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Der Schlafende Tod

von Maya Shepherd (Autor:in)
67 Seiten
Reihe: Die Grimm-Chroniken, Band 3

Zusammenfassung

Am Ende des Gangs befand sich ein Raum, dessen Fensterfront in den Westen ausgerichtet war und einen weiten Blick auf den Wald bot, der sich rund um das Schloss in alle Richtungen erstreckte. Goldenes Sonnenlicht fiel durch die Scheiben direkt auf den Glassarg, der davor aufgebaut war. In dem Sarg schlief ein Mädchen. Schwarzes, glattes Haar lag ihr über die schmalen Schultern und reichte bis zu ihren Brüsten. Es glänzte seidig, als wäre es gerade erst gebürstet worden. Lange, dunkle Wimpern rahmten ihre geschlossenen Augen ein. Sie trug ein blütenreines, weißes Kleid aus zarter Spitze. Wie sie dort lag, wirkte sie vollkommen friedlich, so als könne sie keiner Menschenseele etwas zuleide tun. Es herrschte eine andächtige Stille, die von Rumpelstilzchen zerbrochen wurde. „Töte sie, Wilhelm!“, forderte er mit kalter Härte. „Bohre ihr einen Pflock ins Herz. Nur so können wir sicher sein, dass sie wirklich tot ist.“ Folge 1: Die Apfelprinzessin Folge 2: Asche, Schnee und Blut Folge 3: Der Schlafende Tod Folge 4: Der Gesang der Sirenen

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Was zuvor geschah

1590–1593

Der Apfelhändler Dorian muss in seine Heimat Transsylvanien zurückkehren, um dort seinen Geschäften nachzugehen. Das bedeutet ein Abschied von Mary für eine unbestimmte Zeit. Er bittet sie, ihre letzte Nacht außerhalb der Kommende mit ihm zu verbringen und ihn im Wald zu treffen. Mary willigt ein und erscheint um Mitternacht an ihrem vereinbarten Treffpunkt. Dort erwartet sie jedoch nicht Dorian, sondern ein fremder Mann, der sie bewusstlos schlägt und entführt.

Sie erwacht in dem Verlies eines ihr unbekannten Schlosses und muss erfahren, dass Dorian ihr die ganze Zeit etwas vorgemacht hat. Er ist der Sohn des Fürsten der Finsternis, Dracula. Dieser glaubt, dass auch Mary ein Vampir sei, und will sie durch ein Ritual erwecken. Wenn es misslingt, bedeutet dies jedoch ihren Tod.

Mary gelingt es, Dorian umzustimmen und ihn dazu zu bringen, sie zu retten. Dadurch macht sich Dorian zum Feind seines Vaters und er muss vor ihm fliehen. Bevor er geht, nimmt er Mary jedoch die Erinnerung an ihn.

Drei Jahre später kehrt Dorian zu Mary zurück. Sobald sie ihn erblickt, kann sie sich wieder an alles erinnern, was gewesen ist. Ihre Liebe für ihn ist ungebrochen und so zögert sie nicht, mit ihm zu gehen, als er sie bittet, gemeinsam zu fliehen.

Zuvor will er sich jedoch die Zukunft von einer zum Tode verurteilten Hexe vorhersagen lassen – Maria Harms. Sie suchen sie am Morgen vor der Vollstreckung ihres Urteils in einem Gefängnis auf. Maria berichtet ihnen von einer Erdenmutter, die in der Lage ist, Welten zu erschaffen. Sie warnt sie jedoch auch davor, dass ein grausames Schicksal sie erwarten wird, an dem Mary die alleinige Schuld trägt. Ihre letzten Worte lauten: ›Das Böse ist Ansichtssache.‹

2012

Will, Maggy und Joe werden am Morgen von Rumpelstein im Lebkuchenhaus geweckt. Er fordert sie auf, ihn zum Schloss Drachenburg zu begleiten und dort Schneewittchen umzubringen, die ein Vampir sei. Will soll der Einzige sein, der sie in ihrem Traum finden und töten kann.

Als sie das Schloss erreichen, hören sie Schreie aus dem Inneren und finden einen Mann, der von etwas angegriffen wurde und verblutet. Kaum dass dieser gestorben ist, machen sie Bekanntschaft mit Schneewittchen. Diese stürzt sich auf Joe, der jedoch von Will gerettet wird. Der Anblick des Jungen lässt das Vampirmädchen innehalten, sodass ihnen die Flucht gelingt.

