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Der schwarze Spiegel

von Maya Shepherd (Autor:in)
187 Seiten
Reihe: Die Grimm-Chroniken, Band 10

Zusammenfassung

Wer oder was ist böse? Die Antwort liefert die zehnte Folge der ›Grimm-Chroniken‹ und enthüllt dabei eines der größten Geheimnisse der kompletten Serie. Dieser Spiegel war anders als alle, die ich bisher erblickt hatte. Ein verschnörkelter Rahmen aus Ebenholz rahmte das schwarze Glas in seiner Mitte ein. Er zeigte mich nicht als die gebrechliche Frau, die ich heute war, sondern als jene Apfelprinzessin, die voller Zuversicht und Träume in ihre Zukunft geblickt hatte. »Ist es nicht erstaunlich, dass das eigene Spiegelbild einem ganz anders erscheint als das, was andere Menschen von einem wahrnehmen? Niemand ist in der Lage, sich selbst so zu sehen, wie er ist. Wenn ich meine eigene Dunkelheit nicht erfassen kann, ist es dann möglich, dass das Böse längst Besitz von mir ergriffen hat?« Band 1: Die Apfelprinzessin Band 2: Asche, Schnee und Blut Band 3: Der Schlafende Tod Band 4: Der Gesang der Sirenen Band 5: Der goldene Apfel Band 6: Der Tanz der verlorenen Seelen Band 7: Das Aschemädchen Band 8: Dornen, Rosen und Federn Band 9: Die verbotene Farbe Band 10: Der schwarze Spiegel

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis



Was zuvor geschah

1801 – 1803

Mary erfährt, dass Maries Mann im Krieg an der Dornenhecke gefallen ist. Sie macht sich gegen den Rat von Jacob zu ihrer einstigen Freundin auf, um ihr die traurige Nachricht selbst zu überbringen. Marie ist darüber am Boden zerstört und macht sich große Sorgen um ihre Zukunft, da sie nun allein für zwei kleine Kinder verantwortlich ist. Mary bietet ihr an, zusammen mit Hänsel und Gretel ins Schloss zu ziehen und als Kindermädchen für Margery zu arbeiten. Marie steht dem Vorschlag eher kritisch gegenüber, da sie sich davor fürchtet, was Margery ist. Sie willigt jedoch ein, es zumindest zu versuchen.

Zuerst scheint Marie sich gut einzuleben und sie kann ihre Bedenken der Prinzessin gegenüber ablegen. Eines Nachmittags erlaubt sie sogar ihren Kindern, die Prinzessin kennenzulernen. Noch am selben Tag kommt es jedoch zu einem schrecklichen Unglück. Margery beißt Marie und verliert derart die Kontrolle über sich, dass sie ihr die Kehle aufreißt. Hänsel und Gretel müssen mit ansehen, wie ihre Mutter im Schnee verblutet.

Mary ist über diese Entwicklung furchtbar schockiert, da sie Margery niemals so viel Grausamkeit zugetraut hätte. Zudem fühlt sie sich mitschuldig an dem Tod ihrer Freundin. Sie erträgt es nicht, ihre Kinder bei sich zu behalten, und hat Angst, dass Margery auch ihnen etwas antun könnte. Deshalb bittet sie Jacob, Hänsel und Gretel zu einer guten Familie zu bringen. Mary wird für ihren Unterhalt bezahlen.

Zwei Jahre später berichtet Jacob Mary von einem Gerücht über einen Glassarg, der an der Küste von Engelland gesichtet wurde. Mary muss bei der Erwähnung sogleich an den Sarg denken, den Vlad Dracul vor Jahren auf seinem Schiff bewachen ließ. Darin lag die namenlose Hexe, die sie noch vor ihrer Geburt verflucht hatte. Sie erzählt Jacob von dem Fluch, der auf ihr liegt. Er reagiert schockiert darüber, dass sie noch nie ihr eigenes Spiegelbild gesehen hat.

Einen Tag später bringt er ihr einen Handspiegel mit und fordert sie auf, sich darin zu betrachten. Jacob glaubt nicht an Flüche. Er ist der Überzeugung, dass sie nur an Macht gewinnen, wenn man sich ihnen beugt. Mary weigert sich zuerst, in den Spiegel zu schauen, zu groß ist das Risiko. Wenn sich der Fluch bewahrheitet, wird großes Unheil über ihre Familie kommen. Jacob kann ihr jedoch insoweit zureden, dass sie schließlich doch nachgibt und einen Blick riskiert. Zum ersten Mal sieht sie sich selbst, aber ihr Anblick führt ihr vor Augen, dass ihr körperlicher Zerfall bereits begonnen hat. Ihr Spiegelbild beraubt sie jeder Hoffnung.

1812

Margery tauscht mit Ember die Kleider und Rollen. Während sich Ember in ihr Bett im Nordturm legt, schlüpft Margery in die unsichtbar machenden Glasschuhe und schleicht sich unbemerkt durchs Schloss, bis zu dem Gemach ihrer Mutter. Dort sucht sie nach Wilhelms Medaillon, um ihn aus der Kontrolle der Königin zu befreien. Es gelingt ihr schnell, das Schmuckstück zu finden. Bevor sie jedoch zu ihrem Zimmer zurückkehrt, wird sie auf einen versteckten Gegenstand aufmerksam. Es ist der große Spiegel ihrer Mutter, welcher aus schwarzem Glas besteht. Sie erinnert sich daran, dass sie als Kind ihre Mutter damit sprechen sah.

In dem Moment erklingen Schritte auf dem Korridor vor dem Gemach der Königin, sodass Margery der Fluchtweg versperrt ist. Die Königin bemerkt direkt, dass jemand sich unerlaubt Zutritt verschafft haben muss, da ihr Spiegel nicht mehr verhangen ist. Sie befiehlt Dracula, zum Nordturm zu gehen, um zu überprüfen, ob sich ihre Tochter dort befindet.

Kaum dass er das Zimmer verlassen hat, wendet sich die Königin ihrem Spiegel zu und spricht ihn mit den Worten an: Mary, Mary, Mary. Spieglein an der Wand, wer brach ein in mein Kämmerlein?

Ihr eigenes Spiegelbild antwortet ihr, dass es niemanden gesehen habe.

Margery ergreift unbemerkt die Flucht, dabei stolpert sie jedoch auf der Treppe und verliert einen der gläsernen Schuhe, sodass sie nicht mehr unsichtbar ist. Ihr bleibt nichts anderes übrig, als sich im nahe gelegenen Keller zu verstecken. Dieser wird kurze Zeit später von zwei Dienerinnen betreten, die das Bad für die Königin in der Folterkammer vorbereiten sollen. Margery fürchtet, dass Vlad Dracul Ember in ihrem Zimmer gefunden und die Königin nun beschlossen hat, diese zu töten und in ihrem Blut zu baden. Verzweifelt schlingt sie ihre Finger um Wilhelms Medaillon und fleht ihn in Gedanken an, ihr zu Hilfe zu eilen.


Das silberne Medaillon

Engelland, Schloss Drachenburg, Oktober 1812

Die panischen Schreie des Mädchens lagen Margery noch in den Ohren. Sie wiederholten sich wie in einer Endlosschleife. Am schlimmsten daran war der letzte gurgelnde Laut, der ihrer durchtrennten Kehle entwich, als das Leben aus ihrem Körper gefahren war. Ihr Blut hatte auf die mit blauen Ornamenten versehenen Fliesen gespritzt, bevor es sich in die goldene Badewanne ergoss, über der das Opfer mit dem Kopf voran von der Decke baumelte.

Die Königin hatte sich genüsslich das Blut von den Fingern geleckt, als wäre es flüssige Schokolade. Danach hatte sie ohne jede Hast dabei zugesehen, wie das Mädchen langsam ausblutete, bevor sie es mit einem Ruck zu Boden stürzen ließ. Völlig gleichgültig hatte sie sich vor dem Leichnam entkleidet und war mit einem wohligen Seufzen in das noch warme Blutbad gestiegen.

Margery hatte all das aus ihrem Versteck im Schrank mit ansehen müssen. Als das neuste Opfer der Königin in das Zimmer geführt worden war, hatte sie als Erstes voller Erleichterung gedacht: Es ist nicht Ember. Für diesen Gedanken hatte sie sich sogleich geschämt, war doch das Leben dieses armen Mädchens nicht weniger wert als das ihrer Freundin. Sie hatte mit sich gerungen, ob sie eingreifen sollte, aber was hätte sie schon tun können? Wie sollte sie jemand anderen retten, wenn sie nicht einmal sich selbst retten konnte? Womöglich hätte es ihrer Mutter nur noch größeres Vergnügen bereitet, vor ihren Augen zu morden.

Sie hatte in dem Schrank ausgeharrt und gehofft, dass alles schnell vorbei sein möge, und dabei Wilhelms Medaillon wie einen Talisman fest umschlossen gehalten. Der Geruch des Blutes, der sich ausgebreitet hatte, sorgte bei ihr nicht für Verlangen, sondern für Ekel.

Ihre Mutter war ein Mensch. Sie brauchte kein Blut, um ihren Durst zu stillen, aber sie genoss es, zu töten. Es ging ihr dabei nicht nur darum, ihre Schönheit und Jugend zu erhalten, sondern vor allem um die Qual, die sie ihren Opfern zufügte. In ihren Augen gab es keine Reue oder Mitgefühl. Obwohl sie atmete, war sie innerlich tot. Kein Funke Menschlichkeit war in ihrem kalten schwarzen Herzen übrig geblieben.

Margery würde versuchen, einen Weg aus dem Schloss zu finden, sobald die Königin das Bad verlassen hatte. So lange musste sie noch aushalten und durfte keinen Ton von sich geben.

Ihr Herzschlag stolperte, als es plötzlich gegen die Tür klopfte. Sie hielt den Atem an und lauschte in die Stille. Dabei entging ihr nicht, wie über die Lippen der Königin ein zufriedenes Lächeln glitt, als hätte sie den Besucher bereits erwartet.

»Herein«, rief sie jedoch in gespielter Ahnungslosigkeit.

Ein kühler Lufthauch zog in das erhitzte Zimmer und ließ die vielen Kerzenflammen flackern. Schritte von schweren Stiefeln erklangen auf dem Boden und eine Gestalt in einem schwarzen Umhang bewegte sich auf die Königin zu – ein seelenloser Jäger. Demütig verneigte er sich vor ihr und blieb in der gebückten Haltung, bis seine Herrin ihm erlaubte, sich aufzurichten.

»Wilhelm«, sprach die Königin ihn an und jagte dadurch einen Schauer über Margerys Haut.

Er war hier. Er war tatsächlich gekommen. Hatte er ihr Flehen vernommen? Hatte er durch die Macht des Medaillons gespürt, dass sie ihn brauchte?

»Was ist derart dringlich, dass es nicht bis nach meinem Bad warten kann?«

»Verzeiht die Störung, meine Königin«, erwiderte er unterwürfig, wobei er aber nicht sie ansah, sondern seine Augen durch den Raum wandern ließ, als würde er nach etwas oder jemandem suchen. »Ich wollte mich nur nach Eurem Befinden erkundigen.«

Der Königin entfuhr ein glockengleiches Lachen, als sie sich aus der Badewanne erhob und nackt vor ihrem Jäger stand. Blut lief wie Wasser über ihre Haut. Sie hatte den Körper einer jungen Frau, nur wenig älter als Wilhelm, der beschämt zu Boden sah. »Mein Junge, du machst mir einen verwirrten Eindruck«, zog sie ihn amüsiert auf. »Sei so gut und hol mir ein Handtuch.« Sie deutete mit ihrem ausgestreckten Arm auf ein Regal neben dem Schrank, in dem sich Margery verbarg.

Dankbar, sie nicht länger ansehen zu müssen, drehte Wilhelm sich um, dabei fiel sein Blick auf das Versteck der Prinzessin. Es war unmöglich, dass er sie durch den Schlitz sehen konnte, dennoch wirkte er erschrocken. Seine Augen weiteten sich. Beinahe, als würde er sie spüren. Er wankte leicht, als er einen Fuß vor den anderen setzte. Seine Hand zitterte, als sie den Stoff ergriff und er damit zurück zur Königin ging. Er übergab ihr das Tuch, ohne sie anzusehen. Sie wickelte es sich um den schlanken, wohlgeformten Körper. Das weiße Gewebe färbte sich rot.

