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Der Dornenprinz

von Maya Shepherd (Autor:in)
109 Seiten
Reihe: Die Grimm-Chroniken, Band 16

Zusammenfassung

Eine Seele, die einmal mit dem Bösen in Berührung kommt, gilt für immer als verloren. Dennoch ist es unmöglich, sich vor ihm zu verschließen, denn das Böse findet immer einen Weg zu den Menschen. Es hat viele Gesichter und kann in jeder Erscheinungsform auftreten, selbst mit einer winzigen rosa Nasenspitze, die lustig hin und her wackelt, wenn es sein Schnäuzchen in die Luft reckt. Kein Haus, nicht einmal ein Schloss, ist vor dem Bösen sicher.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Was zuvor geschah

Mittwoch, 24. Oktober 2012

18 Uhr

Rosalie kümmert sich um Joes Verletzungen, dabei gesteht sie ihm, dass sie die ›Grimm-Chroniken‹ nicht gelesen hat. Dadurch weiß sie nur das, was Vlad Dracul sie glauben lassen wollte. Sie kennt die Geschichte aber weder aus der Sicht ihrer Mutter noch aus der ihrer Schwester. Als sie auf Margery zu sprechen kommen, vertraut Joe Rosalie an, dass Margery seine Mutter getötet hat und er deshalb selbst Grund genug hätte, sie zu hassen.

19 Uhr

Jacob führt Maggy in den stillgelegten Spreepark. In dem Tunnel einer ehemaligen Achterbahn verbirgt sich ein Portal, das Menschen zu einem Ort ihrer Wahl reisen lässt. Auf diesem Weg wollen Jacob und Maggy nach Königswinter zum Lebkuchenhaus reisen, um von dort weiter zum Schloss Drachenburg zu gelangen.

20 Uhr

Ember und Philipp gelingt es durch eine List, die Bodyguards abzuhängen. Sie suchen im Wald das Lebkuchenhaus auf, um sich dort mit Arian zu treffen. Zu ihrer Überraschung kommt er nicht allein, sondern in Begleitung von Margery und Will, denen Arian zur Flucht aus der Schlosskommende verholfen hat. Gemeinsam beschließen sie, sich auf die Suche nach Lavena zu machen, da sie vermuten, dass sie diese nur bei Nacht finden können.

22 Uhr

Arian führt Ember, Margery, Philipp und Will zu dem Hügel, auf dem er sich oft mit Lavena in Engelland getroffen hat. Gerade als sie diesen erreichen, schiebt sich der Mond hinter den Wolken hervor. Es ist zwar nicht Lavena, dennoch fleht Arian den Himmelskörper an, zu ihnen herabzusteigen, um ihnen bei der Suche nach dem Mondmädchen zu helfen.

Der Mond kommt seiner Bitte nach und gibt sich als alte Frau zu erkennen. Diese rät ihnen, in einem Gewässer nach Lavena zu suchen, da sich Monde an solchen Orten zur Ruhe legen. Sie warnt sie allerdings davor, Lavena nach Sonnenaufgang zu wecken, da es Sonne und Mond verboten ist, einander zu begegnen.

Will erinnert sich an den Friedhof des versunkenen Mondes, wo er Margery zum ersten Mal in einem Traum begegnet ist. Dort gab es auch einen kleinen See, der nun zur Ruhestätte des Mondmädchens geworden sein könnte.

23 Uhr

Joe wird von Rosalie geweckt, da sie sich dazu durchgerungen hat, ihm zur Flucht zu verhelfen. Auf ihrem Weg aus dem Anwesen werden sie von zwei seelenlosen Jägern entdeckt, die Rosalie tötet. Sie geleitet ihn danach bis zu einer Bahnstation, doch als der Moment des Abschiednehmens gekommen ist, bittet Joe sie, mit ihm zu kommen.

23.30 Uhr

Arian erreicht den Friedhof des versunkenen Mondes als Erster und stürzt sich direkt in den See. Auf dessen Grund findet er den bewusstlosen Körper von Lavena. Mit der Hilfe von Philipp und Will gelingt es ihm, das Mondmädchen an Land zu bringen. Gerade als Lavena wieder zum Leben erwacht, wird die Gruppe von einem scheinbar unbekannten Mädchen mit einem Gewehr bedroht und zur Rede gestellt. Es handelt sich dabei jedoch um Simonja, die sich erst wieder an ihre Vergangenheit in Engelland erinnert, als sie Margery in die Augen blickt.

Mittwoch,

24. Oktober 2012

Noch sieben Tage

Betreten auf eigene Gefahr

Mittwoch, 24. Oktober 2012

23.45 Uhr

Königswinter, Finsterwald, Lebkuchenhaus

Es war verrückt. Vollkommen verrückt! Gerade hatte Maggy noch in dem verwitterten Achterbahntunnel des ehemaligen Spreeparks gestanden und nun spazierte sie durch eine Tür geradewegs ins Lebkuchenhaus. Trotz des dämmrigen Lichts im Inneren war der Duft nach Schokolade unverkennbar. Zudem erwartete Jacob sie bereits und deutete auf die Kohle im Ofen, die noch rot glühte.

»Wer auch immer hier war, wir haben ihn nur knapp verpasst«, meinte er konzentriert und ließ dabei völlig unbeachtet, dass sie gerade mit nur einem einzigen Schritt hunderte Kilometer, die zwischen Berlin und Königswinter lagen, überbrückt hatten.

Maggy konnte nicht so leicht den Zauber der Magie von sich abschütteln. Die Existenz des Portals war unglaublich! Nicht vorzustellen, wohin man damit überall gelangen könnte.

Sie schritt durch die Stube und stellte sich vor den Ofen, aus dem ihr noch Hitze entgegenschlug. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie sich vorstellen, dass Joe und Will direkt hinter ihr wären. Das Lebkuchenhaus war zu ihrer Zuflucht geworden, als ihre Welt im Wahnsinn versunken war. Sie hatten gescherzt, weil Maggy die Einzige von ihnen gewesen war, die in der Lage war, ein Feuer zu entfachen. Im Spaß hatten die beiden sie als Hexe bezeichnet und nicht geahnt, wie nah sie damit der Wahrheit kamen.