Verängstigt wollen sie nur noch den Bahnhof finden und nach Berlin zurückkehren. Doch der Wald ist wie ein Labyrinth, das sie immer wieder zurück zum Schloss führt. Als es bereits dunkel wird, suchen sie aus Verzweiflung erneut Zuflucht in dem Lebkuchenhaus.

In dieser Nacht träumt Will von Schneewittchen. Er trifft sie auf dem Friedhof des versunkenen Mondes, wo sie den Tod ihres Vaters Dorian beweint, der von ihrer Mutter Mary getötet wurde. In Wills Traum ist Schneewittchen nicht das blutrünstige Monster aus dem Schloss, sondern nur ein einsames Mädchen. Sie erklärt ihm, dass sie keine Kontrolle über ihren Körper hat, da sie in einem Traum gefangen ist, aus dem nur er sie erwecken kann. Um das zu schaffen, muss er sich daran erinnern, wer er selbst ist.


Der Fluch des Schlafenden Todes

Königswinter, im Lebkuchenhaus, Oktober 2012

Leises Vogelgezwitscher war durch die geschlossenen Fensterläden des Lebkuchenhauses zu vernehmen. Will öffnete blinzelnd die Augen. Licht drang durch die Ritzen der Schokoladentafeln, welche die Wände bedeckten, und hüllte das Innere des Häuschens in ein trübes Dämmerlicht.

Die Nacht war vorüber und mit ihr auch der Traum, der sich so real angefühlt hatte. Er war Schneewittchen begegnet, die so anders war als ihre blutrünstige Version vom Vortag im Schloss Drachenburg. In seinem Traum war sie ein verzweifeltes Mädchen gewesen, das nach dem Tod seines Vaters allein auf der Welt war. Sie hatte ihn gebeten, ihr zu helfen – er sollte sie aus dem tiefen Schlaf wecken, der sie gefangen hielt.

›Du musst dich daran erinnern, wer du bist. Nur dann wirst du wissen, wie du mich wecken kannst‹, hatte sie als Letztes gesagt.

Aber wer war Will? Er wusste es selbst nicht.

Unbewusst griff er nach dem Medaillon, das an einer silbernen Kette von seinem Hals baumelte. Es war alles, was ihm von der Mutter, die er nie kennengelernt hatte, geblieben war.

Sein ganzes Leben lang hatte er geglaubt, dass er der Sohn eines Wahnsinnigen sei. Ein bemitleidenswertes Objekt, dessen Scheitern bereits feststand. Er hatte seine einzige Chance darin gesehen, eines Tages Berlin den Rücken zu kehren und irgendwo neu anzufangen. Jedoch hatte er sich nicht gerade Mühe in der Schule gegeben, um gute Noten und später einen guten Abschluss zu bekommen. Er hatte akzeptiert, dass er ein Versager war, ohne auch nur zu versuchen, etwas daran zu ändern.

Die Aussicht, dass er in Wahrheit mehr als das war, erschien ihm verlockend. Zu verlockend, um wahr zu sein?

Es war der Traum eines jeden Waisenkindes, dass es dort draußen irgendwo eine Familie gab, die nach einem suchte, und alles nur eine Verkettung unglücklicher Zufälle war. Doch für die meisten zerplatzte dieser Traum wie eine Seifenblase, wenn sie erwachsen wurden und erkannten, dass die Welt kein märchenhafter Ort war, an dem Wunder möglich waren. Sie sahen sich stattdessen der harten und ungeschönten Realität gegenüber, in der sich jeder selbst der Nächste war.

Will hatte sich für einen pessimistischen Realisten gehalten. Wenn man nichts von der Welt erwartete, konnte man auch nicht von ihr enttäuscht werden. Doch dieser seltsame Traum hatte irgendetwas in ihm verändert. Es war ein Gefühl, das er nicht benennen konnte. Als wäre in seinem Inneren eine Glocke geläutet worden, deren Klang immer noch nachhallte.

Er dachte an Schneewittchens himmelblaue Augen – sie hatte ihn angesehen, als würde sie ihn wirklich kennen. Vielleicht sogar besser als er sich selbst.

»Woran denkst du?«, riss Maggys Stimme ihn plötzlich aus seinen Gedanken. Sie hatte sich aufgesetzt und streckte sich müde, wobei ihr Nacken ein leises Knacken von sich gab und sie leidend das Gesicht verzog. »Noch eine Nacht auf dem Boden stehe ich nicht durch«, jammerte sie und schielte missmutig zu ihrem Bruder Joe, der mit geschlossenen Augen auf dem einzigen Bett im Raum lag.

