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Das Unglückskind

von Maya Shepherd (Autor:in)
180 Seiten
Reihe: Die Grimm-Chroniken, Band 23

Zusammenfassung

Sieben Jahre Schnee brachen über Engelland herein, als Margery das Licht der Welt erblickte. Die Bewohner der Insel straften sie dafür mit Verachtung und nannten sie das Unglückskind. Trotzdem liebte Margery nichts mehr als ihre Heimat und wäre bereit gewesen, alles zu tun, um diese zu beschützen. Selbst ihr eigenes Leben hätte sie für die Sicherheit ihres Königreichs gegeben. Sie wäre die perfekte selbstlose Königin geworden. Jemand, der es wert war, dass man für ihn kämpfte. Aber mit jedem Stück ihres Herzens, das sie verlor, schwand das Gute in ihr. Ihre Mutter Mary scheint die Einzige zu sein, die sie noch vor der Dunkelheit zu retten vermag. Wird es ihr in der Nacht des Blutmondes gelingen, den schwarzen Spiegel zu verlassen und Elisabeth zu besiegen?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Was zuvor geschah

Sonntag, 28. Oktober 2012

5.00 Uhr

Maggy findet Joe und Will im Finsterwald. Ihr Bruder macht ihr schwere Vorwürfe, weil sie ihm am Vorabend heimlich einen Schlaftrank verabreicht hat, um zu verhindern, dass er auf den Spiegelball geht. Eine Entschuldigung reicht nicht, um Joe zu besänftigen. Erst als Maggy ihnen gesteht, dass Elisabeth Jacob mit sich in den Spiegel gerissen hat, erklärt Joe sich widerwillig bereit, ihnen weiter beizustehen.

Kurze Zeit später stoßen Arian, Simonja und deren Mutter Nisha zu ihnen. Gemeinsam begeben sie sich auf die Suche nach Eva, da sie die Einzige zu sein scheint, die das Blatt noch wenden kann.

10.00 Uhr

Rosalie und Dorian erreichen das Schloss Drachenburg und treffen dort auf Margery, die nun die neue Königin der Vampire ist, nachdem sie Vlad Dracul getötet hat. Ember und Philipp, die als Gäste und Freunde bei ihr geblieben sind, warnen sie vor Rosalies Zusammenarbeit mit Elisabeth. Anstatt ihren Verrat abzustreiten, steht Rosalie dazu, dass sie Margerys Tod will. Diese lässt ihre Zwillingsschwester daraufhin festnehmen.

11.00 Uhr

Gegen jede Erwartung stoßen Maggy, Will, Joe, Arian, Simonja und Nisha in dem Bunker unterhalb des Flakturms nicht auf Eva, sondern auf Rumpelstein. Dieser hielt seine Tochter, die bis zu diesem Zeitpunkt nichts über ihre wahre Herkunft wusste, dort gefangen, um sie vor der bösen Königin zu beschützen. Eva gelang es jedoch, ihn zu überwältigen, und sie ergriff die Flucht. Mithilfe von Magie folgt die Gruppe ihrer Spur.

15.00 Uhr

Die böse Königin hat Eva erblinden lassen und hält sie in einem Turm im Finsterwald gefangen. Als dort die Gruppe rund um Maggy eintrifft, erkennt sie lediglich Rumpelstein an seiner Stimme als ihren ehemaligen Entführer wieder. Nun weiß sie, dass er mit all seinen Behauptungen, die ihr zu verrückt erschienen, um sie glauben zu können, recht hatte. Ihres Augenlichts und Margerys Herzsplitters beraubt, ist es ihr unmöglich, sich an ihre Vergangenheit in Engelland zu erinnern. Dennoch fasst sie Vertrauen zu den Fremden. Als sie mit diesen gehen will, muss sie jedoch feststellen, dass ein Blutzauber sie an ihr Gefängnis bindet. Dieser kann nur von der Person gelöst werden, der ihn ausgesprochen hat – Elisabeth.

Arian, Simonja und Nisha bleiben bei Eva im Turm, während Maggy, Will, Joe und Rumpelstein aufbrechen, um Freya zu Hilfe zu holen. Diese ist nicht nur die Erdenmutter, sondern auch Evas leibliche Mutter. Sie ist die Einzige, welche die Macht besitzen könnte, ihre Tochter zu retten.

16.00 Uhr

Als Ember und Philipp Schloss Drachenburg verlassen wollen, werden sie auf Befehl ihrer neuen Königin hin von den Vampiren daran gehindert. Margery stellt es Philipp frei, zu gehen, doch Ember ist für sie zu wertvoll, um sie zu verlieren, da sie einen der letzten verbliebenen Herzsplitter in ihrer Brust trägt.

Ember ist entsetzt darüber, zu was für einer berechnenden Person sich ihre einstige Freundin entwickelt hat, und befürchtet, ihre Hoffnungen auf die Falsche gesetzt zu haben. Schweren Herzens ist sie bereit, Philipp ziehen zu lassen, doch dieser entscheidet sich, bei ihr zu bleiben, da sie nach der Ermordung seiner Eltern alles ist, was ihm geblieben ist.

19.00 Uhr

Dorian sucht in Margerys Auftrag mit den Vampiren die Schlosskommende auf. Sie finden den Ort jedoch verlassen vor. Im Ballsaal entdecken sie den unvollendeten Spiegel und Dorian erteilt den Befehl, diesen zu Schloss Drachenburg zu transportieren.

Allein sucht er das Spiegelzimmer im zweiten Stock auf. Dort sind noch die Spuren des missglückten Rituals zu erkennen, mit dem Elisabeths Geist aus Marys Körper vertrieben werden sollte. Durch den schwarzen Spiegel beschwört er Mary, die ihm gesteht, dass sich etwas in der Spiegelwelt verändert hat. Sie spürt, dass das Ende nah ist, wie auch immer es ausgehen wird.

Zur selben Zeit erreichen Maggy, Will, Joe und Rumpelstein die Insel Nonnenwerth, auf der sich ein Kloster befindet, in dem die Erdenmutter als Oberin in dieser Welt lebt. Sie hat die Gruppe erwartet und empfängt sie bereitwillig. Freya kann ihren Turm jedoch nicht verlassen, da sonst die sieben Welten, die sie erschaffen hat, zerstört werden würden. Nur wenn jemand ihren Platz einnimmt, kann sie gehen. Der Tausch, wenn er erst einmal erfolgt ist, kann nicht rückgängig gemacht werden.

Es ist Joe, der sich bereit erklärt, zu bleiben. Bevor die anderen aufbrechen, geben Maggy und Will ihm das Versprechen, Rosalie noch eine zweite Chance zu geben und einen Weg zu finden, um ihn von seiner Aufgabe als Erdenvater wieder zu entbinden.

22.00 Uhr

Im Finsterwald werden Maggy, Will und Freya von den Vampiren überwältigt, bevor sie zu dem Turm, in dem Eva gefangen gehalten wird, zurückkehren können. Nur Rumpelstein gelingt es, ihnen zu entgehen.

Auf Schloss Drachenburg wird die Gruppe vor Margery geführt, die wissen will, wo Simonja sich aufhält. Maggy, die Margery schon seit Längerem nicht mehr vertraut, weigert sich jedoch, Simonjas Versteck preiszugeben.

Freya fällt ihr überraschend in den Rücken und begründet ihren Verrat damit, dass ihr die Zeit davonläuft. Sobald sie den Turm der Erdenmutter verlassen hat, bleiben ihr nur noch zwei Sonnenaufgänge, bis sie sterben wird. Das gleiche Schicksal steht nun auch Joe bevor, sollte er je seine Aufgabe als Erdenvater aufgeben.

Sonntag,

28. Oktober 2012

Noch drei Tage


Eine Bekanntschaft aus der Vergangenheit

Sonntag, 28. Oktober 2012

23.00 Uhr

Königswinter, Finsterwald

Stunden waren vergangen, seitdem Maggy, Will, Joe und Rumpelstein aufgebrochen waren, um die Erdenmutter aufzusuchen. Sie war die Einzige, die Eva vielleicht nicht nur ihre Erinnerung, sondern auch ihr Augenlicht zurückgeben konnte, das ihr von der bösen Königin genommen worden war. Es hieß, dass die Liebe einer Mutter grenzenlos sei. Galt das auch für Freya? Was liebte sie mehr – ihre Schöpfung oder ihr einziges Kind?

Die Ungewissheit war quälend, aber Eva, Arian, Nisha und Simonja blieb nichts anderes übrig, als auszuharren.

Bis wann?, fragte Simonja sich immer wieder. Wie lange warten wir, bis wir akzeptieren, dass die anderen nicht zurückkommen werden?

Sie wagte es nicht, ihre Zweifel laut auszusprechen, da sie den anderen nicht die Hoffnung nehmen wollte. Aber insgeheim vermutete sie, dass es ihnen nicht anders ging, denn sie schwiegen alle.

Es war ein langer Weg bis zu dem Kloster, in dem die Erdenmutter in dieser Welt residierte, dennoch müssten ihre Freunde bald zurückkehren, wenn alles gut ging.

Die Nacht hatte sich über den Finsterwald gelegt, sodass Simonja alles um sich herum nur noch schemenhaft erkennen konnte. Das war mehr, als Eva sehen konnte. Simonja spähte zu dem völlig verängstigten Mädchen, das auf dem Bett kauerte und so tat, als ob es schlafen würde. Seine unruhige Atmung verriet es jedoch. Für Eva machte es keinen Unterschied, ob sie die Augen geschlossen oder offen hatte – ihre Welt blieb dunkel. Wie entsetzlich es sein musste, wenn einem so viel Unheil angetan wurde und man nicht einmal den Grund dafür kannte.

