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Die Tochter des Todes

von Maya Shepherd (Autor:in)
120 Seiten
Reihe: Die Grimm-Chroniken, Band 24

Zusammenfassung

Maya Shepherd wurde 1988 in Stuttgart geboren. Zusammen mit Mann, Kindern und Hund lebt sie mittlerweile im Rheinland und träumt von einem eigenen Schreibzimmer mit Wänden voller Bücher. Seit 2014 lebt sie ihren ganz persönlichen Traum und widmet sich hauptberuflich dem Erfinden von fremden Welten und Charakteren.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Was zuvor geschah

Sonntag, 28. Oktober 2012

23.00 Uhr

Rumpelstein erreicht den Turm im Finsterwald, an den Eva durch einen Zauberspruch der bösen Königin gebunden ist. Zusammen mit Maggy, Will und Joe hatte er sich auf den Weg zur Erdenmutter Freya gemacht, Evas leiblicher Mutter, um sie zu Hilfe zu holen. Auf dem Rückweg wurden sie jedoch von Margerys Vampiren überwältigt und gefangen genommen. Nur Rumpelstein konnte ihnen entkommen. Er ist zu dem Turm zurückgekehrt, um die anderen zu warnen.

Eva erinnert sich wieder daran, dass die böse Königin Margerys Herzstück, welches sie Evas Brust entnahm, nicht zerstört, sondern aufbewahrt hat. Simonja hegt die Hoffnung, dass Margery zur Vernunft gebracht werden könnte, wenn sie mit ihren verlorenen Herzstücken wieder vereint werden würde.

Rumpelstein versucht, Simonja, Arian und Nisha zur Flucht zu bewegen. Als diese sich jedoch weigern, Eva im Stich zu lassen, geht er allein.

Montag, 29. Oktober 2012

7.00 Uhr

Eva, Arian, Nisha und Simonja werden von den Vampiren angegriffen. Diese haben Freya bei sich, welche die vier dazu auffordert, sich zu ergeben. Um ihre Tochter zu schützen, gelingt es Nisha, Simonja zu überreden, den Turm zu verlassen und nach Margerys Herzstücken zu suchen. Widerwillig fügt Simonja sich dem Willen ihrer Mutter.

7.30 Uhr

Freya gelingt es, zu Eva vorzudringen und sie in ihre Arme zu schließen. Die Tränen der Mutter bringen Evas Erinnerungen an ihr Leben in Engelland zurück und geben ihr das Augenlicht wieder. Sie erkennt sofort, dass ihre Mutter übermäßig schnell altert, und erfährt, dass Freya nur noch ein Sonnenaufgang bleibt, bevor sie stirbt. Diesen Preis musste sie zahlen, um ihren Verpflichtungen als Erdenmutter entkommen zu können.

Währenddessen werden Arian und Nisha von den Vampiren überwältigt und gefangen genommen. Eva kann ihnen nicht helfen, da der Zauber der bösen Königin sie nach wie vor an den Turm bindet.

8.00 Uhr

Ember, Philipp, Maggy und Will werden von Margery in Schloss Drachenburg gefangen gehalten. Gemeinsam schmieden sie einen Plan, um Margery wieder mit ihren Herzstücken zu vereinen.

11.00 Uhr

Will erfährt, dass Arian und Nisha sich in der Gewalt von Margery befinden und diese Simonja in einer Nachricht droht, beide zu töten, wenn sie sich ihr nicht bis zum Sonnenuntergang ausliefert. Um Margery aufzuhalten, verführt Will sie zu einem Kuss. Maggy hat zuvor seine Lippen mit einem Zauber benetzt, der Margery in Ohnmacht fallen lässt. Er will die Prinzessin mit sich nehmen, um den Zauber des geteilten Herzens rückgängig zu machen, wird daran jedoch von Dorian gehindert. Will versucht, ihn zu überzeugen, dass dies ihre letzte Chance sein könnte, um Margery vor sich selbst zu retten. Dorian glaubt ihm nicht und fordert ihn auf, das Schloss zu verlassen.

13.00 Uhr

Simonja sucht in der Schlosskommende Ramersdorf nach Margerys beiden Herzstücken, welche die böse Königin aufbewahrt haben soll. Sie kann diese jedoch nicht finden und begegnet stattdessen Rosalie, welche die ›Grimm-Chroniken‹ an sich gebracht hat. Sie beschließen, das Buch zusammen zu lesen, um herauszufinden, was aus der bösen Königin geworden ist.

Bevor sie jedoch dazu kommen, überbringt ein Rabe Simonja die Drohung, dass Margery ihre Liebsten verbrennen würde, wenn sie sich ihr nicht ausliefert.

13.30 Uhr

Dorian gesteht Margery, dass er Rosalie zur Flucht verholfen hat. Daraufhin lässt diese ihren Vater von den Vampiren festnehmen und in das Verlies bringen.

16.00 Uhr

Durch die ›Grimm-Chroniken‹ haben Simonja und Rosalie erfahren, dass Engelland eine schreckliche Zukunft bevorsteht, in der Margery als Königin der Vampire herrschen wird. Sie sind fest entschlossen, das zu verhindern, und befinden sich auf dem Weg zu Schloss Drachenburg, um Arian und Nisha zu befreien. Unterwegs treffen sie auf Will. Von ihm erfährt Rosalie von Joes Schicksal als Erdenvater. Als sie herausfindet, dass Simonja davon wusste und es ihr absichtlich verheimlicht hat, fühlt sie sich verraten und ist nicht länger bereit, Simonja zu helfen. Stattdessen bricht sie auf, um zu Joe zu gelangen.

17.00 Uhr

Simonja und Will ist es gelungen, sich in den Schlosshof von Schloss Drachenburg zu schleichen. Dort müssen sie mit ansehen, wie Arian und Nisha auf zwei Scheiterhaufen gefesselt werden. Margery fordert Simonja mehrmals auf, sich ihr auszuliefern, da sie sich sonst gezwungen sieht, ihre Liebsten brennen zu lassen. Will erkennt Margerys Zögern und schöpft daraus Hoffnung, während die Vampire ungeduldig werden und ihre Königin dazu drängen, ihre Drohung in die Tat umzusetzen. Es bleibt ungewiss, ob Margery dazu wirklich in der Lage wäre, da sie plötzlich zusammenbricht, bevor das Feuer entzündet werden kann. Während Simonja Arian und Nisha befreit, eilt Will an Margerys Seite, um ihr beizustehen. Er kann sie nicht aufgeben.

