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Der goldene Apfel

von Maya Shepherd (Autor:in)
80 Seiten
Reihe: Die Grimm-Chroniken, Band 5

Zusammenfassung

Tränen verschleierten ihren Blick, als sie ihm den goldenen Apfel aus der Hand nahm. Der Schein des Feuers spiegelte sich in seiner glänzenden Oberfläche. »Bis bald«, flüsterte sie, bevor sie den Mund öffnete und in die Frucht biss. Das Stück blieb ihr im Hals stecken. Sie rang nach Atem, bevor sie die Augen schloss und ihr die Knie wegsackten. Rumpelstilzchen hatte gesagt, dass man Schneewittchen nur in ihren Träumen töten könne. Will betete, dass er recht behielt. Sie durfte nicht tot sein.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Was zuvor geschah

1593

Mary und Dorian durchqueren zusammen mit Kapitän Blaubart und seiner Mannschaft die Sieben Weltmeere. Eines Nachts beginnen die Sirenen zu singen, um die Seemänner in den Tod zu locken. Diese wissen sich zu helfen, indem sie sich Wachs in die Ohren stecken. Dieser Trick funktioniert jedoch bei Dorian nicht, da sein vampirisches Gehör die Melodie dennoch hört. Deshalb bittet er Mary, ihn einzuschließen, damit er niemandem etwas tun kann.

Der Gesang hat auf Mary selbst keinen Einfluss, da sie eine Frau ist. Sie betritt das Deck, um die Sirenen zu bitten, mit dem Singen aufzuhören und sie weiter segeln zu lassen. Überraschenderweise wissen die Sirenen, wer Mary ist, und raten ihr, sich ihnen anzuschließen, indem sie ihre Seele an die Meerhexe verkauft. Nicht nur ihr selbst drohe ein schreckliches Schicksal, sondern der ganzen Menschheit. Um das zu verhindern, müsse Mary sich umbringen. Außerdem warnen die Sirenen sie vor Dorian, der den Grund kennen würde, warum sie beide nicht zusammen sein dürften, diesen aber vor ihr geheim halte.

Ehe Mary weitere Fragen stellen kann, gelingt es Dorian, aus seinem Gefängnis auszubrechen. Er hat jede Kontrolle über seinen Körper verloren und richtet unter Deck ein schreckliches Blutbad an. Als er über die Hälfte der Schiffsmannschaft getötet hat, will er auch auf Mary losgehen. Dieser gelingt es aber, zu ihm durchzudringen. Schockiert von dem, was er angerichtet hat, stürzt sich Dorian in die Fluten und lässt Mary allein zurück.

Die verbliebenen Seemänner geben Mary die Schuld an ihrem Unglück und beschuldigen sie der Hexerei. Sie wollen sie töten, doch Kapitän Blaubart behauptet, dass er sich selbst um ihre Bestrafung kümmern wolle, und führt sie in seine Kajüte.

Dort offenbart er Mary seine wahre Identität: Er ist der Teufel. Er droht Mary, sie und auch Dorian zu töten, wenn sie nicht ihre Seele an ihn verkauft. Im Gegenzug würde er ihnen ein Boot schenken, das niemals sinken kann, sodass sie weiter nach dem Turm der Erdenmutter suchen können. Da Mary keinen anderen Ausweg sieht, willigt sie ein.

2012

Während Will durch den Fluch des Schlafenden Todes in Schneewittchens Träumen gefangen ist, bewachen Maggy und Joe seinen Körper in Schloss Drachenburg. Rumpelstein behauptet, Maggy etwas Wichtiges zeigen zu wollen, und führt sie in eine magische Bibliothek. Dort entdeckt sie ein Buch, welches den Titel ›Die Grimm-Chroniken‹ trägt. Darin ist ihre Geschichte niedergeschrieben. Alles, was bisher geschehen ist, findet sie dort Wort für Wort wieder. Verängstigt flieht sie aus dem Raum und lässt das Buch zurück.

Am Abend erzählt sie ihrem Bruder von der Entdeckung. Als sie am nächsten Tag noch einmal einen Blick in die ›Grimm-Chroniken‹ werfen möchte, kann sie es jedoch nicht mehr finden. Rumpelstein hat sie reingelegt, denn er wusste, dass jeder Mensch dieses Buch nur einmal finden und lesen kann. Maggy hat somit ihre Chance vertan. Sie reagiert wütend und vorwurfsvoll, dabei erfährt sie, dass auch Rumpelstein nicht aus eigenen Motiven handelt. Jemand hat ihm seinen Namen gestohlen und erpresst ihn.

Zwischen Traum und Wirklichkeit, 1812

Will gelangt in seinem Traum in ein unterirdisches Badezimmer, in dem Königin Mary in Blut badet. Auf dem Fliesenboden liegt der nackte Leichnam einer jungen Frau, die ihr zum Opfer gefallen ist.

Es ist eine Erinnerung Margerys, die ebenfalls anwesend ist. Um Will dazu zu bringen, sich daran zu erinnern, wer er wirklich ist, verlässt sie ihr Versteck und stellt sich mutig ihrer Mutter entgegen, die sie töten möchte. Doch anders als in den vorherigen Träumen, kann die Königin dieses Mal auch Will sehen und greift ihn anstatt ihrer Tochter an. Dabei reißt sie ihm seine Kette mit dem Medaillon vom Hals. Er wird von einem geheimnisvollen Fremden gerettet, der durch ein Pusten in seine Pfeife den Raum in undurchsichtigen grünen Nebel hüllt.

