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Der Gesang der Sirenen

von Maya Shepherd (Autor:in)
71 Seiten
Reihe: Die Grimm-Chroniken, Band 4

Zusammenfassung

Dort zwischen der Gischt entdeckte ich ein bleiches weibliches Gesicht. Die Sirene hatte leuchtende Augen, so grün wie Algen. Ihr Haar war rot wie Blut. Es floss in sanften Wellen über ihren Körper, der nackt war, soweit ich es erkennen konnte. Sie war eine Schönheit und es fiel mir leicht, zu verstehen, warum Männer ihr und ihrem Gesang verfielen. Doch wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, dass sie spitze Zähne in ihrem Mund trug. Zähne, die zum Töten gemacht waren. An ihrem Hals hatte sie Kiemen wie ein Fisch. Sicher war ihr Körper kalt wie der Tod. Die Sirenen waren seelenlos, deshalb vermochten sie nicht mehr, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Sie hatten geliebt und waren so bitter enttäuscht worden. Das Leben hatte für sie nur Leid übrig gehabt und nun waren sie in ewiger Rachsucht gefangen. »Stürze dich in die Fluten und schenke der Meerhexe deine Seele. Sie wird dir im Gegenzug die Gunst des ewigen Lebens erweisen.«

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Was zuvor geschah

1593

Mary und Dorian machen sich auf den Weg ans Meer, um von dort mit der Suche nach der Erdenmutter zu beginnen. Ihre Reise hat jedoch einen schlechten Start, da sie bereits in ihrer ersten Nacht von Dorians Vater, Vlad Dracul, gefunden werden und ihnen nur knapp die Flucht gelingt.

Obwohl Mary Dorian blind vertraut, hüllt dieser sich weiterhin in Geheimnisse. Er verrät Mary jedoch, dass sowohl sein Vater als auch er wissen, wer ihre leiblichen Eltern sind, und verspricht ihr, dass er sie zu gegebener Zeit einweihen wird.

Als sie den Hafen von Hamburg erreichen, erkauft Dorian für sie eine Fahrt auf dem Schiff Fahrender Tod, dessen Kapitän sich Blaubart nennt.

2012

Will beißt in den goldenen Apfel, um so in Schneewittchens Traum zu gelangen. Nur wenn es ihm gelingt, sie dort zu töten, können seine Freunde und er nach Hause zurückkehren.

Zwischen Traum und Wirklichkeit, 1803

Will erwacht in einer Erinnerung von Schneewittchen an dem Tag ihres siebten Geburtstags. Dabei erfährt er, dass ihr richtiger Name Margery lautet. Mary und Dorian sind ihre Eltern und zugleich Königin und König des Reiches Engelland.

Zur Feier laden sie den jungen Prinzen Philipp und seine Eltern zu sich in das Schloss Drachenburg ein. Als Margery Philipp zum Spielen in den Garten führt, sticht dieser sich mit dem Finger an dem Dorn eines Rosenstrauchs und blutet. Schneewittchen beißt ihn daraufhin in den Hals, wogegen der Prinz sich nicht wehrt. Die Prinzessin bemerkt nicht, dass sie zu viel Blut von ihm nimmt, sodass Philipp bewusstlos wird.

Erst als ihre Eltern bestürzt eingreifen, lässt sie von ihm ab. Die Eltern des Prinzen sind verängstigt, nachdem ihr Sohn fast getötet worden wäre. Dorian nimmt ihnen ihre Erinnerungen und schickt sie fort. Margery darf Philipp nie wiedersehen, da er sich sonst daran erinnern würde, was geschehen ist.

In einer weiteren Erinnerung findet Will sich neben dem siebenjährigen Schneewittchen in einem Kleiderschrank wieder. Gemeinsam beobachten sie Königin Mary, wie sie mit einer fremden Frau in ihrem Spiegel spricht. Dabei erfahren sie, dass Mary immer mehr altert und schwächer wird, je älter ihre Tochter wird. Am sechzehnten Geburtstag Margerys wird Mary sterben, da nur eine von ihnen leben darf.

Der Spiegel fordert sie auf, ihre Tochter zu töten, was Mary jedoch vehement ablehnt. Danach schlägt der Spiegel ihr vor, in dem Blut junger Mädchen zu baden, um wenigstens den Alterungsprozess aufzuhalten. In dem Augenblick bemerkt Mary die Anwesenheit ihrer Tochter in dem Schrank, woraufhin Margery ihre Mutter anfleht, niemandem ein Leid zuzufügen. Mary verspricht ihr, dass sie den Rat des Spiegels nicht befolgen wird. Sie nennt ihre Tochter liebevoll Schneeweißchen.