17.30 Uhr

Maggy und Ember haben ihre Herzsplitter geopfert, um Margery zu schwächen und dadurch Arian und Nisha die Möglichkeit zur Flucht zu geben. Zusammen mit Philipp werden sie von Simonja aus dem Zimmer im Schloss befreit, in dem sie gefangen gehalten wurden. Gemeinsam ergreifen sie die Flucht.

20.00 Uhr

Jacob kehrt aus dem Spiegel zurück und verlässt den Nordturm. Kurz nach ihm gelangt auch die böse Königin schwer verletzt durch den Spiegel. Sie wird bereits von Rumpelstein erwartet, der von ihr verlangt, den Zauber zu lösen, welcher Eva an den Turm im Finsterwald bindet. Als Druckmittel hat er die beiden Herzstücke von Margery versteckt.

20.15 Uhr

Jacob sucht Margery auf, um sie davor zu warnen, dass Rosalie versuchen wird, sie in dieser Nacht in den Spiegel zu stoßen. Margery lässt ihn von den Vampiren gefangen nehmen.

22.00 Uhr

Die böse Königin löst den Zauber, der Eva an den Turm bindet. Dafür verrät Rumpelstein ihr, wo er Margerys Herzstücke versteckt hat. Anstatt Dankbarkeit zu zeigen, macht Eva ihm Vorwürfe, weil er rücksichtslos handelt und Elisabeth dabei hilft, anderen Schaden zuzufügen. Freya macht deutlich, dass sie Rumpelstein schon vor langer Zeit aufgegeben hat.

22.30 Uhr

Nachdem es Rumpelstein gelungen ist, seine Tochter aus dem Turm zu befreien, sucht ihn der Teufel auf und gibt ihm die goldene Spindel zurück, die Eva noch in Engelland für ihn gesponnen hat, damit er nie vergisst, wer er ist. Der Teufel warnt ihn jedoch davor, sich zu erinnern, da er fürchtet, dass Rumpelstein an der Schuld, die er auf sich geladen hat, zerbrechen könnte.

23.00 Uhr

Überraschend verhilft Rosalie ihrem Vater, Jacob und Will aus dem Verlies von Schloss Drachenburg und offenbart ihnen, dass Elisabeth noch lebt. Gemeinsam kämpfen sie sich zum Nordturm vor, in dem sich der schwarze Spiegel befindet. Dort werden sie bereits von Margery und ihren Vampiren erwartet. Diese bietet ihrer Schwester die Versöhnung an. Doch als beide sich umarmen, versucht Margery, Rosalie in den Spiegel zu stoßen. Will schafft es, das zu verhindern. Zeitgleich taucht Simonja auf und verbannt Margery in den Spiegel.

23.30 Uhr

Mary kehrt aus dem Spiegel zurück und findet sich in ihrem eigenen schwer verletzten Körper wieder. Es kommt heraus, dass Elisabeth die Gestalt von Rosalie angenommen hat, um alle zu täuschen. Nun hat sie die Kontrolle über Margerys Körper übernommen, während diese den Platz ihrer Mutter im Spiegel einnehmen musste.

23.45 Uhr

Rumpelstein, der nun die Wahrheit über seine Identität kennt, übt Rache an Elisabeth für alles, was sie ihm angetan hat, indem er die beiden Herzstücke von Margery zerstört, die er ihr versprochen hat. Außerdem eröffnet er ihr, dass von dem Herz der Prinzessin nur noch zwei Splitter verblieben sind und sie demnach nicht mehr lange zu leben haben wird. Aus Wut über seinen Verrat reißt sie ihm das Herz aus der Brust, in dem sich die letzte fehlende Spiegelscherbe befindet, um den zweiten schwarzen Spiegel zu vollenden und die Macht über das Böse zu erlangen. Elisabeth will ihr Werk vollenden, wird daran aber von Freya und Eva gehindert.

23.59 Uhr

Die echte Rosalie nutzt die Ablenkung, um die böse Königin gegen den Spiegel zu stoßen und so Margery zu befreien, während Elisabeth zurück in den Spiegel verbannt wird. Mary liegt indes im Sterben. Da sie nun aber ihre beiden Töchter in Sicherheit zu wissen glaubt, ist sie bereit, mit ihrem Leben abzuschließen. Daran wird sie jedoch vom Teufel gehindert, der sie daran erinnert, dass ihre Seele ihm gehört. Er nimmt sie gegen ihren Willen mit sich.

Dienstag, 30. Oktober 2012

0.30 Uhr

Ohne den Spiegelsplitter in seiner Brust wird Rumpelstein wieder zu dem Mann, der er einst war – Rumolt Stein. Er empfindet große Reue darüber, dass er in Engelland so vielen Familien ihre Kinder gestohlen und sie auf dem Meer ausgesetzt hat. Deshalb fürchtet er den Tod, da er glaubt, in der Hölle zu landen.

Eva und Freya können ihm seine Taten vergeben und wollen ihm helfen, seine Fehler wiedergutzumachen, deshalb verbinden sie ihre Magie und geben ihm die Chance, noch einmal von vorn anzufangen. Sie schicken ihn als Peter Pan nach Nimmerland, damit er sich dort um die Kinder kümmern kann, die nur seinetwegen ohne Eltern aufwachsen müssen.

7.15 Uhr

Freya verstirbt zum Sonnenaufgang in Evas Armen. Ein Windstoß bläst die Splitter des zweiten Spiegels zurück an die Oberfläche, sodass diese nun vollkommen ist.

Dienstag,

30. Oktober 2012

Noch ein Tag


Weltuntergang

Dienstag, 30. Oktober 2012

7.30 Uhr

Königswinter, Innenstadt

Der Krieg der Farben schien unabwendbar. Für eine kurze Atempause hatten alle Hoffnung geschöpft, als Elisabeth in den Spiegel verbannt worden war. Aber der Sieg über sie wirkte bedeutungslos, sobald Simonja und die anderen den Nordturm verließen und im Schlosshof von den Vampiren in Empfang genommen wurden.

Margery hätte ihnen sagen können, dass sie ihre Waffen niederlegen sollten. Sie hätte den Krieg beenden können, noch bevor er ausbrach. Sie hätte für Frieden sorgen können und alles wäre gut gewesen.

Aber nichts davon tat sie.

Ganz im Gegenteil: Kaum dass sie wieder von ihren Vampiren umgeben war, rief sie zum Angriff. Alles, was sich in der Turmspitze ereignet hatte, war nicht länger von Bedeutung.

Die Vampire zögerten keinen Augenblick. Geradezu erleichtert stürzten sie sich auf die Eindringlinge, während Margery sich aus dem Griff ihres schockierten Vaters befreite. »Bringt mir das Herz des Todes«, brüllte sie in das Chaos.