Will war sich jedoch ziemlich sicher, dass er nicht mehr schlief – sein Schnarchen fehlte.

»Was machen wir jetzt?«, wollte er wissen, ohne auf Maggys Frage einzugehen. Er wollte ihr nicht – und erst recht nicht Joe – von dem Traum erzählen. Es war zu seltsam und zu verwirrend, um darüber reden zu können.

»Frühstück«, trällerte Maggy.

Doch noch ehe sie sich erheben konnte, kam von Joe ein trockenes »Haha!«. Er setzte sich mit zerzaustem Haar in dem Bett auf und funkelte schlecht gelaunt in Richtung seiner jüngeren Schwester. »Pappe steht nicht auf meinem Speiseplan.«

»Es sind Lebkuchen und Schokolade«, beharrte Maggy. »Probiere es doch einfach noch mal.« Sie sprach von den Tafeln, aus denen das Haus gebaut war.

»Was sollte das ändern? Ich habe es schon zwei Mal probiert und beide Male hat es nach Pappe geschmeckt. Auf ein drittes Mal kann ich gut verzichten«, maulte Joe.

Maggy stieß ein frustriertes Seufzen aus. »Vielleicht hat es für dich nur nach Pappe geschmeckt, weil du nicht daran geglaubt hast, dass es Lebkuchen ist. Aber nachdem du gestern fast von einem Vampir gebissen worden wärst, sollte es dir leichter fallen, auch an Häuser aus Süßigkeiten zu glauben.«

Joe verdrehte nur genervt die Augen und ließ sich zurück in das Kissen plumpsen. Will hatte auch seine Zweifel, dass es daran gelegen haben könnte, denn er selbst glaubte eigentlich noch weniger an Vampire, Lebkuchenhäuser und Märchen als irgendjemand sonst.

Eigentlich. Die Ereignisse der letzten Tage machten es ihm immer schwerer, nicht daran zu glauben.

»Wir könnten noch einmal versuchen, einen Weg aus dem Wald zu finden«, schlug er vor. Immerhin war es jetzt Tag und vielleicht hatten sie gestern etwas übersehen, das in der Dämmerung nicht zu erkennen gewesen war.

Keiner der beiden gab einen Ton von sich. Nicht einmal Joe erschien die Aussicht, erneut durch den Wald zu irren, verlockend.

»Oder wir gehen noch einmal zum Schloss«, meinte Maggy, woraufhin sie von Will und Joe gleichermaßen entsetzte Blicke erntete. Bevor jedoch einer der beiden sie fragen konnte, ob sie noch ganz dicht sei, setzte sie schnell hinterher: »Dort gibt es immerhin ein Bistro mit einer vollen Speisekammer.«

Joes Magen stimmte ihrem Vorschlag mit einem lauten Knurren zu, was Maggy triumphierend grinsen ließ.

»Irgendetwas müssen wir schließlich machen«, sagte sie schulterzuckend.

Will war nicht wohl bei dem Gedanken, zum Schloss zurückzukehren und somit in die Nähe des Vampirmädchens zu gelangen. Sie hatten erst gestern einem Mann beim Sterben zugesehen, der von ihm getötet worden war. Auch wenn Will die Erinnerung daran bei dem friedlichen Zwitschern der Vögel immer mehr wie ein böser Traum erschien.

Außerdem hatte Maggy recht: Es gab keinen Weg aus dem Wald. Sie landeten immer wieder auf der Lichtung, die zum Schloss führte. Wenn sie hier schon gefangen waren, konnten sie sich wenigstens mit etwas Essbarem stärken.

Als sie das Lebkuchenhaus verließen, empfing sie sogleich ein strahlend blauer Himmel. Sanftes Sonnenlicht drang durch die beinahe blätterlosen Äste der Bäume. Das Laub knisterte unter ihren Füßen, als sie losgingen. Es war nicht ganz so kalt wie die Tage zuvor, dennoch fröstelte Will, als er in den kahlen Baumkronen die großen Rabenvögel entdeckte. Sie starrten auf ihn hinab, folgten jedem seiner Schritte und stießen ein drohendes Krächzen aus, wenn er sie zu lange betrachtete.

Irgendetwas stimmte mit diesem Wald nicht.