Die Macht der Worte

Königswinter, Schloss Drachenburg, Oktober 2012

Maggy schaute auf den bewegungslosen Körper von Will hinab. Er sah aus wie tot. Der Anblick schnürte ihr die Kehle zu und trotzdem konnte sie die Augen nicht von ihm abwenden. Vielleicht konnte sie es auch gerade deshalb nicht: Will wirkte so hilflos. Er war in einem Traum gefangen und es gab nichts, was Maggy tun konnte, um ihm zu helfen.

Sie hatte ihm immer zur Seite gestanden, schon ihr ganzes Leben lang. Aber dies war ein Kampf, den Will nur allein auszutragen vermochte. Er war ein Teil dieser Geschichte, welche Rolle er auch spielen mochte. Sie hingegen war nur eine unbeteiligte Zuschauerin – genau wie Joe.

Er legte ihr eine Hand auf die Schulter, um sie zu trösten, doch sie wog schwer wie Blei.

»Die Sonne geht unter«, stellte Rumpelstein fest.

Durch die großen Fenster der Westfront drang golden das letzte Licht des Tages. Es waren Stunden vergangen, ohne dass sie sich vom Fleck gerührt oder auch nur ein Wort gesprochen hatten. Stumm hatten sie über den beiden Körpern Wache gehalten, mit ganz unterschiedlichen Wünschen und Hoffnungen.

Rumpelstein wollte Schneewittchens Tod, um jeden Preis.

Joe betete dafür, dass es sein Freund lebendig zu ihm zurückschaffen würde. Schneewittchen war dabei eher nebensächlich.

Maggy hingegen glaubte fest daran, dass in den Träumen der Prinzessin viel mehr verborgen lag als Rumpelstein zugeben wollte. Sie hatte in ihren Augen einen Funken Hoffnung gesehen. Sie war nicht das Monster, als das ihre Mutter und der Zwerg sie darzustellen versuchten. Will musste es schaffen, zu ihrem Herzen durchzudringen, um sie retten zu können.

»Wir müssen das Schloss verlassen haben, bevor Schneewittchen erwacht«, fuhr Rumpelstein fort.

Er war heute erstaunlich lange bei ihnen geblieben. Für gewöhnlich hielten seine Besuche nur wenige Minuten an, in denen er ihnen auf Fragen mit Antworten begegnete, die sie nur noch mehr verwirrten.

»Aber was ist mit Will?«, wandte Maggy besorgt ein. »Wir können ihn doch nicht bei ihr zurücklassen.«

Sobald die Sonne untergegangen war, würde Schneewittchen wieder so etwas wie schlafwandeln und nicht mehr wissen, was sie tat.

»Er liegt ja praktisch auf dem Präsentierteller. Sie wird sich sofort über ihn hermachen«, pflichtete Joe ihr bei.

Rumpelstein schmunzelte über seine Wortwahl. »Keine Sorge, sie wird ihn überhaupt nicht wahrnehmen«, behauptete er und deutete mit einem Kopfnicken auf den schlafenden Will. »Euer Freund befindet sich in einem Stadium, das dem Tod näher als dem Leben ist. Sein Herz schlägt so schwach, dass Schneewittchen ihn für tot halten wird.«

Nicht nur für Schneewittchen sah er tot aus, auch für Maggy. Sie wusste, dass sie aus lauter Sorge um ihren Freund in der Nacht kein Auge zubekommen würde.

»Können wir ihn nicht mitnehmen?«, fragte sie Joe und blickte flehend zu ihm auf. Er wäre stark genug, um ihn eine Weile tragen zu können.

Ehe ihr Bruder etwas antworten konnte, sagte Rumpelstein: »Junge, du magst vielleicht stark aussehen, aber du bist kein Bär. Der Weg zum Lebkuchenhaus ist beschwerlich, auch ohne eine Last auf dem Rücken. Wenn ihr es vor Einbruch der Dunkelheit erreichen wollt, lasst euren Freund dort, wo er hingehört.«

»Er gehört hier nicht hin«, fauchte Maggy zornig. »Er gehört zu uns. Zu seiner Familie.«

Auch wenn sie zugeben musste, dass sie die unerklärliche Verbindung zwischen ihm und Schneewittchen ebenfalls wahrgenommen hatte. Es war, als gehörten sie zueinander.