Nachdem sie erlebt hatte, wie weit Ember und Maggy zu gehen bereit gewesen waren, um sich von ihrem Einfluss zu befreien, wollte sie nicht riskieren, auch noch das letzte Stück ihres Herzens zu verlieren, abgesehen von jenem in ihrer Brust. Vielleicht trieb sie auch der Wunsch nach Vergeltung an – immerhin hätte Simonja sie beinahe zu einer Ewigkeit in dem schwarzen Spiegel verbannt.

Die Gruppe war zur Flucht gezwungen und wurde dabei geteilt. Während Arian und Nisha Simonja nicht von der Seite wichen, jagte Ember einen Feuerball nach dem anderen in die Menge der Vampire. Asche fiel vom Himmel wie Schnee.

Philipp schwang sein Schwert ohne jede Rücksicht. Er spielte mit seinem Leben – alles oder nichts. Der Verlust seiner Eltern hatte ihn wagemutig gemacht.

Rosalie und Maggy lockten einen Teil der Vampire in eine andere Richtung – weg von Simonja –, während Jacob und Dorian im Tumult verschwanden. Nur Will blieb bei Margery.

Machte ihn das zu einem Verräter? Oder verfolgte er einen ganz eigenen Plan? War er töricht genug, immer noch daran zu glauben, dass es eine Rettung für sie geben könnte? Hatte sie nicht mehr als einmal bewiesen, dass sie sich für die Finsternis entschieden hatte?

Die arme Eva befand sich im Turm bei ihren sterbenden Eltern und bekam von alldem nichts mit. War es nicht schlimm genug, dass ihre eigene Welt zerbrach? Musste dann auch noch die Welt um sie herum direkt mit untergehen?

Irgendwie schafften Simonja, Arian, Nisha, Ember und Philipp es, sich in den Finsterwald vorzukämpfen und dort die Vampire abzuhängen. Weit weg konnten sie allerdings nicht sein, deshalb beschlossen sie, in der Anonymität der Stadt unterzutauchen. Dort ahnte niemand etwas von dem Krieg aus längst vergangener Zeit, der auf Schloss Drachenburg seinen Anfang fand. Es wäre tröstlich, sich wenigstens für ein paar Minuten in die Normalität flüchten zu können und gewöhnlichen Menschen dabei zuzusehen, wie sie zur Arbeit eilten, ihre Kinder in die Schule begleiteten, mit ihrem Hund spazieren gingen oder Brötchen beim Bäcker holten.

Aber wenn sie geglaubt hatten, dass der Krieg der Farben sich lediglich auf die Mauern des Schlosses beschränkte, täuschten sie sich. Das kleine, malerische Städtchen am Rhein war zu einem Schlachtfeld geworden. Aus beinahe jedem Haus drang wütendes Geschrei. Gegenstände flogen aus den Fenstern und auf den Bürgersteigen keiften sich die Menschen an, wenn sie nicht direkt aufeinander losgingen. Die Kakofonie wurde begleitet von einem aggressiven Hupkonzert, das aus allen Himmelsrichtungen zu kommen schien. Autos rasten wie Waffen durch die Straßen und prallten mit lautem Scheppern aneinander oder rammten Häuser. Polizeisirenen heulten von nah und fern. Geschäfte wurden überfallen. Menschen, die aussahen, als wären sie gerade auf dem Weg zur Arbeit gewesen, rannten plötzlich mit blutigen Messern durch die Gegend.

»Was ist hier los?«, wisperte Simonja völlig verstört. Das Bild, welches sich ihr bot, wollte einfach keinen Sinn ergeben.

Arian schüttelte missbilligend den Kopf. »Die sind alle verrückt geworden.«

»Oder böse«, meinte Ember fassungslos.

Das traf es am ehesten. Menschen, die zuvor ein ganz gewöhnliches Leben geführt hatten, schienen auf einmal dem Bösen, das in jeder Seele wohnte, nachzugeben. Der kleinste Grund zum Ärgernis, über den sie sonst großzügig hinweggeblickt hätten, brachte sie nun zum Ausrasten. Sämtliche Moral und Selbstkontrolle wirkten ausgeschaltet.

Oder war es vielleicht sogar noch schlimmer und sie folgten gar nicht den eigenen niederen Instinkten, sondern wurden von einer fremden Macht gelenkt? Aber wie war es dazu gekommen? Was war in der Nacht des Blutmondes geschehen, das Simonja und den anderen entgangen war?

Zumal es offenbar nicht alle Menschen betraf. Hin und wieder entdeckten sie einzelne Personen, die mit gesenkten Köpfen durch die wütende Meute eilten. Einige standen mit vor Schreck geweiteten Augen da und andere versteckten sich in ihren Häusern, die sie mit Brettern verrammelten, als stehe ihnen eine Invasion durch Aliens bevor.

Starr vor Schock bemerkte Simonja die Vampire erst, als diese bereits mit erhobenen Waffen auf sie zugerannt kamen. Sie fielen in dem Durcheinander gar nicht mehr auf und kaum einer störte sich an ihren Waffen. Die meisten waren viel zu sehr damit beschäftigt, irgendetwas kaputt zu machen. War das der Weltuntergang?

Simonja, Arian, Nisha, Ember und Philipp hasteten in die entgegengesetzte Richtung, weg von den Vampiren. Es war nicht leicht, voranzukommen, da sie sich neue Feinde schufen, sobald sie jemanden aus Versehen anrempelten oder ihm in den Weg kamen. Einer zückte sogar sein Gewehr und schoss ihnen hinterher.

Sie erreichten eine Kreuzung, als plötzlich ein Auto aus einer schmalen Pflastergasse geschossen kam. Arian riss Simonja gerade noch rechtzeitig zurück, bevor sie erfasst worden wäre. Mit quietschenden Reifen bremste der Wagen abrupt ab und ein Mann sprang fuchsteufelswild hinter dem Steuer hervor. Er stampfte auf ein angrenzendes Haus zu, klingelte dort Sturm und hämmerte unter wüsten Beschimpfungen gegen die Tür. Das Auto hatte er mitten auf der Straße mit geöffneter Fahrertür einfach stehen gelassen.

Philipp ergriff die Gelegenheit beim Schopf und ließ sich blitzschnell hinter das Steuer gleiten. »Los! Kommt!«, rief er den anderen zu.

Ember schüttelte fassungslos den Kopf. »Du kannst doch kein Auto klauen«, protestierte sie.

Die anderen schienen weniger Skrupel zu haben und stiegen ein.