»Willst du deiner Königin nicht aus der Wanne helfen?«, säuselte sie weiter.

Ihre Stimme war lieblich, aber Margery hörte deutlich die Gefahr aus ihr heraus. Je süßer die Tonlage der Königin erschien, umso grausamer war ihr Vorhaben. Eine Gänsehaut breitete sich auf ihren Armen aus.

Gehorsam reichte der Jäger der Herrin seine Hand, damit sie auf dem blutbespritzten Boden nicht ausrutschte. Sie stieg über den Wannenrand und blieb dicht vor ihm stehen. Er musste ihren Atem auf seinen Wangen spüren, so nah war sie ihm. Sie löste ihre Hand aus seiner und streichelte ihm spielerisch über die Brust, dabei legte sie leicht den Kopf schief.

»Wilhelm«, seufzte sie. »Weißt du eigentlich, dass du mir immer der liebste meiner Jäger warst?«

Margery hielt es vor Angst kaum in ihrem Versteck aus. Sie fürchtete nicht um sich, sondern um ihren Freund. Das war schlimmer als alles andere. Er war nur ihretwegen hier. Er war hier, weil sie ihn gerufen hatte. Wenn ihm etwas geschehen sollte, wäre es ihre Schuld.

Wilhelm hob seinen Blick und sah in die Augen der Königin, welche einst dieselbe Farbe gehabt hatten wie die ihrer Tochter und dennoch nicht unterschiedlicher hätten sein können. Das helle Blau ihrer Iriden war nun jedoch einem feurigen Rot gewichen.

Er schaffte es nicht, die Gefühlskälte der Jäger vor ihr aufrechtzuerhalten. Es war nur ein winziges Zucken, das ihn verriet, aber es genügte, um sie bemerken zu lassen, dass der Spiegelsplitter in einem seiner Augen fehlte. Sie wusste nun, dass sie ihre Macht über ihn verloren hatte. Vielleicht hatte sie es auch schon längst gewusst.

»Du hast mich verraten«, warf sie ihm vor. Nun war ihre Stimme nicht länger zärtlich, sondern schneidend wie Glas.

Er schüttelte benommen den Kopf und wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte nichts getan, um ihr zu schaden, aber die bloße Tatsache, dass sein Herz für eine andere oder überhaupt für irgendjemanden schlug, war bereits ein Vergehen. Ein Jäger durfte nicht fühlen. Er musste vollkommen den Befehlen seiner Königin ergeben sein.

Ihre Hände lagen immer noch auf seiner Brust. Diese ließ sie nun höher wandern, bis sie seinen Hals erreichten. »Ich habe dir ein zweites Leben geschenkt und du willst meinen Tod.«

»Nein«, stieß Wilhelm aus. »Ich würde nicht …«

Seine Stimme versagte, als die Königin mit ganzer Kraft zudrückte und ihm die Luft abschnitt. Er keuchte, aber unternahm nichts, um sich von ihr zu befreien. Vielleicht konnte er es nicht. Vielleicht hatte die Königin ihn verzaubert. Sie besaß die Macht dazu.

Margery konnte nicht länger mit ansehen, wie der einzige Freund ihrer Kindheitstage litt. Sie würde nicht zulassen, dass er sein Leben für sie ließ. Denn wofür sollte sie noch kämpfen, wenn es auf dieser Welt niemanden mehr gab, den sie liebte?

Mit einem Ruck verließ sie den Schrank und stürzte auf ihre Mutter und den Jäger zu. »Lass ihn los«, schrie sie voller Verzweiflung und zu ihrem Erstaunen lockerte ihre Mutter tatsächlich ihren Griff. Das plötzliche Erscheinen ihrer Tochter schien sie jedoch nicht im Geringsten zu überraschen.

Ein süffisantes Lächeln glitt über ihre Lippen. »Sieh an, wer sich endlich aus seinem Versteck gewagt hat«, gurrte sie und versetzte Margery damit eine imaginäre Ohrfeige.

Sie hatte es gewusst – die ganze Zeit. Sie hatte es genossen, zu wissen, dass ihre eigene Tochter in dem Schrank kauerte und sich damit quälte, weil sie den Tod des Mädchens nicht verhindert hatte. Es gab kein Wort, das beschreiben konnte, wie entsetzlich grausam die Königin war. Monster traf es vermutlich am ehesten.

»Was willst du nun tun?«, fragte sie die Prinzessin herausfordernd. »Glaubst du etwa, ich würde ihn verschonen, nur weil du mich darum bittest?«

Margery schüttelte den Kopf und kämpfte gegen ihre Tränen an. Sie fühlte sich hilflos und wusste, dass es nichts gab, was sie tun konnte. Ihre Mutter würde Wilhelm töten, ganz gleich, ob sie aus einem Schrank dabei zusah oder es direkt vor ihr tat. Im Grunde hatte sie ihr nur einen Gefallen getan, als sie ihr Versteck verlassen hatte. Es war genau das, was die Königin von ihr erwartet hatte. Sie ahnte jeden ihrer Schritte voraus und durchschaute sie.

Irgendwann einmal, vor sehr langer Zeit, war sie ein Mädchen wie sie gewesen. Vielleicht hatten sie sogar die gleichen Träume und Wünsche gehabt, bis Margery ihr sie alle mit ihrer Geburt entrissen hatte. Ihre Mutter konnte sich in sie hineinversetzen, während es Margery unmöglich war, zu erahnen, was diese dachte. Die Königin war ihr in jeder Hinsicht überlegen.

Sie sah von ihrer Tochter zu Wilhelm, der immer noch wie erstarrt vor ihr stand. Ihre Hände lagen besitzergreifend auf seinen Schultern. Sie ließ die Rechte erneut über seine Brust wandern und hielt auf der linken Seite inne. Etwas schien sie zu irritieren und sie legte ihre flache Hand über sein pochendes Herz. Sie spürte das kräftige Schlagen unter ihrer Haut und lauschte seinem Klang wie einer längst vergessenen Melodie.

»Wessen Herz schlägt in deiner Brust?«, murmelte sie gedankenverloren. So als müsste sie es wissen und könnte sich nicht mehr daran erinnern. Von dieser Frage schien viel für sie abzuhängen.

Weder Margery noch Wilhelm kannten die Antwort darauf.

Wie aus dem Nichts rauschte eine vierte Person in das blutige Badezimmer und schleuderte die Königin von dem jungen Jäger. Sie fiel zu Boden und blickte zornerfüllt zu dem unbekannten Angreifer auf, der in diesem Augenblick eine Pfeife aus seinem Mantel zog und in diese hineinblies. Sogleich wurde der gesamte Raum in einen dichten grünen Nebel gehüllt, der es unmöglich machte, irgendetwas zu erkennen. Sämtliche Geräusche wurden verschluckt.

Eine Hand schloss sich um Margerys und zerrte sie mit sich. Sie hatte so etwas schon einmal erlebt. In Spiegeltal, als die Jäger sie beinahe unter den Dorfbewohnern entdeckt hätten. Ein grüner Nebel hatte sie gerettet und vor den Schlossmauern abgesetzt. Es war Jacob gewesen.

Auch als der Dunst sich dieses Mal lichtete, sah sie sich ihrem alten Freund gegenüber, den sie immer liebevoll Onkel genannt hatte. Zusammen mit Wilhelm standen sie vor den königlichen Ställen. Hinter ihnen erhob sich das düstere Gemäuer von Schloss Drachenburg. Dicke graue Wolken verdunkelten den Himmel und kündigten den nächsten Regenschauer an. In der Ferne wütete ein Gewitter, das bald auch sie erreichen würde.

Wilhelm schien das plötzliche Auftauchen seines Bruders aus der Starre zu reißen. Vehement schüttelte er den Kopf. »Irgendetwas stimmt hier nicht«, sagte er entschieden. »So war es nicht!«

Margery verstand nicht, wovon er sprach, während Jacob gar nicht darauf einging. »Schnell«, drängte er sie und rannte in den Stall. »Wir müssen weg von hier.«

Sie ergriff Wilhelms Hand und gemeinsam folgten sie dem Älteren.

Der Geruch von Stroh hüllte sie sogleich ein. Die Pferde begannen bei ihrem Eintreten zu schnauben und unruhig von einem Huf auf den anderen zu treten. Sie spürten, dass irgendetwas vor sich ging. Nur die schwarzen Einhörner der Jäger blieben ruhig. Ihre Augen richteten sich auf Wilhelm, als würde jedes von ihnen nur darauf warten, von ihm für einen Ritt auserwählt zu werden. Die Jäger und die Einhörner waren miteinander verbunden – es hieß, dass sie beide ihre Seelen an die Königin verloren hätten.

Zu ihrer Rechten befand sich die goldene Kutsche der Königin, die Margery seit jeher an einen übergroßen Kürbis erinnerte.

Das Heulen eines Wolfes zerriss das Grollen des Himmels und versetzte die Pferde in Panik. Sie wieherten und bäumten sich teilweise auf.

Die wölfische Leibgarde der Königin würde ihre Witterung aufnehmen. Sie mussten sich beeilen.

Während Jacob einem der Pferde ein Zaumzeug überstreifte, führte Wilhelm Margery zu einem Einhorn. Es war ein großes und stolzes Tier mit glänzendem Fell und einer gewellten Mähne. Seine Augen waren so dunkel, dass sie wie schwarze Löcher wirkten, in denen man sich verlieren konnte.

»Reite mit mir«, bat Wilhelm sie. »Wenn sie uns schnappen, dann nur zusammen.«

Margery war gerührt von seinem Vorschlag und glaubte, wieder ganz ihren Freund vor sich zu haben, wenn auch in der Kluft der Jäger.

Er schwang sich auf den Rücken des Tieres und hielt sich in dessen weichem Haar fest, ehe er ihr seine Hand reichte und sie zu sich nach oben zog. Sie schlang ihre Arme um seine Taille und schmiegte ihr Gesicht an ihn. Er schnalzte mit der Zunge und drückte seine Waden in die Flanken des Einhorns, das sich sogleich in Bewegung setzte. Gerade rechtzeitig, denn in dem Moment tauchte ein gewaltiger Wolf in der Stalltür auf und stieß ein grelles Heulen aus, als er die Flüchtigen erblickte.

Jacob brauchte sein Pferd gar nicht anzutreiben. Der bloße Anblick des Wolfes genügte, um das Tier in Panik zu versetzen, sodass es haltlos ins Freie galoppierte. Wilhelm und Margery folgten ihm dichtauf.

Der Weg führte sie direkt in den Finsterwald, der seinem Namen alle Ehre machte und nur aus Schatten zu bestehen schien. Sie jagten an Bäumen vorbei und duckten sich vor tief hängenden Ästen. Margery war froh, sich an Wilhelm festhalten zu können, denn sonst hätte sie befürchtet, zu Boden zu stürzen. Sie wagte nicht, sich nach ihren Verfolgern umzudrehen, aber das Heulen der Wölfe verriet ihr, dass sie ganz nah sein mussten.

Auch wenn das Einhorn schneller war als das Pferd von Jacob, ließen sie diesem den Vortritt. Er musste einen Plan haben, denn sonst wäre diese ganze Flucht sinnlos. Er musste wissen, wohin sie reiten konnten, um sich vor der Königin zu verstecken. Er musste ein Ziel haben. Er musste einfach.

Die Minuten verstrichen, während sich das Gewitter über ihnen zusammenbraute. Wind peitschte ihnen entgegen, ebenso wie kleine Zweige und Blätter. Ein Blitz erhellte den Himmel und schlug in ihrer unmittelbaren Nähe in einen Baum ein, der lichterloh in Flammen aufging. Die plötzliche Helligkeit reichte aus, um ihnen die Schlucht zu offenbaren, auf die sie geradewegs zuritten.

Das Pferd scheute und bäumte sich wiehernd auf, die Augen vor Panik weit aufgerissen. Jacob konnte sich nicht länger halten und stürzte zu Boden, woraufhin das Tier die Flucht ergriff und zurück in die Richtung jagte, aus der sie gekommen waren

Wilhelm gelang es gerade noch, das Einhorn zum Stehen zu bringen, um nicht über seinen Bruder zu donnern. Entsetzt blickte er sich um und erkannte, dass sie hier nicht weiterkamen. Hinter ihnen befanden sich ihre Verfolger und vor ihnen erstreckte sich eine metertiefe Schlucht, deren Ende mit spitzen Dornenhecken bewachsen war. Wenn der Sturz aus dieser Höhe sie nicht töten würde, dann würden die Dornen ihnen die Haut zerreißen und die Augen ausstechen. Sie kamen nicht mehr weiter.