Als dieser sich wieder lichtet, sind die Königin und Schneewittchen verschwunden. Der Fremde gibt sich als Wills Vater Ludwig zu erkennen. Er offenbart Will, dass sein richtiger Nachname nicht Zimmer, sondern Grimm lautet. Er ist einer der beiden Autoren, welche die Märchen verfasst haben.

Gemeinsam machen sie sich auf die Suche nach Margery, um diese vor ihrer Mutter zu retten. Ihre Spur führt sie in den Wald, wo die Jäger der Königin die Verfolgung aufnehmen. Sie trennen sich, um es ihnen schwerer zu machen.

Will erreicht die umgestürzte Kutsche der Königin. Dort findet er Schneewittchen, doch ihre Mutter ist verschwunden. Zusammen suchen sie nach Ludwig und finden ihn eingekreist von den königlichen Jägern, der wölfischen Leibgarde der Königin und Mary selbst. Schneewittchen gibt sich zu erkennen, um Will und seinen Vater zu schützen. Dieser besteht jedoch darauf, gegen die Königin zu kämpfen, in der Hoffnung, sie dabei zu besiegen.

In seinem Todeskampf entlockt Mary ihm die Wahrheit, dass er nicht Wills Vater, sondern sein älterer Bruder Jacob ist. Ludwig ist nur sein zweiter Vorname. Gerade als die Königin zum tödlichen Schlag ausholen will, wirft sich einer der Jäger vor Jacob und fängt so den Schwerthieb ab. Als seine Kapuze zurückfällt, blickt Will in sein eigenes Gesicht. Er war nicht nur ein Märchenerzähler, sondern auch ein Jäger der Königin.

Diese Erkenntnis beendet den Traum und holt ihn in die Realität zurück. Er erwacht in Schloss Drachenburg der heutigen Zeit, ebenso wie Schneewittchen. Rumpelstein ist ebenfalls anwesend und informiert sie darüber, dass die Königin Maggy und Joe gefangen hat. Sie wird ihnen etwas antun, wenn Will und Margery sich ihr nicht freiwillig ausliefern.

Schneewittchen fühlt sich schuldig, weil Wills Freunde ihretwegen nun in Gefahr schweben. Sie möchte ihrer Mutter allein gegenübertreten und ihr geben, was sie verlangt: ihren Tod. Nur so kann sie andere vor sich schützen. Will lässt dies jedoch nicht zu. Jetzt, wo er wieder weiß, wer er war, erinnert er sich auch daran, was er einmal für die Prinzessin empfunden hat. Er drückt seine Gefühle in einem Kuss aus, bevor sie zusammen aufbrechen, um Maggy und Joe zu befreien.

Das Lazarus-Bad

Irgendwo in den Sieben Weltmeeren, Januar 1594

Das kleine Boot trieb träge über die ruhige See. Kaum dass es außer Sichtweite der Fahrender Tod war, fand Dorian den Weg zu mir zurück. Im ersten Moment war ich unglaublich erleichtert, ihn wiederzusehen, dann fragte ich mich jedoch, warum er nicht früher aufgetaucht war. Er hatte mich mit Blaubart und seiner Mannschaft allein gelassen, auch wenn er mir versichert hatte, immer in der Nähe zu bleiben. Er war nicht da gewesen, als ich ihn gebraucht hätte.

»Wo bist du gewesen?«, fuhr ich ihn an, kaum dass er Platz genommen hatte.

»Nicht weit«, entgegnete er mir, ohne sich weiter zu erklären.

Offenbar war er zu weit weg gewesen, denn sonst hätte ich meine Seele nicht an den Teufel verkaufen müssen. Zum ersten Mal empfand ich Wut auf ihn. Es lag nicht an dem, was ich mich gezwungen gesehen hatte, zu tun. Selbst wenn er da gewesen wäre, hätte er nichts daran ändern können. Vielmehr verletzte mich sein Schweigen. Er war mir gegenüber nicht ehrlich und behielt so viel für sich, als wäre ich seines Vertrauens nicht würdig.

»Wie bist du an das Boot gekommen?«, fragte er mich schließlich. Entweder bemerkte er meinen Zorn nicht oder er ignorierte ihn absichtlich.

»Die Mannschaft wollte mich nicht mehr auf ihrem Schiff haben«, sagte ich leichthin. »Blaubart brachte es nicht über sich, mich von Bord zu stoßen, und hat mir deshalb das Beiboot überlassen.« Es war erstaunlich, wie leicht mir diese Lüge über die Lippen ging. Ich konnte ihm dabei sogar in die fast schwarzen Augen sehen.

Ich erzählte ihm nichts von meiner verkauften Seele. Dies war nun mein Geheimnis. Es tat einerseits weh, etwas vor ihm zurückzuhalten, da es meiner Vorstellung von einer harmonischen Beziehung widersprach. Andererseits verlieh es mir auch ein Gefühl von Ebenbürtigkeit.