»Hast du dich mal umgesehen?«, meinte Simonja mit einer ausladenden Handbewegung. »Die Stadt ist ein einziges Chaos!«

»Wir tun dem Kerl im Grunde einen Gefallen«, stimmte Arian ihr zu. »Wer weiß, was er sonst mit dem Wagen noch anstellt. Ohne fahrbaren Untersatz ist er schon gefährlich genug, aber wenigstens kann er dann niemanden umfahren.«

Philipp suchte drängend ihren Blick. »Bitte, steig ein! Ich werde auch vorsichtig fahren, sodass dem Auto nichts passiert und der Besitzer es zurückbekommt, wenn dieser Wahnsinn vorbei ist.«

Wie optimistisch, dass er nicht von FALLS spricht, dachte Simonja und atmete erleichtert auf, als Ember sich mit einem Seufzen neben sie auf die Rückbank quetschte. Als der Mann den Diebstahl bemerkte, trat der einstige Prinz bereits auf das Gaspedal und sauste gleichermaßen dem Besitzer wie den Vampiren davon.

Kaum dass sie außer Sichtweite waren, ließ Arian zornig seine Faust auf das Armaturenbrett knallen. »Das ist alles Margerys Schuld! Wie konnten wir nur glauben, dass sie die weiße Macht wäre?«

Auch wenn Ember sich gegen ihre Freundin gestellt hatte, empfand sie noch immer das Bedürfnis, sie zu verteidigen. »Ich glaube nicht, dass sie etwas damit zu tun hat, was hier gerade vor sich geht. Außerdem war sie nicht schon immer so.«

»Wer, wenn nicht sie, sollte die weiße Macht sein? Etwa Rosalie? An ihren Händen klebt doch mindestens genauso viel Blut!«, pflichtete Philipp bei. Ember und er kannten Margery besser als die anderen. Aber die Person, die sie gewesen war, und jene, als die sie sich nun gab, waren unterschiedlich wie Tag und Nacht.

Auch Simonja hatte einmal an die Prinzessin geglaubt. Als sie ihr begegnet war, wirkte sie unschuldig, hilflos und einsam. Die Einsamkeit verband sie alle miteinander. Es hatte sich richtig angefühlt, sie zu unterstützen, komme, was wolle.

»Du warst der Einzige, der von Anfang an ein ungutes Gefühl bei ihr hatte«, gab sie von der Rückbank aus an Arian gewandt zu. Sie fühlte sich mitschuldig an allem, was ihm seitdem widerfahren war. »Ich hätte dich nicht überreden dürfen, auch einen Splitter ihres Herzens in dir aufzunehmen!«

Er drehte sich zu ihr herum. »Das bereue ich nicht! Sonst wäre ich keiner der Vergessenen Sieben geworden und jetzt nicht hier.« Der warme Blick seiner goldenen Augen hielt sie fest. »Bei dir.«

So viel mehr lag in seinen Worten als das, was sie vermuten ließen. Es war eine Chance. Würden sie je die Gelegenheit bekommen, sie zu nutzen?

Simonja beugte sich zu ihm vor und legte ihre Hand auf seine Schulter. »Auch wenn ich in jener Welt nicht der Tod bin, scheint dieser mich zu verfolgen. Ich bringe jeden, der in meiner Nähe bleibt, in Gefahr.« Sie schaute von einem zum anderen. »Sobald wir aus der Stadt sind, sollte ich allein weitergehen.«

Ehe ein anderer etwas dazu sagen konnte, widersprach Arian ihr vehement. »Nein! Das kommt nicht infrage. Ich habe mich nur deinetwegen für das Leben entschieden! Dich im Stich zu lassen, wäre das Letzte, was ich tun würde. Lieber sterbe ich bei dem Versuch, dich zu beschützen, als ohne dich weiterleben zu müssen. Ich konnte Lavena nicht retten, aber ich werde nicht zulassen, dass du mir auch noch genommen wirst. Vorher töte ich Margery!«

Er klang zu allem bereit und gerade das machte Simonja besonders Angst. Sie wusste, wie es sich anfühlte, ihn zu verlieren. Das würde sie nicht noch einmal ertragen.

»Es ist nicht deine Aufgabe, den Krieg der Farben zu entscheiden«, fuhr Nisha ihn an. »Simonja ist nicht grundlos die rote Macht!«

»Ach ja?«, entfuhr es Simonja wütend. Sie mochte die Art, wie ihre Mutter Arian abkanzelte, nicht – so von oben herab, als ob sie mehr wüsste als alle anderen. Was vermutlich auch so war. Aber dann sollte sie endlich ihr Schweigen brechen! »Für mich fühlt es sich nämlich ziemlich willkürlich an! Ich sehe nichts, was mich dazu befähigen würde, in diesem Krieg mehr auszurichten als irgendjemand anderes. Es sei denn, man zählt meine Dummheit dazu, die mich dazu gebracht hat, Margery in den Spiegel zu stoßen, ohne die ganze Wahrheit zu kennen.« Sie vergrub vor Scham ihr Gesicht in den Händen. »Beinahe hätte ich Elisabeth zum Sieg verholfen!«

»Das könnte auch nicht schlimmer sein, als es jetzt ist«, konterte Nisha unbeeindruckt.

»Wann wirst du mir endlich erklären, warum du dir so sicher bist, dass dies meine Bestimmung ist?«, blaffte Simonja sie an.

Was sie eigentlich damit fragen wollte, war: Wer ist mein Vater?

»Bald«, vertröstete Nisha sie erneut. »Aber sicher nicht während einer turbulenten Autofahrt.«

Philipp räusperte sich verlegen. »Ich unterbreche euch nur ungern, aber ich bin völlig ratlos, wo ich überhaupt hinfahren soll.«

Es war schwierig, das Auto durch Straßen zu steuern, die von Wahnsinnigen bevölkert wurden. Jederzeit konnte aus der nächsten Gasse ein anderes Fahrzeug herausgeschossen kommen. Dazu musste er Gegenständen ausweichen, die von Brücken oder aus Fenstern auf die Motorhaube und die Heckscheibe geschleudert wurden. Sein einziges Ziel war es bisher gewesen, den Wagen so weit wie möglich aus der Stadt zu lenken.

»Ich weiß, wo wir hinkönnen«, meldete Ember sich zu Wort. »Dort gibt es zwar auch Menschen, aber deutlich weniger als in der Stadt. Zudem kennt Margery diesen Ort nicht und somit müssten wir zumindest vor den Vampiren eine Weile sicher sein.«

»Das klingt gut«, fand Philipp. »Verrätst du uns, was für ein Ort das ist?«

Ember schaute aus dem Fenster, als plage sie eine Last von Erinnerungen. »Es ist der Ort, an den ich niemals zurückkehren wollte.«

Der Beginn des Winters

Dienstag, 30. Oktober 2012

10.00 Uhr

Königswinter, Schloss Drachenburg

Blinzelnd verließ Eva die Dunkelheit des Nordturms und reckte ihr Gesicht dem Himmel entgegen. Zarte Schneeflocken bedeckten ihre Haut.