»Ember muss hier gewesen sein«, erwiderte Maggy, nachdem einige Sekunden verstrichen waren. »Nur sie und ich können die Flammen auflodern lassen.«

Jacob nickte. Für ihn ergab das Sinn. »Es ist wahrscheinlich, dass sie sich in Begleitung von jemandem befindet, den wir kennen.«

Maggy vermutete, dass Joe nach Königswinter zurückgekehrt war, um nach Will zu suchen. In seiner Verzweiflung hatte er sicher auch die ›Grimm-Chroniken‹ gelesen, um darin Hinweise zu finden, die ihm weiterhelfen konnten. Vielleicht war er so auf Ember gestoßen und es war ihm gelungen, sie in dieser Welt aufzuspüren.

Will und Margery befanden sich höchstwahrscheinlich in der Gewalt der bösen Königin. In dieser Hütte hatte Maggy beide zum letzten Mal außerhalb eines Traumes gesehen. Hier war es gewesen, als sich beide gegenseitig ihre Liebe gestanden hatten und Maggy ein stummer Zeuge davon geworden war. Die Erinnerung daran war wie ein Kniff in ihre Brust, nicht angenehm, aber ertragbar. Solange sie Will finden würden, wäre alles andere unwichtig.

»Was machen wir jetzt?«, wandte sie sich an Jacob. Sie brauchte ihn, damit er ihr sagte, was sie zu tun hatte. Für gewöhnlich konnte sie selbst Entscheidungen treffen, aber sobald ihr Herz involviert war, fiel es ihr schwer, rational zu bleiben.

»Wir sollten uns an den ursprünglichen Plan halten und uns auf den Weg zu Schloss Drachenburg machen«, beschloss Jacob. »Wenn wir dort nichts finden, was uns weiterbringt, können wir immer noch hierhin zurückkehren.«

Alles war besser, als in diesem Haus zu sitzen und nur abzuwarten. Ihnen lief die Zeit davon. Der erste Tag war beinahe um und danach blieben ihnen nur noch sechs, um dafür zu sorgen, dass die Geschichte dieses Mal ein anderes Ende nahm. Eines, in dem Will nicht starb.

Gemeinsam verließen sie das Lebkuchenhaus und traten in den Finsterwald hinaus. Obwohl Maggy wusste, dass hinter der Tür unzählige Bäume warten würden, hätte es einen Teil von ihr nicht gewundert, wenn sie dort den dunklen Achterbahntunnel vorgefunden hätte. Sie hatte von jeher an die Existenz von Magie glauben wollen, aber selbst für sie war es schwer, diese nun als einen Bestandteil ihrer Welt zu erleben.

Für Jacob machte es keinen Unterschied, ob er sich in Engelland oder in Königswinter befand, der Finsterwald war derselbe. Mühelos fand er den Weg vom Lebkuchenhaus zu der Lichtung, auf der sich das erste Hinweisschild zum Schloss befand.

Der Mond war hinter den Wolken hervorgekommen und erhellte mit seinem silbrigen Licht die Nacht. Maggy fragte sich, ob es Lavena war, die dort oben am Firmament leuchtete, doch sie konnte beim Anblick des Himmelskörpers keine besondere Verbindung zu ihm spüren. Wenn es wirklich Lavena wäre, müssten die Herzstücke von Margery, die sie in sich trugen, einander dann nicht erkennen?

Trotz der Dunkelheit erinnerte sie sich daran, dass sie schon einmal mit Will und Joe auf dieser Lichtung gewesen war. Das Schild, welches sich dort befand, war damals jedoch ein anderes gewesen, zumindest hatte es eine andere Beschriftung besessen.

Östlich der Sonne und westlich des Mondes, hatte es märchenhaft geheißen. Nun stand dort jedoch nur noch:

PRIVATGELÄNDE – Betreten auf eigene Gefahr!

Maggy machte Jacob darauf aufmerksam. »Was hat das zu bedeuten? Ich dachte, Schloss Drachenburg befindet sich in dieser Welt in städtischer Hand. Das habe ich zumindest im Internet gelesen.«

Jacob zuckte nur mit den Schultern. Ein Warnschild war nichts, wovon er sich aufhalten lassen würde. Entschlossen folgte er dem Pfad, der den Hügel hinauf zum Schloss führte.

Erst als Maggy durch den dunklen Wald lief, fiel ihr auf, dass sie sich zuvor noch nie bei Nacht dem Schloss genähert hatte. Laub raschelte unter ihren Füßen, ansonsten war es jedoch totenstill. Gerade das beunruhigte sie am meisten. Es schien, als gäbe es in diesem Teil des Waldes keine Tiere. Witterten sie die Gefahr und waren deshalb geflohen?

Ihr wurde immer unheimlicher zumute, je näher sie dem Gemäuer kamen. Sie versuchte, es zu vermeiden, aber drehte sich doch immer wieder um und suchte zwischen den Baumstämmen nach leuchtenden Augenpaaren, die ihr durch die Dunkelheit folgten. Sicher bildete sie sich das Gefühl, beobachtet zu werden, nur ein. Seltsamerweise hatte die Angst jedoch erst eingesetzt, nachdem sie das Schild passiert hatten. Es war schwer vorherzusagen, was sie erwarten würde. Meistens kam es ganz anders, als man dachte. Was konnte schlimmer sein als ein blutdürstiger, schlafwandelnder Vampir?

Ob Jacob sich genauso unwohl fühlte? Zumindest ließ er sich seine Furcht nicht anmerken, sondern erklomm mit festem Schritt den Hügel. Dabei schnaufte er allerdings auffällig schwer. Sein Atem hinterließ kleine Dampfwolken in der kalten Oktoberluft. Er hatte sich eine Hand auf seine Brust gepresst.

Maggy kamen augenblicklich die mahnenden Worte des Arztes in den Sinn:

Es tut mir leid, Ihnen das mitteilen zu müssen, aber Ihr Herz wird in diesem Zustand nicht mehr lange funktionstüchtig sein.

»Jacob«, rief sie besorgt. »Wir sollten etwas langsamer gehen.«

Er drehte sich mit gerötetem Gesicht zu ihr um. »Du bist doch noch jung«, tadelte er sie scherzhaft. »Macht dir so ein kleiner Fußmarsch etwa zu schaffen?«

Mir nicht, aber dir, verkniff Maggy sich, zu sagen. Sie würde ihn niemals bloßstellen, doch ihre kummervolle Miene verriet ihre Gedanken.