Will überraschte dieser Gedanke selbst. Er begann, das Übernatürliche zu akzeptieren, anstatt es länger anzuzweifeln.

War das der Beginn des Wahnsinns oder steckte er bereits mittendrin? Hatte all das, was er in den letzten Tagen erlebt hatte, vielleicht nur in seinem Kopf stattgefunden?

Während sie am Tag zuvor am frühen Morgen aufgebrochen und erst am späten Nachmittag an das Schlosstor gelangt waren, kamen sie nun dort an, bevor die Sonne ihren höchsten Punkt erreicht hatte. Sie waren nicht spürbar schneller gelaufen. Es war eigentlich unmöglich und trotzdem war es so. Nichts, was in diesem Wald oder Königswinter geschah, ließ sich erklären.

Joe ging, ohne zu zögern, an dem verlassenen Ticketschalter vorbei, geradewegs zur Tür der Vorratskammer des Bistros. Er schnappte sich so viele eingeschweißte Waffelpackungen, wie er tragen konnte, und lud sie auf einem der Tische im Speisesaal ab. Dieser war komplett verglast, sodass man von dort direkt zum Schloss Drachenburg hinaufblicken konnte.

Die goldenen Verzierungen des Gemäuers glänzten im strahlenden Sonnenlicht, während sich das Gebäude geradezu majestätisch von dem blauen Himmel abhob. Es war ein beeindruckender Anblick, der jedoch bei den dreien ein bedrückendes Gefühl hinterließ, wenn sie an den toten Körper des Mannes dachten, der sich noch immer auf den Stufen zum ersten Stock befinden musste.

Joe wandte den Blick ab und riss die erste Verpackung auf. Sogleich strömte ihm der süße Duft der Waffeln in die Nase. Er schloss die Augen, als er den ersten Bissen nahm. Auch Will und Maggy bedienten sich, jedoch weitaus weniger genießerisch.

Für Joe waren die Waffeln wie die verbotene Frucht im Garten Eden. Unter normalen Umständen hätte er sich den Genuss des süßen Teiges niemals gestattet, aber jetzt, wo er keine andere Wahl hatte, hieß er ihn umso lieber willkommen. Ein Jahr Verzicht auf sämtlichen Zucker kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Es war fast, als wäre er mit einem alten Freund wieder vereint worden. Die Süßigkeiten waren früher sein einziger Trost gegen die Einsamkeit gewesen. Zwar hatte er eine Schwester und einen besten Freund, aber das war kein Ersatz für eine richtige Familie. Als Kind hatte er sich immer wieder gefragt, warum seine Eltern ihn und Maggy nicht gewollt hatten. Er wusste nichts von ihnen, weder ihre Namen noch warum sie ihre Kinder abgegeben hatten. Das Gefühl, nicht liebenswert zu sein, begleitete ihn insgeheim bis heute.

Joe hatte es geschafft, seinen Körper so sehr zu verändern, dass seine Mitmenschen anfingen, ihn zu bewundern. Aus dem pummeligen Jungen, den andere verspotteten, war ein beliebter Mädchenschwarm geworden. Trotzdem blieb tief in seinem Inneren das Gefühl, es nicht wert zu sein, geliebt zu werden.

Erst als er merkte, dass Will und Maggy aufgehört hatten, zu essen, ließ er selbst das Waffelstück sinken, nach dem er gerade gierig gegriffen hatte.

Beide blickten zum Schloss empor und schienen in den Fensterscheiben nach einem Hinweis auf die Existenz des Vampirmädchens zu suchen. Es rührte sich jedoch nichts.

»Wisst ihr, was mich wundert?«, fragte Maggy nachdenklich in die Runde.

»Nein, aber du wirst es uns sicher gleich sagen«, entgegnete Joe, dem es schwerfiel, den Blick von den Waffeln los zu reißen. Er hatte immer noch Hunger.

»Schaut euch mal die Fenster an. Es ist keinerlei Staub auf ihnen zu erkennen. Irgendjemand muss sie putzen …«

Joe und Will tauschten irritierte Blicke, bevor sie in lautes Gelächter ausbrachen.

»Mags, du machst dir gerade nicht ernsthaft Gedanken darüber, ob Schneewittchen die Fenster putzt, oder?«, zog Will sie prustend auf.