Arian hatte sich bereit erklärt, die Wache zu übernehmen, und sich dafür auf der Fensterbank niedergelassen. Er ließ seinen Blick über den Wald gleiten, aber jener wurde immer wieder von dem Mond angezogen, der hin und wieder zwischen den Wolken am Himmel aufblitzte. Es war nicht Lavena, sondern eine ihrer Schwestern, dennoch glühte Sehnsucht in Arians goldenen Augen. Sein Herz heulte wie ein Wolf, während seine Lippen verschlossen blieben.

Simonja konnte es nur schwer ertragen, ihn leiden zu sehen, aber es gab nichts, was sie dagegen tun konnte. Ihr blieb nur die Gewissheit, dass er sich für das Leben entschieden hatte – ein Leben mit ihr.

Ohne Nisha wäre Simonja jetzt wahrscheinlich tot. Wenn ihre Mutter nicht in der Nacht des Spiegelballs zurückgekehrt wäre, hätten die Geister der Toten Simonja umgebracht. Sie sollte Dankbarkeit empfinden, stattdessen quälte sie ihre Unwissenheit. Wo war Nisha die letzten Tage gewesen? Warum war sie früher von ihrer angeblichen Fortbildung zurückgekommen? Seit wann konnte sie sich an ihre Vergangenheit in Engelland erinnern?

»Du schuldest mir eine Erklärung«, raunte Simonja ihrer Mutter zu, die nicht weit von ihr auf dem Boden saß und ihren Rücken an die Wand gelehnt hatte. Zwischen ihnen befand sich nur die Tür.

Simonja konnte sehen, wie Nisha ihre Zähne aufeinanderbiss und sich ihre Miene verhärtete. Ihr ganzer Körper drückte Ablehnung aus. Trotz allem, was gewesen war, wollte Nisha immer noch nicht die Wahrheit sagen.

Seufzend wandte sie ihrer Tochter das Gesicht zu, doch noch bevor sie den Mund öffnen konnte, fuhr Simonja sie an: »Hast du aus der Vergangenheit nichts gelernt? Warum lässt du mich immer wieder ohne jede Vorwarnung in mein Unglück rennen? Bin ich dir so gleichgültig?«

Ihr Vorwurf kam einer Ohrfeige gleich und Nisha zuckte unter der Härte der Worte zusammen. Simonja wusste, dass sie ihrer Mutter nicht gleichgültig war. Ganz im Gegenteil, lange Zeit hatten sie nur einander gehabt. Es war eine einsame Kindheit gewesen, aber keine schlechte. Sie hatten viel miteinander lachen können und Nisha hatte immer ihr Bestes gegeben, um Simonja ihre Liebe spüren zu lassen. Sie musste ihrer Tochter nicht nur den Vater, sondern auch jeden anderen Menschen ersetzen: Freunde, Familie, Schulkameraden, Nachbarn, Bekannte. Die erzwungene Isolation hatte nur Simonjas Schutz gedient.

Dennoch nahm sie es ihrer Mutter übel, dass diese sie an ihrem fünfzehnten Geburtstag völlig ahnungslos in die Grausamkeit der Welt entlassen hatte. Sie hatte gewusst, was Simonja bevorstand, schließlich war sie zuvor der Tod von Engelland gewesen. In all den Jahren hätte sie ihre Tochter auf die Zukunft vorbereiten können, aber stattdessen hatte sie geschwiegen oder sogar gelogen, wenn es sich nicht vermeiden ließ.

»Manchmal ist es besser, nicht zu wissen, was auf einen zukommt, weil man sonst daran zerbrechen würde«, entgegnete Nisha leise. Die Last ihrer Geheimnisse ruhte schwer auf ihrem Gewissen, ihrem Herzen und ihrer Seele. Trotzdem war sie nicht bereit, sich davon zu befreien.

»Ausflüchte«, zischte Simonja verärgert. Sie war es leid, dass ihre Mutter sich immer rauszureden versuchte. Zwar konnte sie nachvollziehen, dass man einem Kind nicht sagen wollte, dass es später einmal täglich Menschen würde umbringen müssen, aber sie war kein Kind mehr. Ihre Kindheit endete an dem Tag, als der Baum des Lebens ihr die erste Nuss mit einem Zettel und einem Namen vor die Füße fallen ließ.

Misstrauisch musterte sie ihre Mutter. Als diese vor ein paar Tagen zu einer ominösen Fortbildung aufgebrochen war, hatte sie schlichte schwarze Jeans und einen grauen Pullover getragen – völlig unscheinbar. In dieser Welt hatte Simonja ihre Mutter nie anders erlebt. Die meiste Zeit verbrachte sie auf dem Friedhof, wo sie sich in einer grünen Latzhose um die Gräber kümmerte. Sie mochte es, in der Natur zu sein, mit ihren Händen zu arbeiten, und sie genoss vor allem die Ruhe. Der Trubel der Stadt war ihr zuwider, genauso wie der Umgang mit anderen Menschen.

Seit ihrer Rückkehr stellte Nisha jedoch das ältere Abbild ihrer Tochter dar: Ihre schlanke, aber sportliche Figur wurde durch eine eng anliegende Lederhose und ein Top betont. Der rote Mantel war ein absoluter Blickfang, den kaum jemand übersehen konnte.

Rot war eine Signalfarbe. In Engelland war sie dem Tod vorbehalten gewesen.

Der strenge hohe Pferdeschwanz betonte ihr taffes Wesen. Sowohl Mutter als auch Tochter waren Frauen, die sich durchzusetzen wussten.

»Hast du es schon immer gewusst?« Simonja unterdrückte das Beben ihrer Unterlippe. Sie spürte die Enge in ihrem Hals. Es schmerzte, von dem Menschen, der einem am nächsten stand, belogen zu werden. Sie könnte nur schwer ertragen, wenn ihr ganzes Leben, auch jenes in dieser Welt, nur eine einzige Lüge wäre.

»Nein«, widersprach Nisha ihr energisch und suchte flehend ihren Blick. »Ich hätte dich niemals in dieser Situation allein gelassen, wenn ich die Wahrheit gekannt hätte.«

Erleichterung durchflutete Simonjas Herz – zumindest in diesem Punkt hatte ihre Mutter nicht immer gelogen. Aber das beantwortete keinesfalls alle ihre Fragen, sondern führte nur zu einer neuen. »Was hat sich geändert?«

Erst die Begegnung mit den anderen der Vergessenen Sieben hatte Simonjas eigene Erinnerungen an Engelland wieder aufleben lassen. Was war es bei ihrer Mutter gewesen?

Nisha antwortete ihr nicht sofort, sondern schwieg einen Moment, als suche sie nach einer Ausrede. Dann gestand sie jedoch: »Ich bin jemandem aus der Vergangenheit begegnet. Er wollte wohl, dass ich wieder weiß, wer ich bin.« Erneut verstummte sie und driftete mit ihren Gedanken ab. »Vielleicht wollte er auch nur, dass ich mich an ihn erinnere.«

Er?, schoss es Simonja verständnislos durch den Kopf. Von wem zur Hölle spricht sie? Etwa von meinem Vater?

Dessen Identität war seit jeher das größte Geheimnis. Konnte es sein, dass dieser nicht nur am Leben, sondern auch Teil dieser Welt war? Wer war er?

Simonja brannte darauf, endlich die Wahrheit zu erfahren, doch sie kam nicht dazu, ihre Mutter danach zu fragen, denn in diesem Augenblick wurde die Tür zwischen ihnen aufgestoßen und Rumpelstein stolperte herein. Atemlos schnaufte er und stützte sich mit seinen kurzen Armen auf seinen krummen Beinen ab.

»Wer ist da?«, keuchte Eva erschrocken, während Nisha Arian vorwarf: »Wolltest du nicht Wache halten?«

»Der Zwerg ist so klein, dass ich ihn glatt übersehen habe«, rechtfertigte Arian sich verlegen.

Vermutlich hat er weniger auf den Wald als mehr auf den Mond geachtet, dachte Simonja in einer Mischung aus Mitgefühl und Eifersucht.

»Klein genug, um den Vampiren zu entwischen, welche die Hexe, den Jäger und die Erdenmutter gefangen genommen haben«, japste Rumpelstein verächtlich.

Schockiert starrten die anderen ihn an. Freya war also tatsächlich bereit gewesen, ihren Turm zu verlassen, um ihrer Tochter zu Hilfe zu eilen, aber nun befand sie sich in der Gewalt der Vampire.

»Was hat Vlad Dracul mit ihnen vor?«, wunderte Simonja sich besorgt. Von Maggy wusste sie, dass Elisabeth in den Spiegel gestürzt war und Jacob mit sich gerissen hatte. War diese etwa schon wieder zurückgekehrt und Vlad hatte vor, die Gefangenen an sie auszuliefern?

»Der Drache ist tot«, fauchte Rumpelstein. »Die Blutsauger haben jetzt eine Königin.«

»Wer ist es?«, hakte Arian ungeduldig nach, als der Zwerg nicht weitersprach.

Dieser kostete seine Überlegenheit noch etwas aus, ehe er gehässig entgegnete: »Es ist eure liebreizende Prinzessin, die ihr als weiße Macht verehrt. Das Unglückskind, welches angeblich keiner Seele etwas zuleide tun würde, aber seinen Durst selbst mit Blut stillt.«

»Margery?«, entfuhr es Simonja fassungslos. Sie hatte ihr einiges zugetraut, aber dass sie nun die Königin der Vampire sein sollte, übertraf alles.

»Wer denn sonst?«, ächzte Rumpelstein. »Ich habe seit jeher gewusst, dass der nicht zu trauen ist. Wie die Mutter so die Tochter …«

»Sagt derjenige, der Eltern ihre Erstgeborenen stiehlt«, fiel Arian ihm verachtend ins Wort. Rumpelstein war der Letzte, der sich über fehlende Moral beschweren durfte.

Der Zwerg schnaubte beleidigt, hatte dem aber nichts hinzuzufügen.

