits nachgerückt. Wenn wir nicht so schnell wie möglich fliehen, werden sie uns einholen.

Obwohl die C-ler auf uns schießen, hat sich der Brennstoff bisher nicht in Brand gesetzt. Finn bleibt abrupt stehen und umschließt mein Handgelenk, an dem die Laserwaffe befestigt ist. Er stellt sich hinter mich und hebt meine Hand. »Setz das Benzin in Brand«, fordert er von mir.

Der Strahl meiner Laserwaffe tastet unruhig über den Boden. Ich verstehe, was er vorhat, und ziele auf Finns Kanister, der genau zwischen unseren Verfolgern liegt. Der erste Schuss geht daneben und ich sehe mit Panik, wie die Kämpfer auf uns zustürzen.

»Du kannst das«, raunt Finn mir zuversichtlich ins Ohr. Ich will es nicht. Ich will nicht Menschenleben in den Tod reißen. Keiner der C-ler, die uns verfolgen, hat den Befehl dazu gegeben. Niemand von ihnen handelt aus eigenem Instinkt. Sie tun, was man ihnen sagt. Weigern sie sich, droht ihnen die Deklassifizierung oder Schlimmeres.

Finns Hand umschließt mein Handgelenk und sein Kopf ist direkt neben meinem. Ich darf ihn nicht noch einmal verlieren. Die Kämpfer der Legion werden uns einholen. Sie werden uns töten, ohne zu zögern. Ich hole tief Luft und schieße. Wir werden mit einem Ruck vom Boden gerissen, als der Kanister explodiert. Ein Flammenmeer verschleiert uns die Sicht und der Rauch raubt uns die Luft zum Atem.

Finn reißt mich an meinem Handgelenk zurück auf die Beine und wir rennen in Richtung der Berge, anstatt wie der Panzer den Weg über die Ebene anzutreten. Dort wären wir leichte Beute, wenn die Zentrallegion Hubschrauber ausschickt. Ich darf jetzt nicht an meine Mutter denken, sondern muss mich um mein eigenes Leben kümmern. Tot nütze ich niemandem.

Als der zweite Kanister in die Luft fliegt, bebt der Boden erneut unter unseren Füßen und bringt uns ins Wanken. Finn führt mich unnachgiebig mit sich. Ohne ihn wäre ich nicht nur völlig orientierungslos, sondern auch komplett verloren. Der graue Rauch holt uns ein. Auch wenn er in den Augen und im Hals brennt, wird er verhindern, dass die Legion uns sehen kann. Der Rauch legt sich wie Nebel über uns und mir bleibt nur übrig, zu hoffen, dass er so auch Ruby und meiner Mutter die Flucht ermöglichen wird.

04. Menschen machen Fehler (Finn)

Finn kennt sich in den Bergen genauso wenig aus wie Cleo, trotzdem läuft er voran. Ihre Hand liegt immer noch in seiner, obwohl sie ihre Verfolger schon lange abgehängt haben. Er hält sie fest und rennt vorwärts, aus Angst, dass er sie loslassen müsste, falls sie stehen bleiben oder langsamer gehen würden.

Er hat Cleo nicht verlassen, weil er sie nicht mehr liebt. Sie lebendig wiederzusehen, war überwältigend. Es war das Schönste und Beste, was ihm je im Leben widerfahren ist. Er hat sie verlassen, weil er sie zu sehr liebt, um von ihr verlangen zu können, dass sie ihm den Fehltritt mit Ruby und alles, was er unter Einfluss der Mutanten getan hat, verzeiht.

Er kann sich selbst nicht vergeben. Wie könnte er es dann von ihr verlangen?

Jede Nacht träumt er von den dunklen Augen des Sizos: D499. Wenn er schreiend erwacht, starrt er auf seine Hände, in der Erwartung, dort sein Blut zu sehen. Obwohl es nie da ist, wird ihm jedes Mal so schlecht, dass er sich übergeben muss. Das Gesicht von D499 verschwimmt langsam in seinen Träumen, weil es Finn schwerfällt, sich an ihn zu erinnern. Es nimmt oft Cleos Züge an, vor allem seitdem sie wieder da ist.