Verzweifelt wandte er sich Jacob zu, der sich keuchend vom Boden aufrappelte. Anscheinend hatte er sich nicht verletzt. »Wohin sollen wir jetzt?«, brüllte er gegen den Sturm an. In seiner Stimme schwang ein leiser Vorwurf mit. Er hatte sich genau wie Margery auf den Älteren verlassen und geglaubt, dass er wüsste, wohin er ritt. Aber er war genauso ahnungslos wie sie gewesen.

Jacob machte einen hilflosen Eindruck und blickte auf den Weg zurück. Zwischen den dunklen Schatten war ein schwaches Funkeln zu erkennen – die goldene Kutsche der Königin. Sie würde sie schon bald erreicht haben.

»Wir könnten versuchen, uns zu verstecken«, schlug Margery vor. Sie deutete in das dichte Unterholz.

»Die Wölfe würden uns riechen«, widersprach Wilhelm ihr.

»Es sei denn, es würde sich jemand ihnen in den Weg stellen«, meinte Jacob mit entschlossenem Gesichtsausdruck und zog erneut seine magische Pfeife unter seinem Mantel hervor. Er wollte sich allein der Königin und ihren Verfolgern in den Weg stellen, um der Prinzessin und Wilhelm einen Vorsprung zu verschaffen.

»Nein!« Wilhelm schüttelte den Kopf, ging auf seinen Bruder zu und legte seine Hände fest um dessen Schultern. »Wir haben uns schon einmal so entschieden und es brachte uns an diesen Punkt. Dieses Mal machen wir es anders.«

Margery verstand nicht, was er damit sagen wollte. Auch nach dem Nebel hatte er gesagt, dass es anders gewesen sei. Er sprach, als hätte er das alles schon einmal erlebt. Aber wie konnte das sein?

»Vielleicht gelangen wir immer wieder an diese Stelle, weil es hier enden soll«, redete Jacob auf ihn ein. »Lass mich beenden, was ich begonnen habe.«

»Aber es ist dieses Mal anders«, konterte Wilhelm unnachgiebig und schaute zu Margery, die immer noch auf dem Rücken des Einhorns saß und sich in dessen Mähne festhielt. »Sie ist bei uns.«

»Die Träume verändern unsere Erinnerungen«, murmelte Jacob gedankenverloren. »Oder ist es die Vergangenheit, die sich verändert?«

»Wenn wir die Vergangenheit verändern können, haben wir eine Chance, dieses Mal alles anders zu machen. Die Geschichte muss nicht so enden.«

Wilhelms Worte waren flehend. In ihnen ruhte der Wunsch, seinen Bruder nicht zu verlieren. Er hatte ihn schon so oft verloren.

Auch wenn Margery nicht verstand, wovon sie sprachen, hatte sie das Gefühl, dass es mit dem Medaillon zusammenhing, das sie an sich genommen hatte. Sie ließ sich von dem Tier gleiten und zog das silberne Schmuckstück unter ihrem Kleid hervor. Das Licht des brennenden Baumes ließ die verzierte Oberfläche funkeln, sodass es die Aufmerksamkeit der Brüder auf sich lenkte.

»Hilft euch das vielleicht weiter?«, erkundigte Margery sich mit klopfendem Herzen, als sie sah, wie Wilhelms Augen sich bei dessen Anblick weiteten.

Er war mit einem Satz bei ihr. »Du hast es«, stammelte er ungläubig, ohne seine Hand zu heben, um es entgegenzunehmen. Dabei konnte sie in seinem Blick erkennen, dass ihm viel an dem Anhänger lag.

»Das erklärt alles«, behauptete Jacob plötzlich aufgeregt. »Nur deshalb konntest du in ihre Träume gelangen.«

»Was für Träume?«, entfuhr es Margery aufgebracht. Es ärgerte sie langsam, dass die beiden miteinander redeten, als wäre sie gar nicht da. Wilhelm hatte ihr gegenüber schon einmal behauptet, dass alles nur ein Traum sei. Aber der Kuss, den sie ihm gegeben hatte, um ihm das Gegenteil zu beweisen, hatte sich sehr real angefühlt.

Wilhelm warf ihr einen entschuldigenden Blick zu, ehe er sich wieder Jacob zuwandte. »Aber wenn Margery nun das Medaillon hat, bedeutet das, dass die Königin keine Macht mehr über mich hat?« Seine Stimme überschlug sich beinahe vor Aufregung. »Müssten wir jetzt nicht wieder aufwachen?«

Das Knurren eines Wolfes ließ sie erschaudern. Während sie vor der Schlucht standen und über Träume und Erinnerungen diskutierten, hatten ihre Verfolger sie eingeholt und kreisten sie nun ein. Die großen Wölfe fletschten ihre Zähne, die so groß waren wie die Hand eines Mannes. Sie schnappten geifernd in ihre Richtung.

Hinter ihnen bauten sich die seelenlosen Jäger auf ihren Einhörnern auf. Sie trugen Kutten, die ihre Gesichter verbargen. Einer glich dem anderen und alle richteten ihre Armbrust auf sie, jeder bereit, einen tödlichen Bolzen abzuschießen.

Wilhelm war einer von ihnen, nur dass er sich seine Seele zurückgeholt hatte, als eine Träne den Spiegelsplitter aus seinem Auge gespült hatte.

Die Menge teilte sich für die goldene Kürbiskutsche der Königin, die dieser nun mit triumphierendem Lächeln entstieg. Sie hatte sich das Blut ihres Opfers abgewaschen und ihren Körper in ein prächtiges schwarzes Kleid gehüllt, das im Schein des lodernden Baums wie geschliffener Onyx funkelte. Auf ihrem Kopf trug sie ihre Krone.

Schneewittchen war die Flucht nicht gelungen und die Königin hatte gewonnen – wieder einmal.

»Es ist lange her, dass ich die Brüder vereint gesehen habe«, sagte sie, als sie ihnen entgegenging. »Einen besseren Zeitpunkt zum Sterben könnte es wohl kaum geben.«

»Gib mir das Medaillon«, zischte Wilhelm Margery zu, ohne die Augen von der Königin zu lassen. Er hielt ihr seine offene Handfläche hin.

Sie hatte ihre Finger um den silbernen Anhänger geschlossen, um ihn vor ihrer Mutter zu verbergen. Nun legte sie ihre Faust in die Hand von Wilhelm, ehe sie diese öffnete und das Schmuckstück auf seine Haut legte. Sie spürte, wie die Kette durch ihre Finger glitt.

Sie wartete darauf, dass irgendetwas passieren würde.

Irgendetwas.

Aber es geschah nichts.

Nichts.

Die Königin sah lauernd von einem zum anderen. Es irritierte sie, dass sie nicht versuchten, mit ihr zu diskutieren, um ihre erbärmlichen Leben feilschten oder einer sich schützend vor den anderen stellte.

Wilhelm ließ das nutzlose Medaillon los, in das er seine ganze Hoffnung gesetzt hatte. Er hatte geglaubt, dass alles enden würde, wenn er erst wieder Herr seiner Sinne wäre. Sie hätten aus diesem Albtraum erwachen sollen. Stattdessen war nun alles verloren.

Margery fing es auf, ehe es den Boden berühren konnte, und nahm es wieder an sich. Sie hatte gesehen, dass es Wilhelm etwas bedeutete, auch wenn es ihnen nicht zur Rettung verholfen hatte.

Als Jacob erkannte, dass es für sie keine Rettung gab, hielt er sich seine Pfeife vor die Lippen, bereit, sie zum Einsatz zu bringen. »Du gegen mich«, forderte er die Königin tollkühn heraus.

Diese bedachte ihn mit einem herablassenden Blick. »Schau dich nur an, Jacob. Du bist alt geworden. Was hast du in den letzten Jahren gemacht? Dich wie eine Maus vor mir in einem Loch verkrochen?«

Jacob ließ sich nicht von ihr provozieren. Es war ihm einerlei, was sie von ihm dachte. »Wenn du nicht das Blut von Unschuldigen vergießen würdest, wärst du mittlerweile so alt, dass du dich nicht einmal mehr bewegen könntest. Was ist nur aus dir geworden, Mary? Du warst einmal der gütigste Mensch, den ich kenne. Du hättest dir lieber selbst ein Messer ins Herz gerammt, als zuzulassen, dass deiner Tochter etwas geschieht.«

Seine Worte waren erfüllt von einer tiefen Traurigkeit. Vor ihm stand die Hülle der Frau, die er einmal verehrt und bewundert hatte.

Die Königin ließen seine Worte vollkommen kalt. »Warst du es nicht, der mir sagte, dass ich mich nicht mit meinem Schicksal abfinden solle, sondern versuchen müsse, dagegen anzukämpfen? Etwas anderes habe ich nicht getan«, rechtfertigte sie sich.

»Aber doch nicht so«, klagte Jacob.

Er war nicht bereit, die Schuld für ihre Taten auf sich zu nehmen, nur weil er ihr vor Jahren einen gut gemeinten Rat gegeben hatte. Alles, was sie danach angerichtet hatte, war ihre eigene Entscheidung gewesen. Sie hatte aufgehört, nach seiner Meinung zu fragen, und ohnehin nicht mehr auf ihn gehört. Seine ständige Einmischung hatte sie sogar so weit gebracht, dass sie ihm den Kopf hätte abschlagen lassen, wenn er nicht rechtzeitig geflohen wäre. Es war zu spät, um noch einen friedlichen Ausgang zu finden.

»Lass es uns in einem fairen Kampf beenden«, bat er sie und schwenkte erneut seine Pfeife.

»Wir waren noch nie große Kämpfer, Jacob«, entgegnete die Königin.

»Dann sollte es zumindest ein fairer Kampf werden.«

»Fair?«, wiederholte sie höhnisch. »Wenn du um dich blickst, wirst du sehen, dass ihr von meinen Wölfen und Jägern eingekreist seid. Warum sollte ich mich auf einen Kampf einlassen, wenn ich doch längst gewonnen habe?«

Sie lachte ihn aus, ehe sie ihrem Gefolge befahl, sie zu ergreifen. Dieses stürmte auf die drei Geflohenen zu und Jacob wusste sich nicht anders zu helfen, als erneut in seine Pfeife zu pusten. Sogleich breitete sich der grüne Nebel über ihnen aus. Er vermochte sowohl ihren Angreifern als auch ihnen selbst die Sicht zu rauben, aber er konnte sie nicht an einen anderen Ort zaubern.

Nicht alle.

Die Geräusche verstummten und Margery taumelte orientierungslos in das Nichts. Es war ein Gefühl, wie durch einen Raum ohne Anfang und Ende zu laufen, bei dem sich nicht sagen ließ, wo oben oder unten war. Sie setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, unwissend, ob sie sich auf ihre Feinde zu- oder von ihnen wegbewegte. Die Schlucht war nahe und wenn sie nicht aufpasste, würde nur ein falscher Schritt sie in den Abgrund befördern.

Langsam lichtete sich der Dunst und der Lärm schlug ihr entgegen wie Wellen an einem Strand. Erst waren da Schreie und das Knurren von Wölfen, dann ebbte es wieder ab.

Sie stieß gegen eine andere Person. Eine Hand schnellte vor und schloss sich wie eine Fessel um ihr Handgelenk. Sie hob den Kopf und Gesichtszüge zeichneten sich vor ihr ab, die sie lähmten.

Es war ihre Mutter, die sie mit kalter Genugtuung betrachtete.

Immer mehr Umrisse ließen sich erkennen. Sie befanden sich über dem Abgrund. Margery konnte nicht sagen, ob vielleicht Wölfe oder Jäger hinabgestürzt waren.

Ihr Blick wurde auf den Körper gelenkt, der nicht weit von ihr am Boden lag.

Wilhelm.

Der Griff eines Jagdmessers ragte aus seiner Brust und Blut tränkte den Stoff seines Hemdes. Sein Gesicht war ganz bleich und sein Atem ging stoßweise.

Er starb.

Die Erkenntnis traf Margery mitten ins Herz. Es war ein Schmerz, der jeden anderen Gedanken auslöschte. Ein Laut, der dem eines verletzten Tieres glich, entwich ihrer Kehle, als sie versuchte, sich von ihrer Mutter loszureißen, um zu ihrem Freund zu stürzen. Diese verstärkte jedoch unbarmherzig ihren Griff.

