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Das Mondmädchen

von Maya Shepherd (Autor:in)
161 Seiten
Reihe: Die Grimm-Chroniken, Band 12

Zusammenfassung

Der Mond von Engelland war ein Mädchen, das jede Nacht sein schützendes Licht über die Menschen warf, ohne je ein Teil ihres Lebens zu sein. Besonders lagen ihr jene Kinder am Herzen, die vom Schicksal benachteiligt zu sein schienen, denn mit ihnen fühlte sie sich verbunden. Sie war ihre Freundin, die den Monstern unter den Betten und in den Schränken keine Chance gab, herauszukommen, solange sie ihr silbriges Licht in die Zimmer warf. Es war eine Nacht wie unzählige zuvor, als das Mondmädchen zwischen den dunklen Bäumen des Finsterwaldes die kleine Gestalt eines Jungen entdeckte, der in größter Gefahr schwebte, und beschloss, zur Erde hinabzusteigen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Was zuvor geschah

1811

Simonja lebt mit ihrer Mutter in einem kleinen Haus im Finsterwald. An ihrem fünfzehnten Geburtstag erlaubt die Mutter ihr zum ersten Mal, in die nahe gelegene Stadt zu gehen, um dort eine Flasche Wein zu kaufen. Sie gibt ihr einen Korb mit einem Kuchen mit sowie einen weißen Umhang, dessen Innenfutter rot ist. Zudem eine Sense, damit sie sich verteidigen kann, falls sie in Schwierigkeiten gerät. Bevor sie sich auf den Weg macht, soll sie eine Walnuss von dem Baum aus ihrem Garten öffnen. Simonja tut wie ihr geheißen und findet in der Nuss einen Zettel, auf dem der Name Hänsel steht.

Das alles erscheint ihr zwar seltsam, aber sie macht sich nicht weiter Gedanken darüber, da sie sich viel zu sehr auf ihren Ausflug freut. In der Stadt begegnet sie tatsächlich einem Jungen mit dem Namen Hänsel und dessen Schwester Gretel. Die beiden sind Waisen und hatten es bisher nicht leicht im Leben. Simonja schlägt ihnen vor, ihre Großmutter Baba Zima zu besuchen, da diese immer nach Kindern sucht, die ihr im Haushalt helfen. Die beiden versprechen, bei ihr vorbeizuschauen, und verabschieden sich.

Auf dem Nachhauseweg wird Simonja im Wald von einem Rudel Wölfe angegriffen. Es gelingt ihr auf wundersame Weise, sich mit ihrer Sense zu verteidigen und die Tiere in die Flucht zu schlagen. Da der weiße Stoff ihres Umhangs nun mit Blut besudelt ist, dreht sie die rote Innenseite nach außen. Etwas tiefer im Wald hört sie ein Wimmern und stößt auf einen verletzten jungen Mann. Sie will ihm helfen, doch er weicht vor ihr zurück und behauptet, dass sie der Tod sei, da sie die verbotene Farbe Rot trägt.

Simonja glaubt ihm erst nicht, doch als er ihr gesteht, dass er ein Gestaltwandler ist, der in seiner Wolfserscheinung zu dem Rudel gehört, dass sie angriff, und auch noch von der sonderbaren Walnuss weiß, gerät sie ins Zweifeln. Der Name, den der Baum des Lebens ihr genannt hat, ist der Name der Person, die an diesem Tag durch die Hand des Todes sterben soll. Simonja beteuert, dass sie niemandem etwas zuleide tun will. Sie erzählt dem Fremden von Hänsel und Gretel, die sie zu ihrer Großmutter geschickt hat. Dieser sagt, dass sie damit den Tod des Jungen besiegelt habe, da Baba Zima nicht nur eine Hexe, sondern auch eine Kinderfresserin sei. Simonja ist darüber bestürzt und will sich aufmachen, um die Geschwister zu warnen. Der Mann bietet ihr seine Hilfe an. Sein Name ist Arian.