»Was ist mit dem zweiten Jungen?«, erkundigte sich überraschend Eva nach Joe. Obwohl sie ihn nicht kannte, sorgte sie sich um ihn. So war sie schon immer gewesen. Auch in Engelland hatte sie sich durch ihre Aufmerksamkeit und ihr Mitgefühl ausgezeichnet.

Simonja bewunderte sie dafür, denn sie selbst musste sich eingestehen, dass ihr bei Rumpelsteins Bericht nicht einmal aufgefallen war, dass er Joe nicht erwähnt hatte.

Der Zwerg zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Er hat sich spontan entschlossen, Mönch zu werden.«

»Was soll das heißen?«, fuhr Simonja ihn genervt an.

Ein boshaftes Grinsen entblößte Rumpelsteins verfaulte Zähne. »Die Oberin konnte ihr Kloster nicht unbewacht zurücklassen, deshalb musste jemand bleiben, der ihren Platz einnimmt«, erzählte der Zwerg ungerührt, so als wäre es ein großer Witz. »Joe hat sich freiwillig gemeldet und nun die Macht übertragen bekommen, direkt sieben Welten dem Erdboden gleichzumachen. Das ist, als würde man einen Frosch auf den Thron setzen.«

Er lachte schallend, wofür Simonja ihn am liebsten geschlagen hätte. Wenn sie ihn richtig verstanden hatte, bedeutete das, dass Joe nun der Erdenvater war?

»Warum bist du nicht an seiner Stelle geblieben?«, konterte Arian. »Dann hättest du dich wenigstens einmal nützlich gemacht.«

Der Zwerg plusterte sich empört auf. »Was glaubst du eigentlich, warum ich zurückgekommen bin? Ihr solltet mir vor Dankbarkeit die Füße küssen, stattdessen muss ich wieder eure unverschämten Beleidigungen über mich ergehen lassen. Wenn die Vampire den Turm umzingeln, werdet ihr noch an mich denken!«

»Die anderen würden uns nicht verraten«, widersprach Simonja ihm voller Überzeugung.

»Bist du dir sicher?«, hakte Rumpelstein unbeeindruckt nach. »Glaubst du wirklich, dass eine Mutter, die sieben von ihr erschaffene Welten einem Idioten überlässt, sich um dein Wohlergehen sorgt, wenn dagegen das Leben ihrer Tochter steht?«

Er schaute zu Eva, die unbehaglich ihre Finger knetete. Die anderen waren zum Turm der Erdenmutter aufgebrochen, um ihr zu helfen. Die böse Königin hatte ihr nicht nur das Augenlicht genommen, sondern auch einen Blutzauber gewirkt, der sie an diesen Turm band. Ihretwegen schwebten die anderen nun in Gefahr.

»Was ist denn so schlimm daran, wenn Margery weiß, wo wir uns befinden?«, wunderte Eva sich jedoch irritiert. »Ich dachte, wir würden auf derselben Seite stehen. Immerhin war es doch Margerys Herz, das uns vereint hat.«

In den letzten Tagen hatte sie viele unglaubliche Dinge aus unterschiedlichsten Quellen erfahren. Zum einen von Rumpelstein, während ihrer Entführung. Allerdings hatte sie da noch alles, was er von sich gab, für das Geschwätz eines Wahnsinnigen gehalten. Später kamen Behauptungen von Elisabeth hinzu, die Evas Vergangenheit als Rechtfertigung für ihre Grausamkeit nahm. Simonja und Arian hatten versucht, ihr lückenhaftes Bild abzurunden.

»Das war einmal«, erwiderte Simonja unglücklich. »Seitdem Margery immer mehr Teile ihres Herzens verliert, ist sie nicht mehr sie selbst. Die Dunkelheit ergreift Besitz von ihr.«

Eva runzelte die Stirn und schien über etwas nachzudenken. »Elisabeth hat das Stück, welches sie von meinem Herz entfernt hat, nicht zerstört, sondern in einem Glas aufbewahrt. Ich erinnere mich zwar nur vage daran, aber ich meine, dass da auch noch ein zweites gewesen wäre.«

Diese Neuigkeit kam unerwartet. Bisher waren Simonja und die anderen davon ausgegangen, dass die böse Königin hinter den Sieben her war, um Margery zu töten.

»Das zweite Herzstück müsste von Philipp sein«, überlegte Simonja laut. »Aber was sollte Elisabeth damit wollen?«

»Sie braucht sie für irgendetwas«, mutmaßte Nisha, da es keine andere Erklärung gab.

Was wäre, wenn Margery die Herzsplitter zurückbekommen würde?, fragte Simonja sich. Würde sie dann wieder ganz sie selbst werden? Hoffnung steckte in dem Gedanken, denn auch wenn Simonja und die Prinzessin sich nie nahegestanden hatten, so hatte sie ihr zumindest vertraut und an sie geglaubt.

»Weißt du irgendetwas darüber?«, wandte Simonja sich an Rumpelstein, immerhin war dieser der treue Diener der bösen Königin gewesen.

»Wollt ihr weiter Zeit mit Spekulationen vergeuden oder endlich die Flucht ergreifen?«, konterte dieser ausweichend. »Wenn ich gewusst hätte, dass ihr lieber Maulaffen feilhaltet, hätte ich gar nicht herzukommen brauchen.«

»Ich kann nicht«, widersprach Eva ihm hilflos. »Aber das bedeutet nicht, dass ihr ebenfalls bleiben müsst«, richtete sie sich an die anderen. Die Angst war ihr deutlich anzusehen und schwang in ihrer Stimme mit, dennoch würde sie niemals verlangen, dass jemand sein Leben für sie riskierte. Sie fühlte sich ohnehin schon schuldig dafür, was Maggy, Will und Joe zugestoßen war.

»Du solltest fliehen«, riet Nisha ihrer Tochter. »Margery wird es wegen des Herzsplitters vor allem um dich gehen.«

»Ich lasse euch nicht zurück«, widersprach Simonja bestimmt und blickte von ihrer Mutter zu Arian. Sie hatte ihn gerade erst wiederbekommen. Niemals würde sie ihn jetzt verlassen. Außerdem war Eva auf ihre Hilfe angewiesen. Sie hätte für Simonja dasselbe getan.

»Dann sollten wir uns besser auf einen Kampf einstellen«, meinte Arian mit einem Grinsen, das an das Zähnefletschen eines Wolfes erinnerte. Er konnte es kaum erwarten, ein paar Vampire zu Asche zu zermalmen.

Simonja nickte ihm entschlossen zu. Es tat gut, Seite an Seite mit ihm zu kämpfen. »Zusammen schaffen wir das.«

Nisha schwieg. Es wäre ihr lieber gewesen, ihre Tochter in Sicherheit zu wissen, aber sie schätzte sie auch für ihren Mut und ihre Loyalität.

Keine dieser Tugenden bedeutete Rumpelstein etwas. »Was für Narren ihr doch seid«, schnaubte er abfällig. »Glaubt nicht, dass ich mich diesem Irrsinn anschließe!«

Er trat zurück zur Tür und warf einen letzten, bedauernden Blick auf Eva. Zwar glaubte er daran, dass sie seine Tochter war, aber ihm fehlten sowohl die Erinnerung als auch die emotionale Bindung, um wirklich fühlen zu können, was das bedeutete. Sein eigenes Leben stand über dem von jedem anderen.

»Für den unwahrscheinlichen Fall, dass wir uns je wiedersehen, wagt es nicht, mir vorzuwerfen, dass ich euch nicht gewarnt hätte«, fauchte er, ehe er in der Dunkelheit des Turmes verschwand und seine Schritte auf der Treppe verklangen.

»Feigling«, knurrte Arian herablassend.

»Hast du etwas anderes erwartet?«, konterte Simonja.

Als sie zu Eva schaute, wusste sie, dass zumindest diese sich etwas anderes gewünscht hätte. Obwohl Eva ihr Vater genauso fremd war wie sie ihm, begann sie, etwas für ihn zu empfinden, jeder Vernunft zum Trotz. Seitdem sie wusste, wer er war, gelang es ihr, über sein grobes Verhalten und seine Grausamkeit hinwegzusehen. Ihr Verstand erinnerte sich nicht, aber ihr Herz sehnte sich nach einem Vater. Rumpelstein mochte rücksichtslos und gemein erscheinen, aber er hatte nichts unversucht gelassen, um sie zu retten. Nie zuvor hatte sich jemand so sehr für sie eingesetzt.

Montag,

29. Oktober 2012

Noch zwei Tage

Schweren Herzens

Montag, 29. Oktober 2012

07.00 Uhr

Königswinter, Finsterwald

Unbemerkt hatte sich die Dämmerung über den Finsterwald gelegt. Adrenalin floss durch die Körper von Simonja, Arian, Nisha und Eva, die in jener Nacht kaum Schlaf gefunden hatten, aus Furcht vor einem Angriff der Vampire. Es konnte jederzeit so weit sein. Doch je mehr Zeit verstrich und je blasser die Sterne am Himmel wurden, umso dichter breitete sich der Nebel zwischen den Baumstämmen aus. Eine graue, wabernde Masse, die jede Bewegung verhüllte. Deshalb bemerkten sie die Eindringlinge auch erst, als deren polternde Schritte auf den Stufen zu hören waren.

»Es geht los«, raunte Arian und zückte seine zwei Dolche – für jede Hand einen.

Simonja umschloss den Griff ihrer Sense, während Nisha das Gewehr anlegte und damit auf die Tür zielte.