Will musste etwas Ähnliches empfunden haben, sonst hätte er nie in den goldenen Apfel gebissen.

Joe verschränkte provokativ die Arme. »Ich fürchte mich nicht vor der Dunkelheit«, ließ er den Zwerg wissen.

Das Männlein gluckste. »Vor dem mangelnden Licht brauchst du dich auch nicht zu ängstigen, sondern vor den Gefahren, die in den Schatten des Waldes lauern und nur bei Nacht hervorkommen.«

»Was für Gefahren?« Joes Kiefer waren fest aufeinandergepresst. Er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass ihn die Vorstellung eines finsteren Waldes sehr wohl besorgte.

»Habt ihr sie in den Nächten nie den Mond anheulen gehört?«, fragte Rumpelstein erstaunt. »Den Wölfen gehört die Nacht. Sie streifen durch die Wälder und sind immer hungrig. Niemand sollte sich dort in der Dunkelheit aufhalten.«

Rumpelstein war nicht unbedingt eine verlässliche Quelle, aber nach einem Haus aus Süßigkeiten und einer bluthungrigen Märchenprinzessin war die Vorstellung von Wölfen geradezu normal. In Königswinter schien alles möglich zu sein.

Zudem hatte er in diesem Fall keinen Grund, zu lügen, schließlich lag es in seinem Interesse, dass Will überlebte und seine Aufgabe erfüllte. Auch wenn es sich wie ein Verrat anfühlte, ihrem Freund nun den Rücken zu kehren und das Schloss zu verlassen. Als würden sie ihn im Stich lassen.

»Lass uns gehen«, willigte Maggy schweren Herzens ein.

Joe spürte ihre Zerrissenheit und legte ihr überraschend fürsorglich seinen Arm um die Schultern. Er schob sie in Richtung des Flurs, der sie zum Ausgang führte.

Obwohl sie Geschwister waren, hatte Maggy ihre Sorgen nie mit ihm, sondern immer mit Will geteilt. Genauso hatte auch Joe immer Rat bei seinem Freund und nie bei seiner Schwester gesucht. Sie waren ein Dreiergespann und nun fehlte der wichtigste Teil von ihnen – ihr Bindeglied.

Als sie aus dem Schlosstor traten, war Rumpelstein verschwunden. Es wunderte keinen von ihnen mehr. Das Männlein kam und ging, wie es ihm beliebte.

Was tat er, wenn er nicht bei ihnen war? Welche Rolle spielte er in dieser Geschichte? War er wirklich nur der Handlanger der Königin? Einer Königin, die Will zwar nach Königswinter eingeladen, sich ihm aber danach nie gezeigt hatte?

Maggy und Joe machten sich wie selbstverständlich auf den Rückweg zum Lebkuchenhaus. Es wäre zu viel gesagt, dass es zu ihrem Zuhause geworden war, aber zumindest war es der Ort, an dem sie Schutz suchten.

Als sie das Häuslein erreichten, hatte die Dämmerung bereits eingesetzt. Maggy schloss die Tür auf und tastete sich routiniert zu dem alten Ofen vor. Sie brauchte nur mit der Hand über das Messingschild an der oberen Front zu streichen und schon loderten die Flammen auf. Es war unerklärlich. Es war Magie.

Joe schüttelte darüber verständnislos den Kopf, kommentierte es jedoch nicht weiter. Er ließ sich erschöpft auf das Bett sinken, welches ihn mit einem geräuschvollen Quietschen willkommen hieß.

Seine Schwester stand verloren in der Mitte des Raumes und blickte zu dem kleinen Tisch mit den zwei Stühlen, wo sie die erste Nacht neben Will verbracht hatte. Seine Abwesenheit war überall spürbar. Sie war wie ein Dorn, der Maggy immer wieder ins Herz stach, wenn sie sich auch nur einen Moment gestattete, nicht an ihn zu denken.

»Komm her«, murrte Joe und deutete auf den Platz neben sich im Bett.

Maggy hob erstaunt die Augenbrauen, die daraufhin hinter ihren langen Ponyfransen verschwanden. »Du überlässt mir das Bett?«

Der tadelnde Unterton in ihrer Stimme ließ Joe augenblicklich bereuen, dass er etwas gesagt hatte. »Sehe ich aus wie ein verdammter Prinz?«, blaffte er sie herausfordernd an. »Du kannst am Fußende schlafen – wie ein Hund.«

Maggy lachte nur darüber, als sie sich neben ihn auf die Matratze sinken ließ. Zumindest war der gequälte Ausdruck in ihren braunen Augen für einen Moment erloschen.