Wann hatte es angefangen, zu schneien? Dem Boden nach zu urteilen, schon vor einer ganzen Weile, denn die grauen Pflastersteine des Schlosshofs waren bereits unter einer weißen Schneedecke verborgen.

Fröstelnd schlang Eva die Arme um den Oberkörper, auch wenn sie die Kälte nicht als unangenehm empfand. Sie passte zu ihrem inneren Schmerz. Innerhalb der letzten Tage war ihre Welt auf den Kopf gestellt worden. Sie war mehrmals entführt, am offenen Herzen operiert worden und erblindet. Schon immer hatte sie das Gefühl gehabt, dass Teile ihres Lebens im Verborgenen lagen. Nun kannte sie die Wahrheit, aber sie machte sie nicht frei oder glücklicher.

In nur einer Nacht waren ihr Vater und Mutter entrissen worden – Menschen, die sie vermisst hatte, ohne es auch nur zu wissen. Sie war immer auf der Suche nach ihnen gewesen. Es war ihre Abwesenheit, die Eva das Gefühl gegeben hatte, nicht vollkommen zu sein.

Auch wenn der Verlust sie innerlich zerriss, sehnte sie sich nicht nach der Ahnungslosigkeit zurück. Zu leiden, ohne zu wissen, warum, war schlimmer als alles andere.

Langsam schritt sie durch den Schnee und hielt Ausschau nach einer anderen Person. Ember und die anderen hatten auf sie warten wollen, doch sie traf weder auf einen von ihnen noch auf einen Vampir. Dafür fand sie am Boden Spuren eines Kampfes. Eine feine Schneeschicht hatte sich über die Blutstropfen und die Asche gelegt. Noch etwas später und nichts davon wäre mehr zu erkennen gewesen.

Asche, Schnee und Blut – Schwarz, Weiß und Rot. Das waren die Farben, die über das Schicksal der Welt entscheiden sollten. Warum begegneten sie ihr jetzt? War der Krieg der Farben mit Elisabeths Verbannung in den Spiegel nicht abgewendet?

Eine trügerische Ruhe erfüllte das Schloss und alles in seinem Umkreis. Ihr eigener Herzschlag pochte laut in ihren Ohren, während das Leben um sie herum erfroren zu sein schien. Kein Vogel zog seine Kreise über den Himmel. Kein Rauschen der Blätter im Wind. Kein Knirschen des Kieses unter ihren Sohlen. Vielleicht kam es nur durch den Schnee und ihren eigenen Verlust, aber Eva hatte das Gefühl, dass nichts mehr war wie zuvor.

Sie erreichte einen der Nebeneingänge des Schlosses. Die beschlagenen Fenster gewährten keinen Blick in die Räume, aber sie konnte einen schwachen Lichtschein ausmachen. Die schwere Holztür ließ sich nur von innen öffnen, deshalb blieb ihr nichts anderes übrig, als zu klopfen.

Zu ihrem Erstaunen waren Geräusche zu vernehmen und wenige Sekunden später wurde ihr geöffnet. Das spitze Ende einer Lanze richtete sich bedrohlich auf ihre Brust, während zwei Vampire sie musterten. Ihre Haut war beinahe so bleich wie der herabfallende Schnee.

Demütig hob Eva die Arme. Sie wusste nicht, was in den vergangenen Stunden geschehen war oder an wen sie sich wenden sollte. Das Schloss war ihr einziger Anlaufpunkt.

»Was willst du?«, blaffte einer der beiden sie an.

Warum war der Schlosshof unbewacht? Verbarrikadierten sie sich etwa hinter den dicken Mauern? Vor wem oder vor was?

Was sollte sie auf die Frage antworten?

»Ich war im Nordturm«, erwiderte sie hilflos. »Mein Name ist Eva.«

War Margery noch die Königin der Vampire? Würde sie Eva empfangen? Drohte ihr Böses?

»Warte hier«, wies der Vampir sie unfreundlich an und knallte ihr die Tür vor der Nase zu.

Mittlerweile konnte Eva das Zittern ihres Körpers nicht mehr unterdrücken. Sie war froh, dass Freya ihr am vergangenen Tag ein wärmeres Kleid erschaffen hatte. Wenn sie immer noch den braunen Kittel tragen müsste, den die böse Königin ihr überlassen hatte, würde sie wohl erfrieren.

Es dauerte lange, bis die Tür wieder geöffnet wurde. So lange, dass Eva sich schon fragte, ob man sie vergessen hatte. Doch dann forderten die Vampire sie auf, ihnen ins Innere zu folgen. Dort war es nicht viel wärmer als draußen, aber es half schon, aus dem Schneefall herauszukommen. Ihre Gänsehaut ließ jedoch nicht nach. Zuvor hatte sie vor Kälte geschaudert, nun war es die Atmosphäre. Totenstill lagen die Korridore da, aber wohin sie auch blickte, begegnete sie roten, hungrigen Augen. Es kam ihr vor, als würden die Vampire auf irgendetwas warten.

Ein trübes graues Licht fiel durch die vereisten Fensterscheiben in den Thronsaal.

Margery erwartete Eva bereits. Sie saß auf ihrem Thron, hatte die Arme auf die Lehnen gelegt, als brauche sie irgendetwas, woran sie sich festhalten konnte.

Wilhelm war ebenfalls anwesend. In seinem grünen Kapuzenpullover wirkte er allerdings völlig fehl am Platz. Er stellte das einzige Anzeichen dafür dar, dass sie sich im 21. Jahrhundert in Königswinter und nicht in Engelland befanden.

Die Art, wie Margery sie von oben herab anstarrte, weckte in Eva die Befürchtung, dass diese erwarten könnte, dass sie sich vor ihr verneigte. Sie sah mit der funkelnden Krone auf dem Kopf nicht nur aus wie eine Königin, sondern benahm sich auch so – distanziert, misstrauisch und so eisig wie der Winter. Seitdem Eva der Prinzessin begegnet war, hatte sie immer gehofft, dass Margery anders werden würde.

Sie widerstand dem Drang, ihr Haupt zu senken. »Was ist geschehen?«, fragte sie stattdessen direkt in den großen Raum hinein. Ihr zartes Stimmchen schien in der Leere verloren zu gehen.