Gemeinsam erreichen sie das Lebkuchenhaus, welches Simonja jedoch ohne Arian betritt. Baba Zima stellt sich tatsächlich als Hexe heraus, die den armen Hänsel verspeisen will. Doch dazu kommt es nicht, denn Gretel probiert an ihm aus Verzweiflung einen Zauberspruch aus, den sie in einem der Bücher der Hexe gefunden hat, und verwandelt ihren Bruder in einen Frosch. Daraufhin löst sich sein Name auf dem Zettel aus der Nuss des Baumes des Lebens auf, sodass Simonja von ihrer Pflicht, ihn zu töten, befreit ist.

Gretel verfügt über magische Kräfte, was Baba Zima sichtlich beeindruckt. Sie kann den Zauber nicht ungeschehen machen, da er nur von der Hexe gelöst werden kann, die ihn ausgesprochen hat. Gretel soll für sie arbeiten. Dafür wird Baba Zima sie in Magie unterrichten und ihr eines Tages verraten, wie sie Hänsel zurückverwandeln kann.

Simonja verlässt verwirrt das Lebkuchenhaus und lässt sich von Arian, der im Wald auf sie gewartet hat, nach Hause begleiten. Dort wird sie bereits von ihrer Mutter erwartet, die ihr zu erklären versucht, wie viel Verantwortung ihre Aufgabe als Tod bedeutet. Außerdem warnt sie Simonja davor, jemals einen Menschen zu verschonen. Sie weiß aus eigener Erfahrung, dass großes Leid über die Welt hereinbricht, wenn man sich nicht an den Auftrag des Baumes des Lebens hält. Wenn sie vor sechzehn Jahren die schwangere Königin getötet hätte, würde es den Krieg zwischen Licht und Dunkelheit nicht geben.

1812

Margery

Nach ihrem gescheiterten Fluchtversuch wird Margery von den seelenlosen Jägern zu einem Turm im Finsterwald gebracht und dort eingeschlossen. Obwohl es heißt, dass darin eine fürchterliche Bestie wohnt, beschließt die Prinzessin, die Treppe emporzusteigen. Oben angekommen, stößt sie auf ein Mädchen namens Eva, welche von der bösen Königin jedoch Rapunzel genannt wird. Sie wird bereits seit sieben Jahren in dem Turm gefangen gehalten und verfügt über eine außergewöhnliche Gabe: Sie kann mithilfe eines Spinnrads und ihres goldenen Haares anderen Menschen Träume erschaffen.

Margerys Mutter hat ihr befohlen, ihre Tochter in einen Traum zu versetzen, der bis zu deren Geburtstag andauert. Eva muss sich dem Willen der Königin beugen, da diese deren Familie gefangen hält und droht, ihr etwas anzutun, sollte Eva sich gegen sie stellen. Ihre Eltern sind Freya und Rumolt Stein.

Margery versteht, dass Eva ihr nicht zur Flucht verhelfen kann, aber es gibt dennoch etwas, das sie für sie tun kann. Sie bittet Eva, ihr keinen friedlichen Traum zu spinnen, sondern einen, der sie erleben lässt, was aus Engelland werden würde, wenn es ihrer Mutter gelingen sollte, sie zu töten und somit die Macht an sich zu reißen. Sie will wissen, wofür sie kämpft, wenn sie wieder aufwacht.

Eva, die sich geschworen hat, niemals einem Menschen mit ihrer Gabe Leid zuzufügen, erklärt sich bereit, Margery diesen Gefallen zu erweisen.

Ember

Seitdem Margery im dunklen Turm gefangen gehalten wird, muss Ember der Königin dienen. Dadurch erfährt sie, dass diese sämtliche angesehenen Bürger Engellands zu dem Geburtstag der Prinzessin ins Schloss einlädt, um ihre Tochter vor allen Augen umbringen zu lassen.

Ember will nichts unversucht lassen, um ihre Freundin zu retten, dafür braucht sie jedoch Hilfe. Sie hofft, diese von Wilhelm zu erhalten, da Margery ihm vertraut hat. Der Jäger reagiert allerdings vollkommen abweisend und behauptet sogar, dass er derjenige sein würde, der Margery das Herz aus der Brust schneiden wird.