Sie schälte sich aus ihrem Mantel und legte ihn ordentlich gefaltet über das Bettende, bevor sie auch ihre Schnürsenkel öffnete und sich die Schuhe von den Füßen streifte.

»Muss das sein?«, quengelte Joe daraufhin und verzog angeekelt das Gesicht. »Deine Füße stinken schlimmer als jede Käsefabrik.«

Maggy beachtete ihn gar nicht, sondern kletterte an ihm vorbei in das Bett. Sie legte sich dicht an die Wand.

Joe wollte sich neben sie legen, doch sofort protestierte sie: »Zieh die Schuhe aus!«

Es war ein Tonfall, der keine Widerrede duldete. Maggy hatte ihn perfekt drauf.

»Hey, du weißt schon, dass ich der Ältere von uns beiden bin, oder?«, erinnerte Joe sie provozierend.

»Umso schlimmer, dass ich dir sagen muss, dass man keine Schuhe im Bett trägt«, entgegnete sie schnippisch.

»Wer sagt das?«

»Ich sage das!«

Es überraschte Joe immer wieder, mit welcher Selbstsicherheit seine Schwester Dinge von ihm einforderte. Wenn es um andere Menschen ging, war sie weder selbstbewusst noch vorlaut, sondern eher zurückhaltend und schüchtern.

Joe dachte daran, seine Füße samt Schuhen dennoch auf das Bett zu legen, nur um sie zu ärgern. Aber er wusste, dass sie bei diesem Thema keinen Spaß verstehen würde, und so leistete er ihrer Forderung Folge, wenn auch nur widerwillig. Seine Jacke behielt er jedoch an, als er sich neben ihr ausstreckte.

»Morgen schläfst du wieder auf dem Boden«, knurrte er.

Maggy drehte sich auf die Seite und wandte ihm den Rücken zu. »Warum kannst du nie nett zu mir sein, wenn Will dabei ist?« Ihre Stimme war plötzlich ganz leise und ernst.

»Du bist eine Klugscheißerin, deshalb«, blaffte Joe und legte sich ebenfalls mit dem Rücken zu ihr.

Er wusste, was sie mit ihrer Frage gemeint hatte, und musste ihr sogar recht geben. Es kam nur selten vor, dass die Geschwister allein waren. Ihr Umgang miteinander war dann seltsamerweise immer etwas unbeholfen, als hätten sie Angst, ohne den Puffer zwischen ihnen wie zwei kollidierende Züge ungebremst aufeinander zu krachen.

Joe liebte seine Schwester, mehr als irgendjemanden sonst – sie war alles für ihn. Er bewunderte ihre Zielstrebigkeit, ihren Ehrgeiz und wohl am meisten ihren unverbesserlichen Optimismus. Nichts davon würde er ihr jedoch sagen, denn es würde ihr nur zu Kopf steigen. In Wills Gegenwart hatte er immer das Gefühl, sich vor ihr behaupten zu müssen, um nicht in ihrem Schatten zu versinken.

Sie blieb still – er lauschte ihrer Atmung.

»Es ist lange her«, meinte sie leise, als er schon nicht mehr damit rechnete, dass sie noch etwas sagen würde.

Sie brauchte nicht zu erklären, was sie damit meinte – Joe verstand sie sofort. Zuletzt hatten sie sich als Kinder mit vier und fünf Jahren ein Bett geteilt. Sobald Maggy eigenständig aus ihrem Gitterbett hatte klettern können, war sie oft zu ihrem Bruder unter die Bettdecke gekrochen gekommen. Sie hatte seine Hand in ihre genommen und sie festgehalten, manchmal die ganze Nacht.

Er war der Mittelpunkt ihres Lebens gewesen – ihre Bezugsperson. Egal, was er getan hatte, sie hatte versucht, es ihm nachzumachen. Er hatte sie nur anzugrinsen gebraucht und schon hatte auch sie gelächelt. Sie hatte über jede Alberei von ihm gelacht. Wenn seine kleine Schwester ihn angesehen hatte, hatte Joe sich wie ein Superheld gefühlt. In ihren Augen hatte so viel Bewunderung gelegen.

Dann war Will in ihr Leben getreten …

Es war lange her.

»Damals warst du noch nicht so dick wie heute«, zog Joe sie auf, woraufhin Maggy ihm einen Stoß mit ihrem Hintern verpasste.

»Ich bin nicht dick«, protestierte sie.