»Es ist nicht nötig, dass du auf mich Rücksicht nimmst«, sagte Jacob bestimmt. »Wenn ich erst einmal unter der Erde bin, werde ich genug Zeit haben, um mich auszuruhen.«

Seine Aussage sollte sie aufheitern, aber Maggy fand daran überhaupt nichts witzig. Jacob verhielt sich ihrer Ansicht nach ziemlich unvernünftig.

»Wir brauchen dich«, erinnerte sie ihn nachdrücklich. »Bitte gib auf dich acht!«

Ihre Zuneigung besänftigte ihn, sodass er zumindest etwas langsamer ging. »Dafür, dass ich rein rechnerisch schon etwa vierhundert Jahre alt bin, habe ich mich doch ganz gut gehalten, oder?«

Sie schmunzelte und klopfte ihm auf die Schulter. »Geradezu unwiderstehlich.«

Jacob lachte verlegen auf, da kreuzten die Schienen der Drachenfelsbahn ihren Weg. Sie schimmerten im schwachen Mondschein. Nun war es nicht mehr weit. Rechts von ihnen erhoben sich bereits die Schlossmauern.

Auf den letzten Metern klopfte Maggys Herz immer schneller, bis sie Schloss Drachenburg entdeckte. Es thronte auf einem Hügel, umschlossen vom Siebengebirge. Auf den ersten Blick wirkte es nicht verändert, aber es weckte in ihr völlig andere Gefühle als bei ihrem letzten Besuch. Damals war sie fasziniert gewesen und hatte alles über diesen mysteriösen Ort erfahren wollen. Nun rief sein Anblick in ihr den Wunsch hervor, zu fliehen. Etwas Dunkles und Beängstigendes ging von dem Gebäude aus, ohne dass sie es hätte benennen können. Es wirkte auf sie nicht mehr verwunschen, sondern nur noch einsam.

Ein Blick zu Jacob verriet ihr, dass es ihm genauso erging. Das erkannte sie an seinem ernsten Gesicht und den aufeinandergepressten Lippen.

Schlimme Dinge hatten sich in dem Gemäuer ereignet. Unschuldige Menschen hatten dort ihr Leben lassen müssen und böse Gedanken zogen sich darin wie Schimmel über die Wände. Verweilte man zu lange, bestand die Gefahr, ihre Sporen einzuatmen. Sie befielen die Seele, und selbst wenn es einem gelang, zu fliehen, wurde man sie danach nicht mehr los. Hatte das Böse erst einmal von einem Besitz ergriffen, war es schwer, es zurückzuweisen.

Jacob atmete heftig. Es lag nicht nur an dem mühsamen Aufstieg, sondern er musste sich auch dazu überwinden, nicht umzukehren.

Langsam überquerten sie die Brücke, die zum Torbogen führte. Ein massives Gitter versperrte ihnen den Durchgang. Das war neu. Probehalber rüttelte Jacob daran und das Geräusch hallte erschreckend laut durch die Nacht.

Unsicher schaute er sich nach einer anderen Möglichkeit um, während Maggy den Klingelknopf neben dem Tor bemerkte. Es war unwahrscheinlich, dass ihr jemand öffnen würde, vielleicht fand sie nur deshalb den Mut, ihn zu betätigen. Alarmiert starrte Jacob sie an, woraufhin sie mit den Schultern zuckte. Was sollte schon passieren?

Vermutlich überhaupt nichts, umso mehr erstaunte es sie, als ein Summen erklang und das Tor aufschnappte. Jemand hatte ihnen geöffnet – mitten in der Nacht, ohne auch nur nachzufragen, wer sie waren und was sie wollten.

Ungläubig starrte sie den Durchgang an und entdeckte ganz oben in der Ecke das rote Licht einer Kamera. Wer immer ihnen geöffnet hatte, konnte sie dadurch deutlich erkennen.

Fragend drehte sie sich zu Jacob um. Sollten sie eintreten? Was, wenn sich die böse Königin im Schloss aufhielt und nur auf sie gewartet hatte? Aber hätte sie dann nicht schon längst einen ihrer Jäger geschickt, um sie festnehmen zu lassen? Geduld zählte nicht zu ihren Stärken.

Wenn sie wissen wollten, was aus Schloss Drachenburg geworden war und wer sich im Inneren aufhielt, blieb ihnen wohl nichts anderes übrig, als der unausgesprochenen Einladung zu folgen.

Vorsichtig passierten sie das Tor und schritten auf den Eingangsbereich zu, in dem sich früher ein Ticketschalter, ein Souvenirladen und ein Restaurant befunden hatten. Nun war dort nur noch eine leere Glashalle, die sie von dem eigentlichen Schloss trennte. Ihre Schritte hallten von den hohen Wänden wider und verdeutlichten ihnen, dass sie auf sich allein gestellt waren. Wenn ihnen etwas geschah, würde niemand wissen, dass sie hier gewesen waren.

Jacob legte Maggy schützend eine Hand auf die Schulter, als sie die Stufen zum Schloss emporstiegen. Hab keine Angst, bedeutete seine Geste. Ich beschütze dich.

Maggy reagierte darauf mit einem schwachen Lächeln. Sie wusste seine Fürsorge zu schätzen, aber wie wollte er sie beschützen, wenn sie nicht wussten, was sie erwartete? Sie hatten ja nicht einmal etwas dabei, um sich zu verteidigen, abgesehen von ihrem Hexenbuch. Es war viel zu wertvoll, um damit jemanden zu erschlagen.

Der gesamte Park, der das Schloss umgab, lag verlassen da. Auch in den Fenstern war nicht einmal das flackernde Licht einer Kerze zu erahnen. Wenn ihnen nicht jemand das Tor geöffnet hätte, hätte Maggy nicht geglaubt, dass sich außer ihnen noch jemand hier aufhielt.

Sie erreichten die schwere Holztür des Haupteingangs und Jacob klopfte mit gerunzelter Stirn dagegen. Selbst ihm fiel es schwer, sich vorzustellen, dass ihnen geöffnet werden würde.

Schritte erklangen aus dem Inneren und ließen sie vor Spannung den Atem anhalten.

Niemals wären sie darauf gekommen, wer ihnen öffnete. Hätten sie auch nur die leiseste Ahnung gehabt, wären sie niemals auch nur in die Nähe des Schlosses gekommen. Doch dafür war es zu spät.