Er hat sich geirrt. Er hat nie vergessen, wie sie aussieht. Das Bild von ihr, das er immer vor Augen hatte, war genau richtig. Sie hat sich in der Zentrallegion verändert, aber nicht zu ihrem Nachteil. Sie ist stärker geworden. Sie braucht nicht einmal viel zu sagen. Er kann es auch ohne Worte an ihrer Körperhaltung sehen. Sie besitzt eine Würde, die es ihr verbietet, gegen ihre Überzeugung zu handeln. Sie ist nicht an irgendeine Gruppe gebunden, sondern handelt nach ihrem eigenen Willen.

Finn ist stolz auf sie, während er für sich selbst keinerlei Achtung mehr übrig hat. Er hat auf ganzer Linie versagt. Er hat eine falsche Entscheidung nach der anderen getroffen, was einzig und allein daran liegt, dass er im Grunde nichts entschieden hat, sondern andere für sich hat entscheiden lassen. Alles, was er getan hat, tat er zum Wohl anderer.

Es begann damit, dass er Cleo gegen ihren Willen in die Zentrallegion geschickt hatte, und endete damit, dass er sich selbst aufgeben hatte, um ein Bündnis mit den Mutanten eingehen zu können. Ein Bündnis, das letztendlich auch ohne sein Opfer zustande gekommen wäre. Und selbst jetzt tut er nicht das, was er möchte, sondern das, wovon er glaubt, dass es das Beste für alle sei. Cleo verdient jemanden, zu dem sie aufschauen kann. Jemanden, der sie nicht aufgibt, sobald es mal etwas schwieriger wird. Jemanden, der es wert ist, von ihr geliebt zu werden. Dieser jemand kann er selbst nicht sein.

Cleo stolpert hinter ihm her und reißt ihn zurück. Sie bleibt keuchend stehen und entzieht ihm ihre Hand. Sie stützt sich auf ihre Knie und atmet tief ein und aus. Finn schnauft ebenfalls schwer, aber er kann nicht zur Ruhe kommen. Sein Herz schlägt ihm bis zum Hals und seine Augen sehen gehetzt in alle Richtungen, nur nicht zu Cleo.

Sie richtet sich auf und er spürt, dass sie ihn anschaut. »Wir brauchen nicht mehr zu rennen, solange wir nicht verfolgt werden. Sonst sind wir völlig erledigt, falls sie wiederkommen.«

Sie hat recht. Natürlich hat sie recht. Sie hat immer recht. Er nickt und wendet ihr den Rücken zu, bevor er langsam weitergeht. Ihre Schritte erklingen hinter ihm. Die Dämmerung hat bereits eingesetzt, sodass sie die Laserwaffe nicht mehr brauchen, um sich zurechtzufinden.

Das Schweigen liegt schwer auf ihren Schultern. Es gibt so viel, worüber sie reden könnten. So viele Fragen, aber Finn fühlt sich nicht bereit dazu, sie zu beantworten. Wie soll er wissen, was er will, wenn er nicht einmal mehr weiß, wer er überhaupt ist?

»Zoe hat sich gut mit der Schwangerschaft arrangiert«, sagt Cleo plötzlich hinter ihm. Sie scheint die Stille nicht länger zu ertragen und fängt deshalb an, über andere Personen zu reden, anstatt das zu sagen, was ihr auf dem Herzen liegt.

»Das war nicht immer so«, erwidert Finn. Selbst seine Stimme hört sich in seinen Ohren fremd an: leise und kraftlos. »Irgendwie verdankt sie das sogar den Mutanten. Das Kind hat ihr das Leben gerettet.«

Cleo schließt zu ihm auf, sodass sie nun nebeneinander laufen. »Wie das?«

»Die Mutanten sind Überlebende des Dritten Weltkriegs. Sie sind alle deutlich älter als normale Menschen. Durch die radioaktive Strahlung hat sich ihre DNA verändert. Sie sind größer und stärker als wir, dafür aber unfruchtbar. Sie können ihre Gene nicht weitergeben, deshalb ist eine schwangere Frau für sie so etwas wie ein Wunder, etwas Heiliges.«

Es fällt ihm leichter, mit Cleo zu reden, solange er nicht über sich selbst sprechen muss.