Maggys Wangen färbten sich rosig, als sie beschämt vom Schloss zu ihm blickte. Sie räusperte sich verlegen und versuchte, sich zu rechtfertigen. »Das ist doch eine berechtigte Überlegung! Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Vampir Wert auf geputzte Fenster legt. Aber wer kümmert sich dann darum?«

»Vielleicht Rumpelstilzchen«, feixte Will immer noch glucksend. Er bemerkte nicht einmal, dass er den Namen der Märchenfigur benutzte und nicht den der Person, die in Fleisch und Blut vor ihm gestanden hatte.

»Dann braucht er aber eine große Leiter, um bis nach ganz oben zu kommen«, alberte Joe mit ihm herum. »Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass jemand mit mangelnder Mund- und Körperhygiene Fenster putzt.«

Maggy verzog bei seinen Worten angeekelt das Gesicht. »Gibt es im Schloss wohl eine Dusche?«

Joe konnte gar nicht mehr aufhören, zu lachen. »Was sind das für komische Fragen? Willst du bei Schneewittchen anklopfen und fragen, ob du ihr Badezimmer benutzen kannst?«

Maggy ärgerte es, dass die Jungs sie nicht ernst nahmen. »Wir hätten alle eine Dusche nötig«, fauchte sie. »Weißt du, warum Schneewittchen dich nicht gebissen hat? Dein Mundgeruch hat ihr den Appetit verdorben!«

Das brachte die Jungs nur noch mehr zum Lachen. »Na dann brauchen wir uns ja keine Sorgen zu machen«, gluckste Will, der wirklich versuchte, sich zu beruhigen, um Maggy nicht weiter zu ärgern. Aber nach der Anspannung der letzten Tage tat es einfach gut, über etwas lachen zu können. Bedauerlicherweise ging es jedoch auf Maggys Kosten.

Sie verschränkte beleidigt die Arme vor der Brust, bevor sie ihren Stuhl geräuschvoll zurückschob und sich erhob. Ohne sich weiter zu erklären, lief sie auf das Drehkreuz zu, welches zum Schloss führte.

»Hey, wo willst du hin?«, rief Joe ihr halbherzig nach. Erst als sie tatsächlich durch das Drehkreuz ging und stur den Pfad hochlief, rappelte er sich von seinem Stuhl auf und lief zusammen mit Will seiner Schwester nach.

»Mags«, brüllte Will. Sorge schwang in seiner Stimme mit. »Komm zurück!«

Sie blieb tatsächlich stehen und wirbelte zu ihnen herum. »Für euch ist das vielleicht ein großer Scherz, aber ich will wissen, wer sich hier noch herumtreibt.« Sie wandte ihnen den Rücken zu und lief weiter.

»Maggy, bleib stehen!«, schrie Joe streng. Als sie nicht auf ihn hörte, setzte er hinterher: »Dann lass dich doch töten! Mir egal!«

Er war über ihre Sturheit genauso wütend wie sie über das Gelächter der Jungen. Joe glaubte jedoch nicht, dass sie wirklich so dumm war, sich noch einmal in das Schloss zu begeben. Alles, was sie wollte, war Aufmerksamkeit. Will tat ihr auch noch den Gefallen, indem er ihr nachrannte. Auch Joe folgte ihnen widerwillig, aber mit einigem Abstand.

Beim letzten Mal waren sie über den Seiteneingang mit dem Drachenkopf über der großen Flügeltür in das Innere gelangt. Dieses Mal steuerte Maggy jedoch auf den Haupteingang zu, den man nur über eine Treppe erreichen konnte. Sie versuchte allerdings nicht, die Türen zu öffnen, sondern drückte sich stattdessen die Nase an den Fensterscheiben platt.

Will trat zu ihr und wunderte sich insgeheim ebenfalls darüber, wie sauber das Glas war. Wenn Maggy es jedoch nicht angesprochen hätte, wäre es ihm nie aufgefallen.

Offiziell konnte sich jeder das Schloss als Besucher ansehen. Es gab einen Ticketschalter und ein Bistro. Demnach wäre es nichts Ungewöhnliches, wenn auch regelmäßig Putztruppen das Schloss reinigten. Aber inoffiziell lebte hier ein blutrünstiges Vampirmädchen, das Bistro war verlassen, Tickets brauchte man nicht zu kaufen und außer der armen Seele, die gestern ihr Leben auf den Stufen des Eingangsbereichs hatte lassen müssen, war ihnen hier noch niemand begegnet.