Margerys eisblaue Augen bohrten sich in ihre. »Ich rette mein Leben.« Trotzig hob sie ihr Kinn, als rechne sie mit Vorwürfen. »Simonja hat mich in den Spiegel gestoßen. Maggy und Ember haben meine Herzstücke zerstört. Deutlicher hätten sie mir nicht zeigen können, dass sie mich lieber tot als lebendig sehen würden.«

Sie brauchte sich nicht vor Eva zu rechtfertigen, aber dass sie es dennoch tat, bewies Eva, wie einsam Margery sich immer noch fühlen musste. Auch wenn es anders aussah und auch wenn sie es gewiss nicht zugeben würde, lag ihr immer noch etwas an der Meinung anderer. Sie sehnte sich nach Zuneigung.

Anders ließ sich auch nicht erklären, warum sie Wilhelm in ihrer Nähe duldete. Er war scheinbar der einzige Verbündete, der ihr geblieben war. Aber wie groß war seine Loyalität? Würde er sich im Notfall wirklich auf Margerys Seite stellen? Gegen Maggy? Vielleicht war er auch nur hier, um sie im Auge zu behalten.

Eva gefiel zwar nicht, dass Margery einen Krieg gegen Simonja und die anderen führte, aber in gewisser Weise konnte sie es nachvollziehen. »Was ist mit deinem Vater?«, hakte sie nach, denn auch ihn und Jacob hatte sie bisher nicht im Schloss angetroffen.

»Ich kann ihm nicht vertrauen«, kanzelte Margery sie ab. Was sie eigentlich meinte, war, dass sie nicht wusste, auf wessen Seite er war – Rosalies oder ihrer.

»Er liebt dich«, erwiderte Eva bestimmt. Die Worte brachen ihr das Herz, weil jene sie an ihren eigenen Vater erinnerten. Rumolt, der sich nun Peter Pan nannte und nicht einmal mehr wusste, dass sie je existiert hatte. Sie erkannte einen liebenden Vater – Dorian war ein solcher, davon war Eva fest überzeugt.

Doch Margery schnaubte. »Mein Vater liebt meine Mutter. Es wäre grausam, ihn zu einem Leben ohne sie zu verdammen. Ich täte ihm einen Gefallen, wenn ich ihn von seiner Verantwortung befreie.«

Eva erschauderte. »Du willst deinen eigenen Vater töten?«, fragte sie fassungslos.

Sollte Margery dazu wirklich fähig sein, gab es für sie keine Hoffnung mehr. Doch etwas zu behaupten und es in die Tat umzusetzen, waren zwei verschiedene Dinge. Worte gingen leicht von den Lippen.

Margery blieb ihr eine Antwort schuldig, denn sie wandte nur den Blick ab und beobachtete den Schnee, der stetig vom Himmel rieselte.

»Gilt das auch für deine Schwester?«, erkundigte Eva sich unnachgiebig. Mit jeder verstreichenden Minute verlor sie mehr von ihrer Furcht. Was hatte sie schon zu verlieren? »Sie hat dich gerettet!«

»Ihre wahren Beweggründe sind mir schleierhaft«, meinte Margery nachdenklich. »Aber es ist offensichtlich, dass ihr Platz nicht an meiner Seite ist, sonst wäre sie hier. Sie hat gewählt und sich für den Jungen im Turm entschieden, der den Platz deiner Mutter eingenommen hat. Mir bleiben keine Verbündeten.«

Sie versuchte, ihren Worten Nüchternheit zu verleihen, als handle es sich dabei um eine unumstößliche Tatsache. Aber Eva entging nicht ihre Enttäuschung. Margery fühlte noch immer.

»Ich bin dein Freund«, erinnerte Will sie einfühlsam, doch Margery reagierte nicht auf ihn.

Sie glaubte ihm nicht, aber duldete ihn dennoch in ihrer Nähe. War sie so verzweifelt?

Mehrere Sekunden verstrichen schweigend. Eva blieb nicht viel Zeit, um zu überlegen, was sie tun sollte. Es schneite, ihr war kalt und sie stand vor einer unberechenbaren Königin in einem Schloss voll blutdürstiger Vampire.

»Ich bin noch hier«, meinte sie schließlich kleinlaut, aber entgegenkommend – eine ausgestreckte Hand.

Margery hob skeptisch die Augenbrauen. »Und du würdest mir helfen?«

Nach den Ereignissen der letzten Nacht und des Morgens hatte Eva keine Angst mehr vor dem Tod, aber sie wollte es auch nicht darauf ankommen lassen. Sie war es ihrer Mutter schuldig, dass sie ihr Bestes gab, um zu überleben. Doch dafür verbiegen wollte sie sich auch nicht.

»Das kommt ganz darauf an, wobei«, antwortete sie aufrichtig.

Ein leises Seufzen entwich Margerys Lippen, das von der Last zeugte, die auf ihrem schwachen Herzen lag. »Lass mich für einen Moment alles vergessen. Schenk mir einen Traum, Eva.«

Niedergeschlagenheit sprach aus ihrer Stimme. Margery musste bereits die Müdigkeit einer Unsterblichen ertragen.

»Der letzte Traum, um den du mich gebeten hast, war ein Albtraum. Was erwartest du jetzt von mir?«

»Ich will nicht an meine Familie denken oder an meine Freunde, die mich verraten haben. Ich will nicht daran denken, was ich verloren oder was ich nie besessen habe. Ich will nicht daran denken, was ich getan habe oder was ich noch tun muss. Für eine kurze Zeit möchte ich jemand anderes sein. Kannst du mir dabei helfen?«

Sie klang so verzweifelt, dass Eva Mitleid mit ihr hatte. Margery schien ihr immer noch zu vertrauen, denn sie musste sich ihr ausliefern, damit Eva einen Traum für sie erschaffen konnte. Wenn sie erst einmal schlief, wäre sie machtlos.

Sollte Eva das ausnutzen? Sollte sie sich in die lange Liste von Personen einreihen, die Margery enttäuscht hatten?

»Ich werde mir etwas überlegen«, erwiderte sie vage.

Es widersprach ihrer Moral, ihre Gabe als Waffe zu nutzen. In Engelland hatte die böse Königin immer wieder versucht, sie als Folterinstrument für ihre Feinde einzusetzen, aber Eva hatte ihr jedes Mal widerstanden und sich von ihr nicht bedrohen oder locken lassen. Als Gefangene in einem Turm war ihre Gabe das Einzige gewesen, worüber sie die Kontrolle hatte.

Margery zwang ihre Mundwinkel zu einem schwachen Lächeln auseinander. »Du siehst müde und hungrig aus. Geh in das Speisezimmer. Ich werde den Befehl erteilen, dort ein Feuer im Kamin zu entfachen und dir etwas Warmes zuzubereiten.«

Eva nickte ihr dankbar zu, ehe sie sich zum Gehen wandte.