Eva hielt sich zitternd im Hintergrund. Sie war keine Kämpferin, noch nie gewesen, aber blind war sie vollkommen hilflos. »Ihr müsst das nicht tun«, wisperte sie ängstlich. »Noch ist es nicht zu spät.« Sie deutete vage zu einem der Fenster. »Es ist zwar riskant, aber vielleicht würdet ihr ihnen entkommen.«

»Nein«, entschied Simonja, ohne auch nur zu zögern. »Wenn du dich erinnern könntest, würdest du es verstehen. Uns verbindet mehr als ein geteiltes Herz. Wir kämpfen für dieselbe Vision.«

Eva verstummte und die Geräusche von der Treppe wurden immer lauter. Nicht mehr lange und die Vampire würden sie erreicht haben. Selbst mit ihren übermenschlichen Fähigkeiten musste ihnen der Aufstieg etwas Mühe bereiten, das wäre der einzige Vorteil von Simonja und den anderen.

Am besten sollten sie gar nicht abwarten, sondern direkt angreifen. Jeder, der versuchte, sich Zutritt zu dem Turmzimmer zu verschaffen, würde seinen Kopf verlieren. Das war die einzige verlässliche Weise, um Vampire zu töten. Nicht mehr als ein Hauch Asche würde von ihnen übrig bleiben. Eigentlich bedauerlich, denn so gab es nichts, das sie Margery zurückschicken konnten.

Die Schritte kamen immer näher, hatten die Spitze fast erreicht und verstummten dann mit einem Schlag. Simonja hielt den Atem an und glaubte, leises Gemurmel zu vernehmen, als plötzlich eine kraftvolle Stimme erklang: »Es muss niemandem etwas geschehen.«

Verächtlich blickten Simonja und Arian sich an. Sie teilten den gleichen Gedanken: Was für eine lahme Lüge! Dennoch fragten sich beide, wer da zu ihnen sprach. Es war eine Frau, der sie noch nie begegnet waren, die ihnen aber dennoch auf seltsame Weise vertraut vorkam.

»Wir sind nur hier, um Simonja zum Schloss zu eskortieren. Zu ihrer eigenen Sicherheit!«

»Das ist sie«, entfuhr es Eva aufgeregt. »Das ist die Oberin. Ich erkenne ihre Stimme von den Lautsprecherdurchsagen der Schule wieder.«

Die Erdenmutter hatte sie also tatsächlich an Margery verraten – ganz wie Rumpelstein es vermutet hatte. Ihr ging es nur um Eva, und alles, was sie nun noch von ihrer Tochter trennte, war diese alte Holztür.

»Für meine Sicherheit sorge ich lieber selbst«, konterte Simonja provokant. »Richtet das eurer Königin aus!«

»Wir haben den Befehl, nicht ohne dich zurückzukehren«, entgegnete Freya. »Es wäre uns gewiss allen lieber, wenn dabei niemand verletzt würde.«

Simonja hörte die Drohung in den Worten, aber sie lachte nur höhnisch auf. »Wie tief bist du eigentlich gesunken? Erst erschaffst du Welten und jetzt gehorchst du den Anweisungen einer Bluttrinkerin?«

Für ein paar Atemzüge blieb es still.

»Ich bin wegen meiner Tochter hier«, gab die Erdenmutter demütig zu. »Ich möchte zu Eva. Ist sie am Leben?«

Nun war es nicht an Simonja, zu antworten. Sie drehte sich zu dem blinden Mädchen um, dem Tränen in den Augen standen. Seine Unterlippe bebte, als sich ein Schluchzen löste.

»Ich bin hier«, ließ sie ihre leibliche Mutter wissen. »Aber ich kann nicht zulassen, dass jemand etwas meinen Freunden antut. Sie haben mich nicht im Stich gelassen, als ich dringend Hilfe brauchte.«

Anders als ihre Eltern. Der indirekte Vorwurf war nicht zu überhören. Eva lebte seit Jahren in dem Internat, welches zu dem Kloster gehörte, das Freya leitete, und dennoch hatte ihre Mutter nie Kontakt zu ihr aufgenommen. Sie hatte weder verhindert, dass Rumpelstein sie entführte, noch, dass die böse Königin sie in ihre Gewalt brachte.

»Niemand will ihnen etwas antun«, versicherte Freya. Ihre zuvor so feste Stimme schwankte auf einmal. Sehnsucht lag in ihren Worten. Nach all den Jahrhunderten wollte sie nur noch ihre Tochter in die Arme schließen. »Öffnet die Tür und ergebt euch!«

»Niemals!«, rief Arian. Er würde unter keinen Umständen zulassen, dass Simonja sich an Margery auslieferte, die eine Horde Vampire schickte, um sie zur Not auch gewaltsam zu sich bringen zu lassen.

Vielleicht mochten ihre Absichten nicht schlecht sein, aber ihre Herangehensweise war völlig falsch. Wenn sie etwas von Simonja wollte, sollte sie selbst zu ihr kommen und sie darum bitten.

»Bitte seid doch vernünftig«, bat die Erdenmutter eindringlich. »Hier warten über ein Dutzend Vampire, die es kaum erwarten können, diesen Raum zu stürmen und den Willen ihrer neuen Königin zu erfüllen. Sie werden dich bekommen, Simonja. Ganz gleich, ob du kämpfst oder nicht. Der Unterschied ist nur, dass deine Angehörigen diesen Kampf vielleicht nicht überleben werden. Möchtest du ihre Leben wirklich völlig sinnlos opfern?«

Simonja wusste, dass es ein Trick war, um sie weich zu machen. Natürlich waren die Vampire ihnen zahlenmäßig überlegen. Damit hatten sie gerechnet, aber Nisha, Arian und sie waren keine gewöhnlichen Menschen. Sie hatte es als Tod schon öfter mit mehreren Angreifern auf einmal aufgenommen, ebenso ihre Mutter. Zu zweit hatten sie gegen Geister gekämpft. Auch Arian war kein leichter Gegner. Zwar war er kein Gestaltwandler mehr, aber die animalische Wildheit des Wolfes würde immer einen Teil von ihm ausmachen. Sie schlummerte wie ein Feuer in ihm und wärmte seine Seele.

Sie könnten es schaffen, aber es gab keine Gewissheit. Genauso gut könnten sie bei dem Versuch sterben. Simonja zwar nicht, denn das wäre nicht in Margerys Interesse, die sie lebend brauchte, aber das galt nicht für Nisha und Arian.

Wie sollte sie damit leben, wenn beide ihretwegen starben? Sie hatte Arian doch gerade erst wiederbekommen. Sein Tod hätte sie beinahe zerbrochen. Die Erinnerung an den alles verzehrenden Schmerz in ihrer Brust war noch nicht verblasst. Allein der Gedanke daran genügte, um ihr die Luft zum Atmen zu rauben.

Arian las ihre Gedanken und legte ihr einen Arm schwer auf die Schulter. »Nein«, sagte er bestimmt. »Du wirst dich auf keinen Fall ergeben! Da mache ich nicht mit! Lieber lasse ich es drauf ankommen.«

Er sprach nicht aus, worauf er es ankommen ließ. Das war auch nicht nötig. Er hatte die Wahl zwischen Leben und Tod gehabt und sich für Simonja entschieden. Ohne sie wäre alles sinnlos für ihn. Nur ihretwegen atmete er noch. Nur ihretwegen hatte er Lavena gehen lassen können.

»Weißt du überhaupt, was du da von mir verlangst?«, zischte Simonja. Sie wollte stark sein, aber sie spürte, wie ihre Überzeugung immer mehr Risse bekam und wie ein Kartenhaus einzustürzen drohte.

Es war nicht fair, dass sie diesen verdammten Splitter noch in ihrer Brust trug, während Arian sich davon befreit hatte. Auch wenn er dafür einen hohen Preis hatte zahlen müssen – sein tierisches Ich.

Wenn Simonja gekonnt hätte, hätte sie sich das Herzstück aus der Brust gerissen und Margery vor die Füße geschleudert. Sie wollte nicht mehr ihr Herz mit ihr teilen. Es war ohnehin ein Fehler gewesen! Sie hätte sie in jener Nacht in Engelland töten sollen, so wie es der Baum des Lebens von ihr verlangt hatte.

Nisha ließ ihre Waffe sinken und legte nun ihre Hand auf die andere Schulter ihrer Tochter. »Flieh«, wies sie Simonja streng an. »Wir können diesen Kampf nicht gewinnen. Selbst wenn wir es schaffen, die Vampire zu besiegen, werden weitere nach ihnen kommen. Solange Margery dich nicht in ihrer Gewalt hat, wird sie keine Ruhe geben. Geh zu der Schlosskommende und suche nach den beiden Herzsplittern. Sie sind die einzige Möglichkeit, um die Prinzessin wieder zur Vernunft zu bringen.«

Bestürzt schüttelte Simonja den Kopf. »Sie werden euch töten.«

»Warum sollten sie?«, konterte Nisha. »Sobald sie feststellen, dass du nicht mehr bei uns bist, verlieren sie das Interesse an uns. Wir sind für sie unbedeutend, allenfalls als Druckmittel geeignet.«

»Hör auf deine Mutter«, forderte nun auch Arian. »Wir halten sie lange genug auf, um dir einen Vorsprung zu verschaffen.«

»Aber was soll das bringen, wenn ich mich letztendlich doch an sie ausliefern muss, um euch zurückzubekommen?«, widersprach Simonja. Ganz gleich, was die beiden auch sagen würden, sie könnte niemals zulassen, dass Margery ihnen ihretwegen etwas antat.

»Wenn du die beiden Herzsplitter hast, kannst du sie ihr zum Tausch anbieten«, meinte Nisha nachdrücklich.

Wenn.

Simonja wandte sich verzweifelt Eva zu. »Eva, bist du ganz sicher, dass Elisabeth die Herzstücke aufbewahrt und nicht zerstört hat?«

Ein Teil von ihr hoffte, dass Eva ihre Aussage zurücknehmen würde, damit Simonja keinen Grund hatte, um ihre Liebsten verlassen zu müssen.