»Das bedeutet, die Mutanten werden irgendwann aussterben, richtig?«, hakt Cleo nach.

Obwohl die Mutanten nun ihre Verbündeten sind, ist Finn erleichtert über Cleos Abneigung ihnen gegenüber. Er hält sich selbst auch von ihnen fern. Nicht weil sie Menschen getötet haben, um zu überleben, sondern wegen dem, was sie ihm angetan haben. Sie hätten ihn nicht zu dieser Prüfung zwingen dürfen. Sie haben Menschen aus der Not heraus gegessen. Für ihn hingegen war es nur Folter.

»Richtig, die Frage ist nur, wann«, stimmt er ihr zu.

»Pep ist wütend auf mich, weil ich mich Lauren gegenüber nicht gerade freundlich benommen habe«, gesteht sie ihm, während sie weiter durch die Berge und Hügel der roten Wüste laufen. Die Sonne geht in ihrem Rücken auf, sodass ihre Körper lange Schatten vor ihnen werfen.

Finn riskiert einen Blick auf Cleos Gesicht. Er ist überrascht davon, dass sie zu jemandem unfreundlich sein kann. »Lauren ist gut«, sagt er. »Sie hat sich in all den Jahren das meiste Einfühlungsvermögen bewahren können. Ihr glaubt man irgendwie, dass sie nie Menschen töten wollte, sondern es musste, um überleben zu können.«

»Glaubst du das den anderen Mutanten nicht?«, fragt Cleo und schaut ihm in die Augen. Die ersten braunen Pünktchen sind in ihren lichtblauen Augen zu erkennen.

»Nicht allen«, gibt Finn zu. »Die Mutanten haben sich zu lange von ihren Instinkten leiten lassen, um noch auf ihr Gewissen oder irgendeine Moral zu hören.«

»Ich weiß nicht, was ich an ihrer Stelle getan hätte«, vertraut Cleo ihm an. »Ich weiß nicht, ob ich in der Lage gewesen wäre, einen Menschen zu essen.«

Finn erstarrt. Er bemerkt ihren prüfenden Blick. Was weiß sie? Weiß sie, was er getan hat? Er sieht D499s Augen vor sich und wie das Leben aus ihnen wich. Unwillkürlich beschleunigen sich seine Schritte und seine Atmung, die sich gerade erst beruhigt hat. Er kann Cleo nicht länger in die Augen blicken. Er würde es nicht ertragen, wenn er in ihnen Verachtung lesen würde.

»Finn!«, ruft Cleo, die hinter ihm stehen geblieben ist. Doch er geht stur weiter. Je schneller sie das Lager erreichen, umso schneller kann er sich wieder von ihr zurückziehen.

Sie rennt ihm hinterher und baut sich vor ihm auf. Er ist gezwungen, auf dem schmalen Pfad zwischen den Felswänden stehen zu bleiben.

»Es tut mir leid«, sagt sie mit weicher Stimme und sucht seinen Blick. Doch er schaut auf den Weg hinter ihr. »Ich weiß, was du tun musstest«, fährt sie fort. »Es muss schrecklich gewesen sein!« Ihre Hand legt sich auf seine Wange. Sie dreht sein Gesicht zu ihrem.

Finn schließt die Augen. Sein ganzer Körper zittert. Wie kann sie so liebevoll zu ihm sein, nach dem, was er getan hat? Sie hätte jedes Recht, ihn zu hassen.

»Finn, sieh mich an«, bittet sie leise. Ihre Stimme bebt und er öffnet die Augen. Eine Träne rollt über seine Wange. Cleos Augen sind ebenfalls tränenverschleiert. »Es tut mir leid, dass ich nicht für dich da sein konnte«, wispert sie.