Überraschend erhält Ember Unterstützung von Jacob, dem ehemaligen Berater der Königin. Er zeigt ihr einen geheimen Gang, der sie aus dem Schloss führt. Sie vereinbaren, sich beim Lebkuchenhaus zu treffen, um Hilfe von Gretel zu erbitten. Während sich das Aschemädchen direkt auf den Weg macht, bleibt Jacob im Schloss zurück, um noch etwas zu erledigen.

Als Ember sieht, wie Gretel das Hexenhaus verlässt, spricht sie diese an und erfährt so, dass Baba Zima in ihrem eigenen Ofen verbrannt ist, in den sie von Gretel und ihrem Frosch mithilfe des Todes und eines Wolfes gestoßen wurde. Sie überlegen gemeinsam, was sie tun können, um Margery zu retten. Dabei kommen sie auf die Idee, sich am Morgen ihres Geburtstags als Jäger zu verkleiden und die Prinzessin aus dem Turm zu befreien.

Im Verlauf des Gesprächs fällt Ember auf, dass Gretel sich seltsam verhält. Sie scheint sich an viele Dinge nicht zu erinnern und weiß gleichzeitig mehr, als sie dürfte. Als dann auch noch Jacob zu ihnen stößt und Gretel offenbar ein Geheimnis mit ihm teilt, verlangt Ember nach einer Erklärung.

Gretel bricht daraufhin ihr Schweigen und gesteht, dass alles, was sie gerade erleben, sich schon einmal ereignet hat und dies nur eine Erinnerung in einem Traum ist. Die Realität ereignet sich im Jahr 2012 und sie sind alle vom Fluch des Schlafenden Todes betroffen, der nur gebrochen werden kann, wenn sie herausfinden, wer die Vergessenen Sieben sind, mit denen Schneewittchen ihr Herz geteilt hat.

Obwohl sich ihre Behauptung verrückt anhört, zweifelt das Aschemädchen nicht an ihr. Sie weiß als Phönix, wie es ist, in verschiedenen Welten und Jahrhunderten zu leben, ebenso, dass nichts unmöglich ist.

2012

Joe erreicht Königswinter und muss sich am Bahnhof schweren Herzens von Julia verabschieden. Er hat die gemeinsame Zugfahrt mit ihr sehr genossen und bedauert, sie vermutlich nicht wiederzusehen.

Er macht sich auf den Weg zur Ausstellung der Handwerkskammer, da er hofft, dort Ember Harms anzutreffen. Jedoch muss er feststellen, dass sie bereits früher gegangen ist. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als am nächsten Morgen die Werkstatt aufzusuchen, in der sie als Auszubildende arbeitet. Da er kaum Geld hat, beschließt er, die Nacht in der Bahnhofsvorhalle zu verbringen. Zufällig trifft er in einer Imbissbude erneut auf Julia, die ihm unerwartet anbietet, die Nacht bei ihr im Hotelzimmer zu verbringen, wenn er bereit ist, auf dem Boden zu schlafen.

Joe willigt ein und freut sich darüber, mehr Zeit mit ihr verbringen zu können, um sie besser kennenzulernen. Dabei erfährt er, dass sich ihre Mutter in einer Nervenheilanstalt befindet, weshalb Julia bei ihren Großeltern aufgewachsen ist. Er vertraut ihr seinerseits an, dass er auf der Suche nach einer Freundin seiner Schwester ist.

Am nächsten Morgen trennen die beiden sich erneut voneinander und Joe macht sich auf den Weg zur Werkstatt der Glasbläserei. Er erkennt Ember auf den ersten Blick an ihrem kupferfarbenen Haar. Er fängt sie ab und versucht durch gezielte Fragen herauszufinden, wie viel sie weiß. Erst wirkt sie misstrauisch, doch als er ihr von den ›Grimm-Chroniken‹ erzählt und sie mit dem Wissen konfrontiert, dass sie ein Phönix ist, schenkt sie ihm Vertrauen. Zusammen brechen sie in den Wald auf, um dort nach dem Lebkuchenhaus zu suchen und ihr Gespräch ungestört fortzusetzen.