Er nickte nur und schien nicht einmal für einen Moment an meinen Worten zu zweifeln, dabei war Blaubart ihm sicher nicht als Mann der Gnade erschienen. Vielleicht schloss er es einfach aus, dass ich in der Lage sein könnte, ihn zu belügen.

Eine dichte Nebelbank hüllte uns ein. Zu Beginn waren wir noch euphorisch gewesen und hatten kräftig die Ruder geschwungen, in der Hoffnung, schon bald den rettenden Turm der Erdenmutter zu entdecken. Schwielen bedeckten meine Hände, die Arbeit nicht gewohnt waren. Selbst als der Nebel aufgezogen war, hatten wir noch nicht aufgegeben, sondern immer weiter gerudert. Wir hatten geglaubt, dass der Nebel sich mit der aufgehenden Sonne verziehen würde. Doch wir hatten seit sieben Tagen keinen Sonnenaufgang mehr erlebt. Nach dem dritten Tag hatten wir die Ruder sinken lassen.

Das Wetter war grau, düster und trist. Dicke Wolken bedeckten den Himmel. Ein Unterschied zwischen Tag und Nacht war kaum zu erkennen. Die Jahreswende war an uns vorübergegangen, ohne dass wir Notiz von ihr genommen hatten.

Wir mussten einsehen, dass, selbst wenn der Turm sich in unserer Nähe befand, wir ihn durch die Nebelwand nicht würden sehen können. Wir waren wie in einer Blase gefangen, die uns vor der Welt verschloss. Es gab nur noch Dorian und mich. So verlockend ich die Vorstellung zuvor gefunden hatte, umso mehr quälte sie mich nun. Unsere Gespräche, die ohnehin nie sehr ausführlich gewesen waren, verstummten. Wir hatten einander nichts mehr zu sagen, denn alles, was uns auf der Zunge lag, hätte die Situation nicht besser gemacht.

Ich musste immer wieder daran denken, dass er mich auf der Fahrender Tod einfach meinem Schicksal überlassen hatte. Er war nicht in der Nähe geblieben, wie er es versprochen hatte. Das perfekte Bild, das ich bis dahin von ihm gehabt hatte, begann zu bröckeln.

Schon häufig hatten wir geglaubt, durch den Nebel am Horizont die Umrisse von Schiffen zu erkennen. Wir hatten unsere letzten Kraftreserven mobilisiert und versucht, sie zu erreichen, aber ganz gleich, wie kräftig wir ruderten, sie kamen einfach nicht näher. Deshalb waren wir dazu übergegangen, sie zu ignorieren. Sie waren nicht mehr als Halluzinationen, die dazu führen würden, dass wir den Verstand verloren.

Dorian verschwand oft stundenlang im Meer. Er tauchte hinab in das kalte Wasser und jagte Fische. Er trank ihr Blut, um bei Kräften zu bleiben, und brachte mir ihre Körper. Ich würgte den glitschigen Fisch herunter und wusste, dass ich nie wieder einen Bissen Fisch würde essen können, wenn wir es jemals schaffen sollten, dieser Hölle zu entkommen. Jedoch sah es nicht danach aus, als ob unsere Irrfahrt bald ein Ende finden würde.

Die Sirenen waren uns nicht mehr begegnet. Sie hatten ihr Interesse an mir verloren, jetzt, wo ich keine Seele mehr hatte, die ich der Meerhexe zum Tausch hätte anbieten können.

Zweifel schlugen ihre Wurzeln in mein Herz. Wenn Dorian mir stumm gegenübersaß und meinen Blick mied, fragte ich mich, ob unsere Liebe so groß war, wie ich geglaubt hatte. Sie hatte uns vom ersten Tag an nichts als Schmerzen bereitet.

Mein Leben ohne ihn wäre einsam und unerfüllt gewesen. Jeder Tag wäre wie der andere gewesen. Tage wären zu Jahren geworden. Es wäre ein sicheres Leben gewesen. Mehr nicht.

Als ich mit ihm geflohen war, hatte ich von einer Zukunft geträumt, in der wir glücklich sein könnten. Unser Lachen sollte die Tage füllen. Mir war klar gewesen, dass wir dafür einen Preis würden zahlen müssen, aber ich hatte nicht damit gerechnet, wie hoch er sein würde. Ich hatte meine Seele an den Teufel verkauft.

Wofür? Für ein Dahinvegetieren auf dem Ozean und das Verspeisen von eiskaltem Fisch? Das war kein Leben, sondern eine Bestrafung.

Ich blickte zu Dorian, der sein Gesicht in seinen Händen vergraben hatte. Er fühlte sich schuldig, weil es ihm nicht gelang, uns aus diesem Nebel hinauszumanövrieren. Ich sehnte mich danach, dass er mich in die Arme nahm und mir ins Ohr hauchte, dass alles gut werden würde. Aber er tat es nicht. Er hielt sich von mir fern. Bereute er bereits, mich je getroffen zu haben?

»Dorian«, sprach ich ihn leise an. Meine Stimme war eingerostet und ich erkannte ihren Klang kaum wieder. Wir sprachen oft viele Stunden nicht miteinander, manchmal sogar einen ganzen Tag nicht. »Wir könnten noch einmal versuchen, zu rudern«, schlug ich ihm vor, um etwas zu tun zu haben. Wenn meine Hände und Arme von der Anstrengung schmerzten, könnte ich mir weniger den Kopf darüber zerbrechen, wie aussichtlos unsere Situation war.