Finn umschließt ihre Hand, aber drückt sie nicht von sich, sondern an sich. »Es war meine Schuld. Ich habe dich weggeschickt, weil ich wollte, dass du in Sicherheit bist.«

»Ich weiß«, flüstert sie. »Aber warum schickst du mich jetzt wieder weg? Warum hast du dich von mir abgewandt?«

Er hört die Verzweiflung und das Flehen in ihrer Stimme, während er mit dem Daumen die Tränen von ihrer Wange wischt. »Weine nicht«, bittet er sie. »Ich ertrage es nicht, dich weinen zu sehen.«

»Warum sagst du mir, dass du mich nicht mehr liebst? Ich weiß, dass es nicht stimmt! Ich sehe, dass es nicht stimmt!«

»Ich bin nicht mehr der, der ich einmal war. Es ist zu viel passiert. Ich habe zu viel falsch gemacht. Du hast jemand Besseren verdient.« Er empfindet so viel Verachtung für sich selbst, dass er den Gedanken nicht erträgt, von jemandem geliebt zu werden. D499 wird niemals Liebe erfahren. Die Mutanten hätten ihn ohne Zweifel getötet, aber es waren seine Hände, die sein Leben auslöschten.

Ihre Hände schließen sich noch etwas fester um die von Finn. »Finn, ich liebe dich nicht, weil du perfekt bist, sondern weil du ein Mensch bist. Menschen machen Fehler.«

Ihre Worte treffen ihn tief ins Herz. Er möchte nichts mehr, als sie an sich zu ziehen und nie wieder loszulassen. Aber da ist auch noch Ruby. Er hat ihr nie etwas versprochen und doch gab es den Kuss zwischen ihnen, der alles verändert hat. Sie liebt ihn trotz allem, was er getan hat. Sie hofft, obwohl es keine Chance für sie gibt. Sie hält an ihm fest, dabei sieht sie, was er immer noch für Cleo empfindet. Er muss sich von ihr lösen, nur dann kann er einen Schritt auf Cleo zugehen. Klarheit ist alles, was er Ruby geben kann. Er schuldet es ihr.

Cleos Hand von seiner Wange zu ziehen, fällt ihm nicht leicht. Er genießt ihre Berührung und ihre Nähe viel zu sehr. Er tritt von ihr zurück, um Abstand zwischen sie zu bringen. »Gib mir Zeit«, bittet er sie und hofft, dass sie versteht, dass es keine Zurückweisung ist, sondern ein Hoffnungsschimmer.


05. Lügner (Asha)

Während die anderen ihr Leben aufs Spiel setzen und für ihre Freiheit kämpfen, versteckt sich Asha in den Hügeln der roten Wüste. Sie hat auf diesen Moment gewartet. Seit sie IHN wiedergesehen hat, gibt es für sie nur noch eine Aufgabe, um die sich ihr ganzes Dasein, ihr ganzes Denken dreht. Sie muss beenden, was sie in der westlichen Legion begonnen hat. Dabei ist es völlig egal, ob dem Monster mittlerweile die Zähne gezogen worden sind oder nicht. Solange ER atmet, kann sie nicht leben. Auch in dem Glauben, dass ER bereits tot sei, hat sie gewusst, dass ihr Leben für immer zerstört ist.

In der Zentrallegion hat sie versucht, einen Schlussstrich unter ihre Vergangenheit zu ziehen, um bereit für einen Neuanfang zu sein. Tagsüber hat dies sogar ganz gut funktioniert. Nur die Nächte belehrten sie jedes Mal aufs Neue. Sie kann nicht vergessen, was sie jahrelang hat ertragen müssen.

Bevor Cleo in ihr Leben getreten ist, hat es nur aus Schmerz und Leid bestanden. Sie würde ihr immer dankbar dafür sein, dass sie sie aus dieser Hölle gerettet hat. Sie ist auch jetzt die Einzige, die sich für ihr Schicksal interessiert. Asha ist zu verschlossen, um Freunde zu finden. Sie kann ihr Herz anderen nicht öffnen, weil sie niemandem vertrauen kann. Aber sie will leben! Sie will fühlen. Endlich ein normales Leben führen.

Asha verlässt erst in der Dunkelheit der Nacht ihr Versteck. Sie hat kein Licht bei sich, aber das braucht sie auch nicht, um sich zurechtzufinden. Es ist fast, als könnte sie IHN riechen.

In der Ferne sieht sie das Lagerfeuer des Camps aufleuchten. Sie verspürt weder Hunger, Durst noch Erschöpfung. Ihr Körper steht unter Strom und ihre Füße bewegen sich von allein vorwärts. Zielstrebig.