Die Tür wurde aufgeschoben und aus dem Schatten dahinter trat der Fürst der Finsternis – Vlad Dracul. Sobald Maggy und Jacob ihn erkannten, taumelten sie zurück, fuhren auf dem Absatz herum und wollten die Flucht ergreifen. Doch plötzlich lag der Park hinter ihnen nicht mehr verlassen da, sondern war voller Vampire. Sie bedeckten die Rasenfläche im Abstand von wenigen Metern. Ausgeschlossen, dass sie ihnen entkommen könnten. Sicher waren sie es auch gewesen, die Maggy bereits auf dem ganzen Pfad zum Schloss gespürt hatte. Vlad Dracul hatte gewusst, dass sie auf dem Weg zu ihm waren, lange bevor sie geklingelt hatten.

»Welch willkommener Besuch«, höhnte der neue Schlossherr mit dunkler Stimme.

Jacob trat instinktiv schützend vor Maggy. Er hatte noch deutlich vor Augen, wie Vlad die Klinge seines Schwertes in Wills Brust gebohrt hatte, und hätte ihn dafür am liebsten auf der Stelle selbst erstochen. Aber ohne Waffe war das unmöglich.

»Wir wollen nichts mit Euch zu schaffen haben«, brüllte er deshalb abweisend. Er wusste nicht, was er tun sollte. Sie waren den Vampiren wehrlos ausgeliefert, aber deshalb würde er sich nicht kampflos fügen.

Maggy tastete verzweifelt nach der Magie in ihrem Inneren. Es knisterte zwischen ihren Fingern, als Vlad beiseitetrat und meinte: »Tretet bitte ein!«

Sein Verhalten irritierte sie. Warum befahl er seinen Vampiren nicht, sich auf sie zu stürzen? Sie erinnerte sich daran, wie er ihr gedroht hatte, dass er die Wahrheit über die Vergessenen Sieben aus ihr herausbekommen würde. Ging es darum?

»Nein«, knurrte Jacob entschieden.

Vlad hob belustigt seine linke Augenbraue und blickte demonstrativ von ihnen zu seiner Armee, die sich rund um das Schloss aufhielt. Es war nicht so, als ob Jacob eine Wahl hätte.

»Bitte«, bat er höflich. »Ich führe wichtige Unterhaltungen ungern zwischen Tür und Angel.«

»Was wollen Sie von uns?«, fragte Maggy ängstlich, bevor Jacob ihn erneut abweisen konnte.

Der Vampir lächelte sie an. »Ich möchte euch ein Angebot machen, das für uns alle gleichermaßen gewinnbringend sein wird.«

Jacob schnaubte verächtlich. Ein Handel mit dem Teufel reichte ihm. Gewiss würde er sich nicht auch noch auf ein Abkommen mit dem Fürsten einlassen.

Vlad ignorierte ihn. »Kommt rein, solange der Tee noch warm ist«, säuselte er und bedeutete ihnen mit einer Handbewegung, ihm zu folgen. Dieses Mal wartete er nicht auf eine Antwort, sondern ging voraus.

Als Maggy und Jacob sich zum Park umdrehten, hatten sich direkt hinter ihnen vier Vampire aufgebaut, die sie bedrohlich anstarrten. Ihre Körpersprache war eindeutig: Entweder folgten sie Vlad freiwillig ins Schloss oder seine Anhänger würden dafür sorgen, dass sie seiner Aufforderung nachkamen.

Widerwillig schritt Jacob über die Türschwelle und gemeinsam mit Maggy ging er Vlad durch den dunklen Korridor nach. Er führte sie in einen Salon mit einem knisternden Kaminfeuer, das von der Parkseite des Schlosses nicht einzusehen gewesen war. Vor den Flammen befand sich ein Tisch, der mit einem Geschirrservice eingedeckt war. Aus den Tassen stieg eine dampfende Flüssigkeit auf. Drei bequeme Ohrensessel ergänzten die Szenerie. Vlad nahm in einem davon Platz und bedeutete ihnen, sich ebenfalls zu setzen.

Maggy kam seiner Einladung als Erste nach, sodass auch Jacob mit zornigem Gesichtsausdruck folgte. Die Wärme des Zimmers legte sich wie eine weiche Decke um ihre ausgekühlten Körper. Der Duft des Tees war verlockend, doch beide rührten ihn nicht an, aus Angst, dass Vlad ihn vergiftet haben könnte.

»Würde ich euch töten wollen, wäre es längst geschehen«, bemerkte er herablassend und nippte an seiner Tasse. Seine Lippen färbten sich dunkelrot von dem Blut, das sich darin befand. Genüsslich fuhr er sich mit der Zunge darüber.

Schaudernd wandte Maggy den Blick ab. »Ich werde Ihnen nicht sagen, wer die Vergessenen Sieben sind«, stellte sie von vornherein klar.

Vlads Aufmerksamkeit konzentrierte sich nun auf sie. »Ich würde sicher Wege finden, um dich zum Sprechen zu bringen, aber das ist nicht mein Anliegen.«

»Was ist es dann?«, blaffte Jacob ungehalten.

Vlad schien sich zwar über sein grobes Auftreten zu ärgern, aber ließ es unkommentiert. »Wir haben einen gemeinsamen Feind. Ihr Name ist Elisabeth Báthory.«

Für einen Augenblick breitete sich Stille in dem Raum aus und lediglich das Knistern der Flammen war zu hören. Diese Wendung kam unerwartet, denn immerhin war Vlad Dracul bisher der Verbündete der bösen Königin gewesen. Doch es machte Sinn, dass diese Verbindung nicht länger von Bestand war, nachdem er in Engelland seine wahren Absichten offenbart und Will nur erstochen hatte, um dadurch Elisabeth zu töten. Diese würde sich für seinen Verrat an ihr rächen wollen.

Jacob begann, freudlos zu lachen. »Fürchtet Ihr Euch so sehr vor ihr, dass Ihr glaubt, nicht allein gegen sie bestehen zu können?«

Vlad funkelte ihn zornig an. »Wir alle sollten sie fürchten!«

In dem Punkt musste Maggy ihm recht geben. Die böse Königin war aktuell die größte Bedrohung, aber längst nicht die einzige. Auch Vlad wollte Margery töten.