Aber Eva nickte zuversichtlich. »Ja, das bin ich. Ich habe mich noch gefragt, was sie damit will und von wem wohl das andere Stück sein mag.«

»Du musst sie finden«, verlangte Arian. »Was immer die böse Königin damit vorhatte, darf nicht geschehen.«

»Öffnet die Tür oder wir sehen uns gezwungen, sie aufzubrechen«, erklang Freyas ungeduldige Stimme aus dem Turm.

»Jetzt mach schon«, drängte Arian Simonja und versetzte ihr einen leichten Stoß in Richtung eines der Fenster.

Simonja war nicht bereit dazu. »Ich komme doch gar nicht von diesem Turm runter«, protestierte sie. »Oder hat jemand von euch ein Seil?«

»Simonja«, tadelte ihre Mutter sie in einer Mischung aus Ärger und Belustigung. »Das ist eine ganz schlechte Ausrede. Wir wissen beide, wozu du in der Lage bist.«

Nicht nur die Vampire beherrschten durch ihr Blut übernatürliche Kräfte, sondern auch der Tod. Es wäre kein Vergnügen, aber Simonja würde es schaffen, mit bloßen Händen und Füßen den Turm hinabzuklettern.

Vor der Tür war ein Rumoren zu vernehmen. Es würde nicht mehr lange dauern und die Vampire würden diese aufbrechen.

»Rotkäppchen, wenn es jemand schafft, dann du«, raunte Arian ermutigend.

Simonja gab ihrem inneren Impuls nach, überbrückte die Distanz zwischen ihnen und schlang ihre Arme um seinen Hals. Sie hatte Angst – Angst, ihn zu verlieren. Mehr denn je, weil sie nun wusste, wie sich eine Welt ohne ihn anfühlte. Sein Herz schlug kräftig gegen ihre Brust. Sie könnte nicht ertragen, wenn es erstarren würde.

Arian knurrte leise, als Aufforderung für sie, endlich zu gehen, dennoch drückte er sie kurz an sich.

»Es tut mir leid, aber du lässt mir keine andere Wahl«, meinte Nisha plötzlich und im nächsten Wimpernschlag löste sich ein Schuss aus ihrem Gewehr, der zielsicher die Tür durchschlug und im Turm ein unbekanntes Ziel traf. Geschrei wurde laut, das Poltern auf der Treppe lebte wieder auf und der Boden erbebte, als die Vampire losstürmten.

Nun gab es für sie kein Halten mehr. Das Startsignal war gefallen und sie würden erst ruhen, wenn sie sich Zutritt zu dem Zimmer verschafft hätten oder alle tot wären.

»Los jetzt«, befahl Nisha ihrer Tochter, die tatsächlich gehorchte und zu dem nächsten Fenster rannte. Ihre Sense verstaute sie in einem Tragegurt auf ihrem Rücken.

Erst als sie bereits ein Bein über den Sims geschwungen hatte, wandte sie sich noch einmal an ihre Mutter. »Wage es ja nicht, zu sterben! Du schuldest mir noch Antworten.«

Simonja wartete nicht auf ihre Erwiderung, sondern ließ sich an der Mauer hinabgleiten. Ihre Finger gruben sich zwischen die Backsteine, während sie sich mit den Stiefeln an dem Gemäuer abstützte. Stück für Stück ließ sie sich in die Tiefe gleiten, während über ihr der Kampf tobte.

Wieder vereint

Montag, 29. Oktober 2012

07.30 Uhr

Königswinter, Finsterwald

Es war entsetzlich laut. Personen, unbedeutend, ob Mensch oder Vampir, schrien durcheinander. Schüsse zischten durch die Luft. Metall klirrte, Holz knarrte und Knochen brachen. Die ganze Geräuschkulisse rollte wie eine gewaltige Welle über Eva hinweg und riss sie von den Füßen. Die Hände über dem Kopf, kauerte sie auf dem kalten Steinboden und zog sich an einen Ort tief in ihrem Inneren zurück. Sie war wehrlos, abhängig von anderen und jeder Gefahr blind ausgeliefert – im wahrsten Sinne des Wortes.

Dies war kein Raum, den sie seit ihrer Kindheit kannte und in dem sie sich auch in tiefster Dunkelheit zurechtfinden konnte. Jeder Schritt kostete sie Überwindung. Von dem einen auf den anderen Atemzug war ihr das Augenlicht genommen worden. Sie erinnerte sich an so viele Farben und Lichter, doch nun war da nur noch Schwärze. Alles war ihr fremd. Jeder Ort und jeder Mensch.

Immer wenn sie glaubte, dass dort ein Funken am Ende des Tunnels war, stürzte sie nur in ein noch viel tieferes Loch. Ihrer Kräfte beraubt, hing ihr Überlebenswille an einem seidenen Faden. Es gab nichts, das sie tun konnte, um sich vor den Angreifern zu schützen. Aber vielleicht wäre es gar nicht so schlimm, wenn es endlich vorbei wäre. Immerhin wäre es dann vorbei. Vorbei mit der Suche nach Erinnerungen, die aus ihrem Kopf gelöscht worden waren. Vorbei mit dem Hoffen und Enttäuschtwerden. Vorbei mit der Qual.

Sie hatte gekämpft, auf ihre Art, obwohl sie schon gar nicht mehr wusste, wofür. Nichts in ihrem Leben ergab mehr einen Sinn. Nichts entsprach der Wahrheit. Nichts. In der Leere fand sich kein Trost, sondern nur Schmerz.

Auch etwas, das man nie besessen hatte, konnte man vermissen, vielleicht sogar gerade dann am meisten.

Eva fühlte sich, als würde sie an einem Abgrund stehen, der sie jederzeit in die Tiefe reißen könnte, doch dann schlangen sich auf einmal Arme um sie und hielten sie erstaunlich fest. Der Duft von alten Büchern, Ölfarbe und einer zarten Meeresbrise stieg ihr in die Nase. Weiches Haar kitzelte an ihren Wangen, die gegen einen schlanken Körper gedrückt wurden.

»Eva.«

Drei Buchstaben, ein einziges Seufzen. Sie konnte hören, wie Steine von einem Herzen fielen. Es schlug so wild in der Brust, aber sie kannte diesen Rhythmus. Sie kannte ihn so gut. Sie brauchte ihn nur zu hören und schon fühlte sie sich geborgen. Er war wie eine warme Decke, die ihr um die bebenden Schultern gelegt wurde.

»Eva.«

Noch einmal. Nie zuvor hatte sie gehört, dass in einem Namen so viel Gefühl mitschwingen konnte. Jede Silbe war wie eine Liebesbekundung, getrübt von uralter Sehnsucht. Sie hielt sich daran fest – an den Armen, die sie umschlangen, und an der Zuneigung, die sie wie eine Rettungsleine von dem Abgrund fortzog.

»Eva.«

Die Stimme brach. Sie brach unter der Last eines jahrhundertealten Verlangens, das nun gestillt wurde. Alles lief auf diesen einen Moment hinaus. Opfer waren erbracht, Pakte geschlossen und Welten erschaffen worden, nur für diesen Moment.

»Mama«, flüsterte Eva.

Sie war sich nicht einmal sicher, ob sie es laut aussprach oder nur ihr Herz die Takte klopfte. Sie erinnerte sich nicht, aber sie fühlte. Sie fühlte mit jeder Faser ihres Seins, dass diese Frau ihre Mutter war. Es war ihr Geruch, ihre weiche Haut, ihr Herzschlag – alles war vertraut.

Zuhause.

Endlich wusste sie, was dieses Wort bedeutete.

Freya heulte laut auf und wiegte ihre Tochter, ihre fünfzehnjährige Tochter, wie ein Baby in ihren Armen. Ihr Herz zerbrach vor lauter Freude, nur um sich neu zusammenzusetzen. Es würde immer gebrochen bleiben, aber es schlug stärker denn je.

Um sie tobte das Chaos, aber sie kauerten gemeinsam in einem geschützten Zelt. Die Arme ihrer Mutter waren wie ein unsichtbares Schild, das Eva vor jeder Gefahr abschirmte. Es gab nichts, was diese Frau nicht für sie tun würde. Sie hatte bereits alles getan, mehr, als ein Mensch sich vorstellen konnte. Ihre Liebe kannte keine Grenzen, setzte sich über jede Moral hinweg und war über jeden Zweifel erhaben.

»Das war es wert«, wisperte Freya. »Du bist es wert.«

Ihre Stimme war schwer von der Last ihrer Tränen. Ihr Körper erbebte unter ihrem Schluchzen, das sie nicht kontrollieren konnte.

Eva hob ihre ebenso zittrige Hand und suchte nach der Wange ihrer Mutter, um ihr Trost zu spenden und die Tränen fortzuwischen, als könnte sie damit auch den Verlust ungeschehen machen, den Freya erlitten hatte. Sie hatten beide gelitten – mehr als ein Leben lang.

Freyas Finger fanden die ihrer Tochter und verschränkten sich mit ihnen. Sie wollte nicht getröstet werden, denn der Schmerz trug zu ihrer tiefen Liebe bei. Während andere Mütter in der Flüchtigkeit des Alltags manchmal vergaßen, mit welch einem unglaublichen Wunder sie gesegnet waren, hatte Freya nur dafür weitergelebt.

Die Tränen fanden ungehemmt einen Weg von ihren Wimpern über die Wangen hin zu ihrem Kinn und tropften dann wie Regen auf Evas Gesicht herab. Sie vermischten sich mit ihren eigenen Tränen, so wie ihr Schmerz und ihr Herzschlag zu einem wurden. Das Salz brannte in ihren Augen. Es ätzte sich durch ihre Netzhaut und drang bis in ihr Innerstes vor. Dort, an dem versteckten Ort in ihrer Brust, öffnete es ein Tor, das für immer hätte geschlossen bleiben sollen. Mit einem Knall sprengte es die Schleusen und eine Flut von Erinnerungen rollte über Eva hinweg.