»Lass mich los!«, brüllte Margery unter Tränen. »Ich muss zu ihm.«

Sie konnte nichts für ihn tun, aber sie wollte sein Gesicht mit ihren Händen umschließen und bei ihm sein, wenn er seinen letzten Atemzug nahm. Er sollte nicht umgeben von Feinden sterben, sondern in die Augen einer Person blicken können, die ihn liebte.

Erst da bemerkte sie, dass Jacob verschwunden war. Er war durch den Nebel geflohen und hatte sie zurückgelassen. Vermutlich war es das Klügste, was er hatte tun können, dennoch fühlte sich sein Weggang wie ein Verrat an und enttäuschte sie zutiefst. Das hätte sie nie von ihm erwartet.

Ihre Mutter genoss ihre Verzweiflung. Sie nickte mit dem Kopf zu dem schwer verletzten Wilhelm. »Er stirbt deinetwegen«, zischte sie ihr ins Ohr. »Sein Blut klebt an deinen Händen.«

»Nein!«, kreischte Margery aufgebracht. »Du hast das getan! Es waren deine Jäger, die ihn erstochen haben.«

Sie dachte an die schwarze Magie, die ihre Mutter besaß, und so unwahrscheinlich der Gedanke auch war, musste sie ihn aussprechen.

»Rette ihn«, flehte sie die Frau an, die ihr das Leben geschenkt hatte, nur um es ihr in weniger als zwei Wochen wieder zu entreißen. »Du besitzt die Macht dazu. Rette sein Leben und mach ihn wieder zu einem der deinen. Lass ihn leben! Bitte!«

Ihre Mutter genoss Margerys Leid. Sie hatte sie nun an dem Punkt, an dem sie wimmerte und um ein Leben flehte, auch wenn es nicht ihr eigenes war. So viel Hass brannte in der Königin, war doch ihre Tochter für jedes Unglück verantwortlich, das ihr zugestoßen war.

»Wilhelm wird seinen Verrat an mir mit seinem Leben bezahlen«, erwiderte sie voller Grausamkeit.

Margery versuchte erneut, sich loszureißen. Als ihr dies nicht gelang, wollte sie auf ihre Mutter losgehen. Doch zwei Jäger hinderten sie daran, indem sie sie festnahmen.

»Bringt sie in die Kutsche und fahrt mit ihr zum dunklen Turm«, befahl die Königin ihnen.

Die Prinzessin wehrte sich nach Leibeskräften. Sie bäumte sich gegen den Griff der Jäger auf und hämmerte gegen die Fenster der Kutsche, nachdem sie in diese geworfen worden war. Sie versuchte, das Glas mit ihrer bloßen Faust zu zerbrechen, und rammte ihre Schulter gegen die Tür. Es war erfolglos.

Sie schrie den Schmerz ihres Herzens heraus, als der Kürbis sich in Bewegung setzte und sie dabei zusehen musste, wie der sterbende Wilhelm umringt von Wölfen, seelenlosen Jägern und der Königin hinter ihr zurückblieb.

Ihr eigenes Schicksal war ihr für den Moment gleichgültig, auch wenn ihr nicht entgangen war, dass ihre Mutter sie nicht zurück zum Schloss bringen ließ, sondern in den geheimnisumwobenen Turm mitten im Finsterwald. Gerüchte besagten, dass die Königin dort eine schreckliche Bestie versteckt hielt. Ein Ungeheuer, das so entsetzlich sei, dass selbst die Königin sich vor ihm fürchtete. Aber Margery bezweifelte, dass es irgendetwas oder jemanden geben könnte, der herzloser war als ihre Mutter.


Ein Tod für ein Leben

Engelland, Schloss Drachenburg, Oktober 1803

Drei Namen standen auf einem Blatt Papier, das ich von dem Hauptmann meiner königlichen Wache überreicht bekommen hatte. Es waren die Namen von drei Männern. Einer von ihnen würde auf meinen Befehl hin sterben. Sie waren alle drei Verbrecher und befanden sich in dem Gefängnis von Engelland. Es lag an mir, herauszufinden, welcher von ihnen der schlimmste war und den Tod verdient hatte.

Solch eine schwerwiegende Entscheidung konnte ich jedoch unmöglich anhand eines Namens treffen. Ich wollte diesen Männern zwar nicht persönlich gegenübertreten, dennoch musste ich wissen, wer sie waren und was sie getan hatten.

Ich nannte dem Hauptmann den ersten Namen von der Liste und fragte ihn: »Was hat dieser Mann verbrochen?«

»Emil Fletcher ist der Anführer einer Räuberbande. Sie haben verschiedene Schenken überfallen und den gesamten Biervorrat der Wirte gestohlen«, antwortete er mir.

Er wusste nicht, weshalb ich ihn diese Liste hatte anfertigen lassen oder was den Männern, deren Namen darauf notiert waren, bevorstand. Vermutlich glaubte er, dass ich ein Exempel statuieren wollte, um meine Macht zu demonstrieren. So war es aber nicht.

»Wurde dabei jemand verletzt oder gar getötet?«, hakte ich nach.

»Die Wirte wurden niedergeschlagen und erlitten durch den Verlust ihrer Waren hohe finanzielle Einbußen, aber keiner von ihnen hat gesundheitliche Schäden davongetragen.«

»Gab es weniger Überfälle, seitdem Emil Fletcher festgenommen wurde?«

Der Hauptmann zeigte sich beschämt, als er den Kopf schüttelte. »Nein, meine Königin. Die Überfälle setzen sich fort.«

Meine Wachen mochten der Schlange den Kopf abgeschlagen haben, als sie den Anführer der Bande eingekerkert hatten, doch sogleich kamen ihm andere Männer nach, welche nun die Führung übernahmen. So würde es immer weitergehen. Der mittlerweile beinahe sieben Jahre überdauernde Winter sorgte für eine große Armut und Hungersnot auf der gesamten Insel. Diebstähle lagen an der Tagesordnung und ich würde meinem Land keinen Gefallen tun, wenn ich einen der vielen Täter hinrichten ließe. Emil Fletcher sollte sein Leben behalten.

Ich ging weiter zu dem nächsten Namen auf der Liste. »Wotan Reider – weshalb sitzt dieser Mann im Kerker?«

»Er hat seinen Nachbarn getötet, meine Königin«, offenbarte mir der Hauptmann.

Ein Mörder – das war genau das, wonach ich gesucht hatte. Mein Herzschlag beschleunigte sich vor Aufregung.

»Ist bekannt, warum er das getan hat?«

»Er sagte aus, dass der Nachbar sich an seiner Tochter vergangen habe«, berichtete er mir.

Ein schrecklicher Vorwurf!

»Wurde die Tochter dazu befragt?«

Wieder reagierte der Hauptmann betrübt. »Das war nicht möglich, meine Königin. Das Mädchen erhängte sich in der Stube seines Elternhauses, kurz nachdem es seiner Mutter anvertraut hatte, was ihm angetan worden war. Als die Eltern ihr Kind fanden, erfuhr der Vater von der Tat seines Nachbarn und prügelte ihn tot.«

Entsetzt wandte ich den Blick ab. Das war furchtbar – ein Albtraum! Diese schlimmen Zeiten verleiteten die Menschen nicht nur zu Diebstählen, sondern noch zu viel größeren Grausamkeiten.

Ich konnte dem Vater keinen Vorwurf machen. Ich an seiner Stelle hätte vermutlich genauso reagiert. Seine arme Frau, die nicht nur ihre Tochter, sondern nun auch noch ihren Mann verloren hatte. Wotan Reider durfte nicht zum Tode verurteilt werden – ganz im Gegenteil, ich hätte ihn nie einsperren lassen dürfen.

»Wie lange befindet sich Wotan Reider bereits im Verlies?«, erkundigte ich mich mit belegter Stimme.

»Drei Jahre, meine Königin.«

»Lasst ihn frei«, befahl ich, was der Hauptmann mit einem Nicken bestätigte.

Mir blieb nur noch ein Name auf der Liste. Ich hoffte, dass es ein furchtbarer Mensch war.

»Almar Häfner«, las ich laut vor. »Was hat er verbrochen?«

»Er zündete eine Scheune an und verbrannte dadurch den gesamten Kornvorrat eines Dorfes.«

»Warum hat er das getan?«, entfuhr es mir verständnislos. Gerade in solch einer Not, wo Nahrung mehr wert war als Gold, kam solch eine Tat beinahe einem Massenmord gleich. Seinetwegen hatten viele Menschen nichts zu essen gehabt und mussten Hunger leiden. Manch einer war dadurch vielleicht sogar gestorben. Der Hass auf diesen Mann musste groß sein.

»Er zog sich betrunken in die Scheune zurück, um dort seinen Rausch auszuschlafen. Jedoch wollte er sich zuvor seine Pfeife anzünden. Während des Rauchens schlief er ein und die Pfeife fiel ins Stroh. Dabei entzündete sich ein Feuer. Als Almar Häfner erwachte und erkannte, was er angerichtet hatte, schlug er keinen Alarm, sondern floh, sodass die Flammen erst bemerkt wurden, als nichts mehr zu retten war.«

Dieser Mann hatte nicht einmal zu seiner Tat gestanden, sondern alles noch schlimmer gemacht, indem er wie ein Feigling davongelaufen war. Zwar hatte er nicht in böser Absicht gehandelt, dennoch trug er Schuld an dem Leid vieler unschuldiger Menschen. Sicher waren auch Neugeborene darunter, die seinetwegen vielleicht nicht einmal ihr erstes Jahr erlebt hatten. Die Kindersterblichkeit in Engelland war durch den harten Winter sehr hoch.

Almar Häfner war kein kaltblütiger Mörder, kein Kinderschänder und auch kein brutaler Schläger. Vermutlich war er nur ein nichtsnutziger Trunkenbold, aber jemanden wie ihn würde Engelland nicht vermissen. Er war das Opfer, welches ich bringen musste, um meine Schuld begleichen zu können.

Um keine voreilige Entscheidung zu fällen, stellte ich eine Frage, von der ich mir später wünschte, dass ich sie lieber unbeantwortet gelassen hätte. »Gibt es Angehörige?«

»Almar Häfner hat eine Frau und drei Kinder«, lautete die Antwort meines Hauptmanns, die all meine Pläne zunichtemachte.

»Wie alt sind seine Kinder?«, hakte ich dennoch nach, in der Hoffnung, dass sie alt genug wären, um für sich selbst zu sorgen.

»Das jüngste wurde geboren, als sich der Vater bereits in Haft befand. Das ist nun vier Jahre her. Die älteren Kinder sind sechs und sieben Jahre alt. Alles Mädchen.«

Sicher war Almar Häfner alles andere als ein guter Ehemann oder Vater, dennoch tat mir seine Frau unendlich leid, die bereits seit Jahren mit drei kleinen Kindern auf sich allein gestellt war. Sicher hatten die Dorfbewohner auch sie für die Tat ihres Mannes verurteilt. Ich konnte sie nicht zusätzlich bestrafen, indem ich ihren Mann hinrichten ließ.

Bisher hatte es in Engelland keine Todesstrafe gegeben, sodass Almar Häfner der Erste gewesen wäre. Auch wenn ich ihn oder seine Familie nicht kannte, konnte ich ihnen das nicht antun.

Deprimiert schickte ich den Hauptmann zurück an seine Arbeit, ohne bei der Lösung meines Problems Fortschritte gemacht zu haben.

Kaum war er gegangen, klopfte es erneut an der Tür zum Salon, in dem ich meine Gäste empfing. Jacob streckte neugierig seinen Kopf herein, ohne dass ich ihn hereingebeten hatte. Er war der Letzte, den ich im Moment sehen wollte, was ich ihn auch spüren ließ, indem ich ihm seit Wochen auswich.

»Gibt es Probleme?«, fragte er mich besorgt, als er eintrat.

Ich winkte ab. »Nur das Übliche.«

An seiner gerunzelten Stirn erkannte ich, dass er mir nicht glaubte. »Warum hast du dich bei dem Hauptmann nach den schlimmsten Verbrechern erkundigt?«

Er hatte mal wieder gelauscht. Das tat er häufig und vermittelte mir dadurch das Gefühl, dass er mir nicht vertraute. Dabei hatte ich ihm nie einen Grund gegeben, an mir zu zweifeln.