Sie finden das Haus verlassen vor und überlegen, was sie tun können, um ihren Freunden zu helfen, die vom Fluch des Schlafenden Todes betroffen sind. Auf einmal hören sie jedoch Geräusche von draußen. Als sie nachsehen, entdecken sie Julia, die ihnen gefolgt sein muss und sie belauscht hat. Joe versucht, sie zur Rede zu stellen, doch Julia behauptet eisern, dass sie zufällig vorbeigekommen sei. Dadurch erregt sie Joes Misstrauen, weil ihm die Begegnungen mit ihr plötzlich nicht mehr wie Zufälle erscheinen.

Da er ihr aber nichts nachweisen kann, kehren sie zu dritt nach Königswinter zurück. Dabei kommen sie an einem Plakat für das ausverkaufte Konzert des DJs Phil Harmonic vorbei, welches am nächsten Abend in einer nahe gelegenen Diskothek stattfinden soll. Ember erkennt den DJ als Prinz Philipp wieder, der einer der Vergessenen Sieben ist. Als Julia mitbekommt, dass Ember und Joe unbedingt auf das Konzert wollen, behauptet sie, dafür Karten zu haben und sie mitnehmen zu können. Die drei verabreden sich für den nächsten Abend.

Ember äußert gegenüber Joe die Befürchtung, dass es sich bei Julia um die böse Königin handeln könnte, die über ihn versucht, an die Vergessenen Sieben und die ›Grimm-Chroniken‹ zu gelangen.

Der falsche Jäger

Engelland, Schloss Drachenburg, Oktober 1812

Nebelschwaden waberten um das Schloss, so dicht, dass nichts von der Umgebung zu erkennen war. Es hätte überall auf der Erde stehen können. Ember hatte Margery einmal erzählt, dass das Schloss eine eigene, dunkle Seele besitzen würde und es in der Lage wäre, von einem Ort zum nächsten zu wechseln. Wenn es dies an dem heutigen Tag zu tun beschlossen hätte, wäre die Prinzessin vor ihrer Mutter sicher gewesen. Der einunddreißigste Oktober war angebrochen – Margerys Geburtstag, der zu ihrem Todestag werden sollte.

Noch tastete die Sonne sich träge den Horizont empor, aber je höher sie am Himmel wanderte, umso näher rückte der Moment, welcher über das Schicksal der Welt entscheiden sollte. Am Ende des Tages würde nur noch eine von ihnen am Leben sein: Schneewittchen oder die böse Königin. Der Tod der anderen würde entweder die Niederlage des Lichts oder der Finsternis bedeuten. Nicht auszumalen, was geschehen würde, wenn die Geschöpfe der Nacht wie Vlad Dracul und seine Vampire über die Menschen herrschen würden.

Der Ball, zu dem die Königin geladen hatte, würde bei Sonnenuntergang beginnen. Sobald die Dunkelheit sich über Engelland ausgebreitet hatte, sollte Margery sterben.

Jedoch nicht, wenn Ember es verhindern konnte. Sie würde alles versuchen, um ihre Freundin zu retten. Dabei stand sie nicht allein da, sondern hatte mutige Gefährten, die diesen letzten Kampf mit ihr ausfechten würden.

Jacob, der ehemalige Berater der Königin, und Maggy, die sie einst als Gretel gekannt hatte. Beide stammten aus einer fernen Zukunft, der die entscheidende Schlacht noch bevorstand. Die Geschichte wiederholte sich immer wieder, das hatte auch Embers Mutter sie bereits gelehrt. Irgendwie würde es ihnen gelingen, Margery zu retten, doch den Weg dorthin mussten sie selbst erkunden.

Auch ein Wolf und der Tod würden an ihrer Seite kämpfen. Zu fünft würden sie sich gegen die seelenlosen Jäger, eine Horde Vampire und ein Rudel Wölfe stellen. Es ging nicht darum, sie zu besiegen, sondern nur darum, das Herz der Prinzessin bis nach Mitternacht weiterschlagen zu lassen. Dann wäre der Krieg entschieden und die böse Königin würde zugunsten ihrer Tochter sterben.