»Und wie sieht Euer Angebot aus, Fürst?«, höhnte Jacob. »Bittet Ihr uns, mit Euch in den Krieg zu ziehen, um gemeinsam die falsche Königin zu töten?«

Vlad verzog seinen Mund zu einem wissenden Lächeln. »Mir ist bewusst, dass Ihr Euch niemals auf solch einen Vorschlag einlassen würdet, Jacob Grimm. Ihr braucht Elisabeth lebend, um sie in den Spiegel zurückzustoßen. Mir wäre sie zwar tot lieber, aber es wäre ein Kompromiss, den ich bereit wäre, einzugehen.«

»Woher kommt der Sinneswandel?«, hakte Jacob nach. »Als wir uns zuletzt gegenüberstanden, habt Ihr meinen Bruder getötet, um das Leben von Elisabeth zu beenden.«

Keinerlei Reue zeigte sich auf dem Gesicht des Vampirs. »Ich habe meine Chance gesehen und sie ergriffen. Allerdings etwas vorschnell, wie ich einräumen muss. Wäre mein Plan von Erfolg gekrönt gewesen, säßen wir nun nicht hier.«

Vlad Dracul wusste nichts von dem Abkommen, das Jacob mit dem Teufel getroffen hatte, und musste deshalb annehmen, dass er lediglich eine Herzhälfte der Königin getötet hatte, die andere aber ausreichte, um Elisabeth am Leben zu erhalten. In gewisser Weise war es sogar so.

Jacob ging nicht darauf ein, seine Schuld wog bereits schwer genug. »Warum zieht Ihr nicht mit Euren Vampiren los und tut, was getan werden muss? Wofür braucht Ihr uns?«

Seine Frage entlockte dem unsterblichen Vampir ein triumphierendes Lächeln. »Euch brauche ich dafür nicht im Geringsten, Jacob.« Er schaute wieder zu Maggy. »Mein Interesse gilt einzig und allein der Dame und ihren besonderen Fähigkeiten.«

Maggy erstarrte. Er brauchte eine Hexe, aber wofür?

»Euch ist doch sicher bewusst, dass Mary und Elisabeth ihre Plätze nur unter bestimmten Voraussetzungen tauschen können, oder?«, hakte Vlad nach.

Für den Moment vergaß Jacob seinen Groll gegen ihn und beugte sich neugierig vor. »Es muss in einer Nacht des Vollmonds geschehen.«

»Es darf nicht irgendein Vollmond sein, sondern es muss sich um einen Blutmond und somit um eine Mondfinsternis handeln«, korrigierte Vlad ihn. »Das ist aber noch nicht alles. Für einen solch mächtigen Zauber ist natürlich auch Magie nötig.«

»Ist Elisabeth eine Hexe?«, fragte Maggy erstaunt, denn das würde es noch schwerer machen, sie zu besiegen. Aber wofür hätte sie dann je die Unterstützung von Baba Zima gebraucht?

»Nein«, entgegnete Vlad. »Sie wirkte den Zauber durch Blutmagie.«

Blutmagie galt als dunkle Kunst, da es eine Form der Magie war, die Opfer forderte. Sie war im Grunde von jedem erlernbar, der verzweifelt genug war, um jeden Zauber mit seinem eigenen Blut zu bezahlen.

Maggy schüttelte verständnislos den Kopf. »Aber wofür brauchen Sie dann mich?«

Vlad genoss ihre Unwissenheit sichtlich. »Es wird in diesem Monat keine Mondfinsternis geben.«

Das durfte nicht wahr sein! Wenn es nur möglich war, Mary bei einem Blutmond aus ihrem Spiegel zu befreien, gab es keine Hoffnung für sie.

»Nein, das kann nicht sein«, widersprach Jacob ihm verzweifelt. Er hatte den Pakt mit dem Teufel nur geschlossen, um Mary und Wilhelm retten zu können. Wenn er nun nicht einmal die Chance dazu bekommen sollte, wäre alles umsonst gewesen. Hatte der Teufel das gewusst? Es würde ihm ähnlich sehen, das Spiel nur zu seiner Belustigung zu verlängern.

Der Fürst der Finsternis sah mit großer Genugtuung ihre Verzweiflung und hob beschwichtigend die Hände. »Kleine Hexe, du musst wirklich noch viel lernen, denn sonst wüsstest du bereits, dass deine Vorfahren sich nicht an den weltlichen Kalender hielten, sondern sich nach dem Vollmond richteten.«

Maggy versuchte, sich zu erinnern, ob sie darüber etwas in dem Hexenbuch gelesen hatte. Viele Zauber konnten nur zu Vollmondnächten durchgeführt werden, aber ihr fiel nichts ein, was sie mit dem Spiegel in Zusammenhang bringen konnte. »Was meinen Sie damit?«

»Es ist schon erstaunlich, dass ich einer Hexe ihre Religion erklären muss«, zog Vlad sie auf. »Hexen feiern jeden Monat andere Esbate. Das sind die Festtage zu Ehren der Vollmondnächte. Nun rate mal, unter welchem Mond der Oktober steht.«

»Der Blutmond?«, meinte Maggy unsicher, da nichts anderes Sinn ergeben würde. Es juckte sie in den Fingern, das alte Buch aufzuschlagen, welches sie mit sich herumschleppte, und alles über die Bedeutung des Mondes nachzulesen.

»Ganz genau«, bestätigte Vlad ihr zufrieden.

Nun verstand auch Jacob. »Da es sich jedoch nicht um einen gewöhnlichen Blutmond handelt, sondern um einen nach Hexenglauben, ist auch Hexenmagie vonnöten, um den Zauber wirken zu können«, schloss er richtig. Das bedeutete, dass Elisabeth und Mary nur mithilfe von Maggy ihre Plätze tauschen konnten. Dafür brauchte Vlad Maggy.

»So ist es«, stimmte dieser zu. »Wie ihr seht, verfolgen wir also dasselbe Ziel.«

»Für den Moment«, entgegnete Maggy. »Was ist danach? Nehmen wir mal an, uns würde es wirklich gelingen, Elisabeth zurück in den Spiegel zu verbannen, was ist dann mit Margery? Sie wollten sie bereits töten, bevor sie überhaupt geboren wurde. Was würde Sie dann davon abhalten, es wieder zu versuchen?«

»Nichts«, sagte Vlad ungerührt. »Allerdings bin ich mir nicht mehr sicher, ob Margery überhaupt diejenige ist, für die ich sie immer hielt. Ein Rosenquarz kann noch so oft geschliffen und poliert werden, er wird niemals ein Diamant. Vielleicht ist es so auch mit den Schwestern und man hat mir von Anfang an die falsche Spielfigur zugewiesen.«

Schwestern? Maggy verstand nicht, wovon er sprach.