Er hob den Kopf und blinzelte mir kraftlos entgegen. »Was soll das bringen? Das Schicksal entscheidet darüber, wann oder …« Er stockte. Er hatte ob sagen wollen. »… wann wir den Turm finden.« Ob wir den Turm finden.

»Wir könnten unser Schicksal selbst in die Hand nehmen«, entgegnete ich und versuchte, etwas von dem Feuer in seinen Augen zu entfachen, das ich früher darin hatte lodern sehen.

Meine Worte schienen ihn zu verwundern, aber er sagte nichts dazu.

Sein Schweigen machte mich wütend und ich begann, Dinge anzusprechen, die ich besser hätte ruhen lassen. »Die Sirenen haben mir gesagt, dass es einen Grund gebe, warum wir nicht zusammen sein sollten. Kennst du diesen Grund?« Meine Stimme war schneidend.

Ich wusste, dass er diese Art von Fragen verabscheute, und gerade deshalb stellte ich sie nun. Er hatte versprochen, mir die Wahrheit zu sagen, wenn die Zeit dafür gekommen war. Was, wenn sie nie kam? Was, wenn wir hier auf den Sieben Weltmeeren starben? Ich wollte wenigstens wissen, warum ich starb.

Daran, wie er zusammenzuckte, erkannte ich, dass ich einen wunden Punkt bei ihm getroffen hatte. Er schüttelte dennoch den Kopf. Lügner.

»Verrat ihn mir«, forderte ich ihn heraus.

Meine Worte waren wie Hiebe. Es lag nichts Sanftes mehr in ihnen. Ich wollte ihn verletzen, so wie er mich mit seinem Schweigen strafte.

Er hob den Blick und seine Augen baten um Verzeihung. Er litt unter dem Geheimnis, das er entschlossen hatte, für sich zu bewahren. »Mary«, setzte er schwach an, doch plötzlich weiteten sich seine Augen. Etwas hinter mir hatte seine Aufmerksamkeit erweckt.

Ich fuhr herum und entdeckte ein großes Segelschiff – nicht weit von uns. Aber dennoch zu weit, um es zu erreichen. Es war nicht real.

»Das ist nur eine weitere Halluzination«, entgegnete ich.

Versuchte er, sich davor zu drücken, mir endlich die Wahrheit zu sagen? Ich war es leid, mich von ihm vertrösten zu lassen. Die Zeit des uneingeschränkten Vertrauens war vorüber. Ich hatte keine Kraft mehr, um blind zu vertrauen.

»Nein, dieses nicht«, sagte er bestimmt. »Ich kenne dieses Schiff. Es gehört meinem Vater!«

Er glitt geschmeidig von dem einen Ende des Bootes an meine Seite. Obwohl wir sieben Tage allein auf dem Meer verbracht hatten, war es das erste Mal, dass er mir so nah kam. Hinter mir ging er in die Hocke. Sein Gesicht war nur Zentimeter von meinem entfernt.

»Siehst du die Galionsfigur?«, fragte er mich, wobei sein Atem meine Wange streifte.

Ich folgte seinem ausgestreckten Arm und kniff die Augen zusammen, um etwas erkennen zu können. Das Schiff war immerhin noch weit weg und ich besaß nicht die übernatürlichen Kräfte eines Vampirs. Dennoch erkannte ich, was er meinte.

»Es ist ein Drache«, entfuhr es mir schockiert.

Dorian nickte. »Er hat uns gefunden.«

Obwohl uns die Gefahr nun näher war als in den ganzen vergangenen Tagen, wirkte Dorian plötzlich wieder stark. Er hatte ein Ziel vor Augen, gegen das er ankämpfen konnte.

Seine Stärke erreichte mich leider nicht. Ich hatte Angst. »Wird er uns töten?«

»Vielleicht«, gab er zu. »Vielleicht aber auch nicht. Er will in jedem Fall verhindern, dass wir zusammen sind.«

Seine Worte erinnerten mich an meine Frage. Doch sie erschien mir in diesem Augenblick, wo Dracula uns so nah war, bedeutungslos. Das Segelschiff hatte jedoch noch nicht Kurs auf uns genommen, denn es trieb ruhig im Wasser.

»Warum greift er uns nicht an?«, wunderte ich mich.

»Er kann uns durch den Nebel nicht sehen«, entgegnete Dorian mir, worüber ich meine Stirn runzelte.

»Aber wir sehen sein Schiff doch auch!«

»Vielleicht dient der Nebel einem höheren Zweck, als uns nur die Sicht zu rauben«, überlegte Dorian laut. »Er schützt uns.«

Seine Worte erfüllten mich. Wenn sie wahr waren, bedeutete es, dass das Schicksal sich nicht gegen uns verschworen, sondern uns nur geprüft hatte. Wir befanden uns immer noch auf dem uns vorherbestimmten Weg. Es war nicht alles umsonst gewesen.