Alles hing davon ab, dass ihr Plan funktionierte. Verkleidet als Jäger wollten sie sich in den dunklen Turm schleichen und die Prinzessin mit sich nehmen, noch ehe sie aus ihrem Schlaf erwachte, in den die Träumerin sie versetzt hatte. Im Herzen der Insel würden sie sich ein Versteck suchen und dort bis Mitternacht ausharren, danach wäre jede Gefahr gebannt.

Im Verlauf der letzten Woche war es Ember immer wieder gelungen, sich unbemerkt in die Unterbringung der Jäger bei den Ställen zu schleichen. Jeden Tag hatte sie eine Uniform an sich genommen und in ihrer Kammer unter dem Bett versteckt, sodass sie nun alle zusammenhatte, die sie brauchte. Sie hatte ihr verschlissenes Kleid gegen ein Hemd mit Weste und Hose getauscht. Ihre Beine steckten in warmen Stiefeln und über ihren Schultern lag ein schwarzer Umhang, dessen Kapuze sie sich über den Kopf gestreift hatte. Ihr kupferfarbenes Haar steckte in einem geflochtenen Zopf. Einzelne widerspenstige Strähnen kämpften sich jedoch bereits daraus hervor.

Um ihre Hüfte trug sie einen Gürtel mit einem Jagdmesser. Es war die einzige Waffe, die sie hatte entwenden können. Ihre Tarnung war somit nicht perfekt, denn die seelenlosen Jäger waren alle mit einer Armbrust ausgestattet. Es wäre ihr allerdings nicht gelungen, eine solche unbemerkt durch das Schloss zu schmuggeln, sodass sie darauf hatte verzichten müssen. Die anderen Uniformen steckten in einem Beutel, den sie mit sich nehmen würde.

Außerhalb ihrer Kammer war aufgeregtes Fußgetrappel zu vernehmen. Die meisten Dienstboten waren schon vor Tagesanbruch auf den Beinen gewesen, um das Schloss zu schmücken, das Festessen vorzubereiten oder den Empfang der Gäste zu planen. Sie alle hatten strikte Anweisungen der Königin erhalten und fürchteten diese viel zu sehr, um sich nicht daran zu halten. Wenn jemand ihr Missfallen erregte, ließ sie ihn in ihren Keller bringen. Die wenigsten kehrten je von dort zurück, lediglich ihre Schreie hallten oft noch tagelang durch das Gemäuer.

Ember öffnete ihre Tür und spähte auf den schmalen Gang, der sich davor erstreckte. Nur an dessen Ende flackerte das unstete Licht einer Öllampe. Sie huschte hinaus und zwang sich, ruhig zu gehen, um sich ihre Eile nicht anmerken zu lassen. Die Verantwortung ruhte nun allein auf ihren Schultern, denn wenn es ihr nicht gelingen sollte, das Schloss mit den Uniformen zu verlassen, würde ihr gesamter Plan scheitern.

Der Korridor der Bediensteten führte in die Eingangshalle des Schlosses. Der Geruch von geschmortem Fleisch überlagerte den Duft der Blumen, die kunstvoll an jeder freien Stelle arrangiert wurden. Ihr Anblick ließ Ember für einen Moment bestürzt innehalten. Es waren Rosen. Nicht nur, dass sie zu dieser Jahreszeit nicht auf natürlichem Weg blühen konnten, sie erstrahlten auch allesamt in der verbotenen Farbe, der Farbe des Todes – Rot.

Die Königin musste sie mithilfe von Magie wachsen gelassen haben, um sämtliche Gäste direkt zu Beginn daran zu erinnern, weshalb sie zu dem Fest eingeladen worden waren. Schneewittchens Blut würde fließen, das so rot wie die Blüten der Rosen war.

Mit einem unguten Gefühl wandte Ember den Blick ab und durchquerte die Halle. Dabei kam sie an seelenlosen Jägern vorbei, doch keiner nahm Notiz von ihr. Sie hatten alle die Kapuze so tief ins Gesicht gezogen wie sie selbst und merkten nicht einmal, wenn sich ein Fremder unter sie mischte.