»Es ist meine Pflicht als Königin, über die Zustände meines Reiches informiert zu sein«, versuchte ich, ihm auszuweichen, doch Jacob ließ sich von mir nicht täuschen. Dafür kannten wir einander schon zu lange und zu gut.

»Könnte es sein, dass es etwas mit Margerys Geburtstag zu tun hat?«, meinte er misstrauisch.

Ich lachte auf und spielte die Ahnungslose. »Was sollten die schlimmsten Verbrecher Engellands mit dem Geburtstag meiner Tochter zu tun haben?«

Er blieb hartnäckig. »Es ist nicht irgendein Geburtstag, sondern ihr siebter.«

Noch immer gab ich vor, nicht zu wissen, worauf er hinauswollte. »Kein Geburtstag ist gewöhnlich, egal ob es der siebte, der siebzehnte oder der siebenundsiebzigste ist.«

Seine Augen formten sich zu Schlitzen, da es ihn ärgerte, wie ich mich rauszureden versuchte. »Das mag sein, aber nur ihr siebter Geburtstag ist an ein Versprechen gebunden, das du mir vor langer Zeit gegeben hast. Erinnerst du dich daran, Mary?«

»Natürlich erinnere ich mich«, versicherte ich ihm empört. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Wilhelm bekommt sein Herz.«

Unsere Freundschaft hatte auf dem Schiff von Vlad Dracul mit einem Versprechen begonnen. Ich würde ein Herz für Jacobs jüngeren Bruder Wilhelm finden, das er am siebten Geburtstag meines erstgeborenen Kindes von mir erhalten sollte, damit er endlich von dem Fluch des Schlafenden Todes erwachen konnte, der ihn seit fast zwei Jahrzehnten in einem Glassarg gefangen hielt.

All die Jahre hatte Jacob sich mit den Bedingungen unseres Abkommens einverstanden gezeigt, sich in Geduld geübt und mich nie dazu gedrängt, früher ein Herz für seinen Bruder zu finden.

Ich war immer fest entschlossen gewesen, mein Versprechen zu halten. Je näher der Tag jedoch rückte, umso unsicherer wurde ich. In den ersten Jahren hatte ich nichts unternommen, um ein Herz für Wilhelm zu finden, da ich geglaubt hatte, dass ich noch genug Zeit hätte.

Vielleicht redete ich mir das auch nur ein, um nichts unternehmen zu müssen. Es war leicht gewesen, etwas zuzusagen, das in weiter Ferne lag, aber es war etwas völlig anderes, sich auch daran zu halten.

Ein Teil von mir hatte gehofft, dass eine Fügung des Schicksals mir rechtzeitig das benötigte Organ in die Hände spielen würde. Vielleicht eine arme Seele, die von Krankheit geplagt war, sodass der Tod für sie eine Erlösung darstellen würde und sie froh wäre, einem kleinen Jungen ein zweites Leben schenken zu können. Solch ein Mensch hatte jedoch nie an meine Tür geklopft und ich hatte mich nicht aufgemacht, um nach ihm zu suchen, sondern die Jahre und Monate untätig verstreichen lassen.

Insgeheim hatte ich wohl immer gewusst, dass ich es nicht über mich bringen würde, einen Sterbenden um sein Herz zu bitten. Das meiste Leid in Engelland war erst durch meine Familie und mich verursacht worden. Viele Menschen starben in den Kämpfen an der Dornenhecke, wo sie unser Reich vor den Feinden verteidigten. In den Städten herrschte durch den siebenjährigen Winter Hungersnot und Krankheiten breiteten sich aus.

Wenn wir schon nicht in der Lage waren, unser Volk zu beschützen, wie konnte ich mir dann anmaßen, ihm auch noch etwas zu nehmen? Kein Leben war weniger wert als das von Wilhelm oder mein eigenes.

Besonders in den letzten Monaten, als ich nicht länger verdrängen konnte, was ich Jacob versprochen hatte, waren meine Skrupel immer größer geworden, da ich mich im Zugzwang sah. Wenn ich meinen Freund nicht verlieren wollte, musste ich das Schicksal selbst lenken. Denn ich hatte keinen Zweifel daran, dass Jacob nicht akzeptieren würde, wenn ich ihn vertröstete. Allein den Versuch würde er mir übel nehmen und es würde sein Vertrauen in mich zutiefst erschüttern.

Jacob wirkte keineswegs beruhigt. »Mary, du hast mir ein Versprechen gegeben, aber ich würde nie von dir verlangen, einem Unschuldigen das Herz aus der Brust zu reißen. Selbst dann nicht, wenn dieser Mensch ein Verbrecher ist.«

»Das hat nichts damit zu tun«, beteuerte ich erneut.

Ich war zu stolz, um ihm einzugestehen, dass ich mich vielleicht nicht an unsere Vereinbarung würde halten können. Unsere Freundschaft beruhte darauf, dass ich mein Versprechen hielt. Etwas anderes kam nicht infrage. Selbst wenn er mir mehr Zeit gewähren würde, so wollte ich es nicht.

Jacob hatte in den letzten Jahren so viel für mich getan und alles, worum er mich je gebeten hatte, war ein Herz für seinen Bruder. Ich würde ihm diesen Wunsch erfüllen, und zwar an dem Tag, den ich ihm zugesichert hatte.

Als nur noch sieben Tage verblieben waren, ließ ich mir von einer Dienerin die einfache Kleidung einer Bäuerin bringen. Darin getarnt würde ich mich unerkannt unter mein Volk mischen, um Ausschau nach einem geeigneten Opfer zu halten. Wie eine Verbrecherin schlich ich mich aus meinem eigenen Schloss, um sicherzugehen, dass niemand mich bei meinem Vorhaben beobachtete. Vor allem nicht Jacob, der darauf bestanden hätte, mich zu begleiten.

Nach wie vor bereitete mein Körper mir täglich Schmerzen, aber ich hatte an diesem Morgen eine erhöhte Dosis des Mohnblumensafts zu mir genommen, um dagegen bestehen zu können.

Nur meinen Wölfen konnte ich nicht entkommen. Sie verfolgten mich auf Schritt und Tritt. Da der Weg nach Spiegeltal durch den Finsterwald führte, war ich jedoch ganz froh über ihre Anwesenheit. Sie würden jede Gefahr wittern und mich zur Not mit ihrem Leben verteidigen.

Die dichten Bäume warfen dunkle Schatten und ließen kaum Licht durch das Blätterdach, sodass es sich darin immer mehr wie Nacht als Tag anfühlte. Singvögel blieben diesem Teil des Waldes fern, lediglich Raben wagten sich in die Dunkelheit. Ihr Krächzen jagte eine Gänsehaut über meine Arme. Sie passten mit ihrem pechschwarzen Gefieder und ihren starrenden Augen an diesen unheimlichen Ort.

Vor den Toren des Städtchens musste ich meine Wölfe zurücklassen. Ihr Auftauchen würde die Menschen in Angst und Schrecken versetzen und dadurch zu viel Aufmerksamkeit erregen.

Das Rudel reagierte auf meine Zurückweisung mit einem einvernehmlichen frustrierten Brummen und würde so lange im Wald herumstreichen, bis ich meinen Heimweg antrat. Ich sollte mich also besser beeilen, damit niemand die bedrohlichen Tiere bemerkte.

Als ich die Straßen von Spiegeltal betrat, empfand ich im ersten Moment eine gewisse Leichtigkeit. Es war lange her, dass ich mich allein aus dem Schloss gewagt hatte, und noch länger, dass ich wie eine gewöhnliche Frau durch Gassen geschlendert war. Ich freute mich darauf, die Schaufenster zu bewundern und mir in einer Schenke ein Bier zu genehmigen. Dort schnappte man am ehesten Gerüchte auf. Die Menschen waren redseliger, wenn sie etwas getrunken hatten.

Meine erste Euphorie verflog jedoch schnell, als ich sah, dass die Auslagen der Geschäfte beinahe leer waren. Es gab kaum noch Läden und viele Gebäude waren sichtbar von Plünderern zerstört worden. Eingeschlagene Türen gewährten einen Blick in verwüstete Räume. Handwerker boten ihre Dienste nicht mehr für Geld, sondern im Tausch gegen Nahrung an. An jeder Straßenecke waren Bettler anzutreffen, viele davon noch Kinder. Mein Volk litt.

Je länger ich mich in Spiegeltal aufhielt, umso schwerer wurde mir ums Herz. Ich hatte mir Engelland zusammen mit Dorian als einen Ort der Zuflucht erträumt – ein Land, welches von Engeln behütet wurde. Wir hatten all jenen, die Schutz bedurften, ein neues Zuhause bieten wollen. Kinderlachen, Musik und gewisperte Worte voller Liebe und Zuneigung hätten die Insel erfüllen sollen. Stattdessen blickte ich in ausgemergelte Gesichter und traurige Kinderaugen, die den trostlosen grauen Himmel widerspiegelten.

Trug ich die Schuld am Leid dieser Menschen, weil ich mein Glück über ihres gestellt hatte? Was, wenn Margery nie das Licht dieser Welt erblickt hätte? Was, wenn mein Schneeweißchen wie ihre Schwester Rosenrot noch in meinem Bauch gestorben wäre? Hätte ich mit ihrem Tod das Unheil abwenden können? Hatte Vlad Dracul womöglich recht, als er mich jagte, um die Geburt des Kindes zu verhindern?

Ich ertrug diese Gedanken nicht und drängte sie in den hintersten Winkel meines Bewusstseins. Was geschehen war, konnte nicht rückgängig gemacht werden. Aber selbst wenn – in meinem Herzen spürte ich, dass ich bereit wäre, jedes Opfer für das Leben meiner Tochter zu bringen. Meine Liebe kannte weder Grenzen noch Skrupel und das bereitete mir die größte Angst.

Schnell suchte ich Zuflucht in einem Wirtshaus, in der Hoffnung, dort auf glücklichere Menschen zu treffen. Es herrschte ein dämmriges Licht von den Öllampen und Kerzen, die auf den Tischen brannten. Auch hier wurde nicht gelacht, aber zumindest herrschte kein Schweigen oder Klagen, sondern die Gespräche der einzelnen Gruppen ließen den Gastraum wie einen Bienenstock summen.

Ich trat an die Theke und bestellte mir ein Bier. Als ich dem Wirt auf die Frage hin, was ich ihm zum Tausch anbieten könne, Goldmünzen präsentierte, nahm dieser sie nur zähneknirschend an.

Kurze Zeit später knallte er einen Krug vor mich, sodass die goldbraune Flüssigkeit überschwappte. Das Gefäß war so schwer, dass ich es kaum anheben konnte. Tapfer stemmte ich es hoch und zwang mich, einen Schluck zu nehmen. Schaum legte sich über meine Lippe und ein bitterer Geschmack breitete sich auf meiner Zunge aus.

»Eine Frau sollte niemals allein, sondern immer nur in Begleitung eines Mannes trinken«, vernahm ich plötzlich die großspurige Stimme eines Mannes hinter mir. Auch wenn ich sein Auftreten als überheblich empfand, kam er mir gerade recht, denn so musste ich auf niemanden zugehen.

Ich drehte mich zu ihm herum und schaute in das Gesicht eines groß gewachsenen Mannes, der etwa Mitte dreißig sein musste. Über seinen breiten Schultern trug er eine Armbrust, was ihn als Jäger auszeichnete.

Mein Anblick ließ ihn zusammenzucken. »Verzeiht, ich hielt Euch für jünger«, entschuldigte er sich bei mir, ohne zu realisieren, dass er mich dadurch beleidigte.

Er war nur irgendein Mann, der mir nichts bedeutete, und trotzdem verletzte mich seine Äußerung. Von hinten sah man mir meinen Verfall nicht unbedingt an und in diesem düsteren Licht fielen die grauen Strähnen in meinem blonden Haar kaum auf. Aber mein Gesicht war blass und von Falten gezeichnet, die täglich mehr zu werden schienen.

Ich besaß noch immer den Spiegel, den Jacob mir geschenkt hatte, und hin und wieder, vermutlich zu oft, sah ich hinein. Auf diese Weise beobachtete ich, wie ich immer älter wurde – viel zu schnell.