Maggy war jedoch wie beinahe jedes Mädchen. Obwohl es an ihrem Körper nichts auszusetzen gab, konnte sie Stunden damit verbringen, sich über ihre angeblichen Makel zu beklagen. Auch ihre Reaktion bewies, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte. Wenn sie mit sich und ihrem Körper zufrieden gewesen wäre, hätte seine Aussage sie nicht getroffen, sondern sie hätte darüber gelacht.

Er verpasste ihr nun seinerseits mit dem Hintern einen Stoß. »Mach dich nicht so breit.«

Maggy schubste zurück. »Du bist hier doch der Riese!«

»Lieber ein Riese als ein Zwerg wie Rumpelstilzchen.«

»Du vergleichst mich mit Rumpelstilzchen?«, rief sie fassungslos.

Aus dem gegenseitigen Schubsen wurde ein Gerangel, welches das alte Bett zum Knarren brachte.

»Du stinkst schon genauso wie er«, feixte Joe.

»Deine Zähne werden von den vielen Waffeln, die du in dich reinstopfst, genauso schwarz wie seine«, schlug Maggy zurück.

»Ich habe eben noch einen Geschmackssinn und kann mich nicht von Pappe ernähren.«

»Du frisst die Speisekammer leer!«

Auf eine Äußerung folgte die nächste, bis die beiden vor lauter Lachen keinen Ton mehr herausbekamen.

Nur Geschwister können in gegenseitigen Beleidigungen ihre tiefe Verbundenheit zum Ausdruck bringen. Es war für Joe leichter, Maggy auf diese Weise abzulenken, als sich ihre Sorgen anzuhören, die er ohnehin nicht mindern konnte. Es gab nichts, das sie noch tun konnten, um Will zu helfen. Er musste es allein schaffen.

Es war ein Rascheln der Decke zu hören, die Joe freiwillig seiner Schwester überlassen hatte. Dann spürte er Maggys Hand auf seiner. Sie hielt sich an ihm fest – so wie sie es früher getan hatte.

»Danke«, wisperte sie in die Nacht.

Er drückte zur Antwort ihre Hand.

Gern geschehen.

Die Geschwister verließen noch vor Sonnenaufgang das Lebkuchenhaus. Dunkelgraue Wolken zogen sich über den Himmel. Der Duft von Regen hing in der Luft. Es konnte nicht mehr lange dauern und die ersten Tropfen würden auf die Erde prasseln. Jeder Schritt fühlte sich wie zehn an – niedergedrückt von den Sorgen, die auf ihren Schultern lasteten.

Was würden sie erleben, wenn sie in das Schloss zurückkehrten? Würden sie Will noch genauso vorfinden, wie sie ihn am vergangenen Nachmittag zurückgelassen hatten?

Ihr Herzschlag beschleunigte sich, je näher sie dem alten Gemäuer kamen. Auf der Lichtung angekommen, blickten sie zur Drachenburg empor. Sie thronte unheilvoll auf ihrem Hügel vor dem grauen Hintergrund. Etwas Düsteres ging von dem Gebäude aus, das sie zuerst nicht hatten wahrnehmen können.

Als sie das Schloss zum ersten Mal gesehen hatten, waren sie von seiner Pracht und seiner Schönheit beeindruckt gewesen. Es waren Trugbilder gewesen, die von seinem schwarzen Kern hatten ablenken sollen.

Wie viele Gräueltaten hatten sich hinter den dicken Mauern schon ereignet? Wie viel Blut war auf dem Stein vergossen worden und in das Holz gesickert – eingezogen bis in jede Ritze und jeden Winkel?

Rumpelstein hatte angedeutet, dass das Schloss einen eigenen Willen besitzen würde. Wenn dem so war, musste es von einer dunklen Seele bewohnt werden, die sich am Leid anderer labte.

Die ersten Regentropfen lösten sich aus der dicken Wolkendecke. Bis sie das Schloss erreichten, war aus den wenigen Tropfen ein stetiger Regenguss geworden. Unbarmherzig durchtränkte er ihre Kleider, drang bis zu ihrer Haut vor und trieb die Kälte in ihre Knochen.

Maggy und Joe schlotterten, als sie sich in die Eingangshalle der Drachenburg retteten. Sobald ihre eigenen gehetzten Atemzüge verklangen, war nur noch das Trommeln des Regens auf die Dächer zu hören. Es war ein beunruhigender Rhythmus, wie die Melodie in einem Film zur Einleitung eines Schockmoments, der einem das Blut in den Adern gefrieren lässt.