Nichts ergab einen Sinn, was Will immer mehr zu der Überzeugung brachte, dass dies hier nicht real war. Wenn es nicht in seinem Kopf stattfand, dann vielleicht in einer Parallelwelt. Vielleicht hatten sie einen Unfall gehabt, bei dem sie alle gestorben waren, und liefen jetzt als Geister durch die Welt, ohne es zu wissen. Seine Gedanken wurden immer wahnwitziger.

Noch mehr als das beunruhigte ihn jedoch, dass er sich von dem Schloss seltsam angezogen fühlte. Vermutlich war es weniger das Schloss, sondern mehr die Person, die in ihm lebte. Es war ein Drang, dem er nur schwer widerstehen konnte. Je näher sie dem Gebäude kamen, umso schlimmer wurde es. Mit ein bisschen Abstand war es ihm noch gelungen, sich mit albernen Späßen abzulenken, doch jetzt, wo er seine Hand auf das kühle Gemäuer legen konnte, sehnte er sich danach, in das Innere vorzudringen.

Wenn er von Schneewittchen sprach, nannte er sie meist nur ›das Vampirmädchen‹. Aber seit seinem Traum war sie für ihn wie zwei Personen in einer. Da war das bluthungrige Monster, dem er gestern leibhaftig gegenübergestanden hatte, und dann war da noch das traurige Mädchen, dem er in seinem Traum begegnet war. Sie waren ein und dieselbe und doch ganz unterschiedlich.

»Es wirkt alles so ruhig«, meinte Maggy nachdenklich, nachdem sie von Fenster zu Fenster gelaufen waren, ohne irgendetwas Ungewöhnliches zu entdecken. Wenn sie nicht gestern schon einmal hier gewesen wären, wäre ihr nie in den Sinn gekommen, dass hier irgendjemand außer ihnen sein könnte.

»Vielleicht schläft sie«, überlegte Will laut.

»Oder sie will uns glauben lassen, dass sie schläft, damit wir noch einmal dumm genug sind, uns zu ihr hineinzuwagen«, entgegnete Joe gereizt. Er stand bockig ein Stück von ihnen entfernt und machte damit deutlich, dass er diesem Schloss und seiner Bewohnerin nicht näher als nötig kommen wollte.

»Glaubt ihr, sie kann das Schloss nicht verlassen?«, fragte Maggy. Es würde erklären, warum sie warten musste, bis sich jemand zu ihr verirrte.

»Sie kann ihren Traum nicht verlassen«, murmelte Will gedankenverloren. Das war es, was sie ihm gesagt hatte. Sie hatte ihn gebeten, sie zu wecken. Nur wie?

»Der Fluch des Schlafenden Todes hält sie gefangen«, stimmte ihm eine bekannte Stimme zu.

»Ach, sieh an, wer uns mit seiner Anwesenheit beehrt«, höhnte Joe, als er Rumpelstein direkt neben sich erblickte.

Er war wie aus dem Nichts gekommen und würde sicher auch bald wieder verschwinden. Es war nicht seine Art, lange genug zu bleiben, um ihnen ihre Fragen zu beantworten.

Rumpelstein beachtete den blonden Jungen gar nicht, sondern stieg die Treppe zu Will und Maggy empor. »Solange die Sonne scheint, droht keine Gefahr von Schneewittchen. Sie liegt in ihrem Sarg aus Glas und schläft so friedlich wie die Prinzessin, die sie nach den grimmschen Lügen hätte sein sollen. Erst wenn die Sonne sinkt oder hinter den Wolken verschwindet, treibt der Hunger sie umher.«

Unbewusst hatten sowohl Will und Maggy als auch Joe zum Himmel emporgeblickt. Die Sonne stand an ihrem höchsten Punkt. Wenn Rumpelstein die Wahrheit sagte, drohte ihnen also wirklich keine Gefahr von Schneewittchen.

»Das ist deine Chance, Wilhelm«, sagte der kleine Mann mit drängendem Unterton. Er hatte sich direkt vor dem Jungen aufgebaut und schaute zu ihm empor. »Töte sie! Das ist der einzige Ausweg.«

Will blickte auf ihn hinab und sah in ihm mehr denn je den Bösewicht, den er aus dem Märchen kannte. In seinen Augen lag ein hinterhältiges Funkeln und sein Mund war zu einem verschlagenen Grinsen verzogen.