»Das bedeutet, es gibt Hoffnung für uns.«

Dorian erhob sich. Seit sieben Tagen stand er zum ersten Mal aufrecht vor mir und drückte seine Brust durch, sodass sich sein muskulöser Oberkörper durch sein feuchtes Leinenhemd abzeichnete. Endlich konnte ich in ihm wieder den willensstarken Mann erkennen, in den ich mich unsterblich verliebt hatte.

Seine Worte jagten mir jedoch Angst ein.

»Ich werde zu dem Schiff schwimmen und es für uns erobern.«

»Nein!«, stieß ich bestürzt aus. »Du weißt nicht, wie viele Männer dein Vater bei sich hat. Du kannst nicht allein gegen sie alle kämpfen. Sie werden dich töten!«

Wenn er sich fürchtete, ließ er es sich zumindest nicht anmerken. »Ich muss«, widersprach er mir. »Es ist unsere einzige Chance. Das Schiff kann uns überall hinbringen. Vielleicht wird es uns damit sogar gelingen, den Turm der Erdenmutter zu finden.«

Er war entschlossen. Das Kämpfen lag ihm im Blut und vermittelte ihm das Gefühl, etwas ausrichten zu können. Er besaß nicht die Geduld, um tagelang auszuharren und darauf zu hoffen, dass sich unser Schicksal von selbst fügte. Ganz im Gegenteil: Er ging daran zugrunde.

Vor wenigen Minuten hatte er noch völlig entkräftet mir gegenüber in dem Boot gelegen. Er war mir in diesem Zustand so fremd gewesen, dass es mir sogar schwergefallen war, mich daran zu erinnern, was ich an ihm liebte. Ich wollte nicht, dass er wieder so wurde. Aber ich konnte auch nicht zulassen, dass er sein Leben aufs Spiel setzte.

»Ich komme mit dir«, sagte ich und legte in die vier Worte meine ganze Willenskraft.

Er würde mich nicht davon abbringen können. Ich konnte nicht in diesem kleinen Ruderboot bleiben und darauf warten, dass Dorian entweder zu mir zurückkehrte oder ich für immer in den Weiten des Ozeans verschollen war.

Ich sah ihm an, wie er mir instinktiv widersprechen wollte, doch irgendetwas in meinen Augen hielt ihn davon ab. Er hatte den Mund bereits geöffnet, aber schloss ihn dann wieder.

»In Ordnung«, stimmte er zu, wenn auch nur widerwillig.

Wenn Dorian allein gewesen wäre, hätte er deutlich leichter das Segelschiff seines Vaters emporklettern können. So musste er jedoch auf mich Rücksicht nehmen. Nicht nur das – er musste mich auf seinem Rücken tragen, da ich es sonst ohne Strickleiter gar nicht erst auf das Schiff geschafft hätte. Dorians übermenschliche Kräfte erlaubten es ihm, aus dem Stand heraus von unserem Ruderboot auf das Deck des Seglers zu springen. Dabei war er so geschickt, dass unser Aufprall nicht einmal ein Geräusch verursachte.

Es herrschte Totenstille. Keiner war zu sehen. Man hätte meinen können, das Schiff wäre verlassen. Als Dorian mich von seinem Rücken ließ, zuckte ich bei dem Laut, den meine Stiefel auf dem Boden machten, zusammen. Ich hielt die Luft an, weil ich es nicht wagte, zu atmen. Der Nebel, der uns umschloss, saugte jedes Geräusch in sich auf. Er war so dicht, dass man von dem einen Ende des Schiffes nicht zum anderen blicken konnte.

»Wo sind alle?«, flüsterte ich so leise, dass ich meine eigenen Worte kaum hören konnte.

»Sie schlafen«, entgegnete Dorian, der schon viele Male selbst Passagier auf diesem Schiff gewesen war. Er nahm meine Hand und zog mich mit sich zu dem steilen Abgang, der unter Deck führte.

Es erschien mir seltsam, dass eine ganze Mannschaft sich zum Schlafen hingelegt haben sollte, ohne auch nur einen Wachmann zurückzulassen. Vielleicht hatten die Sirenen das Schiff genauso heimgesucht wie die Fahrender Tod. Wenn alle Vampire so empfindlich auf den Klagegesang reagierten, war unser Problem vielleicht durch die Hilfe der Sirenen bereits gelöst und es war niemand mehr übrig, gegen den wir kämpfen mussten. Oder vor dem wir fliehen mussten.

Wenn Dracula tot wäre, müssten wir keinen unauffindbaren Turm suchen, sondern könnten nach Hause zu meinen Eltern zurückkehren. Mein Vater mochte einst ein Vampirjäger gewesen sein, aber er würde erkennen, dass von Dorian keine Gefahr ausging. Wir könnten ein glückliches Leben führen.

Die Stufen knarrten, als wir vorsichtig unter Deck stiegen. Auch hier waren die Decken tief, jedoch gerade noch hoch genug, damit Dorian stehen konnte. Das Bild, das sich uns bot, erschütterte mich. Das gesamte Unterdeck stand voller Särge. Es war eine Ruhestätte der Toten.

Als Dorian mir gesagt hatte, dass die Besatzung schlafen würde, hatte ich irrtümlicherweise angenommen, sie würden in Hängematten ruhen, so wie alle Seemänner es taten. Aber natürlich galten für Vampire andere Gesetze.

Selbst die Deckel der Särge waren zugeklappt.