Der Drang, zu schleichen und sich so langsam und geräuschlos wie möglich zu bewegen, war groß, doch Maggy handelte ihm zum Trotz: Sie hastete den Korridor zum Westflügel entlang. Nichts konnte sie mehr halten.

Joe rannte ihr nach.

Sie waren jedoch nicht die ersten Besucher. Rumpelstein hockte im Schneidersitz auf dem Boden neben Schneewittchens Glassarg. Als er die Geschwister sah, erhob er sich.

Vor dem Sarg lag Will – genau so, wie sie ihn verlassen hatten. Er war bleich und wirkte dieser Welt ebenso fern wie die schlafende Schönheit.

»Ach sieh an, was macht ihr denn hier?«, erkundigte sich das Männlein höhnisch.

»Wo sollten wir denn sonst sein?«, entgegnete Joe gereizt, während Maggy sich neben Will kniete und sein Gesicht auf das kleinste Lebenszeichen studierte.

Behutsam legte sie ihre Finger an seinen Hals. Sie konnte seinen Puls kaum fühlen.

»Wie lange kann er in diesem Stadium überleben?«, wandte sie sich besorgt an Rumpelstein. »Wird er nicht irgendwann verdursten oder verhungern?«

Der Zwerg schnaubte verächtlich. »Das ist der Schlafende Tod. Er könnte ewig so leben.«

»Das wäre kein Leben«, widersprach Maggy ihm, auch wenn es sie erleichterte, zu hören, dass Will zumindest nicht die Zeit davonlief. »Wir sollten ihm Decken und ein Kissen holen. Der Boden ist kalt und er bewegt sich nicht.«

»Wisst ihr denn nicht, dass ihr nun wieder nach Hause zurückkehren könnt?«, fragte der Zwerg. »Niemand wird euch daran hindern. Es ging nie um euch, sondern immer nur um Wilhelm.« Seine Worte waren geringschätzig. Er hatte Will nun dort, wo er ihn haben wollte, und seine Freunde waren nichts als Ballast.

Überrascht sah Joe von Rumpelstein zu seiner Schwester, doch diese schüttelte sofort energisch den Kopf.

»Auf keinen Fall! Ich verlasse diesen Ort nicht ohne Will!«

»Wir könnten Nico und Lisa anrufen und ihnen alles erzählen«, wandte Joe vorsichtig ein.

Die Verlockung, in die Realität zurückzukehren, war groß. Sie könnten diesem Albtraum entfliehen.

»Würdest du uns an ihrer Stelle glauben?«, konterte Maggy. Es empörte sie, dass Joe auch nur daran denken konnte, Will zu verlassen.

»Vermutlich nicht«, gab Joe zu. »Aber wir könnten trotzdem Hilfe holen.«

»Wer sollte uns denn deiner Meinung nach in unserer Situation helfen können?« Ihre Stimme klang gereizt. Egal, was Joe vorbringen würde, und egal, wie vernünftig es auch sein mochte, sie würde nicht gehen.

»Was ist mit Ludwig?«, fragte er, weil Wills Vater der einzige Mensch zu sein schien, der in dieser verrückten Geschichte Klarheit finden könnte.

Joe sah, dass Maggy ihm intuitiv widersprechen wollte, doch die Erwähnung von Ludwig ließ sie innehalten. Sie begann, über seinen Vorschlag nachzudenken.

»Wer ist Ludwig?«, erkundigte sich Rumpelstein, was verwunderlich war, da sie zu Beginn angenommen hatten, dass die beiden in einer Verbindung zueinander stehen müssten. Sie hatten die gleichen Hirngespinste.

Hirngespinste, die sich als schockierend real herausgestellt hatten.

»Er würde in seinen Büchern nach einer Lösung suchen«, murmelte Maggy. »Es muss einen Weg geben, um Will helfen zu können.«

»Bücher gibt es hier zahlreich«, mischte sich der Zwerg erneut ein.

Maggy richtete ihren Blick auf ihn. »Wo?« Ihr war bisher kein Zimmer mit einem Bücherregal aufgefallen.

»Ich könnte dir die Bibliothek zeigen«, bot er ihr an, was augenblicklich Maggys Misstrauen weckte. Bisher hatte sie Rumpelstein selten als hilfsbereit erlebt – am wenigsten, wenn er nichts davon hatte.