Sie rang um Atem, als sich ein Bild nach dem anderen vor ihrem inneren Auge abspielte. All das, was vergessen gewesen war, kehrte zurück – jedes Lachen, jedes Weinen, jedes verloren geglaubte Gefühl.

Eva erinnerte sich. Sie wusste nicht nur wieder, wer Freya und die Vergessenen Sieben waren, sondern auch, wer sie war. Sie war Eva, die Träumerin. Das Mädchen, welches die meiste Zeit seines Lebens in einem Turm gefangen gewesen war. Die junge Frau, welche die Gabe besaß, eine Welt zu retten.

Die Bilder in ihrem Inneren brachten ihr Herz zum Glühen. Dessen Wärme schien nach außen und vertrieb die Dunkelheit. Auf einmal konnte sie das Morgenlicht, welches durch die Fenster des Turmes drang, nicht nur fühlen, sondern durch ihre geschlossenen Augen sehen.

Mit flatternden Augenlidern blinzelte sie gegen die Helligkeit an. Über ihr erhob sich die Gestalt ihrer Mutter. Der Schein der aufgehenden Sonne ließ ihr Haar wie Gold glänzen, das ihr Gesicht in sanften Wellen einrahmte. Sie begegnete dem Blick ihrer tiefgründigen dunklen Augen. Kaum jemand wusste je, was sie dachte, aber Eva konnte immer durch sie hindurch in ihr Herz blicken.

Konnte sie ihre Mutter wirklich sehen oder war das nur die Kraft der Erinnerung?

Auch Freya bemerkte, dass sich etwas verändert hatte. Sie streichelte Eva über die Wangen und das kurze Haar. »Ich bin hier«, wisperte sie. »Ich bin es. Schau mich an!«

Eva sah sie wirklich. Sie sah die unvergängliche Schönheit ihrer Mutter, die getrübt war von Falten, Altersflecken und grauem Haar. Jahrhunderte waren vergangen, die sich nun in Freyas Äußerem abzeichneten. Sie war alt geworden und dennoch zu jung für einen gewöhnlichen Menschen.

»Was ist mit dir geschehen?«, stieß Eva fassungslos aus, denn sie erkannte, dass sie ihre Mutter zwar zurückhatte, aber dieser nicht mehr viel Zeit blieb.

»Ich sterbe«, erwiderte Freya, als wäre es das Normalste der Welt.

Das war es, was Menschen taten: Sie wurden geboren und sie starben. So und nicht anders sollte es sein.

»Nein«, wimmerte Eva verzweifelt. Das war nicht fair! Ihnen war ein gemeinsames Leben gestohlen worden. Ihre Mutter durfte nicht sterben. Nicht so bald. Hatten sie nicht Wiedergutmachung verdient? »Warum?«

»Das ist unbedeutend«, lächelte Freya milde. »Ich habe bekommen, was ich mir gewünscht habe.«

Eva verstand zuerst nicht, doch dann fügten sich die Puzzleteile ineinander. Ihre Mutter, die zugleich die Schöpferin von sieben Welten war, bezahlte ihre Freiheit mit ihrem Leben. Sie hatte die Ewigkeit geopfert, um ihre Tochter zu retten. Ein letztes Opfer, dem so viele vorweggegangen waren. Aber für Freya war jedes einzelne davon es wert gewesen, weil sie ihr Eva zurückgebracht hatten.

»Wie viel Zeit bleibt dir noch?«, fragte Eva und fürchtete sich vor der Antwort.

Wenige Jahre? Ein paar Monate? Gar nur Wochen?

»Ein Sonnenaufgang.« Freya küsste sie auf die Stirn. »Uns ist ein wundervoller Tag gewährt.«

Sie war wirklich glücklich, während Evas Herz erneut zerbrach. Es war, als würde sie aus einem Traum erwachen. Sie schaute sich um und erkannte, dass der Kampf ein Ende gefunden hatte. Der Boden war mit Asche bestäubt, doch letztendlich waren es Nisha und Arian, die vor den Vampiren knieten. Sie hatten verloren.

»Was machen wir jetzt mit ihnen?«, fragte einer der Vampire. Blut klebte an seinen Lippen.

»Wir nehmen sie mit«, entschied ein anderer. »Wenn die Königin keine Verwendung für sie hat, werden wir uns immer noch an ihnen erfreuen können.«

»NEIN«, schrie Eva entsetzt und wollte sich vom Boden aufrappeln, um sich schützend vor Arian zu stellen. Jetzt, da sie sich wieder an ihn und die anderen erinnerte, konnte sie nicht tatenlos zusehen, wie ihnen etwas angetan wurde. Nur ihretwegen waren sie in dem Turm geblieben. Sie waren ihr Freunde gewesen, während sie sich an keinen Einzigen von ihnen hatte erinnern können.

Aber Freya hielt sie zurück, indem sie ihre Arme um sie schlang. Für eine alte Frau war sie erstaunlich stark. »Lass sie gehen«, bat sie mitleidig. »Du kannst sie nicht retten.«

Eva schüttelte den Kopf. Doch, das konnte sie! Ihre Gabe, die sie ihr Leben lang für einen Fluch gehalten hatte, musste doch zu irgendetwas nütze sein. Sie musste zu etwas nutze sein!

»Ich erinnere mich«, rief sie verzweifelt, woraufhin Arian sie traurig anlächelte, als wolle er sagen: Zu spät.

»Du kannst den Turm dennoch nicht verlassen«, meinte Freya in aller Härte.

Der Blutbann war immer noch aktiv. Nur Elisabeth konnte ihn brechen. Oder ihr Tod. Wenn die böse Königin starb, würde auch ihr Zauber erlöschen. Doch noch war sie am Leben. Irgendwo.

Resigniert ließ Eva die Schultern sinken und musste mit ansehen, wie Arian und Nisha von den Vampiren mitgenommen wurden, ohne dass sie irgendetwas dagegen tun konnte.

An Eva und der ehemaligen Erdenmutter hatten sie kein Interesse. Freya hatte Simonja und die anderen verraten, um Eva zu retten. Für sie mochte ihre Tochter jedes Opfer wert sein, aber Eva wünschte sich, dass sie es nicht getan hätte.

Zum ersten Mal erkannte sie, dass ihre Mutter nicht perfekt war. Bei dem Versuch, sie zu beschützen, hatte sie sich selbst verloren. Freya war nicht mehr die mutige Frau von damals, sondern nur noch ein Spielball des Schicksals.

Genau wie ihr Vater.

Wo war er? Wenn ihrer Mutter nur noch ein Tag blieb, sollte er sich dann nicht wenigstens verabschieden können?

Wie ein Silberstreif

Montag, 29. Oktober 2012

8.00 Uhr

Königswinter, Schloss Drachenburg

Manches Leid ließ sich nicht leichter ertragen, nur weil man es gemeinsam schulterte. Nachdem Maggy sich geweigert hatte, Margery den Aufenthaltsort von Simonja zu verraten, ließ diese sie abführen. Ein hübsches Gästezimmer mit Baldachin über dem Bett, Spitzenvorhängen an den Fenstern und Stuck an der Decke war für sie vorgesehen. Es hätte ein Schlafgemach wie aus einem Märchen sein können, wenn nicht die Vampire vor der Tür gewesen wären, die dafür sorgten, dass Maggy blieb, wo sie war.

Zumindest brauchte sie ihre Gefangenschaft nicht allein zu fristen, sondern teilte ihr Schicksal mit Ember. Die Splitter in ihren Herzen, die sie einst zu Verbündeten gemacht hatten, sorgten nun dafür, dass sie zu Leidensgenossinnen wurden. Sie hatten das Richtige tun wollen, das sich nun als ihr Untergang erwies.

Will und Philipp leisteten ihnen Gesellschaft – nicht aus Zwang, sondern aus Zuneigung und Verzweiflung. Margery hatte ihnen freigestellt, das Schloss zu verlassen, aber wohin hätten sie gehen sollen? Was hätten sie unternehmen können? Ohne einen Plan war es immer noch besser, den Menschen, die man liebte, nicht von der Seite zu weichen, als allein durch den Finsterwald zu irren.

Zuerst hatten sie sich über die Ereignisse seit der Nacht des Spiegelballs ausgetauscht, ihr Entsetzen ausgedrückt und ihr Mitleid bekundet, aber irgendwann gingen ihnen die Worte aus. Nichts konnte den Schmerz lindern, der in Philipps Brust wütete, seitdem er hatte mit ansehen müssen, wie seine Eltern von Vlad Dracul erst geköpft und dann gepfählt worden waren. Nicht einmal die Vergeltung blieb ihm noch als Hoffnungsschimmer, denn das hatte Margery bereits für ihn übernommen. Er war innerlich ausgebrannt. Alles, was er tun konnte, war, sich den Funken zu bewahren, den Ember in seinem Herzen entfacht hatte.

Maggy hingegen musste sich mit der Schuld quälen, dass sie das Leben ihres Bruders verwirkt hatte. Joe würde nie wieder in die Normalität zurückkehren können. Er hatte Freyas Platz als Erdenvater eingenommen, unwissentlich, dass er, sollte er jemals den Turm verlassen, für seine Freiheit mit dem Leben bezahlen würde.

Zwei Sonnenaufgänge. Das war alles, was der einstigen Erdenmutter blieb. Sie hatte Joes Hilfsbereitschaft ausgenutzt und ihm absichtlich die Wahrheit vorenthalten. Aber nicht nur das, nun hatte sie auch noch Simonjas Aufenthaltsort an Margery verraten. Die Frau, die Jahrhunderte in der Einsamkeit ertragen und sieben Welten erschaffen hatte, zeigte sich rücksichtsloser denn je. Für ein paar Stunden mit ihrer Tochter war sie bereit, alles und jeden anderen zu opfern.