Jacob wirkte weniger erstaunt, aber wechselte das Thema, als wolle er nicht, dass Maggy mehr darüber erfuhr. »Wir haben uns nun Eure Konditionen angehört. Was ist, wenn wir uns dennoch gegen eine Zusammenarbeit entscheiden? Werdet Ihr uns dann unbeschadet aus Eurem Schloss spazieren lassen?«

»Jacob, Ihr seid ein freier Mann«, behauptete Vlad und deutete auf die Tür. »Geht, wo auch immer der Wind Euch hinträgt.«

Er sprach nur von ihm, nicht von Maggy. »Was ist mit mir?«

In gespieltem Bedauern legte Vlad den Kopf schräg. »Du wirst sicher verstehen, dass ich dich nicht einfach so gehen lassen kann. Nicht, solange wir kein Abkommen miteinander haben.«

»Und wenn ich einwillige, Ihnen zu helfen?«

Immerhin wollten sie dasselbe, wenn es um Elisabeth ging.

»Das ist nicht genug«, entgegnete der Fürst. »Wenn dieser Plan funktionieren soll, brauchen wir dafür Margery und die Vergessenen Sieben als Ablenkung für die falsche Königin. Unser einziger Vorteil liegt in dem Unerwarteten. Elisabeth würde niemals damit rechnen, dass wir uns gegen sie verbünden.«

Auch damit lag er richtig, doch wenn er sich entscheiden würde, Margery zu töten, sobald Elisabeth beseitigt war, wäre sie ihm schutzlos ausgeliefert.

Maggy und Jacob sahen sich besorgt an. Sie waren davon ausgegangen, dass sie Elisabeth und ihren seelenlosen Jägern zahlenmäßig weit unterlegen sein würden. Doch nun ergab sich eine ungeahnte Möglichkeit, die ihnen dabei helfen könnte, ihre Ziele zu erreichen. Das war eine Chance, die sie zumindest in Erwähnung ziehen mussten, so gefährlich sie auch sein mochte. Die Alternative war nicht weniger riskant.

Vlad spürte ihre Unsicherheit und griff in seine Hosentasche. Er schloss seine Finger um einen kleinen Gegenstand und legte diesen zwischen ihnen auf den Tisch. »Um meinen guten Willen zu verdeutlichen, bin ich bereit, Euch etwas zurückzugeben, das Ihr sicher bereits vermisst habt«, sagte er zu Jacob und öffnete seine Hand. Zum Vorschein kam eine Pfeife – Jacobs Pfeife, die den grünen Nebel hervorrufen konnte. Vlad Dracul hatte sie ihm abgenommen, als er in Engelland von der Königin gefangen genommen worden war.

Argwöhnisch schaute Jacob zwischen seiner Waffe und dem Fürsten hin und her. Er traute ihm nicht und würde es auch niemals tun.

Vlad schob die Pfeife in seine Richtung. »Nehmt sie und übermittelt den Vergessenen Sieben mein Angebot. Wenn sie bereit sind, es anzunehmen, stehen ihnen meine Tore offen. Bis dahin wird das hübsche Fräulein mein Ehrengast sein.«

Er zwinkerte Maggy verschwörerisch zu, was sie frösteln ließ.

»Und wenn sie sich dagegen entscheiden?«, fragte Jacob vorsichtig. Seine Hand lag flach auf dem Tisch.

Vlad lehnte sich in seinem Stuhl zurück und grinste kaltblütig. »Für Elisabeth sind die nächsten Tage entscheidend, denn sie muss Margery und die Vergessenen Sieben töten, um ihren hübschen Körper behalten zu können. Erst danach wird sie versuchen, sich an mir zu rächen. Ich würde sie lieber früher als später ausschalten, aber mir läuft im Gegensatz zu euch nicht die Zeit davon und mir liegt auch nichts daran, Mary zu retten.« Er blickte zu Maggy. »Wenn die Nacht des Vollmonds verstreicht, habe ich keine Verwendung mehr für dich.«

Der Fürst der Finsternis würde sie nicht nur als Geisel bei sich behalten, sondern töten, wenn die Vergessenen Sieben sich nicht auf seine Forderung einließen. Ohne Maggy konnten sie Mary nicht aus dem Spiegel befreien. Es war eine Zwickmühle, die kaum eine andere Lösung zuließ, als sich auf Vlad Dracul einzulassen.

Jacob sah das widerwillig ein und schloss seine Hand um die Pfeife. Er ballte sie zur Faust, als er den Gegenstand an sich nahm.

Vlad reagierte darauf mit einem zufriedenen Nicken. »Lasst Euch nicht zu viel Zeit mit Eurer Zusage, Jacob Grimm. Der nächste Vollmond ist bereits am neunundzwanzigsten Oktober.«

Bis dahin waren es nur noch fünf Tage. Würde es Jacob gelingen, die Vergessenen Sieben zu finden und sie davon zu überzeugen, sich mit Vlad Dracul zusammenzutun?

»Ich komme bald wieder«, versprach er Maggy, bevor er sich von seinem Stuhl erhob und ihr unglücklich gegenüberstand. Er wollte sie nicht verlassen, aber ihm blieb kaum eine andere Wahl.

Zögerlich breitete er seine Arme aus und zog sie in eine unbeholfene Umarmung, die ihr versichern sollte, dass er nichts unversucht lassen würde, um sie zu befreien. Sie hätte nie daran gezweifelt, doch die kleine Geste bewies ihr, dass Jacob und sie mehr als eine vergessene Vergangenheit und eine gemeinsame Geschichte miteinander verband. Sie waren Verbündete und Freunde, wenn nicht sogar so etwas wie Familie.

Als Jacob den Saal verließ, versuchte Maggy, eine tapfere Miene zu machen, aber sie fürchtete sich davor, als einziger Mensch mit lauter Vampiren in einem Schloss gefangen zu sein.

Würde Vlad sein Wort halten und sie nicht anrühren?

»Wie wäre es mit einem kleinen Snack?«, fragte er sie mit einem charmanten Lächeln, das ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ.


Donnerstag,

25. Oktober 2012

Noch sechs Tage


Vladimir Dragoran

Donnerstag, 25. Oktober 2012

7.00 Uhr

Königswinter, Friedhof des versunkenen Mondes

Das Aschemädchen und der Prinz traten in einen diesigen Morgen hinaus. Nebelschwaden zogen sich über das Friedhofsgelände, als wollten sie vor dem Unheil warnen, das sich noch im Dunst verbarg.