Sie schaute zögernd zu ihrem Bruder. »Bleibst du bei Will?«

Auch Joe gefiel der Gedanke nicht, dass Maggy allein mit dem heimtückischen Zwerg durch das Schloss streifen würde, aber seine Schwester irrte sich selten. Vielleicht könnten sie die Lösung für ihr Problem tatsächlich in einem Buch finden. Alles, was gerade geschah, fühlte sich so unwirklich an, als wären sie in eine Geschichte gestolpert, die mit schwarzer Tinte auf weißem Papier geschrieben stand.

Er nickte. »Sei vorsichtig«, bat er sie mit eindringlichem Blick.

»Komm«, forderte Rumpelstein und humpelte voraus.

Maggy ging ihm nach. Noch bevor sie wieder die Eingangshalle erreichten, blieb das Männlein vor einer geschlossenen Tür stehen. Sie machte einen unscheinbaren Eindruck, doch als Rumpelstein sie aufstieß, weiteten sich Maggys Augen vor Staunen. Sie hatte mit einem kleinen Zimmer gerechnet, vielleicht mit einem einzelnen Regal, höchstens eine Regalwand, aber nicht mit einem eigenen Reich.

Ihre Augen betrachteten einen Raum, der in seiner Größe kaum zu übertreffen war. Regale reihten sich aneinander wie zehnfach gespiegelt. Sie waren gefüllt mit Büchern – so viele, dass kein Mensch sie zählen konnte. Sie begannen am Boden und reichten bis an die meterhohe Decke, deren Ende nur mit einer Leiter zu erreichen war. In der Luft lag der unverwechselbare Geruch von altem Papier.

Kaum ein anderer Duft ließ Maggys Herz höherschlagen. Dieses Zimmer war eine Verführung. Es war ein Paradies.

Ehrfürchtig setzte sie einen Fuß über die Schwelle – so bedacht, als habe sie Angst, dass das Bild, welches sich ihr bot, wie eine Seifenblase zerplatzen könnte, wenn sie sich zu schnell bewegte.

Sie blickte zur Decke empor, die aus Holz bestand und über und über mit Schnitzereien veredelt war. Sie erkannte darin Efeuranken, Vögel, Brombeersträucher, Tannenzweige und so viel mehr – Details in mühevollster Kleinarbeit angefertigt. Die Tapeten waren von goldenen Ornamenten überzogen.

Als sie die Mitte des gewaltigen Raumes erreicht hatte, drehte sie sich im Kreis, weil sie nicht wusste, wo sie zuerst hinschauen sollte. So viele Bücher, und jedes barg seine eigenen Geheimnisse. Worte, die Welten eröffnen konnten.

Man sollte niemals die Kraft eines einzelnen Wortes unterschätzen. Es mag allein schwach erscheinen, so unbedeutend, dass man es nicht einmal wahrnimmt. Wenn man Wörter jedoch miteinander verbindet, Satz für Satz, wachsen sie zu etwas Machtvollem heran. Etwas, das stärker ist als jede Waffe der Welt.

Am Ende des Raumes lag eine große Fensterfront, bestehend aus sechs bunten Scheiben. Sie zeigten aufwendige Glasmalereikunst. Ein Bild war prächtiger als das andere.

Rumpelstein folgte ihrem Blick. »Beeindruckend, oder?«, raunte er. »Erkennst du, was die Scheiben darstellen?«

Maggy betrachtete sie noch genauer und glaubte, ein Muster in ihnen zu erkennen. »Sie zeigen die Wissenschaftszweige«, erwiderte sie und deutete auf die erste Scheibe, welche sich links außen befand. »Geschichte«, sagte sie und zeigte mit dem Finger auf die nächste. »Rechenkunst, Astronomie und Geografie.« Sie hielt inne und sah sich nachdenklich die zwei verbliebenen Malereien an, die nicht so recht ins Bild passen wollten.

»Nordpol und Südpol«, half Rumpelstein ihr auf die Sprünge.

Sie legte nachdenklich den Kopf schief und erkannte, dass er recht hatte. Es war beeindruckend.

Noch viel beeindruckender als die Fenster war jedoch die Tatsache, dass dieser Raum überhaupt existierte. Die Ausmaße der Bibliothek passten nicht mit der eher geringen Größe des Schlosses zusammen. Es dürfte eigentlich gar keinen Platz dafür geben.