Dorian schritt unbeirrt auf den ersten von ihnen zu.

»Halt«, zischte ich alarmiert. »Wer immer in diesem Sarg ruht, wird er nicht erwachen, wenn du den Deckel öffnest?«

Ein verschmitztes Lächeln glitt über seine schönen Gesichtszüge. Er war hier, wo die Gefahr uns im Nacken saß, wieder ganz der Alte. Er war wieder mein Dorian. Ohne mir zu antworten, klappte er die Totenkiste auf.

»Komm zu mir«, forderte er mich auf. »Wirf einen Blick hinein.«

Zögernd trat ich näher und war erstaunt von dem, was ich im Inneren erblickte. Ein bleiches, scheinbar lebloses Gesicht war zu erkennen. Der Rest des Körpers war von einer undefinierbaren Flüssigkeit verdeckt.

»Was ist das?«, fragte ich flüsternd. Obwohl niemand hier war, der uns hören konnte, fühlte ich mich beobachtet und hatte Angst. So als ob jeden Moment die Person die Augen aufreißen und mich packen könnte.

»Erkennst du es nicht?«, entgegnete Dorian mir. »Du selbst standest schon einmal in einer ganz ähnlichen Mischung. Asche, Schnee …«

»… und Blut«, vollendete ich seinen Satz. Jetzt erkannte ich die einzelnen Bestandteile. Das Eis war geschmolzen und schwamm nur noch als vereinzelte Klumpen in der dunkelroten Brühe, die mit Asche bestäubt war. Diese drei Elemente hätten den Vampir in mir hervorrufen sollen.

Schwarz, Weiß und Rot.

Doch warum schliefen die Vampire in dieser Flüssigkeit?

Dorian las die Frage in meinen Gedanken. »Das ist ein Lazarus-Bad. Ein Vampir, der sich darin zur Ruhe legt, schläft für drei Tage und Nächte durch. Nichts und niemand kann ihn wecken, solange er sich in dieser Flüssigkeit befindet. Danach erwacht er gestärkt. Für einen Menschen wäre dasselbe Gemisch jedoch tödlich.«

Ich starrte ihn skeptisch an. »Warum gehen sie dieses Risiko ein? Wenn alle Vampire schlafen, wer bewacht dann ihr Schiff?«

»Mein Vater wird gewiss Vorkehrungen getroffen haben, doch um diese können wir uns später kümmern«, meinte Dorian und ging zielstrebig zum nächsten Sarg, den er öffnete. Er warf nur einen kurzen Blick hinein, bevor er sich dem nächsten zuwandte.

»Was suchst du?«, fragte ich ihn, wobei die Frage eher hätte lauten müssen: Wen suchst du?

Die Antwort war offensichtlich. »Meinen Vater«, erwiderte Dorian. »Ich werde ihn töten.«

Sosehr mich die Vorstellung, dass sämtliche Passagiere des Schiffes tot sein könnten, zuvor beflügelt hatte, so sehr schockierte mich nun die kalte Entschlossenheit in Dorians Stimme. Es war etwas anderes, wenn sein Vater durch den Gesang der Sirenen zu Tode gekommen wäre, als von seinem eigenen Sohn das Herz aus der Brust gerissen zu bekommen. Dorian hatte ihn nicht schon immer gehasst. Bevor er mir begegnet war, hatte er in seinem Auftrag gehandelt. Es musste eine Zeit gegeben haben, in der sie sich nahegestanden hatten. Nur meinetwegen war daraus Hass geworden.

»Du musst das nicht tun«, sagte ich zu ihm, während er einen Sarg nach dem anderen öffnete.

»Er würde niemals aufhören, uns zu jagen«, widersprach er mir.

»Wir finden den Turm der Erdenmutter und fliehen in eine andere Welt. Dort kann dein Vater uns nichts mehr anhaben«, entgegnete ich. Es war ungewiss, ob wir unser Ziel je erreichen würden, aber es war ein Weg, den wir beschreiten konnten, ohne dass Dorian noch mehr Schuld auf sich laden musste. Es klebte schon genug Blut an seinen Händen.

Für einen kurzen Augenblick drehte er sich in meine Richtung und ich sah in seinen Augen, wie sehr er sich wünschte, dass es uns gelingen würde, dieser Welt zu entfliehen. Aber er zweifelte daran genauso sehr wie ich.

»Ich liebe dich, Mary«, sagte er mit sehr ernster Stimme.

Wenn er mein Leben retten wollte, musste er seinen Vater töten, denn dieser würde nicht zögern, mich umzubringen, wenn er mich je finden sollte.

Dorian setzte seine Arbeit fort. Erst als er in alle vierundzwanzig Särge geblickt hatte, musste er einsehen, dass sein Vater nicht unter den Schlafenden war.

Genau in diesem Moment waren von oberhalb des Decks Geräusche zu hören. Es waren leise Worte, dazu Schritte, die sich in unsere Richtung zu bewegen schienen. Das Schiff war nicht unbeaufsichtigt. Ich erstarrte in meiner Bewegung.

Innerhalb eines Wimpernschlags war Dorian bei mir. Er zog mich an sich und gemeinsam spähten wir durch einen Ritz im Holz auf das Deck über uns. Wir befanden uns nun an einer Stelle, die wir nicht hatten einsehen können, als wir auf das Schiff geklettert waren.