Die Guten verlangten nie nach dem Tod eines anderen. Was, wenn Rumpelstein und die Königin, die er noch nie gesehen hatte, ihn nur für ihre Zwecke missbrauchen wollten? Was, wenn nicht Schneewittchen die Böse war, sondern sie? Ganz wie es im Märchen stand.

Aber im Märchen stand nichts davon, dass Schneewittchen ein Vampir war. Sie hatte gemordet. Müsste das nicht im Interesse der Bösen liegen? Warum wollten sie wirklich, dass sie starb?

»Wie kann ich sie töten?«, fragte er, ohne irgendjemanden an seinen Gedanken teilhaben zu lassen. Er spürte jedoch Maggys entsetzten Blick auf sich. Sie hatte von Anfang an nicht daran geglaubt, dass Schneewittchen ein Monster war. Immer wieder hatte sie nach Entschuldigungen und Erklärungen für ihr Verhalten gesucht.

Woher nahm sie diese Gewissheit? Es konnte doch nicht nur an den Geschichten liegen, oder?

»Du musst sie pfählen, aber nicht in dieser Welt, sondern in ihrem Traum, denn dort lebt ihre Seele«, erklärte Rumpelstein ihm bereitwillig.

»Und wie gelange ich in ihren Traum?«, wollte Will wissen. Er würde niemanden einfach so töten, nicht einmal einen Vampir. Erst wollte er die ganze Geschichte erfahren – die wahre Geschichte.

»Es ist nicht ganz ungefährlich«, gab das Männlein zu und richtete seinen bohrenden Blick auf Maggy. »Mädchen, hast du noch den Apfel, den ich dir gegeben habe?«

Sie schloss ihre Hand um die goldene Frucht, die sie seit zwei Tagen mit sich herumtrug. Dann holte sie diese hervor. Im Sonnenlicht funkelte ihre Schale noch mehr als im Schatten des Waldes. Wie ein Stern leuchtete der Apfel in ihrer Hand.

»In diesem Punkt haben die Brüder nicht gelogen. Nur ein verzauberter Blutapfel überträgt den Fluch des Schlafenden Todes.« Er schaute zu Will. »Ein Biss von dem Apfel und du wirst so tief schlafen wie die Prinzessin.«

»Moment mal«, rief Joe aufgebracht und kam die Treppe emporgestürmt. »Du hast meiner Schwester einen vergifteten Apfel angeboten?«

»Sie hat nicht davon gekostet«, entgegnete Rumpelstein unbeeindruckt.

»Aber sie hätte es tun können! Vielleicht hätte ich selbst vor lauter Hunger in den Apfel gebissen! Oder Will«, brüllte Joe fassungslos. Seine wutverzerrte Miene hellte sich auf, als er erkannte, dass es genau das war, was der Zwerg beabsichtigt hatte. »Das war dein Plan! Will soll zu Schneewittchen in den Traum, und wenn es einen von uns beiden getroffen hätte, wäre es dir nur recht gewesen, damit Will einen doppelten Grund gehabt hätte, zu tun, was du von ihm verlangst.«

Er griff nach dem Kragen des Männleins, dieses wich ihm jedoch geschickt aus und wedelte tadelnd mit seinem krummen Zeigefinger. »Zügle deinen Zorn, junger Mann! Ich handle im Auftrag der Königin.«

»Was ist das für eine Königin?«, schnaubte Joe. »Jedes Kind weiß, dass die Stiefmutter von Schneewittchen eine böse Hexe ist.«

»Mutter«, verbesserte Rumpelstein ihn streng. »Sie ist ihre leibliche Mutter!«

»Was macht das für einen Unterschied?«, knurrte Joe verständnislos.

»Das ist ein gewaltiger Unterschied«, behauptete der Zwerg. »Eine Mutter liebt ihr Kind mehr als alles andere auf der Welt und würde es vor jeder Gefahr beschützen. Aber Schneewittchen ist eine Gefahr für die Welt. Meiner Königin bricht es das Herz, ihre eigene Tochter aufgeben zu müssen, um die Welt vor ihr retten zu können.«

»Warum muss Schneewittchen sterben?«, wollte nun auch Maggy wissen. »Sie mag ein Vampir sein, aber sie könnte lernen, ihren Blutdurst zu kontrollieren. Nur weil sie am Leben ist, muss die Welt nicht direkt untergehen.« Wieder ergriff sie Partei für die Prinzessin, die sie nur aus dem Märchen kannte.