Weder die Wärme der Flammen noch jene der dampfenden Suppe vor ihr vermochte die Kälte aus ihrem Inneren zu vertreiben. Allein saß sie an der langen Tafel, die nur für sie eingedeckt worden war, und versuchte, irgendwie weiterzumachen.

Weiter zu atmen.

Weiter zu leben.

Es war alles andere als leicht. Je mehr Zeit verstrich, umso bewusster wurde ihr, dass sie ihre Eltern niemals wiedersehen würde. Das hatte sie zwar schon in dem Augenblick ihres Todes verstanden, aber ihr Herz weigerte sich, das zu akzeptieren. Jedes Mal, wenn sie daran dachte, war es ein erneuter Schock.

Tief in ihren Gedanken verfangen, bemerkte sie Will erst, als er vor ihr stand und sorgenvoll auf sie herabblickte. »Es …«, setzte er an, verstummte dann aber wieder.

Sie wusste, was er sagen wollte. Das, was jeder sagen würde. Das, was erwartet wurde, dass man es sagte, aber das dennoch nicht ausreichte. Nicht mehr als eine Floskel, die mehr nach einer Beleidigung als nach Mitgefühl klang. Es tut mir leid.

Will überlegte es sich anders. Er überging diesen Part. Sprach das, was nicht zu ändern war, nicht an. Er ließ ihren wunden Punkt unberührt.

»Schmeckt die Suppe nicht? Du hast sie kaum angerührt.«

Sie lächelte müde über seinen Rückzieher, war zugleich aber erleichtert darüber, dass er sie nicht zwang, sich mit dem Schmerz auseinanderzusetzen. Es war tröstlich, ihn ignorieren zu können.

»Es fällt mir schwer, in einem Gebäude voller Vampire etwas zu essen, ohne mich dabei zu fragen, ob sich nicht doch ein Tropfen Blut in die Flüssigkeit verirrt hat, sozusagen als Salz in der Suppe.«

Ihre Worte entlockten ihm ein Schmunzeln und er nahm sie als Einladung, sich zu ihr zu setzen. »Sie gehören hier nicht hin«, wisperte er, als er sich dicht zu ihr beugte. »Margery ist keine von ihnen. Das war sie nie. Sie umgibt sich nur aus Angst und Verzweiflung mit ihnen.«

Eva wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Margery war ein Vampir, das ließ sich nicht leugnen. Sie brauchte das Blut genauso sehr wie jeder andere von ihnen. Aber das machte sie nicht direkt zu einem Monster. Zumindest war sie früher keines gewesen.

»Sie ist ihre Königin.«

»Sie sollte unsere Königin sein. Die Königin von Engelland. Dazu wurde sie geboren, aber solange sie sich in der Dunkelheit versteckt, wird ihr Licht nicht erstrahlen.«

War ihm bewusst, wie sehr er gerade nach seinem Bruder klang? Eva kannte Jacob nicht gut, aber sie bewunderte ihn für seinen Mut und seinen Gerechtigkeitssinn.

»Was erwartest du von mir?«

Deshalb war er zu ihr gekommen, daran zweifelte sie nicht.

»Margery braucht keine Auszeit von der Realität«, zischte er hart. »Du bist vielleicht die Einzige, die über die Macht verfügt, ihr die Augen zu öffnen. Erinnere sie daran, wer sie ist.«

»Das ist nicht, worum sie mich gebeten hat«, meinte Eva zögerlich. »Mich ihrer Bitte zu widersetzen, könnte meinen Tod bedeuten, sobald sie aus ihrem Traum erwacht.«

»Oder die Rettung für uns alle«, konterte er unbeirrt. »Aber mir ist dein Risiko bewusst, deshalb überlasse ich es dir, ob du bereit bist, es einzugehen.«

Sie brauchte einen Moment, um über seinen Vorschlag nachzudenken. Ihr Vater, Rumolt Stein, hatte sie gelehrt, andere nicht zu verurteilen, sondern nach dem Guten in jedem Menschen zu suchen. Manch einer würde behaupten, dass ihn diese Einstellung in den Tod geführt hatte, aber Eva hatte ihn dafür geliebt. Sie wollte nicht in Angst, Missgunst und Feindseligkeit leben. Sie musste sich trauen, daran zu glauben, dass es noch nicht zu spät war.

»Ich habe Margery auch noch nicht aufgegeben«, stimmte sie Will zu.

Würde es ihr gelingen, in einem Traum den Weg zu dem Mädchen zu finden, welches ihr einst seine Freundschaft angeboten hatte?

Niemals

Dienstag, 30. Oktober 2012

11.00 Uhr

Bad Honnef, Rheininsel Nonnenwerth, Kloster

Fenster für Fenster schritt Joe ab – sieben an der Zahl. Der Ausblick, der sich ihm durch jedes bot, hätte kaum unterschiedlicher sein können.

Das Wunderland in seinem farbenprächtigen Wahnsinn.

Oz mit seiner funkelnden Smaragdstadt und den niedlichen Munchkins.

Nimmerland, die kleine Insel mitten im Nirgendwo. Sie wurde von einem alten Bekannten regiert, der einiges wiedergutzumachen hatte. So viel, dass er damit wohl niemals fertig werden würde. Aber darum ging es ihm auch gar nicht, denn er wollte ohnehin nicht erwachsen werden. Für ihn war Zeit nicht länger von Bedeutung. Er war nun das ewige Kind – Peter Pan.

Nicht zu vergessen Engelland, welches hinter einer gewaltigen Dornenhecke verborgen war. Die Sonne erreichte diesen düsteren Ort kaum noch und kein Mond wanderte den Himmel empor. Tag und Nacht waren eins. Die Menschen schliefen alle einen zweihundertjährigen Schlaf, ebenso wie die Tiere. Die Zeit war stehen geblieben. Nicht einmal die Pflanzen wuchsen weiter, abgesehen von den Dornen.

Joe brauchte nur einen Blick aus dem jeweiligen Fenster zu werfen und schon kannte er die Geschichte des Ortes. Er wusste, aus welchem Grund die jeweilige Insel erschaffen worden war. Er kannte ihre Bewohner ebenso wie ihre Schwierigkeiten. Es war unterhaltsam, sich von den Geschehnissen berieseln zu lassen. Was hätte er auch sonst in diesem einsamen Turm tun sollen?

Nicht einmal die Nonnen aus dem Kloster bekam er zu Gesicht. Sein Essen und Trinken ließen sie ihm mit einem Lastenaufzug kommen und wenn sie etwas von ihm wollten, riefen sie ihn an. Unglaublich, aber wahr: Es gab ein Telefon! Doch er konnte damit nicht in die Welt hinaus telefonieren. Es funktionierte nur intern – die Erkenntnis war ernüchternd.