Nachdem Simonja sich wieder an ihr vorheriges Leben in Engelland erinnern konnte, hatte sie ihnen allen Obhut im Wärterhaus gewährt. Ihre Mutter Nisha war die Totengräberin des Friedhofs, allerdings befand sie sich in dieser Woche auf einer Fortbildung, sodass Simonja das Haus für sich hatte. Zu ihrem Vater schien sie auch in dieser Welt keinen Kontakt zu haben.

»Meinst du, deine Bodyguards haben sich wirklich mit einer SMS zufriedengegeben?«, wandte Ember sich beunruhigt an Philipp. Sie sprach leise, als habe sie Angst, aus den grauen Schleiern belauscht zu werden.

»Das werden wir gleich herausfinden«, erwiderte dieser leichthin.

Er hatte seinem Sicherheitschef eine Textnachricht geschrieben, kurz nachdem sie den Finsterwald am Vorabend erreicht hatten, danach aber sein Handy ausgeschaltet, um von ihm nicht geortet werden zu können. Es war ein Risiko und verantwortungslos dazu, aber Philipp wusste, dass in dieser Woche viel mehr auf dem Spiel stand, als seine Eltern in Sorge zu versetzen. Nun war er auf dem Weg zur Polizei, um seine Aussage zur Entführung zu machen, so wie er es seiner Mutter bei ihrem Telefonat versprochen hatte.

Ember begleitete ihn, während Margery, Will und Lavena bei Simonja im Haus blieben. Sie wähnten sich dort in Sicherheit, da die Königin nichts von Simonja wusste.

Arian war noch in der Nacht in die Schlosskommende zurückgekehrt, um kein Misstrauen zu erregen. Der Abschied von Lavena war ihm sichtlich schwergefallen, doch er war als Spion für sie zu wertvoll, um bei ihnen bleiben zu können. Simonja hatte ihm geschworen, dass sie Lavena beschützen würde, sollte es zu unvorhergesehenen Problemen kommen. Erst da hatte er sich lösen können und war mit hängenden Schultern zwischen den Bäumen im Wald verschwunden.

Ember empfand diese tiefe Liebe zwischen dem Wolf und dem Mond sowohl berührend, aber auch furchteinflößend. Sie waren auf eine Weise miteinander verbunden, die es ihnen unmöglich machte, ohne den anderen leben zu können. Wenn einer von beiden starb, würde der andere daran unweigerlich zerbrechen. War die Liebe diesen Schmerz wert? Sie konnte sich nicht vorstellen, jemanden so sehr zu lieben, dass sie ihr eigenes Leben für seines geben würde. Geschweige denn, dass jemand sie so sehr lieben könnte, um das zu tun. Die meiste Zeit ihres Lebens war sie auf sich allein gestellt gewesen, aber das war in Ordnung, denn so gab es niemanden, auf den sie Rücksicht nehmen musste.

»Worüber denkst du nach?«, fragte Philipp, der sich darüber wunderte, dass sie plötzlich so schweigsam war.

»Mir ist nur gerade bewusst geworden, dass ich wohl zu egoistisch bin, um mich jemals zu verlieben«, antwortete sie ihm geradeheraus, woraufhin er argwöhnisch die Augenbrauen hob.

»Ich habe noch nie eine derart falsche Selbsteinschätzung von jemandem gehört«, sagte er kopfschüttelnd. »Ember, du bist der selbstloseste Mensch, der mir je begegnet ist.«

»Nicht, wenn es um mein Herz geht«, beteuerte sie stur. »Ich bin nicht bereit dafür, mich derart verletzbar zu machen, und ich will auch keine Kompromisse eingehen müssen.«

Er schmunzelte über ihre Rechtfertigung. »Wie gut, dass die Liebe nicht erst um Erlaubnis fragt, bevor sie einen überkommt. Es tut mir leid, dir das mitteilen zu müssen, aber wenn Amors Pfeil dich erst einmal trifft, bleibt dir keine Wahl.«

»So ein Blödsinn! Man hat immer eine Wahl«, brauste sie auf. »Wenn man sich nicht verlieben will, ignoriert man die Gefühle einfach so lange, bis sie wieder verschwinden.«

»Bei dir klingt Liebe wie eine Krankheit, die man nur auszusitzen braucht.« Er klang amüsiert, aber sein Gesicht war ernst, wenn nicht sogar mitleidig. »Du hast wohl bisher nicht sonderlich gute Erfahrungen damit gemacht.«

Roman. Sein Name schlug wie ein Blitz in Embers Gedanken ein, doch so schnell war er auch wieder verschwunden. Das, was ihr Stiefbruder für sie empfand, war weit entfernt von Liebe. Sie wollte nicht mit Philipp über ihn sprechen. Sie wollte am liebsten gar nicht an ihn denken.

»Hast du denn bessere Erfahrungen gemacht?«, konterte sie neugierig.

Die Bodyguards waren nicht erstaunt darüber gewesen, ein Mädchen in dem Bett seines Hotelzimmers vorzufinden. Zudem war er berühmt und hatte unzählige weibliche Fans. Natürlich hatte er schon Erfahrung. Er blickte auf ein neunzehnjähriges Leben zurück und war nicht von einer Zeit in die andere gestolpert.

Er zuckte mit den Schultern, als wäre es keine große Sache. »Die eine oder andere.«

Sie versuchte, den Stich in ihrer Brust zu ignorieren. Dieses Gefühl war dämlich und völlig unbegründet. »Hat es sich gelohnt?«

Er runzelte skeptisch die Stirn. »Wie meinst du das?«

»Na, hat es dich glücklicher gemacht?«

Nun grinste er anzüglich. »Für den Moment schon.«

Verlegen wandte sie den Blick ab. »Ich vergaß, dass vermutlich du derjenige bist, der die Herzen bricht, und nicht andersherum.«

Zu ihrem Erstaunen reagierte er geradezu verletzt auf ihre unbedachte Äußerung. Er baute sich vor ihr auf, sodass sie nicht weitergehen konnte, und blickte ihr direkt in die Augen. »Denkst du wirklich so über mich? Glaubst du, dass ich jemand bin, der rücksichtslos mit den Gefühlen anderer spielt? Schätzt du mich so ein?«

»Nein«, erwiderte sie hastig. Sie hatte ihn mit ihrer Aussage nicht treffen wollen, sondern war davon ausgegangen, dass es ihm nichts bedeuten würde. »Ich kenne dich doch kaum.«

Seltsamerweise schien ihn das nur noch mehr zu verletzen. Resigniert trat er beiseite und sah sie nicht einmal an, als er sagte: »Schade, denn ich habe bis gerade eben gedacht, dass du die Einzige bist, die wirklich mich sieht und nicht nur den goldenen Glanz.«

Ember verstand nicht, was das heißen sollte, aber in ihrem Inneren blieb ein pochendes Gefühl der Reue zurück. Wenn sie Philipp verletzt hatte, warum tat es ihr selbst dann weh? Wie konnte eine Wunde, die man einem anderen zugefügt hatte, einen selbst schmerzen?