»Du verstehst nicht, wovon du redest«, fauchte Rumpelstein. »Der Tag der Entscheidung ist nah und wenn Schneewittchen bis dahin noch am Leben ist, wird sie uns alle in den Untergang stürzen.«

»Wann ist der Tag der Entscheidung?«, forderte Maggy, zu erfahren. Wenn sie etwas wissen wollte, konnte sie genauso hartnäckig wie ihr Bruder sein.

»Ist das nicht offensichtlich?«, entgegnete der Zwerg bestürzt. »Es ist der einunddreißigste Oktober! Die Nacht der Geister.«

»Halloween?«, fragte Joe ungläubig. Bis dahin waren es noch etwa zwei Wochen.

»Nenn es, wie du willst«, schimpfte das Männlein zornig. »Schneewittchen muss vorher sterben.«

Für einen kurzen Augenblick herrschte Schweigen. Ein genaues Datum zu haben, machte die Sache realer. Zwei Wochen konnten sowohl einen langen als auch einen kurzen Zeitraum darstellen. Für Maggy war es jedoch viel wichtiger, zu erfahren, was mit Will geschehen würde, wenn er in den Apfel biss.

»Wenn Will vom Fluch des Schlafenden Todes getroffen wird, wie sollen wir ihn dann wieder wecken?«, hakte sie nach.

»Er wird von selbst erwachen, wenn er sein Schicksal erfüllt hat«, entgegnete Rumpelstein.

»Und wenn nicht?«, krächzte sie mit hoher, ängstlicher Stimme. Ihr Herz zog sich bei dem bloßen Gedanken daran vor unerträglichem Schmerz zusammen.

»Dann sind wir alle verloren«, schloss Rumpelstein sehr nüchtern.

Will, der die ganze Zeit nichts gesagt, sondern nur ihrem Wortgefecht gelauscht hatte, holte tief Luft, bevor er leise sagte: »Dann bleibt mir wohl keine andere Wahl.«

Joe drängte sich an Maggy und Rumpelstein vorbei und packte seinen besten Freund schockiert an den Schultern. »Du glaubst den ganzen Mist doch nicht etwa, oder? Hast du denen mal richtig zugehört? Die reden von Schneewittchen! Das ist eine Märchenfigur!«

»Wir haben sie gestern selbst gesehen«, erinnerte Will ihn.

Nicht nur das, er hatte sie auch in seinem Traum getroffen, aber das verschwieg er lieber.

Joe hatte die Begegnung mit dem Vampirmädchen keinesfalls vergessen, aber wenn er sich weigerte, zu glauben, dass all dies real war, brauchte er sich auch nicht um seinen Freund zu sorgen. Die Alternative war zu beängstigend. »Selbst wenn, was geht uns das an? Wir sind drei Jugendliche, die ein Abenteuer erleben wollten, mehr nicht. Lass uns nach Hause gehen.«

Rumpelstein schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Das mag für dich gelten, aber Will ist etwas Besonderes! Er ist Teil der Geschichte. Er ist es, der uns alle retten wird.«

Will verzog mitleidig das Gesicht. Er hätte gern weiter seine Augen verschlossen, so wie Joe, aber er hatte begriffen, dass sie auf diese Weise niemals aus Königswinter fortkommen würden. Er musste sich auf den Wahnsinn einlassen, um ihn bekämpfen zu können. »Joe, wir haben es doch versucht.«

»Dann versuchen wir es weiter. Wir haben einen Weg in den Wald gefunden, dann finden wir auch wieder einen hinaus.« Die Verzweiflung schwang in seiner Stimme mit. Er klammerte sich an die Logik, an einem Ort, wo es keine gab.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739427881
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Oktober)
Schlagworte
Rumpelstilzchen Hexe Märchenadaption Märchen Schneewittchen Königin Blaubart Mythen Spiegel Romance Fantasy

Autor

  • Maya Shepherd (Autor:in)

Maya Shepherd wurde 1988 in Stuttgart geboren. Zusammen mit Mann, Kindern und Hund lebt sie mittlerweile im Rheinland und träumt von einem eigenen Schreibzimmer mit Wänden voller Bücher. Seit 2014 lebt sie ihren ganz persönlichen Traum und widmet sich hauptberuflich dem Erfinden von fremden Welten und Charakteren. Im August 2015 gewann Maya Shepherd mit ihrem Roman Märchenhaft erwählt den Lovely Selfie Award 2015 von Blogg dein Buch.
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Titel: Der Schlafende Tod