Nun war er also der Erdenvater. Rumpelstein hatte recht gehabt: Es passte nicht zu ihm. Joe fühlte sich dieser mächtigen Rolle nicht gewachsen, sondern eher wie ein Kind, dem man das Steuer eines Flugzeugs in die Hand gedrückt hatte, ohne dass es wusste, wie man dieses lenkte. Unzählige Menschenleben hingen von ihm ab und er wusste, dass er es vermasseln würde. Am besten war es deshalb, wenn er alle sich selbst überließ.

Ganz immun war er jedoch nicht gegen die Verlockungen, welche diese ungeheure Macht mit sich brachte. Er wusste, dass Freya nicht nur die sieben Inseln erschaffen hatte, sondern auch viele der jeweiligen Besonderheiten, so zum Beispiel auch Sonne und Mond für Engelland. Es lag ihm fern, in das Geschehen einzugreifen, aber er wollte doch zumindest herausfinden, ob er es konnte.

Mit der Kraft seiner Gedanken zauberte er einen Korb voller Süßigkeiten nach Nimmerland. Er platzierte ihn vor dem Baum, in dem die verlorenen Kinder lebten. Sobald sie ihn fanden, machten sie sich über den unerwarteten Schatz her. Voller Faszination beobachtete er, wie sie sich Schokolade in den Mund stopften, sich um Kekse balgten und um Bonbons spielten, wobei jeder von ihnen zu mogeln versuchte. Was für eine unerzogene Horde!

Wenn er Süßigkeiten aus dem Nichts entstehen lassen konnte, wozu war er dann noch fähig?

Keines der Fenster gewährte ihm jedoch einen Ausblick auf den Ort, den er am liebsten sehen wollte – seine Welt. Es quälte ihn, nicht zu wissen, wie es seiner Schwester ging. Hatte sie Rosalie gefunden und ihr Versprechen, ihr eine zweite Chance zu geben, gehalten? Die Nacht des Blutmondes war bereits vorüber – was war geschehen? Hatten sie Mary aus dem Spiegel befreien können? Er fühlte sich ausgeschlossen und einsam. Wie hatte es Freya nur Jahrhunderte in diesem Zimmer aushalten können, wenn ihm bereits nach zwei Tagen die Decke auf den Kopf fiel?

Das Schrillen des Telefons ließ ihn zusammenzucken, versetzte ihn aber zugleich in einen euphorischen Zustand, denn das Klingeln konnte nur eines bedeuten: Abwechslung.

Er hob den Hörer ab. »Guten Tag, Sie sind mit dem Vater aller Väter verbunden. Bäume, Seen oder ein ganzes Gebirge? Ihren Wünschen sind keine Grenzen gesetzt, solange die Bezahlung stimmt. Was kann ich für Sie tun?«

Es blieb still am anderen Ende der Leitung, ehe eine der Nonnen sich verlegen räusperte. Gewiss sehnte sie sich bereits nach Freyas kühler Beherrschtheit. »Ähm, guten Tag, es kommen Besucher auf die Insel.«

Warum erzählte sie ihm das?

»Na dann, immer nur herein in die gute Stube. Was wird denn heute zum Empfang serviert? Caipirinha und Lachstörtchen? Oder haben wir bereits zur Wintersaison gewechselt und reichen etwas Warmes? Vielleicht heißen Hugo?«

Die Nonne verstummte erneut. Sie musste glauben, dass sich ein Wahnsinniger auf dem Posten des Erdenvaters befand. Aber welcher Spaß blieb Joe noch, wenn er nicht zumindest die Nonnen ein bisschen verunsichern konnte?

Schließlich entschloss sie sich, seinen unsinnigen Wortschwall zu ignorieren. »Es sind zwei junge Frauen. Eine von ihnen war schon einmal hier. Es ist Ihre Schwester.«

»Oh.« So früh hatte er nicht mit Maggys Rückkehr gerechnet. War das etwas Gutes? Es roch eher nach Schwierigkeiten. »Und die andere? Ist sie blond?«

Sein Puls beschleunigte sich. War es Rosalie?

»Ja, sie trägt ein Langschwert bei sich.«

Verachtung schwang in ihrer Stimme mit. Die Nonnen standen allem, was andere verletzen konnte, kritisch gegenüber. Selbstverständlich waren sowohl im Kloster als auch im Internat sämtliche Waffen verboten. Aber auch Handys, Kameras und Spiegel waren nicht erlaubt, ebenso gab es kein Internet.

»Sollen wir sie zu Ihnen lassen?«

»Bitte. Aber seien Sie vorsichtig mit der Blonden. Sie ist leicht reizbar. Wenn Sie sie zu lange anschauen, könnte es passieren, dass sie Ihnen ein Auge aussticht.«

Er hörte die Nonne erschrocken keuchen und verkniff sich ein Lachen. Nie hätte er sich träumen lassen, dass er einmal in einem Kloster leben würde.

»In Ordnung«, piepste die schockierte Frau, ehe sie hastig auflegte.

Joe fuhr sich nervös durch die Haare. Er hatte nicht mit Besuch gerechnet, sonst hätte er sich etwas mehr Mühe bei der Morgenwäsche gegeben.

Stoppeln bedeckten sein Kinn. Wie lange war es her, dass er sich zuletzt rasiert hatte? Er roch an seinem Sweatshirt, das er bereits seit Tagen trug. Um ein Deodorant bei den Nonnen zu ordern, war es wohl schon zu spät. Materiellem Schnickschnack standen sie ebenso skeptisch gegenüber wie allem, was Spaß machte.

Wie ein Tiger im Käfig streifte er durch den Raum, von einer Seite zur anderen. Innerlich zählte er die Sekunden, bis sie zu Minuten wurden und er den Überblick verlor.

Als es endlich an der Tür klopfte, fühlte er sich überrumpelt. Hastig stellte er sich vor eines der Fenster, um einen schwer beschäftigten Eindruck zu erwecken.

»Herein.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752132168
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Januar)
Schlagworte
Brüder Grimm Grimm Rotkäppchen Teufel Dornröschen Hexe Märchenadaption Märchen Schneewittchen Vampire Horror Fantasy düster dark Historisch Urban Fantasy

Autor

  • Maya Shepherd (Autor:in)

Maya Shepherd wurde 1988 in Stuttgart geboren. Zusammen mit Mann, Kindern und Hund lebt sie mittlerweile im Rheinland und träumt von einem eigenen Schreibzimmer mit Wänden voller Bücher. Seit 2014 lebt sie ihren ganz persönlichen Traum und widmet sich hauptberuflich dem Erfinden von fremden Welten und Charakteren.
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Titel: Die Tochter des Todes