Ich schluckte meine Kränkung hinunter und straffte meine Schultern. »Erst tadelt Ihr mich und nun beleidigt Ihr mich auch noch«, schimpfte ich in gespielter Empörung mit ihm, dazu setzte ich ein kokettes Lächeln auf. »Dafür schuldet Ihr mir etwas.«

Er lachte peinlich berührt auf und kratzte sich am Hinterkopf. Wenn mein Gesicht zu der Frau, die er bei meinem Anblick vermutet hatte, gepasst hätte, wäre ihm sicher so einiges eingefallen, um seine Schuld bei mir zu begleichen, aber nun schlug er mir nur höflich vor, mir ein weiteres Getränk zu bezahlen.

Ich hatte keine Ahnung, wie ich es schaffen sollte, den ersten Krug zu leeren, aber willigte dennoch ein, jedoch unter der Bedingung, dass er mir Gesellschaft leisten würde, um mir etwas über die Gegend zu erzählen, da ich nicht von hier stamme. Nachdem er seinen Blick durch den Raum hatte schweifen lassen und keine Dame gefunden hatte, die er anstatt mir mit seiner Anwesenheit beehren konnte, ließ er sich neben mir an der Theke nieder und prostete mir zu.

»Es sind schwere Zeiten«, begann er unglücklich. »Wo immer Ihr herkommt, Ihr wäret besser dortgeblieben.«

»Glaubt mir, dort, wo ich herkomme, ist es auch nicht besser, sonst hätte ich den Weg nicht auf mich genommen«, versicherte ich ihm, wozu ich ein frustriertes Gesicht machte.

»Reist Ihr ganz allein?«, erkundigte er sich nun doch. Anscheinend gelang es ihm einfach nicht, aus seinem Muster auszubrechen, selbst dann nicht, wenn die Frau ihm nicht einmal zusagte.

»Ja«, erwiderte ich und reckte stolz meinen Kopf. »Ich weiß mich durchaus zu wehren.«

Er ließ seinen Blick an meinem Körper hinabwandern und schien mir nicht recht glauben zu wollen. »Verzeiht mir meine Direktheit, aber wovon lebt Ihr?«

Seine Frage war durchaus berechtigt, denn es gab für eine Frau nicht viele Möglichkeiten, selbst Geld zu verdienen. Die meisten Arbeiten erforderten körperliche Stärke, worüber ich ganz offensichtlich nicht verfügte.

»Ich bin eine Heilerin«, offenbarte ich ihm und begann, Gefallen an meiner Rolle zu finden. Sie lenkte mich von meinem eigentlichen Leben ab.

Er zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Ihr praktiziert Magie?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Nennt es, wie Ihr wollt.«

Er beugte sich etwas dichter zu mir und senkte seine Stimme. »Andernorts würde man Euch als Hexe beschimpfen.«

»Das war einmal«, behauptete ich gleichgültig. »Die Zeiten haben sich geändert. Wenn große Not herrscht, zeigen sich die Menschen viel empfänglicher für alles, was ihnen zu helfen vermag.«

Die Vorstellung, mit einer Hexe zu plaudern, schien ihm Respekt, aber keine Angst einzuflößen. »Was für Kunststücke beherrscht Ihr denn?«, wollte er neugierig von mir wissen, worüber ich aufrichtig lachen musste.

»Ich bin kein dressierter Hund, sondern vermag Menschen mit körperlichen Leiden Linderung zu verschaffen«, wies ich ihn pikiert zurecht. »Ist Euch jemand bekannt, der meine Hilfe gebrauchen könnte?«

»Und dafür zu zahlen vermag?«, horchte er mit einem Zwinkern nach.

Ich schenkte ihm ein süffisantes Lächeln. »Ihr wärt überrascht, was selbst die ärmsten Kirchenmäuse für ein Wunder zu zahlen bereit sind.«

Nun lachte er polternd los und prostete mir zu. »Oh, Ihr seid eine wahre Teufelin. Ich sollte mich besser gut mit Euch stellen.«

Meine gespielte Berechnung schien ihm zu imponieren. Oder es war der Alkohol, den er wie andere Leute Wasser in sich goss, der mich nun doch reizvoll für ihn erscheinen ließ.

Ich kicherte über seine Worte und musste mir eingestehen, dass ich es tatsächlich vermisste, von einem Mann umworben zu werden. Zwar machte Jacob mir hin und wieder Komplimente, aber sie waren stets von ehrlicher Natur und er beabsichtigte damit nichts.

Der erste und letzte Mann, der mich umworben hatte, war Dorian gewesen. Die Erinnerung an unsere erste Begegnung auf dem Balkon des Anwesens meiner Familie blitzte in mir auf. Er hatte nur mit seinen Worten und Blicken vermocht, mir eine Gänsehaut zu bescheren. Ich war ihm verfallen und hatte danach immer nur an ihn denken können. Unser erster Kuss war voller Leidenschaft gewesen und hatte in den Apfelgärten stattgefunden. Es war nicht nur einer gewesen, sondern unzählige. Wir hatten gar nicht die Finger voneinander lassen können.

Nur kurze Zeit später hatte er mich verraten und war bereit gewesen, mich zu töten. Vielleicht war das der Zeitpunkt gewesen, an dem ich vor ihm hätte weglaufen und nie zurückblicken sollen. Aber stattdessen war ich ihm wie ein dummes Schaf bereitwillig überallhin gefolgt.

Noch schlimmer war jedoch, dass ich die glücklichste Frau der Welt gewesen wäre, wenn er in diesem Augenblick die Schenke betreten und mich wie damals geküsst hätte, ungeachtet der vielen Antworten, die er mir schuldig war.

Aber die Tür öffnete sich nicht und Dorian blieb, wo er war – in weiter Ferne. Ich saß immer noch einem Mann gegenüber, der nicht wusste, dass er seine Königin vor sich hatte, und versuchte, über ihn eine hoffnungslose Seele zu finden, der ich ihr Herz stehlen konnte.

Wie tief war ich nur gesunken?

»Es gibt einen Arzt«, erzählte mir mein Gesprächspartner. »Die wenigsten können sich seine Behandlung leisten, aber sie suchen ihn dennoch auf, in der Hoffnung auf sein Erbarmen. Dort solltet Ihr fündig werden.«

Er erklärte mir, wie ich zu dem Haus des Arztes gelangte, und nahm das Bier an sich, welches er mir spendiert hatte, wovon ich jedoch kaum getrunken hatte. Mir reichte das eine Getränk, welches gluckernd in meinem Bauch schwappte und einen bitteren Geschmack auf meiner Zunge hinterlassen hatte.

Noch bevor ich mein Ziel erreichte, konnte ich erahnen, dass es nicht mehr weit war, denn mir kamen auffällig viele Menschen entgegen, die sich entweder auf ihre Begleitung oder einen Stock stützen mussten, weil sie kaum gehen konnten oder keuchten und husteten. Viele Menschen starben an Lungenentzündungen von der bitteren Kälte.

Ich zog meine Kapuze etwas tiefer, damit niemand mein Gesicht sehen konnte. Zwar glaubte ich nicht, dass man mich in dieser Montur erkennen würde, aber ich wollte es nicht darauf ankommen lassen. Ich konnte nicht einschätzen, was Menschen, die verzweifelt waren, in der Lage wären, mit der Person zu tun, der sie an allem die Schuld gaben.

Die Straße endete und ich fand mich in einem kleinen Innenhof wieder. Vor einer Haustür hatte sich eine lange Schlange gebildet. Dort musste der Arzt wohnen.

Ratlos hielt ich mich im Schatten der Häuser und überlegte, was ich nun tun sollte. Nachdenklich betrachtete ich die Reihe, darunter befanden sich sowohl alte Menschen als auch Kinder. Wenn ich zurück im Schloss war, würde ich mir Gedanken darüber machen müssen, wie ich ihnen helfen konnte.

Vielleicht könnte ich einen Arzt einstellen und ihn beauftragen, von Dorf zu Dorf zu reisen, um das Volk kostenlos zu behandeln. Ein einzelner Arzt würde zwar gewiss nicht reichen, aber es wäre ein Anfang und würde unterbinden, dass andere Ärzte sich bereicherten. Es wäre ein Zeichen der Königin, dass ihr das Schicksal ihres Volkes nicht gleichgültig war. Ich würde mit Jacob darüber reden, da ich wusste, dass ihm die Idee gefallen würde.

Eine alte Frau näherte sich der Schlange. Sie ging gekrümmt und musste sich auf einen Stock stützen, der bei jedem Schritt erzitterte. Dazu verzog sie leidend das Gesicht. Eine bessere Gelegenheit würde sich mir nicht bieten, wenn ich an meinem Versprechen festhalten wollte.

Ich löste mich aus dem Hausschatten, steuerte geradewegs auf sie zu und fing sie ab, bevor sie sich in die Wartenden einreihen konnte. »Guten Tag«, sprach ich sie höflich an und lächelte.

Sie machte sich jedoch gar nicht die Mühe, zu mir aufzusehen, murmelte nur »Tag« und wollte an mir vorbeischlurfen.

Ich schnitt ihr den Weg ab. »Wollt Ihr zum Arzt?«

»Was geht’s dich an?«, fauchte sie, genervt über die Störung. »Lass mich vorbei!«

»Ich habe gehört, dass der Arzt niemanden behandelt, der ihn nicht bezahlen kann. Ein richtiger Halsabschneider«, redete ich auf sie ein.

Sie verharrte und legte nun doch den Kopf in den Nacken, um zu mir aufzublicken, was ihr offenbar Schmerzen bereitete, denn ihr Gesicht war nun noch grimmiger als zuvor. Ihre Augen waren ganz trüb, vermutlich konnte sie mich kaum erkennen. Sie blinzelte mir entgegen. »Da sagst du was«, stimmte sie mir leidig zu. »Der Kerl hat mir bereits alles an Schmuck abgeknüpft, was ich besessen habe. Jetzt muss ich darauf hoffen, dass er sich an mich erinnert und sich gnädig zeigt.«

Ich seufzte theatralisch. »Ich befürchte, dass Ihr darauf lange warten könnt.«

»Etwas anderes bleibt mir wohl kaum übrig. Oder kennst du einen anderen Arzt?«

Ich trat näher an sie heran und raunte: »Einen Arzt nicht, aber eine Heilerin.«

»Was sagst du?«, fragte sie, da sie mich offenbar nicht verstanden hatte.

Ich dachte an die Warnung des Mannes, dass Heilerinnen oft als Hexen beschimpft wurden, und wollte es deshalb nicht laut aussprechen, aber die Schwerhörigkeit der Frau ließ mir kaum eine andere Wahl. »Eine Heilerin«, sagte ich etwas lauter, direkt in ihr Ohr.

Die Alte machte eine wegwerfende Handbewegung. »Alles Scharlatane!«

Besorgt sah ich mich um, ob uns jemand beobachtete, doch die Menschen in der Schlange nahmen keine Notiz von uns.

»Warum seid Ihr direkt so misstrauisch? Da Ihr den Arzt erneut aufsucht, nehme ich an, dass er Euch ebenfalls nicht helfen konnte. Stattdessen hat er sich nur an Euch bereichert. Was würde es also schaden, wenn Ihr eine andere Heilmethode ausprobieren würdet?«

Sie zögerte und schien ernsthaft über meine Worte nachzudenken. »Was würde so eine Heilerin denn für ihre Hilfe verlangen?«

»Sie würde sich mit einem Dach über dem Kopf für die Nacht zufriedengeben«, behauptete ich.

»Und wo finde ich diese Heilerin?«

»Sie steht direkt vor Euch«, vertraute ich ihr lächelnd an und hoffte, ihr Vertrauen gewonnen zu haben.

Misstrauisch rümpfte sie die Nase. »Soso.«

»Wie kann ich Euch denn überhaupt helfen?«

»Ach, eine alte Frau wie ich hat viele Leiden«, seufzte sie. »Aber seit einiger Zeit habe ich einen nässenden Ausschlag, der einfach nicht heilen will. Der Arzt gab mir eine Tinktur, doch davon wurde es nicht besser.«

Ich schnalzte tadelnd mit der Zunge. »Euren Schmuck hat er Euch dennoch nicht zurückgegeben. Kommt, lasst uns ein ruhiges Eckchen aufsuchen und ich verspreche, dass es Euch schon bald besser gehen wird.«

Es war nicht einmal gelogen, denn tot würde sie zumindest keine Schmerzen mehr haben. Dennoch fühlte ich mich elendig dabei, sie in eine Falle zu locken. Ich trug unter meinem Mantel einen Dolch an meiner Hüfte, mit dem ich meinem Opfer das Herz aus der Brust schneiden wollte. In meiner Vorstellung war es ganz schnell gegangen, nun scheute ich mich jedoch davor, auch nur die Hand nach dem Griff auszustrecken.