Sie erreichte den hinteren Ausgang, der zu den Ställen führte, die an den Finsterwald grenzten. Es war ihr noch nie schwergefallen, sich unbemerkt aus dem Schloss zu schleichen, und dennoch erstaunte es sie, wie leicht es bisher vonstattengegangen war. Aber der schwerste Teil ihres Plans lag noch vor ihr: Margery zu befreien.

Die Tür der Scheune quietschte, als Ember sie gerade weit genug aufzog, um ins Innere schlüpfen zu können. Der Geruch von Stroh stieg ihr in die Nase und sie nahm das träge Schnaufen der Pferde wahr. Obwohl es finster war, widerstand sie dem Drang, eine Flamme heraufzubeschwören, denn das Feuer hätte die Tiere in Panik versetzt. Mit einem Pferd wäre sie für den Fall, dass man ihre Flucht doch noch bemerken würde, schneller unterwegs.

Sie tastete sich an den einzelnen Boxen vorwärts. Aus einigen leuchteten ihr nur die rot glühenden Augen der schwarzen Einhörner entgegen. Sie wagte sich nicht in ihre Nähe, da es hieß, dass diese prächtigen Wesen ihre Seele ebenso verloren hätten wie ihre Reiter.

Im hinteren Teil des Stalls befand sich die Kammer mit den Sätteln und dem Zaumzeug. Dort war es etwas heller, da das Tor ein Stück offen stand und trübes Morgenlicht in das Innere fiel. Erst dachte Ember, dass jemand am vergangenen Abend vergessen hatte, es zu schließen, doch dann bemerkte sie das gesattelte Pferd, welches an einen Pfosten gebunden war.

Sie war nicht allein – noch jemand befand sich in der Scheune.

Der weiße Hengst spitzte seine Ohren, ehe er den Kopf in ihre Richtung drehte. Ein Rascheln im Stroh ließ sie gerade rechtzeitig herumfahren, um einem Balken auszuweichen, den jemand nach ihr schlug. Keuchend taumelte sie rückwärts und hob ihre Hände, um einen weiteren Angriff abzuwehren.

Der andere warf das Holzstück beiseite und zückte stattdessen sein Schwert, dessen Klinge im Dunkel silbrig aufleuchtete. Er hieb nach ihr und es gelang Ember nur knapp, sich hinter einem Strohballen in Deckung zu bringen. Sie wusste sich nicht anders zu helfen, als ihr Feuer hervorzurufen. Es loderte in ihren Handflächen auf, als der Angreifer ihr nachkam. Erschrocken wich er einen Schritt zurück. Sein braunes Haar schimmerte golden, als er sie mit seinen blauen Augen fixierte. Ein entschlossener Ausdruck lag auf seinem schönen Gesicht und er umfasste seine Waffe etwas fester.

Sobald Ember ihn erkannte, ließ sie die Flammen verglühen.

»Warte«, brüllte sie und hob hilflos ihre Arme.

Prinz Philipp sah vor sich nur einen magiebegabten Jäger der Königin, doch die weibliche Stimme irritierte ihn und ließ ihn innehalten. Daraufhin zerrte sich das Mädchen die Kapuze vom Kopf und entblößte seinen roten Haarschopf. Sie hob beide Hände beschwichtigend empor.

»Ich bin Prinzessin Margerys Dienerin«, stellte sie sich ihm vor, da sie nicht wusste, ob er sie je wahrgenommen hatte.

Sofort ließ Philipp seine Waffe sinken. »Ich weiß, wer du bist«, stellte er klar, ohne zu zögern. »Auch wenn ich deinen Namen nicht kenne.«

»Ember«, antwortete sie verlegen, während das Adrenalin durch ihre Adern pulsierte.

»Was machst du hier?«, fuhr der Prinz sie an und ließ den Blick an ihr auf und ab wandern. »Und was soll diese Verkleidung? Ich hätte dich beinahe getötet.«

»Konnte ich ahnen, dass ich im Stall auf einen Prinzen treffen würde, der es auf Jäger abgesehen hat?«, blaffte Ember zurück und beäugte ihn misstrauisch.