Wie sollte Maggy Joe nur jemals gestehen, was sie ihm angetan hatte? Sie konnte sich nicht vorstellen, vor ihn zu treten und ihm die Wahrheit zu offenbaren. Dabei zuzusehen, wie jeder einzelne seiner Träume zerplatzte und nur die Verachtung übrig blieb, die er unweigerlich für sie empfinden würde. Sie selbst hasste sich dafür, was sie ihm zugemutet hatte. Es war falsch gewesen, ihn in dem Turm zurückzulassen. Sie hatte es von Anfang an gespürt. Nur weil es der leichteste Weg war, bedeutete es nicht, dass es der richtige war.

Nur ihretwegen hatte Joe sich auf dieses bescheuerte Abenteuer eingelassen. Er war glücklich gewesen. Er hatte es mit mühsamer Arbeit geschafft, sein Leben zum Besseren zu wenden. Während sie sich mithilfe ihrer Bücher und Filme in fremde Welten träumte und Will sich wünschte, jemand anderes zu sein, hatte Joe die Realität akzeptiert.

Es war nicht fair, dass ausgerechnet ihm diese nun entrissen wurde. Maggy konnte nicht akzeptieren, dass es nichts gab, was sie tun konnte, um ihren Fehler ungeschehen zu machen.

Seit zwei Nächten hatte sie kaum ein Auge zugemacht, ihr Kopf dröhnte vor Übermüdung und sie konnte nur schwerlich einen klaren Gedanken fassen. Doch immer wenn sie auch nur kurz einnickte, riss die Erinnerung an Joe sie wieder aus dem Schlaf. Dann krümmte sie sich zusammen, weil ihr Herz so entsetzlich wehtat. Was hatte sie nur getan? In gewisser Weise fühlte es sich bereits an, als ob sie ihn schon verloren hätte.

Will entging ihre Unruhe nicht. Sie saßen auf dem Boden und lehnten sich mit den Rücken an das Bett, dessen Liegefläche ungenutzt blieb. Maggy und Will auf der einen Seite, Ember und Philipp auf der anderen. Das ermöglichte ihnen zumindest etwas Privatsphäre in dem überschaubaren Zimmer und ließ jedem von ihnen den Freiraum, um den eigenen Sorgen nachzuhängen.

Auch Will fühlte sich schuldig an Joes Schicksal, aber es gelang ihm, dieses erst einmal auszublenden, da es andere Dinge gab, die für ihn Vorrang hatten, wie der Verbleib von Jacob oder Margerys Geisteszustand. Allen voran Maggy, die stark bleiben musste, um ihre Magie gezielt einsetzen zu können. Sie verfügte über eine mächtige Gabe, die entscheidend beim Ausgang des Krieges der Farben sein konnte. Joe hatte das gewusst und war deshalb aus Vernunft im Turm zurückgeblieben. Wenn Maggy nun vor lauter Gewissensbissen durchdrehte, wäre Joes Opfer umsonst. Das konnte Will nicht zulassen.

Er schloss seine Arme um sie und zog sie an sich. Kraftlos sank ihr Körper gegen seinen und sie schmiegte ihren Kopf an seine Schulter. Behutsam streichelte er ihr über das braune Haar und spürte kurze Zeit später die Nässe ihrer Tränen an seiner Haut. Ein unterdrücktes Schluchzen ließ ihren Rücken erbeben.

»Ssssscht«, wisperte er beruhigend und ließ seine Hand von ihrem Haupt zu ihrem Nacken sinken. »Wir finden einen Weg.«

Seine Worte besänftigten sie nicht, sondern stachelten sie nur an. Ein Ruck ging durch ihren Körper und sie fuhr hoch, funkelte ihn zornig mit verweinten Augen und feuchten geröteten Wangen an. »Ach ja? Und wie?«

Sie wollte eine Lösung präsentiert bekommen – JETZT. Irgendetwas, woran sie sich klammern konnte – ein Silberstreif am Horizont. Aber Will hatte nichts dergleichen zu bieten, nur seinen Trost und sein Mitgefühl.

Er fuhr mit dem Daumen über ihre nasse Haut, als könnte er mit den Tränen auch ihren Schmerz wegwischen. Zu gern hätte er ihr Hoffnung geschenkt. Es tat ihm weh, sie so leiden zu sehen.

»Wir brauchen dich«, war alles, was er sagen konnte, und dabei fühlte er sich selbstsüchtig und gemein, weil er von ihr verlangte, stark zu sein, während ihr Herz blutete.

Aber er traf damit genau den richtigen Ton, denn Maggys Verantwortungsgefühl und ihre Loyalität waren schon immer überragend gewesen. Sie konnte ihre eigenen Bedürfnisse zurückstellen, um anderen zu helfen. Das war es, was sie seit Jahren für Jacob und ihn getan hatte.

Jeden Freitag hatte sie ihn zu den ungeliebten Besuchen in der Psychiatrie begleitet. Jede Klage seinerseits hatte sie sich angehört und jede Unachtsamkeit geschluckt. Während er keinen Hehl aus seiner Unzufriedenheit gemacht hatte, sehnte sie sich danach, von ihm wahrgenommen zu werden. Nicht als die Freundin, bei der man all seine Probleme wie auf einer Müllhalde abladen konnte, sondern als das Mädchen, welches es wert war, geschätzt und geliebt zu werden. Nicht ein Mal hatte sie ihm gezeigt, dass seine Achtlosigkeit sie verletzte, sondern sie hatte darübergestanden – ihm zuliebe.

Es hätte ihn nicht überraschen dürfen, als sie ihm in Engelland ihre Liebe offenbart hatte. Aber selbst in diesem Moment hatte sie nicht aus ihrem eigenen Verlangen heraus gehandelt, sondern aus dem Wunsch heraus, ihn zu retten. Ihr Kuss war es gewesen, der die Spiegelsplitter aus seinen Augen vertrieben hatte, so wie es zuvor Margerys Tränen gewesen waren, die sie hinfortgeschwemmt hatten. Er liebte beide Mädchen – seine Vergangenheit und seine Gegenwart.

Der Wunsch, ihr den Schmerz zu nehmen, und die Verzweiflung darüber, ihr nicht helfen zu können, waren so überwältigend, dass Will sich vorbeugte, seine Stirn an ihre lehnte und seine Lippen zu ihren führte. Sie begegneten sich nur einen kurzen Atemzug lang, dann wich Maggy vor ihm zurück.

Ihre großen braunen Augen starrten ihn anklagend an. »Küsse mich nicht aus Mitleid oder weil du mich trösten möchtest«, zischte sie verletzt. Sie wollte nicht, dass Ember oder Philipp auf der anderen Seite des Bettes etwas davon mitbekamen. Es war ihr unangenehm. So lange hatte sie sich nichts mehr als einen Kuss von Will gewünscht, aber er schaffte es nicht nur, einen völlig falschen Zeitpunkt zu wählen, sondern tat es auch aus den falschen Beweggründen. Zumindest glaubte sie das.

»Hältst du es wirklich für so absurd, dass ich dich küsse, weil ich es möchte?«, raunte Will zurück, nicht weniger verletzt. Endlich hatte er sich seine Gefühle eingestehen können und dann wies sie ihn zurück.

Es fiel Maggy schwer, ihm zu glauben. Tage waren vergangen, seitdem sie von dem Fluch des Schlafenden Todes erwacht waren. Viel war geschehen, dennoch hätte er eine Gelegenheit finden können, um ihr zu gestehen, dass er wie sie empfand. Aber das hatte er nicht getan. Erst jetzt, wo sie litt, versuchte er, sie mit einem Kuss zu trösten. Es war seine Verzweiflung, die ihn dazu trieb, nicht sein Herz.

»Wie könnte ich mich jetzt über deinen Kuss freuen?«, flüsterte sie gekränkt. »Wie könnte ich diesen Moment genießen, wenn Joe vielleicht nie wieder jemanden küssen wird? Wir sind für sein Schicksal verantwortlich, weil wir ihn zurückgelassen haben.«

Sie verbot es sich, auch nur einen Funken Glück zu empfinden, nicht jetzt und vielleicht auch nie wieder. Es ärgerte sie, dass sie das Will erklären musste. Ebenso ärgerte es sie, dass er sie in die Situation brachte, ihn abweisen zu müssen. Er hatte keine Vorstellung davon, wie schwer das für sie war, und er verstand auch nicht, dass ihre Verzweiflung nur noch unerträglicher wurde, weil er jetzt von ihr abrückte. Nicht weit genug, um ihn aus ihren Gedanken zu verbannen, aber auch nicht nah genug, um sich an ihm festhalten zu können.

Ihre Arme streiften sich noch immer, trotzdem war da ein Riss zwischen ihnen, wo zuvor Nähe gewesen war. Manchmal vermisste man jemanden am meisten, wenn er direkt neben einem saß.

Je länger sie wortlos ausharrten, umso erdrückender wurde die Stille. Sekunde um Sekunde verstrich, die sich zu Minuten summierten und zu Stunden wurden. Die Zeit schwebte wie ein Damoklesschwert über ihnen. Sie sollten sie nutzen, anstatt tatenlos herumzusitzen und sich von ihren Sorgen lähmen zu lassen.

»So kann es nicht weitergehen!«

Es war Ember, die das Wort ergriff und sich als Erste vom Boden hochstemmte, um sich der Lethargie entgegenzustellen. Von ihrer Seite des Bettes, welches keiner nutzte, blickte sie zu Maggy und Will auf der anderen.

Eine Woge der Energie schwappte zu Maggy hinüber, die ihr erlaubte, sich aus ihrer Starre zu lösen. Auch sie stand auf. Bereits bei diesem ersten kleinen Schritt spürte sie, wie Steine von ihren Schultern purzelten und sie wieder leichter Luft holen ließen.