Zusammen mit der Alten verließ ich den Innenhof und suchte eine schmale Seitenstraße auf, die in einer dunklen Sackgasse zwischen zwei Häusern endete. Es stank entsetzlich nach Urin und am Boden lag ein toter Tierkadaver. So ganz allein wurde es auch der Frau nun unheimlich. Sie erkannte, dass niemand sie hören würde, wenn sie hier schreien würde.

»Warum gehen wir nicht zu mir nach Hause und du siehst dir dort meinen Ausschlag an?«, schlug sie mir vor.

»Ich kann es mir leider nicht leisten, nur Euch zu behandeln, deshalb werde ich gleich nach weiterer Kundschaft Ausschau halten«, versuchte ich ihr zu erklären. »Wo befindet sich Euer Ausschlag?«

Unsicher löste sie den Verschluss ihres Umhangs und zog ihn aus. Danach drehte sie mir den krummen Rücken zu. »Es ist im Nacken.«

Sie würde nicht einmal sehen, wenn ich meine Waffe zog und sie ihr in den Hals rammte. Es würde ganz schnell gehen, dennoch zögerte ich.

Anstatt zu tun, weshalb ich gekommen war, schob ich ihr graues Haar beiseite und entdeckte sogleich die besagte Stelle. Beinahe ihr gesamter Nacken war rot und mit rissiger Haut überzogen. Eiter hatte sich in der Mitte um eine Beule gebildet. Jede Berührung bereitete ihr sicher Schmerzen, aber es war nichts, was man nicht hätte behandeln können. Diese Frau war alt, aber nicht sterbenskrank. Sie war nicht das, wonach ich gesucht hatte, aber dennoch das Einzige, was ich gefunden hatte.

Du musst es tun, schärfte ich mir ein.

Ich hatte keine andere Wahl, aber das machte mein Vorhaben nicht weniger entsetzlich. Es war falsch. Ich hatte kein Recht dazu. Nichts konnte entschuldigen, was ich im Begriff war, zu tun. Ihr Blut würde für immer an meinen Händen kleben, ganz gleich, wie oft ich sie auch wusch.

Mein Herz raste in meiner Brust, als ich mit zittrigen Fingern den Dolch hervorzog. »Es wird gleich etwas wehtun«, warnte ich sie vor, dabei war meine Stimme so leise und brüchig, dass sie mich vermutlich gar nicht hörte.

Ich hob die Klinge in Höhe ihres Halses. Wenn ich sie nicht unnötig leiden lassen wollte, musste es ein gezielter, tiefer Schnitt sein. Sie wäre tot, bevor sie überhaupt realisierte, was geschah.

Das kühle Eisen legte sich an ihre Haut und ließ sie erschaudern. »Beeil dich bitte«, forderte sie mich ungeduldig auf.

Ich wollte mein Versprechen an Jacob unbedingt halten. Wilhelm verdiente ein Herz. Der Junge war nun länger in einem Glassarg gefangen, als er überhaupt gelebt hatte.

Dennoch war sein Leben nicht mehr wert als das dieser alten Frau. Jacob würde das genauso sehen. Er würde mich verurteilen für das, was ich tat. Selbst wenn er und auch sonst niemand es je herausfinden würde, könnte ich mir selbst nicht vergeben. Es widersprach allem, woran ich glaubte. Ich wollte nicht jemand sein, der über Leben und Tod entschied.

Meine Finger schlossen sich fester um den Griff der Waffe und ich biss mir auf die Unterlippe, um meine Tränen zurückzuhalten. Es waren Tränen der Verzweiflung.

Meine Hand bebte, als ich die Klinge in die Haut der Frau bohrte. Sie schrie auf, als der Eiter mit Blut vermischt aus der Beule lief. Ich hatte sie nicht erstochen, sondern lediglich ihre Wunde geöffnet. Sie würde weiterleben, selbst wenn es nur einen Tag wäre.

Ich konnte sie nicht töten. Sie nicht und auch sonst niemanden.

Schnell wischte ich die schmutzige Spitze an meinem Umhang ab, ehe ich mir damit in meine eigene Hand schnitt, eine Faust ballte und mein eigenes Blut auf ihres tropfen ließ.

Gemurmelte Worte verließen meine Lippen. Es war Magie, wie Baba Zima sie mich vor Jahren gelehrt hatte. Ich bezahlte sie mit meinem Blut. Bereits am Abend würde nichts mehr von der Beule oder der rissigen Haut zu sehen sein.

Behutsam legte ich der Frau wieder ihren Umhang um, ehe sie sich zu mir herumdrehte. »Das hat wehgetan«, beschwerte sie sich.

»Das wird es nicht mehr lange«, versicherte ich ihr geknickt. »Schon heute Abend werdet Ihr Besserung verspüren. Sollte es nicht so sein, könnt Ihr mir den Zutritt zu Eurem Haus verweigern.«

Meine Worte schienen sie zu beruhigen, denn sie beschrieb mir, wie ich sie finden konnte. Ich hörte ihr nur halb zu, da ich mich mehr damit quälte, wie ich nun mein Versprechen halten sollte.

Als einzige Lösung kam mir Magie in den Sinn. Es gab niemanden, der sich damit besser auskannte als Baba Zima. Allerdings würde sie mir nicht umsonst helfen und ich bereute jeden Tag, was mich ihre Hilfe beim letzten Mal gekostet hatte. Sie hatte Absolution von mir erhalten und seitdem verschwanden immer mehr kleine Jungen spurlos, ohne dass ich irgendetwas dagegen unternehmen konnte.

Was könnte sie noch mehr als das von mir wollen? Welchen Preis wäre ich bereit, zu zahlen?

Das versprochene Herz

Engelland, Finsterwald, Oktober 1803

Der Finsterwald empfing mich mit seiner bedrückenden Stille und den tiefen Schatten, die ineinander übergingen, sodass sich kaum ein Lichtstrahl in das Dickicht verirrte. Ich hätte mich gefürchtet, wenn mir nicht zwischen den Bäumen goldene Augenpaare entgegengeleuchtet hätten. Meine Wölfe waren immer noch da. Sie hatten meine Rückkehr aus Spiegeltal erwartet und würden mich nun sicher durch den Wald geleiten. Das Ziel, welches ich anstrebte, würde ihnen jedoch nicht gefallen.

»Ich muss zu Baba Zima«, sagte ich laut, ohne die Worte an einen bestimmten von ihnen zu richten.

Sie kannten den Weg, auch wenn sie das Haus der Hexe fürchteten. Mit etwas Abstand streiften sie in meiner Nähe durch den Wald. An ihrem Verhalten veränderte sich nichts, aber ich konnte ihren Unwillen spüren. Wir waren auf wundersame Weise miteinander verbunden. Genauso wie sie meine Angst wahrnahmen, konnte ich ihre Gefühlsregungen spüren. Sie waren durch einen Zauber an mich gebunden, aber ich hatte nie versucht, sie mir zu unterwerfen, sondern sie immer als mir ebenbürtig angesehen. Dennoch hatte ich meinen eigenen Willen, den ich nicht dem Unbehagen von Wölfen beugen würde. Niemand zwang sie, mich zu begleiten.

Einer von ihnen, ein großes, stolzes Tier mit hellbraunem Fell, löste sich aus dem Unterholz und trottete vor mir her.

Es dauerte nicht lange, da entdeckte ich leuchtende Kieselsteine auf dem dunklen Waldboden. Bei näherer Betrachtung entpuppten sie sich jedoch als Brotkrumen. Sie verströmten einen herrlichen Duft von frisch gebackenem, noch warmem Brot, der einem das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ.

Stück für Stück führten sie immer tiefer in den Wald hinein. Auf diese Weise lockte Baba Zima unglückliche und hungrige Kinder, von denen es in den letzten sieben Jahren unzählige gab, zu ihrem Haus. Ich brauchte nur meiner Nase und den Krümeln zu folgen, dann würde ich schon bald vor ihrer Schwelle stehen.

Die Wölfe knurrten einvernehmlich und zogen sich zurück. Den Rest des Weges musste ich allein fortsetzen.

Zögerlich ging ich weiter und lauschte angestrengt auf irgendein Geräusch. Vielleicht ein Weinen, ein Flehen oder gar qualvolle Schreie, aber es blieb still.

Nach einigen Minuten Fußmarsch erblickte ich zwischen den Bäumen die erleuchteten Fenster eines Häuschens. Es war Jahre her, dass ich zuletzt dort gewesen war. Seitdem hatte sich einiges verändert. Damals war es eine verwilderte Hütte gewesen, nun stellte es den Traum eines jeden Kindes dar. Das Haus war von oben bis unten mit Süßigkeiten bedeckt. Es schien sogar daraus zu bestehen: Schokolade, Lebkuchen, Bonbons, karamellisierte Früchte. Selbst im Garten wuchsen Zuckerstangen neben Sahnehäubchen.

Der süße Duft verklebte meine Sinne, sodass es mir schwerfiel, mich daran zu erinnern, weshalb ich gekommen war. Aus dem Schornstein stieg Rauch auf und im Inneren tanzte das flackernde Licht von Kerzen. Es musste also jemand zu Hause sein.

Ich versuchte, so wenig wie möglich zu atmen, um mich nicht von den ganzen Naschereien betören zu lassen, als ich auf das Lebkuchenhaus zuschritt. Entschlossen klopfte ich an die Tür. Mein Pochen erzeugte ein Geräusch, wie wenn man Schokolade zerbrach.

Aus dem Inneren war ein Rumpeln zu hören, ehe mir geöffnet wurde und ich mich Baba Zima gegenübersah.

Sie hatte sich in den letzten Jahren kaum verändert. Schon damals war sie alt gewesen und ihre Haltung gekrümmt. Ihre Sehkraft schien jedoch nachgelassen zu haben, denn sie kniff die Augen zusammen, um mich erkennen zu können. Ich war mir nicht einmal sicher, ob das half, denn sie schnupperte wie ein Hund mit der Hakennase in die Luft, ehe sie erstaunt ausrief: »Königin Mary, was für eine freudige Überraschung. Tretet nur ein in mein bescheidenes Heim.«

Sie trat beiseite und ließ mich ein wie eine gute Freundin, die zu Besuch gekommen war. Das erinnerte mich an unser Abkommen, das mich oft nachts vom Schlaf abhielt, wenn ich wieder von einem verschwundenen Jungen erfahren hatte.

»Ich muss mit Euch reden, Baba Zima«, erwiderte ich kühl und blickte mich ängstlich in der Stube um, in der Befürchtung, dort die Überreste eines verbrannten Knaben vorzufinden.

Der Ofen loderte und sorgte für eine enorme Hitze, von einem Kind war jedoch nichts zu sehen. Selbst die kleinen Schädel, die sich früher im Inneren wie zu einer schaurigen Skulptur getürmt hatten, waren verschwunden. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich die Hexe für ein harmloses Großmütterchen mit einer Vorliebe für Süßigkeiten halten können.

»Es muss dringend sein, wenn Ihr den weiten Weg auf Euch genommen habt, nur um mich zu sehen«, bemerkte die Alte, als sie hinter mir die Tür schloss. »Es ist lange her, dass Ihr mir zuletzt die Ehre erwiesen habt.« Ein leiser Vorwurf schwang in ihrer krächzenden Stimme mit. Sie deutete auf einen der beiden Stühle, die an einem schmalen Tisch in der Mitte des Raumes standen. »Nehmt Platz, auch wenn es kein Thron ist, wie er einer Königin würdig wäre.«

»Ich besitze auch in meinem Schloss keinen Thron«, teilte ich ihr nüchtern mit. »Ich bevorzuge, mit meinen Gästen von Angesicht zu Angesicht zu sprechen.«

»Die Güte in Person«, säuselte sie, als wir uns einander gegenübersetzten.

Es gefiel mir nicht, wie sie es sagte, so als wüsste sie es besser und würde die dunklen Abgründe, die in meiner Seele lauerten, bereits kennen. Wenn ich denn noch eine Seele besessen hätte.

Ich machte mir nicht die Mühe, lange um den Grund für meinen Besuch herumzureden. Die Hitze setzte mir zu und ich wollte so schnell wie möglich wieder raus aus diesem Haus.