Während die Rebellen gegen die Zentrallegion kämpfen, wird sie in dieser Nacht ihren eigenen Kampf austragen. Er wird mit dem Tod enden, ob nun mit ihrem eigenen oder dem des Ungeheuers. Mit einem anderen Ausgang wird sie sich nicht zufriedengeben. Auch die blonde Florance wird sie nicht daran hindern können. Die junge Frau war immer freundlich zu ihr, doch seit sie das Monster schützt, empfindet Asha nur noch Verachtung für sie.

Im Lager ist es ruhig, nur das leise Stöhnen der Kranken und Verletzten ist zu hören. Sie würde den meisten von ihnen einen Gefallen tun, wenn sie ihrem Leiden ein Ende setzen würden. Für die Mehrheit von ihnen gibt es ohnehin keine Hoffnung. Die meisten Rebellen würden sie für ihre Ansicht verachten und als grausam beschimpfen. Aber Asha ist nicht grausam, sondern genau das Gegenteil: mitfühlend. Grausam ist es, einen Menschen, dessen Tod bereits besiegelt ist, zwanghaft am Leben zu erhalten.

In gewisser Weise ist es sogar ein Akt der Gnade, dem Monster die Kehle durchzuschneiden. Sie könnte ihn genauso gut entführen und ihn Tag und Nacht foltern, so wie er es mit ihr gemacht hat. Sie könnte ihm jeden Tag einen Finger abschneiden und danach mit den Zehen weitermachen. Sie könnte ihm jeden Knochen einzeln brechen. Sie könnte ihm die Augen ausbrennen. Sie könnte ihm ein Ohr abschneiden. Sie könnte ihm seine Männlichkeit mit einem Hammer zerschlagen. Sie könnte ihm so viel mehr antun, als ihm nur das Leben zu nehmen. Er hätte alles Leid der Welt verdient!

Aber sie würde es nicht ertragen, ihn länger als nötig anzusehen. Sie will sein Gesicht nie wiedersehen. Gegen ihre Träume in der Nacht ist sie machtlos, aber ihre Tage hält sie selbst in der Hand. Der schwere Stein auf ihrer Brust wird sich erst lösen, wenn sie sieht, wie ER seinen letzten Atemzug nimmt und das Leben in seinen Augen erlischt. Erst dann kann sie einen Schlussstrich unter ihr altes Leben ziehen.

Sie huscht in den Schatten des Lagers am Feuer vorbei und umfasst die Stahlspitze in ihrer rechten Hand etwas fester. Sie weiß genau, wo das Monster schläft. In ihrer ersten Nacht hat sie gewartet, bis Cleo eingeschlafen war. Es hat lange gedauert, aber kaum dass es so weit war, ist sie allein durch das Lager geschlichen und hat IHN gesucht. Fast hat sie erwartet, ihn neben der Blonden vorzufinden, aber so sehr liebt sie ihn wohl doch nicht. Sie legt ihn abends zu den anderen ehemaligen Bewohnern der Sicherheitszone, die es immer noch nicht geschafft haben, einen Platz in ihrem neuen Leben zu finden. Sie sind allesamt verstört und es sind nur noch wenige von ihnen übrig. Etwa zwanzig Personen, der Rest von ihnen ist den Mutanten und der Explosion zum Opfer gefallen.

Ashas Augen sind auf die kleine Gruppe fixiert. Sie sieht nicht, was rechts oder links von ihr passiert, sondern starrt nur geradeaus. Sie rennt nun fast, weil alles in ihr danach schreit, dem Ganzen endlich ein Ende zu setzen. Nur noch wenige Meter trennen sie von ihrem Ziel, als sie irritiert innehält. Sie nimmt eine schwache Bewegung in der Gruppe wahr. Während die meisten von ihnen wie Tote bewegungslos auf dem Boden liegen, entdeckt sie, dass zwei der Personen auffällig nah beieinanderliegen. Es sieht fast so aus, als würden sie aufeinanderliegen.