Über unseren Köpfen waren etwa sechs Gestalten in schwarzen Umhängen zu erkennen. Ihre Gesichter konnte ich nicht sehen, da sie unter Kapuzen verborgen waren. Sie waren alle um einen einzelnen Gegenstand in der Mitte positioniert, als würden sie diesen bewachen. Wenn ich die Ausmaße richtig deutete, war es ein weiterer Sarg. Lag darin Vlad Dracul?

»Das sind seelenlose Jäger«, wisperte Dorian und ich glaubte, in seiner Stimme so etwas wie Angst zu erkennen.

»Du könntest von meinem Blut trinken«, schlug ich ihm vor. »Vielleicht wärst du dann stark genug, um sie zu bekämpfen.«

Als er mich aus Schloss Drachenburg befreit hatte, hatte er auch gegen mehrere seiner eigenen Männer kämpfen müssen. Aber durch mein Blut war er stärker als sie gewesen.

Doch dieses Mal schüttelte Dorian den Kopf. »Die Jäger können nicht bekämpft werden, denn sie wurden vom Teufel erschaffen. Sie bestehen aus der Essenz des Bösen.«

Ich hatte meine Seele an den Teufel verloren, was Dorian jedoch nicht wusste. Seitdem hatte ich keine Veränderung an mir feststellen können, aber vielleicht war es ein langsamer Prozess, der über Jahre andauerte. Vielleicht wäre ich irgendwann nur noch eine schwarze Gestalt, so wie die Jäger über mir.

Ein siebter Jäger trat zu der Gruppe hinzu. »Ich habe Fußspuren entdeckt«, teilte er seinen Kameraden mit. »Sie führen zum Zwischendeck.« Er senkte seinen Kopf, ganz so, als blicke er auf den Boden, durch die Ritzen, dorthin, wo Dorian und ich in der Dunkelheit kauerten. Sein Gesicht blieb mir jedoch weiterhin verborgen.

»Lasst uns nachsehen«, meinte ein anderer und löste sich aus der Gruppe.

Insgesamt vier von ihnen machten sich auf, um nach uns zu suchen, während drei zurückblieben, um den Sarg zu bewachen.

Panisch blickte ich zu Dorian. Dieser reagierte blitzschnell und öffnete den Deckel des Sarges, der uns am nächsten stand.

»Klettere dort hinein und versteck dich darin, bis du dir ganz sicher bist, dass die Gefahr vorüber ist«, forderte er mich auf.

»Aber was ist mit dir?«, wandte ich sofort ein.

Wo würde er sich verstecken? Er konnte sich nicht in diese Flüssigkeit legen, denn sie würde ihn für drei Tage schlafen lassen und die Vampire, die sich bereits in den Särgen befanden, würden in jedem Fall vor ihm erwachen. Es gab jedoch keinen anderen Ort, an dem er sich hätte verstecken können.

Dorian ging gar nicht auf meine Sorge ein. »Wenn du wieder allein bist, such dir ein anderes Versteck oder versuch, das Schiff mit einem der Beiboote zu verlassen. Nimm keine Rücksicht auf mich!«

Er würde sich opfern. Niemals würde ich ihn zurücklassen! Das konnte er unmöglich von mir verlangen. Vehement schüttelte ich den Kopf. »Nein, Dorian! Ich gehe nicht ohne dich.«

Hastig glitt seine Hand über meine Wange und vergrub sich in meinem Haar. Ein flehender Ausdruck lag in seinen dunklen Augen. »Meine Schöne«, seufzte er voller Zuneigung. »Uns bleibt keine Zeit für lange Abschiede. Bitte rette dich! Es könnte für mich nichts Schlimmeres geben, als dich ermordet von meinem Vater präsentiert zu bekommen. Es würde mich umbringen! Wenn du mich schützen willst, sorge dafür, dass du am Leben bleibst.«

Mein Herz schmerzte entsetzlich bei der Vorstellung, von ihm getrennt zu sein, aber er hatte recht: Wir hatten keine Zeit für Diskussionen. Die Schritte der Jäger waren schon ganz nah.

Ängstlich blickte ich in das Gemisch aus Blut, Schnee und Asche. Mich entsetzte weniger das leblose Gesicht, welches mir aus dem Inneren entgegenstarrte, als vielmehr Dorians Worte. Für einen Menschen wäre dasselbe Gemisch jedoch tödlich, hatte er zuvor gesagt. Nun verlangte er von mir, dort hineinzusteigen. Niemals würde er jedoch mein Leben riskieren.

»Vertrau mir«, bat er mich eindringlich und hielt mir seine Hand entgegen, um mir hochzuhelfen.

Furchtsam nickte ich und ließ mich von ihm in den Sarg heben. Die Flüssigkeit war eiskalt. Ich spürte den Körper des Fremden, der bereits darin ruhte, gegen meinen eigenen stoßen. Doch meine Angst, von den seelenlosen Jägern entdeckt zu werden, war größer als meine Skrupel. Ich ließ mich in das Blut sinken und legte mich über den schlafenden Vampir. Ein metallischer Geruch mit einer rauchigen Note breitete sich um mich herum aus.