Sie erreichten die Stadt, in der bereits einige Menschen unterwegs waren. Die meisten waren in Eile. Sie steuerten von einem Punkt auf den nächsten zu, der Weg dazwischen war dabei eine unvermeidliche Zeitverschwendung.

Philipp hingegen schien sein Ziel gar nicht erreichen zu wollen. Er blieb vor einer Bäckerei stehen und deutete auf das hell erleuchtete Innere. »Es wäre mir ein Vergnügen, wenn ich Euch zum Frühstück einladen dürfte, Fräulein Ember«, mimte er den Prinzen und schenkte ihr mit seinen perfekten Zähnen ein gewinnendes Grinsen. Sein verletzter Stolz schien mit einem Mal vergessen.

Ember hing jedoch das Gefühl nach. Sie hatte sich auf dem Weg durch den Wald furchtbar gefühlt, als sie kaum noch ein Wort miteinander gewechselt hatten und sein Schweigen sie zu erdrücken drohte. Es war ihr unmöglich, sein Angebot auszuschlagen, auch wenn sie eigentlich der Meinung war, dass es zu gefährlich war, sich länger als nötig in der Öffentlichkeit blicken zu lassen. Die Erleichterung darüber, dass er ihr verziehen zu haben schien, überwog ihre Bedenken jedoch.

»Wie könnte ich die Einladung eines Prinzen ausschlagen?«, erwiderte sie in gespielter Rührung und ließ sich von ihm die Tür zu dem Geschäft aufhalten. Ihr schlug der Duft von frisch gebackenen Brötchen und süßen Teilchen entgegen, gemischt mit dem Aroma von gemahlenen Kaffeebohnen. Wärme umhüllte sie, drang bis in ihr Innerstes vor und vertrieb die Sorgen.

Während sie sich einen Sitzplatz im hinteren Bereich des Lokals suchte, bestellte Philipp ihnen etwas zu essen. Sie konnte nicht hören, was er zu der Verkäuferin sagte, aber es entlockte ihr ein Lächeln. Er war gut darin, Menschen Freude zu schenken. Das war sein geheimes Talent.

Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, hatte sie nie wirklich geglaubt, dass er sich gegenüber jemand anderem rücksichtslos verhalten könnte. So war er nicht. Er war aufmerksam, zuvorkommend, großzügig, witzig, mutig, liebevoll … Er war so wundervoll, dass sie das Gefühl hatte, sich gegen seinen Zauber wappnen zu müssen, um nicht die Kontrolle zu verlieren.

Kontrolle war alles, was sie hatte. Sie traf ihre eigenen Entscheidungen und niemand sonst.

Sie zwang sich, den Blick von Philipp abzuwenden, und bemerkte die aufgeschlagene Zeitung auf dem Tisch vor sich. Ein Bild von Schloss Drachenburg war oben rechts abgebildet, darunter stand:

Privater Käufer erwirbt Schloss.

Nachdem sich der Stadtrat im März gegen eine Restauration von Schloss Drachenburg entschieden hat, wurde das Gebäude zum Kauf angeboten. Am vergangenen Samstag wurde der neue Besitzer verkündet: Vladimir Dragoran.

Der gebürtige Rumäne freut sich über solch einen herrschaftlichen Wohnsitz in seiner neuen Heimat. Er beabsichtigt, das Schloss zu besonderen Anlässen auch weiterhin der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

»Vladimir Dragoran«, platzte es aus Ember heraus, als Philipp das Tablett mit den Tassen und Tellern vor ihr auf den Tisch stellte. »Klingelt da etwas bei dir?«

»Wer?«

»Er hat Schloss Drachenburg gekauft«, sagte sie, als wäre es ganz offensichtlich, was das zu bedeuten hatte.

Philipp nahm erst einmal einen großen Schluck von seinem Kaffee und versuchte dabei, zu enträtseln, was Ember ihm damit sagen wollte. »Vlad Dracul?«

»Ganz genau«, bekräftigte Ember seine Vermutung. »Ein rumänischer Käufer, das steht auch noch in dem Artikel. Das ist doch kein Zufall!«

Philipps Hand schloss sich auf dem Tisch zur Faust. »Es wundert mich, dass er das Schloss gekauft und es sich nicht einfach genommen hat, wobei das bei Dracula auch nicht auszuschließen ist.«

Ember musterte ihn interessiert. Auch sie hatte es erstaunt, von dem Kauf zu lesen, aber Philipp wirkte richtig verärgert darüber, als ob Vlad Dracul ihm persönlich etwas weggenommen hätte. Sie erinnerte sich wieder daran, wie er sich ihm auf dem Blutroten Fest entgegengestellt hatte.

Du hast mir schon einmal meine Heimat gestohlen, Drache. Ich lasse nicht zu, dass das ein zweites Mal geschieht, hatte er zu ihm gesagt. Danach war so viel passiert, dass sie nicht die Zeit gehabt hatte, ihn darauf anzusprechen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739484341
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (April)
Schlagworte
Rattenfänger von Hameln Brüder Grimm Grimm Aschenputtel Märchenadaption Märchen Schneewittchen Vampir Prinz Dracula Fantasy düster dark Urban Fantasy Historisch Romance

Autor

  • Maya Shepherd (Autor:in)

Maya Shepherd wurde 1988 in Stuttgart geboren. Zusammen mit Mann, Kindern und Hund lebt sie mittlerweile im Rheinland und träumt von einem eigenen Schreibzimmer mit Wänden voller Bücher. Seit 2014 lebt sie ihren ganz persönlichen Traum und widmet sich hauptberuflich dem Erfinden von fremden Welten und Charakteren. Die Grimm-Chroniken wurden 2019 mit dem Skoutz-Award in der Kategorie Fantasy ausgezeichnet.
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Titel: Der Dornenprinz