»Wie ist das möglich?«, flüsterte Maggy andächtig. »Dieses Zimmer ist so gewaltig, dass das Schloss doppelt, wenn nicht dreimal so groß sein müsste, um es fassen zu können.«

Ein verwegenes Grinsen glitt über Rumpelsteins faltige Gesichtszüge. »Magie ist nicht mit Logik zu erklären.« Er deutete auf die ellenlangen Regalreihen. »Warum siehst du dich nicht ein bisschen um? Diese Bibliothek steckt voller Wunder. In ihren Büchern findest du Antworten auf alle Geheimnisse der Welt.«

Maggy drehte sich nach rechts und schritt auf das Regal zu, welches ihr am nächsten stand. Ihre Finger berührten die weichen Ledereinbände der alten Werke. Auf keinem von ihnen lag Staub.

»Was für Geheimnisse?«, fragte sie geistesabwesend.

»Die Fragen, die sich die Menschheit schon immer gestellt hat, aber nie beantworten konnten. Warum sind wir hier? Wer hat uns erschaffen? Was passiert mit uns, wenn wir sterben? Welche Religion ist die einzig wahre? Warum führen wir unsere Kriege?«

Maggy drehte sich ungläubig zu ihm herum. »Alle Antworten sind hier verborgen?«

»Gewiss. Du musst nur in der Lage sein, sie zu finden«, entgegnete er und deutete auf die Masse von Büchern.

Maggy verstand, was er meinte. Sie ging weiter, dabei fiel ihr auf, dass einige Regale mit Sprüchen beschriftet waren.

Es gibt für jedes Buch eine richtige Zeit.

Einige von ihnen waren verwirrend.

Wenn du das richtige Buch zur falschen Zeit liest, wird dir die nötige Erkenntnis zur richtigen Zeit fehlen.

Maggy konnte sich nicht für ein Buch entscheiden. Sie ging von Reihe zu Reihe, ließ ihre Finger über die Buchrücken gleiten und konnte nicht fassen, welchem unglaublichen Wissen sie gegenüberstand. So viele Worte. Jahrhundertelange Arbeit vereint auf einem Fleck.

»Suchst du etwas Bestimmtes?«, erkundigte sich Rumpelstein neugierig und riss sie damit aus ihrer Faszination.

Es gelang ihr nur schwer, den Blick von den Büchern zu lösen. Im ersten Moment wusste sie gar nicht mehr, wo sie war. Rund um sie herum befanden sich Bücherregale – sie war praktisch von ihnen umschlossen.

Verwirrt drehte sie sich um die eigene Achse. Gerade war sie doch noch in einem Gang gewesen, an dessen Ende sich die bunte Fensterfront befunden hatte. Doch diese konnte sie nun nirgends mehr entdecken.

Rumpelstein bemerkte ihre Verwirrung. »Diese Bibliothek ist ein Labyrinth. Die Bücher erscheinen dir, wie es ihnen beliebt. Du kannst niemals denselben Weg zurückgehen, den du gekommen bist. Die Regale verschieben sich und formen immer wieder neue Wege.«

Maggy starrte ihn fassungslos an. Hatte er sie deshalb hergeführt? Wollte er, dass sie sich in der Bibliothek verlief und nicht mehr hinausfand? »Warum hast du mir das nicht zuvor gesagt?«, warf sie ihm zornig vor, doch der Zwerg zuckte nur unbeteiligt mit den Schultern.

»Hätte das etwas geändert? Wärst du dann nicht in dieses Zimmer getreten?«

Seine Gegenfrage überrumpelte sie. Sie hätte der Verlockung der Bücher ohnehin nicht widerstehen können. Insofern musste sie ihm wohl recht geben, auch wenn sie sich gewünscht hätte, dass er sie dennoch gewarnt hätte.

Sie antwortete nun auf seine ursprüngliche Frage: »Ich suche eine Ausgabe der Hausmärchen der Brüder Grimm.«

Das Männlein zog argwöhnisch eine seiner buschigen Augenbrauen hoch. »Das sind alles Lügen. Was willst du damit?«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739430126
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Oktober)
Schlagworte
Adaption Sirenen Fantasy Meerjungfrau Märchen Blaubart Arielle Mythen Sirene Urban Fantasy düster dark Episch High Fantasy Romance

Autor

  • Maya Shepherd (Autor:in)

Maya Shepherd wurde 1988 in Stuttgart geboren. Zusammen mit Mann, Tochter und Hund lebt sie mittlerweile im Rheinland und träumt von einem eigenen Schreibzimmer mit Wänden voller Bücher. Seit 2014 lebt sie ihren ganz persönlichen Traum und widmet sich hauptberuflich dem Erfinden von fremden Welten und Charakteren.
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Titel: Der Gesang der Sirenen