Als Dorian den Deckel schloss, blickte nur noch mein Gesicht zu ihm empor. Er warf mir einen letzten bedeutungsschweren Blick zu, bevor alles um mich herum schwarz wurde. Ich konnte nichts mehr sehen und mein eigener Herzschlag pochte mir so laut in den Ohren, dass ich kein anderes Geräusch wahrnehmen konnte.

Ich hielt den Atem an, um irgendetwas von dem mitzubekommen, was sich außerhalb des Sarges ereignete. Ganz vorsichtig hob ich meinen Kopf so weit an, dass meine Ohren sich nicht länger unter der Flüssigkeit befanden.

Hektische Schritte drangen zu mir durch. Sie bewegten sich rund um mich herum. Es waren mehr Personen anwesend als ein Einziger. Schläge erklangen, wie von einem Handgemenge. Ich hörte jemanden stöhnen, dann gab es einen lauten Knall, der meine Kiste erschütterte. Das Blut schwappte um mich herum. Was war das gewesen? War einer der Särge umgestoßen worden?

»Haltet ihn!«, schrie jemand.

Sie hatten Dorian entdeckt.

Flieh! Bitte flieh, dachte ich voller Verzweiflung und wusste, dass er es nicht tun würde. Er würde sich von ihnen gefangen nehmen lassen, nur um sie von mir abzulenken.

Es rumpelte erneut und ich hörte Männer keuchen, wie von einem Kampf.

»Sieh an, wer mich mit seiner Anwesenheit beehrt«, erklang plötzlich eine eisige Stimme. »Wo hast du deine Braut gelassen, mein Sohn?«

Vlad Dracul. Er befand sich in keinem Sarg, sondern stand nun Dorian gegenüber.

»Glaubst du, ich wäre so leichtsinnig, sie mit auf dein Schiff zu bringen?«, entgegnete Dorian höhnisch. »Sie befindet sich geschützt durch einen Zauber auf dem Meer, sodass du sie niemals finden wirst.«

»Wie lange mag ein wehrloses Geschöpf wie sie allein auf der rauen See überleben?«, konterte Vlad Dracul unbeeindruckt. »Erwartet sie nicht sehnlichst die Rückkehr ihres tollkühnen Beschützers?«

Ein Teil von mir wollte sogleich aus der Kiste steigen, um Dorian beiseitezustehen. Vielleicht auch um Dracula zu beweisen, dass ich längst nicht so hilflos war, wie er annahm. Um es mir selbst zu beweisen. Doch der klügere Teil behielt die Oberhand und zwang mich, an Ort und Stelle zu verharren. Ich hatte bessere Chancen, wenn niemand mit meiner Anwesenheit rechnete.

»Du wirst mir schon noch verraten, wie ich dein Mädchen finden kann«, prophezeite Vlad Dracul seinem Sohn überlegen. »Drei Tage im Lazarus-Bad könnten deine Zunge lockern.«

»Nein«, stieß Dorian aus. »Mach das nicht. Es wird nichts ändern, sondern nur uns beide Zeit kosten.«

Sein Vater lachte über ihn. »Ich habe genug Zeit, was man von deiner Liebsten, allein auf dem Meer, jedoch nicht behaupten kann. Wenn sie ertrinkt, brauche ich mir zumindest nicht mehr die Finger an ihr schmutzig zu machen.«

Seine Worte waren skrupellos und ich erkannte, dass ihn tatsächlich nichts daran hindern könnte, mich zu töten. Er war fest entschlossen.

Ich konnte hören, dass Dorian sich gegen die Jäger wehrte, als diese ihn in einen Sarg hievten. Es war lautes Platschen zu hören, dann wurde der Deckel geschlossen und sämtliche Geräusche verstummten. Das Gemisch aus Asche, Schnee und Blut hatte Dorian überwältigt.

Schritte entfernten sich von dem Deck und ich ließ mich zurück in die eisige Flüssigkeit sinken. Was sollte ich jetzt nur tun?

Die Frage nach meiner Herkunft drängte sich mir erneut auf.

Wenn ich ein Vampir wäre, müsste ich in einen dreitägigen Schlaf fallen.

Wenn ich ein Mensch wäre, würde sie mich töten.

Nichts von beidem geschah. War ich beides? Halb Mensch, halb Vampir? Hatte das Lazarus-Bad deshalb keine Wirkung auf mich?

Wer waren meine leiblichen Eltern und warum hatten sie mich weggegeben?

Dorian wusste es. Er musste es wissen, denn sonst hätte er sich niemals so sicher sein können, dass diese Flüssigkeit mir nichts anhaben würde.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739438764
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (März)
Schlagworte
Grimm Rumpelstilzchen Fantasy Aschenputtel Vampire Märchen Schneewittchen Königin Prinzessin Brüder düster dark Urban Fantasy Romance Episch High Fantasy

Autor

  • Maya Shepherd (Autor:in)

Maya Shepherd wurde 1988 in Stuttgart geboren. Zusammen mit Mann, Tochter und Hund lebt sie mittlerweile im Rheinland und träumt von einem eigenen Schreibzimmer mit Wänden voller Bücher. Seit 2014 lebt sie ihren ganz persönlichen Traum und widmet sich hauptberuflich dem Erfinden von fremden Welten und Charakteren.
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Titel: Der goldene Apfel