Ihr Herzschlag beschleunigt sich und kalter Schweiß bricht auf ihrer Stirn aus. Ihr Magen zieht sich zusammen und sie schmeckt den bitteren Geschmack von Galle in ihrem Mund. Ein Rauschen dröhnt in ihren Ohren.

Die scharfen Kanten des Stahlsplitters schneiden ihr in die Hand und erlösen sie aus ihrer Starre. Ihre Beine setzen sich in Bewegung. Sie rennt wie besessen auf die Gruppe zu. Sie springt über Körper, die am Boden liegen, und verpasst der Person, die sich über die andere beugt, einen harten Tritt. Sand wirbelt auf, als die Person zur Seite geschleudert wird. Ein erschrockenes Keuchen verlässt seine Kehle. Sie hat genau den Richtigen getroffen. Sie blickt panisch zwischen dem Monster und der Frau, die unter ihm begraben war, hin und her. Wenigstens ist sie nicht nackt, aber ihre Augen sprechen Bände. Dem Monster wurden keine Zähne gezogen, es hat sich nur schlafend gestellt. Dunkles Haar bedeckt seinen Kopf und sein Gesicht. Er funkelt sie herausfordernd an und richtet sich auf, aber sie lässt ihm keine Chance. Ihr Fuß schnellt gegen sein Kinn, sodass sein Kopf nach hinten fliegt. Sie tritt erneut zu, dieses Mal in den Magen. Er stöhnt, aber niemand kommt ihm zu Hilfe. Ihr nächster Tritt trifft ihn zwischen den Beinen. Sie sieht mit Genugtuung, wie er vor Schmerz das Gesicht verzieht und Tränen seine Augen füllen. Er flucht leise.

Ihre Faust trifft seine Nase und sein Blut färbt ihre Haut. Sie kann nur hoffen, dass die Aktion der anderen erfolgreich sein wird und sie Wasser bekommen, um sich sein Blut abzuwaschen. Allein der Gedanke, etwas von ihm an sich zu haben, bringt sie zum Würgen.

Eigentlich wollte sie ihn wortlos und mit einem einzigen Schnitt töten, aber zu sehen, dass er noch immer dasselbe Monster wie eh und je ist, macht sie rasend. Er soll leiden und sich vor Angst einnässen. Sie will ihn demütigen und um sein Leben betteln sehen. Aber egal, wie oft sie ihn schlägt und tritt, er verliert nicht den arroganten Ausdruck in seinen Augen.

Sie presst die Scherbe gegen seinen Hals und Blut quillt hervor, jedoch nicht genug, um ihn zu töten. Sie ringt vor Erschöpfung nach Atem. Er starrt zu ihr empor. Seine Lippen bewegen sich.

»Du kannst mich töten, aber ich werde es dir trotzdem jede Nacht besorgen. Bis ans Ende deines Lebens.«

Diese Stimme. Seine Stimme. Sie hört sie jede Nacht. Asha wird eiskalt und sie bricht in ein unkontrolliertes Zittern aus. Obwohl er unter ihr liegt und keine Chance hat, sich zur Wehr zu setzen, fühlt sie sich schwach und hilflos. Es ist, als hätte er ihr die Worte direkt ins Ohr geflüstert.

»Du wirst mich niemals vergessen, wirst niemals unsere gemeinsame Zeit vergessen«, zischt er und sie weiß, dass es stimmt. Sie will nichts mehr, als den Stahl in seinen Hals zu bohren, aber ihr Körper ist wie gelähmt. Mit ihrer Hand umschließt sie die Scherbe, doch sie treibt sie sich nur tiefer in ihr eigenes Fleisch.

Plötzlich holt er aus, so schnell, dass seine Hand mit dem Stein sie völlig unvorbereitet am Kopf trifft. Ihre Kehle schnürt sich zu und ihr wird schwarz vor Augen. Sekunden später findet sie sich auf dem Boden wieder. Das Monster kniet über ihr. Asha hat das Gefühl, sich in einem ihrer Albträume und nicht in der Realität zu befinden. Was hat sie nur getan? Warum hat sie nicht zugestochen, als sie die Chance hatte? Warum ist sie so verdammt schwach?