»Ich brauche ein Herz.«

Ein triumphierendes Lächeln bildete sich auf ihren schmalen Lippen. »Plant Ihr einen Zauber, Königin Mary? Eure magische Begabung war nie sehr groß, aber Eure Opferbereitschaft dafür unermesslich. Die Dornenhecke, welche die gesamte Insel umgibt, ist nur Eurem Blut entsprungen.«

»Nein, kein Zauber«, stellte ich klar. »Es geht um ein Versprechen, das ich jemandem vor langer Zeit gegeben habe.«

Für einen Wimpernschlag zeichnete sich Enttäuschung auf ihrem faltigen Gesicht ab, die sie jedoch wegblinzelte. »Was für ein Herz soll es denn sein? Eines so schwarz wie die Nacht? Oder begehrt Ihr das wertvollste von allen, rein und frei jeder Schuld?«

Mir war nicht bewusst gewesen, dass es da Unterschiede gab. Ich hatte geglaubt, dass der Träger sein Herz formte und somit jedes gleich war.

»Es ist für einen siebenjährigen Jungen«, erklärte ich ihr.

Ein sehnsuchtsvoller Seufzer entfuhr ihr, der mich erschaudern ließ. »Stellt Euch nur mal vor, ein unschuldiges Kind mit einem Herz voller Dunkelheit und Bosheit.«

Entsetzt schüttelte ich den Kopf. »Nein! Ich möchte ein gutes Herz für ihn.«

Offenbar wäre es ein fataler Fehler gewesen, Wilhelm das Herz eines Verbrechers einzusetzen. Hätte ich das der Greisin genommen, wäre er womöglich nicht älter als ein paar Wochen oder gar nur Tage geworden.

Sie schnalzte mit der Zunge. »Dann braucht Ihr das Herz eines Kindes.«

Bestürzt schüttelte ich den Kopf. Nein. Nein, ich konnte unmöglich einem anderen Kind das Leben entreißen, um es Wilhelm zu schenken. Dann wäre ich nicht besser als der Teufel, dem Wilhelm sein trauriges Schicksal verdankte.

»Gibt es denn keine andere Möglichkeit? Vielleicht ein Zauber, der ihm ein eigenes Herz wachsen lässt, ohne es einem anderen stehlen zu müssen?«

»Nein«, entgegnete sie kalt. »Aus dem Nichts kann nichts entstehen. Wenn Ihr Euer Versprechen halten wollt, müsst Ihr den Preis zahlen, den es kostet. Ein Leben wird immer mit einem anderen Leben beglichen.«

Der Schweiß perlte mir über die Stirn und tropfte brennend in meine Augen. Ich fühlte mich schlechter denn je und sehnte mich nach der beruhigenden Wirkung des Mohnblumensafts.

Am Morgen hatte ich geglaubt, dass ich es nicht über mich bringen könnte, einen Verbrecher hinzurichten. Am Mittag hatte ich eine alte Frau verschont und am Abend verlangte mein Versprechen den Tod eines unschuldigen Kindes. Der Preis war gestiegen.

Die Alte beugte sich vertraulich über den Tisch zu mir. Ihr schlechter Atem schlug mir entgegen, als sie den Mund öffnete. »Ich kann Euch helfen, Königin Mary. Nehmt das Herz eines Jungen, der ohnehin sterben wird. Lasst mich die schmutzige Arbeit erledigen und kehrt mit einem reinen Gewissen in Euer Schloss zurück.«

Mein Gewissen war schon lange nicht mehr rein. Es war immer mehr befleckt worden, seitdem ich mich entschlossen hatte, mit Dorian zu gehen.

»Ist der Junge krank?«, fragte ich skeptisch.

Baba Zima grinste mir mit ihren fauligen Zähnen entgegen. »Nein, er ist kerngesund und umso köstlicher wird er schmecken.«

Trotz der brütenden Hitze wurde mir eiskalt. Die Gerüchte stimmten – Baba Zima war eine Kinderfresserin, die es vor allem auf Knaben abgesehen hatte. Ich hatte es gewusst, schon immer, und dennoch hatte ich verzweifelt gehofft, dass es nicht stimmte. Als ich in ihrer Hütte keine Knochen vorgefunden hatte, hatte ich für einen Moment Hoffnung geschöpft.

»Wo ist das Kind?«, keuchte ich.

War es vielleicht schon tot? Mein Hals schien sich immer mehr zuzuschnüren. Ich würde ersticken, wenn ich nicht schnellstens dieses Haus verließ.

»Es genießt seine Henkersmahlzeit – ein saftiger Schokoladenkuchen. Ich habe den Bub über Wochen gemästet, gestopft wie eine Gans, bis er dick und rund war. Nun sitzt er in meinem Garten und wartet auf seinen Tod.« Sie lächelte mich gönnerisch an. »Ihr könnt sein Herz haben, ich brauche es nicht.«

Mein Puls raste und mir wurde ganz schwindelig bei dem Gedanken daran, dass dies nicht das erste Kind war, welches in ihrem Ofen sterben würde. So musste es schon seit Jahren gehen. Ich hatte es geahnt und nie etwas unternommen, wegen eines Versprechens, das ich ihr gegeben hatte – Absolution. Nun brachte mich ein weiteres Versprechen zu ihr, das mich nicht nur zur Mitwisserin, sondern auch noch zur Täterin machen würde. Das konnte ich nicht zulassen. Jacob musste dafür Verständnis haben, so sehr es mich auch schmerzte, meinen einzigen Freund zu enttäuschen.

Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, als ich nickte. »Wenn es nicht anders geht, bin ich bereit, den Preis zu zahlen. Soll ich den Jungen reinholen?«

»Lasst nur, darum kümmere ich mich schon selbst«, antwortete sie mir. »Ich kann doch nicht zulassen, dass meine Königin mir wie eine gewöhnliche Magd zur Hand geht.« Sie schaute mich an, als wüsste sie ganz genau, dass ich plante, sie zu hintergehen.

Tatsächlich hatte ich gehofft, den Jungen zu befreien und ihm zu sagen, dass er so schnell rennen sollte, wie er nur konnte, während ich Baba Zima ablenken würde. Aber mir würde es auch gelingen, ihm zu helfen, wenn er bereits die Stube betreten hatte. Ich würde nichts unversucht lassen, um ihn zu retten. Nie wieder sollte in diesem Haus ein Kind sterben.

»Ich wollte Euch nur helfen, aber wenn Ihr darauf besteht, werde ich natürlich hier warten«, erwiderte ich mit scheinbarer Gleichgültigkeit.

Mein Wandel ging der Hexe zu schnell. Sie musterte mich voller Argwohn. »Niemand zwingt Euch, das mit anzusehen«, sagte sie einfühlsam. »Geht ruhig in den Wald, schnappt etwas frische Luft und kommt in zehn Minuten wieder. Dann habe ich, was Ihr braucht.«

Sie wollte mich loswerden, aber ich schüttelte bestimmt den Kopf. »Nein, ich muss mir des Opfers bewusst sein, welches mein Versprechen verlangt. Ich bleibe.«

»Wie Ihr wollt«, meinte die Alte, ehe sie die Hütte verließ.

Ein kühler Luftzug wehte in das Innere, der mich mit neuer Energie erfüllte. Ich konnte nicht länger auf dem Stuhl sitzen und abwarten. Unruhig erhob ich mich und eilte zu einem der Fenster, welches zur Rückseite des Hauses gerichtet war. Es war jedoch mit einem Fensterladen verschlossen, der sich nicht öffnen ließ.

Angespannt hielt ich die Luft an und lauschte, aber das Knistern des Feuers übertönte jedes andere Geräusch.

Schließlich wurde die Tür wieder geöffnet und die Hexe zerrte einen wohlgenährten Jungen hinter sich her. Er war nicht älter als zehn. Sein Gesicht glänzte im Feuerschein von den bitterlichen Tränen, die er vergoss. Dazu war es gerötet. Er war vermutlich das einzige Kind in ganz Engelland, das in diesen schweren Zeiten pausbäckige Wangen hatte. Sein ganzer Körper war aufgedunsen. Die Masse half ihm nicht, sich gegen seine Entführerin zur Wehr zu setzen, sondern hinderte ihn eher. Von der langen Zeit in Gefangenschaft waren seine Muskeln erschlafft.

»Ich tue alles, was Ihr wollt. Nur bitte, bitte, bitte lasst mich gehen«, flehte er schluchzend und verschluckte sich dabei fast an seinen eigenen Tränen. Er ahnte, dass der Moment seines Todes gekommen war.

Ich konnte es kaum ertragen, das Kind so zu sehen. Am liebsten hätte ich ihn Baba Zima entrissen und mich schützend vor ihn gestellt, aber ich musste mich ruhig verhalten und den richtigen Moment abwarten.

»Schaut Euch nur dieses Prachtexemplar an«, rief die Alte mir erfreut zu, woraufhin der Kopf des Jungen erschrocken in meine Richtung schnellte. Er hatte mich bisher nicht wahrgenommen. »Sein Fleisch wird unvergleichlich saftig sein, durchzogen von dem ganzen Fett. Es wird ein wahres Festmahl.«

Vermutlich würde ich die nächsten Wochen auf jeglichen Verzehr von Fleisch verzichten, bis ich dieses entsetzliche Bild wieder aus meinem Kopf bekam.

Mit großen, angstgeweiteten Augen starrte der Junge mich an. »Bitte helft mir!«

»Das ist die Königin von Engelland, Bürschlein«, geiferte Baba Zima. »Sie wird dein Herz mitnehmen und es einem anderen Jungen einsetzen. Tröste dich damit, dass ein Teil von dir weiterleben wird.«

Die Hexe zerrte den Knaben an ihren Ofen und griff nach einem Messer, welches sie bereits parat gelegt hatte. Sie hob es hoch, bereit, es ihm in den Körper zu stoßen, während dieser wimmerte.

»Wartet!«, rief ich und eilte zu ihnen.

Zu Füßen des Jungen hatte sich eine Pfütze gebildet. Er hatte sich eingenässt.

»Habt Ihr es Euch etwa anders überlegt?«, schimpfte Baba Zima zornig.

»Keineswegs«, versicherte ich ihr. »Ich brauche dieses Herz und dies ist der einzige Weg, um es zu erlangen. Aber ich sollte die Bürde dieses Todes selbst tragen.«

Ich zückte meinen Dolch. Die Klinge war noch verschmutzt von meinem eigenen Blut, mit dem ich die Wunde der alten Frau geheilt hatte.

Die Augen der Hexe funkelten gleichermaßen vor Misstrauen als auch Faszination. »Wie ich sehe, ist Eure Waffe bereits zum Einsatz gekommen«, erwiderte sie staunend. Das hatte sie mir nicht zugetraut.

»Ich habe sie heute bereits benutzt, als ich versuchte, an ein anderes Herz zu gelangen.«

»Was ist geschehen? Hat Euch der Mut verlassen?«

»Nein, ich wurde gestört, bevor ich es zu Ende bringen konnte, und musste deshalb fliehen«, log ich sie an, wobei ich ihr direkt in die schwarzen Augen blickte.

Ich konnte nicht erkennen, ob sie mir glaubte. Aber ihre Neugier, ob ich tatsächlich in der Lage wäre, zu tun, was ich behauptete, war größer als ihr Argwohn und so senkte sie ihr Messer und trat hinter den Jungen, um mir den Weg zu ihm nicht zu versperren.

»Ich bitte Euch«, jammerte dieser zitternd. »Wenn Ihr die Königin von Engelland seid, dann lasst mich am Leben. Ihr habt geschworen, dieses Land und all seine Bewohner zu beschützen. Ihr dürft mich nicht töten!«

Es tat mir leid, was ich ihm alles zumutete. Er würde noch lange furchtbare Träume haben, aber dafür würde er leben, mit einem schlagenden Herzen in der Brust.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739451657
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Juli)
Schlagworte
Blutgräfin Bathory Hexe Märchenadaption Märchen Königin Vampire Prinzessin Dracula Fantasy düster dark Romance Urban Fantasy Horror

Autor

  • Maya Shepherd (Autor:in)

Maya Shepherd wurde 1988 in Stuttgart geboren. Zusammen mit Mann, Tochter und Hund lebt sie mittlerweile im Rheinland und träumt von einem eigenen Schreibzimmer mit Wänden voller Bücher. Seit 2014 lebt sie ihren ganz persönlichen Traum und widmet sich hauptberuflich dem Erfinden von fremden Welten und Charakteren.
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Titel: Der schwarze Spiegel