Schon längst hätte sie die Vergessenen Sieben darauf ansprechen sollen, dass es für sie nur eine Möglichkeit gab, Margery und sich selbst zu retten. Wenn sie eher den Mut dazu gefunden hätte, wäre manches Unheil vielleicht zu verhindern gewesen. Aus Furcht vor Zurückweisung hatte sie geschwiegen.

»Ich stimme dir zu«, erwiderte sie an Ember gewandt. »Wir müssen dafür sorgen, dass Margery wieder sie selbst wird. Das ist nur möglich, wenn wir ihr Herz, oder zumindest das, was davon übrig ist, wieder vereinen. Wir hätten es niemals splitten dürfen.«

Das schien nicht ganz das zu sein, was Ember erwartet hatte. Ein besorgter Ausdruck legte sich auf ihre Miene. »Wir wollten sie und Engelland retten.«

»Gute Absichten heiligen nicht die Mittel«, konterte Maggy. »Je mehr Stücke Margery von sich selbst verliert, umso weniger ist sie noch die Person, in die wir unsere Hoffnung gesetzt haben. Wenn wir jetzt nicht eingreifen, ist es vielleicht ganz zu spät.«

»Ist es das nicht ohnehin schon?«, meinte Philipp schwermütig und stellte sich neben Ember. »Vier Herzsplitter sind bereits verloren. Ganz gleich, was wir tun, sie wird nie wieder dieselbe sein.«

Seine Schultern hingen kraftlos herab. Er war nur noch ein Schatten des einstigen Prinzen. Wie eine Krone, die ihren Glanz verloren hatte.

»Wenn wir wenigstens komplett wären …«, gab Ember zu bedenken und sprach damit Simonjas Abwesenheit an.

»Wenn es nach Margery geht, werden wir das bald sein«, entgegnete Will. »Genauso gut könnte aber auch alles noch schlimmer kommen.«

Die letzten Tage hatten ihnen gezeigt, dass es keine Sicherheit für sie gab. Wenn sie etwas ausrichten wollten, mussten sie es jetzt tun, weil es sonst bereits zu spät sein könnte. Jede Minute war entscheidend und sie hatten bereits zu viele untätig verschenkt.

»Genauso wenig, wie wir Margerys Herz ohne ihre Zustimmung teilen konnten, brauchen wir sie, um es wieder zusammenzusetzen. Dem wird sie niemals zustimmen. Sie glaubt, das sei ihr einziger Trumpf, ihre einzige Absicherung. Deshalb hält sie uns gefangen.«

Obwohl Ember schwer davon getroffen war, wie sehr Margery sich zu ihrem Nachteil verändert hatte, konnte sie die Sorge um sie nicht völlig abstellen. Sie wollte ihr nicht schaden, sondern nur die Freundin zurückhaben, die ihr bedingungslos vertraut hatte und ihr überallhin gefolgt war.

»Das ist nicht ganz richtig«, wandte Maggy ein. »Wir brauchen zwar Margerys Anwesenheit, um das Ritual durchführen zu können, aber nicht ihr Einverständnis.«

Ember zog scharf Luft ein. Es gefiel ihr nicht, Margery derart hintergehen zu müssen. Sie war gegen ihren Willen in diesem Zimmer gefangen und hatte dennoch Skrupel, ihrer einstigen Freundin das Gleiche anzutun.

»Könntest du das denn überhaupt tun, ohne das Zauberbuch?«, hakte sie nach, um Zeit zu schinden.

»Der Zauber, um ein Herz zu teilen, ist derselbe wie jener, um es wieder zu vereinen. Diesen werde ich nie vergessen, denn es ist der Zauber, von dem ich wünschte, dass ich ihn nie ausgeführt hätte«, erwiderte Maggy traurig.

Sie hatte Verständnis für Embers Zweifel. Auch sie hatte Margery vor langer Zeit in ihr Herz geschlossen. Damals, als ihr Herz noch ganz gewesen war, hatte sie über Liebenswürdigkeit und Güte verfügt. Sie hätte sich eher selbst geopfert, als andere ihretwegen leiden zu lassen. Obwohl Engelland ihr seit ihrer Geburt nur mit Verachtung begegnete, hatte sie nichts mehr geliebt als ihre Heimat und war bereit gewesen, alles zu tun, um sie zu beschützen. Sie wäre die perfekte selbstlose Königin geworden. Jemand, der es wert war, dass man für ihn kämpfte. Aber diese Margery gab es nicht mehr.

»Wenn Margery noch sie selbst wäre, würde sie dann wollen, dass wir zulassen, dass sie immer mehr zu einer Person wird, die sie selbst verabscheut hätte? Sind wir es nicht auch ihr schuldig, den guten Teil von ihr zu retten, der noch übrig ist?«

Maggy versuchte, ihre Enttäuschung und Kränkung, die sie der Prinzessin gegenüber empfand, auszublenden und nur an das Mädchen zu denken, dem sie einmal die Hand gereicht hatte. Sie wusste, dass jenes dankbar dafür wäre, wenn sie diese neue, gewissenlose Version von ihm aufhalten würden.

Das schien auch Ember einzusehen, denn sie nickte nachgiebig. »Du hast recht. Es geht dabei nicht um uns, sondern noch mehr um Margery. Sie glaubt, dass ihr die größte Gefahr von der bösen Königin oder Rosalie drohen würde, aber ich befürchte, dass sie sich selbst im Weg steht. Wir müssen ihr helfen, wieder zu der zu werden, die sie einmal war. Noch ist ihr guter Kern nicht verloren.«

Philipp schien davon nicht ganz so überzeugt zu sein, aber er behielt seine Bedenken für sich und fragte lediglich: »Wie bekommen wir Margery hierher? Die Blutsauger werden wohl etwas dagegen haben, dass wir mit dem Herzen ihrer neuen Königin experimentieren.«

»Margery hat mir zwar das Hexenbuch abnehmen lassen, um zu verhindern, dass ich uns damit zur Flucht verhelfe, aber ein paar Zaubersprüche konnte ich mir dennoch merken.« Maggy nickte den anderen drei verschwörerisch zu. »Dazu gehört auch der Fluch des Schlafenden Todes. Er wird von den goldenen Äpfeln ausgelöst, aber kann auch durch einen anderen Gegenstand hervorgerufen werden. Ich könnte etwas verzaubern, womit es uns möglich wäre, sie für kurze Zeit zu betäuben, gerade lange genug, um das Ritual durchzuführen.«

Alle ließen ihre Blicke durchs Zimmer wandern, auf der Suche nach einem geeigneten Objekt. Philipps Augen fixierten eine mit Wasser gefüllte Glaskaraffe. »Mal angenommen, das klappt … Wie bekommen wir Margery dazu, zum Beispiel aus einem verzauberten Becher zu trinken?«

»Darum kümmere ich mich«, erklärte Will sich unumwunden bereit.

Margery hatte ihm und Philipp freigestellt, jederzeit zu gehen. Das würde er sich zunutze machen. Ohnehin schuldete sie ihm noch eine Erklärung, denn als sie sich das letzte Mal unter vier Augen begegnet waren, hatte sie ihn in einem Gebäude voller seelenloser Jäger zum Sterben zurückgelassen. Er wollte dafür keine Vergeltung, aber Wiedergutmachung.

Liebe und Vertrauen

Montag, 29. Oktober 2012

9.00 Uhr

Königswinter, Schloss Drachenburg

Einen Tag und eine Nacht – so lange harrte Rosalie nun schon in ihrer spitzenverzierten Zelle mit Himmelbett und reichlich Nahrung aus. Ein Gefängnis blieb ein Gefängnis, ganz gleich, ob man sich auf weiche Federn bettete oder mit dem harten Boden und modrigem Stroh vorliebnehmen musste.

Seit dem einen Besuch am vergangenen Mittag hatte Margery sich nicht mehr bei ihr blicken lassen. Rosalie sehnte sich nicht nach ihr – umso mehr ärgerte es sie, dass ihr Gespräch sie in ein Gedankenkarussell katapultiert hatte. Sie wollte sich nicht damit auseinandersetzen, was hätte sein können, sondern lieber ihre Klinge durch die Luft gleiten lassen, Blut verspritzen und Knochen brechen. Während sie sich dem Feind stellte, brauchte sie nicht nachzudenken. Und gerade fühlte sich so ziemlich jeder wie ein Feind an.

Auch wenn für sie in diesem Zimmer die Zeit stillzustehen schien, drehte sie sich für den Rest der Welt weiter. Bündnisse wurden geschmiedet, Freunde hintergangen und Tode betrauert. Sie wusste nicht, was außerhalb dieser vier Wände geschah. Wen sie nie wiedersehen würde.

Joe.

Würde sie spüren, wenn sein Herz nicht mehr schlug? War er irgendwo dort draußen in den Weiten des Siebengebirges unterwegs und suchte vielleicht sogar nach ihr?

Gewiss nicht, wenn er die Wahrheit kennt, dachte sie zerknirscht.

Es würde ihm das Herz brechen, zu erfahren, dass sie ihn hintergangen hatte – wieder einmal.

War die Wahrheit so einfach? Gab es nur die eine oder die andere Seite und nichts dazwischen?

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752132007
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (März)
Schlagworte
Brüder Grimm Hexen Grimm Dornröschen Märchenadaption Märchen Schneewittchen Vampire Raben Phönixe Fantasy düster dark Urban Fantasy Historisch Episch High Fantasy

Autor

  • Maya Shepherd (Autor:in)

Maya Shepherd wurde 1988 in Stuttgart geboren. Zusammen mit Mann, Kindern und Hund lebt sie mittlerweile im Rheinland und träumt von einem eigenen Schreibzimmer mit Wänden voller Bücher. Seit 2014 lebt sie ihren ganz persönlichen Traum und widmet sich hauptberuflich dem Erfinden von fremden Welten und Charakteren. 2019 gewann Maya Shepherd mit den Grimm-Chroniken den Skoutz-Award in der Kategorie "Fantasy".
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Titel: Das Unglückskind