Das Monster streichelt ihr unerwartet sanft über die Wange. Doch die fast zärtliche Berührung schmerzt mehr, als ein Schlag es könnte. »Du bleibst meine Nummer eins«, wispert er in ihr Ohr, während seine Lippen ihre Haut berühren.

»Was ist hier los?«, unterbricht eine Stimme die Stille. Ashas und Judas’ Köpfe fahren gleichzeitig herum. Florance steht zwischen den Schlafenden und starrt mit geweiteten Augen auf sie hinab.

Judas hebt die Hände und steigt von Asha. Seine Kleidung ist zerfetzt und sein Gesicht blutüberströmt. »Sie wollte mich töten«, erwidert er ruhig.

»Du kannst wieder sprechen?!«, stößt Florance verwirrt aus und blickt zwischen ihm und Asha hin und her.

Asha rappelt sich auf die Beine und stürzt zu ihr. »Er hat dir etwas vorgemacht. Er hat euch alle zum Narren gehalten.«

Judas schüttelt den Kopf. »Nein, nicht die ganze Zeit«, behauptet er. »Sie ist auf mich losgegangen. Das hat mich irgendwie geweckt. Wenn nicht, wäre ich jetzt tot.« Er erhebt sich und setzt einen Schritt in Richtung von Florance. »Ich habe schreckliche Dinge getan, aber ich bin nicht mehr derselbe Mensch.«

Florance blickt ihn misstrauisch an. »Ich glaube dir nicht. So plötzlich erholt sich niemand. Gestern konntest du weder sprechen noch allein laufen oder auch nur essen.«

»Du hast recht«, lenkt er ein. »Es geht mir schon seit einigen Tagen besser. Aber du weißt selbst, was die Rebellen mit mir gemacht hätten, wenn sie gewusst hätten, dass ich mich erinnern kann und wieder Herr meiner Kräfte bin.«

»Glaub ihm kein Wort!«, faucht Asha.

Judas sieht, wie sie die blutige Klinge umfasst. Er geht vor Florance auf die Knie. »Ich verdanke dir mein Leben. Wenn du mich töten willst, werde ich dich nicht aufhalten.«

Asha schaut zu Florance, doch als sie das Zögern in ihrem Blick sieht, weiß sie, dass sie verloren hat. In ihrer Verzweiflung holt sie aus und die Klinge trifft Judas’ Brust. Er schreit und Florance packt sie am Arm, zerrt an ihr.

»Hilfe«, brüllt Florance panisch in die Nacht.

Im nächsten Moment wird Asha zurückgerissen. Mehrere Hände packen sie an den Armen. Florance geht besorgt neben Judas zu Boden und betastet seine Brust.

»Er ist verletzt«, ruft sie alarmiert und eine weitere Frau geht neben ihm zu Boden.

»Lasst ihn sterben!«, fleht Asha sie verzweifelt an.

Die Dämmerung setzt bereits ein. Immer mehr Menschen treten zu ihnen. Es sind die Rebellen, die von ihrer Mission zurückgekehrt sind. Einer von ihnen ist Paul. Er geht neben Florance in die Knie. »Was ist passiert?«

»Asha wollte ihn umbringen«, erwidert Florance, jedoch ohne zu Asha zu schauen.

»Er kann sich bewegen! Er ist nicht krank«, brüllt Asha außer sich.

Paul schaut irritiert zu ihr auf und dann zurück zu Florance. »Stimmt das?«

Sie zögert und blickt zu Judas am Boden. »Nein.«

Dieses eine Wort raubt Asha den Atem. Es ist wie ein Stich in ihr Herz. Während sie zuvor Florance für naiv hielt, wandelt sich dieses Gefühl nun in Hass und pure Wut. Sie beschützt das Monster, welches ihr Leben zerstört hat.

»Er wollte die Frau vergewaltigen«, ruft Asha verzweifelt aus und deutet auf die ehemalige Bewohnerin der Sicherheitszone, die sie mit großen Augen anstarrt.

Paul geht zu der Frau. »Sagt sie die Wahrheit?«

Der Blick der Frau ist starr und völlig bewegungslos. Es ist nicht zu erkennen, ob sie Paul überhaupt verstanden hat.

»Hörst du mich?«, fragt Paul erneut und blickt an ihr hinab. Sie ist komplett bekleidet und weist keine Verletzungen auf. Genauso wenig wie Asha. Der Einzige, der verletzt ist, ist Judas. Niemand wird ihr glauben.

Als Paul zu Asha kommt, spiegelt sich in seinen Augen Mitleid. »Dieser Mensch hat dir Schreckliches angetan und jeder kann verstehen, dass du ihn hasst. Aber wir haben uns gegen die Todesstrafe entschieden. Du hattest kein Recht, eigenmächtig zu handeln.«

»Er macht euch etwas vor«, weint Asha und starrt hasserfüllt zu Florance. »Und sie weiß es!«

Florance hat den Blick gesenkt. Sie kann Asha nicht mehr ansehen. Ein Teil von ihr hat Angst, die falsche Entscheidung getroffen zu heben – den Falschen beschützt zu haben.


06. Ein Friedensangebot (Cleo)

Seitdem ich Finn erneut meine Liebe gestanden habe, fühle ich mich innerlich wie betäubt. Wir haben seitdem kein Wort mehr miteinander gewechselt und jetzt liegt auch schon das Lager in der morgendlichen Sonne vor uns. Ich weiß nicht, was sein ›Gib mir Zeit!‹ bedeuten soll! Liebt er mich noch?

Im ersten Moment war ich über seine Antwort glücklich, weil sie Hoffnung birgt. Aber jetzt habe ich Angst davor, zu hoffen, wenn es bedeutet, dass ich am Ende vielleicht wieder in ein tiefes Loch stürze. Der Schmerz seiner Zurückweisung ist noch zu frisch.

Ich schaue zu Finn, doch sein Blick ist starr auf das Lager gerichtet, so als wäre ich gar nicht da. Ich wünschte, er würde wenigstens wieder meine Hand halten, aber dann würde Ruby es sehen. Ich möchte nicht, dass sie verletzt wird, auch wenn wir uns nahestanden. Sie ist eine der Guten. Trotzdem sehne ich mich nach Finns Nähe, ungeachtet ihrer Gefühle. Es ist das, wovor die Lehrer des Bildungsunterrichts uns gewarnt haben: Liebe führt zu Eifersucht und Eifersucht zu Streit. Streit führt zu Krieg. Also verliebe dich nie!

Ich nehme an, dafür ist es bereits zu spät, sowohl für die Liebe als auch für den Krieg. Wenigstens gibt es eine gute Nachricht: Der Panzer hat es offenbar ins Lager geschafft und neben ihm liegt der Wassertank, um den sich eine Truppe Menschen versammelt hat. Ich blicke zur Seite, doch Finn ist verschwunden. Er ist wortlos gegangen. Ich bin enttäuscht und zweifle an ihm und seinen Worten. Obwohl er eine andere geküsst hat, scheine ich es zu sein, die ihre Liebe unter Beweis stellen muss.

Allein trete ich auf die Menschengruppe zu, die den Panzer umringt, in der Hoffnung, dort auch meine Mutter zu entdecken. Ich muss wissen, ob es ihr gut geht.

Ich bahne mir einen Weg und entdecke Florance und Grace, die damit beschäftigt sind, Wasser auszuschenken. Als Grace mich sieht, lächelt sie und winkt mich zu sich. Sie schiebt mich in der Reihe nach ganz vorn.

»Das ist Cleo!«, ruft sie laut. »Sie gehört zu den vier Personen, die den Wassertank für uns erobert haben.«

Die Menschen brechen in Applaus aus.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739405490
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Dezember)
Schlagworte
Radioaktivität Dystopie Liebe SciFi Katastrophe Romantasy Science Fiction Wissenschaft Romance Fantasy

Autor

  • Maya Shepherd (Autor:in)

Maya Shepherd wurde 1988 in Stuttgart geboren. Zusammen mit Mann, Tochter und Hund lebt sie mittlerweile im Rheinland und träumt von einem eigenen Schreibzimmer mit Wänden voller Bücher. Seit 2014 lebt sie ihren ganz persönlichen Traum und widmet sich hauptberuflich dem Erfinden von fremden Welten und Charakteren.
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Titel: Die Vereinten