Sie hatte ihn immer für einen guten Menschen gehalten, der unter der Königin genauso zu leiden hatte wie jeder andere Bewohner Engellands. Die erzwungenen Besuche mussten für ihn und seine Familie eine Qual gewesen sein. Gewiss hätte es ihn schlimmer treffen können, dennoch war auch sein Schicksal kein leichtes.

Sie sah von ihm zu dem gesattelten Schimmel. »Ist das dein Pferd? Hattest du vor, zu fliehen?«

Es wäre ihm nicht zu verübeln. Ganz besonders nicht, wenn die Königin ihm bereits von ihrer neuesten Idee, ihn zu heiraten, berichtet hatte.

»Nicht ganz«, erwiderte er. »Jedenfalls nicht allein. Ich habe herausgefunden, wo die Königin Margery gefangen hält.«

»Und jetzt wolltest du zu ihr und sie befreien?«, entfuhr es Ember beeindruckt.

Seine gemeinsame Zeit mit der Prinzessin beschränkte sich auf ein paar arrangierte Treffen, stets unter den wachsamen Augen der Königin, dennoch musste sie ihm genug bedeuten, um sein Leben für sie zu riskieren. Oder konnte er einfach nicht anders? Verlangte sein königlicher Anstand von ihm, einer holden Maid in Nöten zu Hilfe zu eilen? Vielleicht hatte er aber auch erkannt, wie viel von dem Leben der Prinzessin abhing.

Ein Schmunzeln legte sich auf seine vollen Lippen, als er die Augenbrauen hob. »Ich nehme an, du hattest dasselbe vor?«

Sein Lächeln war ansteckend und sie konnte nicht anders, als es zu erwidern, ehe sie nickte. Es tat gut, einen weiteren Verbündeten auf ihrer Seite zu wissen.

»Hast du einen Plan?«, erkundigte er sich bei ihr und nickte zu dem prallen Leinenbeutel, den sie bei sich trug und in dem die anderen Uniformen steckten.

Ember kannte ihn kaum, aber das, was sie von ihm gesehen hatte, überzeugte sie davon, dass er ihr Vertrauen verdiente. Immerhin war er bereit gewesen, sich ganz allein auf den Weg zu machen, um Margery zu helfen. Sie weihte ihn in ihren Plan ein, wobei er aufmerksam zuhörte.

»Wenn du dich uns anschließen willst, sollten wir sofort aufbrechen«, schloss sie ihren Bericht ab.

»Ich wünschte, ich könnte mit dir gehen«, erwiderte er unglücklich. »Aber es wäre wohl für alle sinnvoller, wenn ich im Schloss bleibe und mich um die Königin kümmere. Jemand muss sich ihr entgegenstellen, wenn sie die Flucht ihrer Tochter bemerkt.«

»Sie wird dich töten«, widersprach Ember ihm besorgt. »Komm mit mir und hilf mir, ein Versteck für Margery zu finden. Wenn wir es schaffen, diesen Tag zu überstehen, sind wir alle frei.«

»Ich kann die Königin nicht besiegen, aber ich kann dir genug Zeit verschaffen, um unbemerkt zu dem Turm zu gelangen«, beharrte Philipp und sah sich in dem Stall um, wobei ihm eine Idee kam. »Die Jäger werden es schwer haben, euch zu verfolgen, wenn sie keine Pferde haben.«

»Willst du sie alle freilassen?«, hakte Ember skeptisch nach. »Man würde dich erwischen, noch bevor du alle Boxen geöffnet hättest.«

»Es sei denn, ein Feuer würde ihre Aufmerksamkeit wecken. Was, wenn ich den Tieren nur zur Flucht verhelfe, um sie vor den Flammen zu retten, die in der Scheune wüten?« Er grinste sie triumphierend an und Ember begriff, was er vorhatte. Er wollte ein Feuer legen, das sämtliche Schlossbewohner beschäftigen sollte.

»Die Königin wird sich aber fragen, wie der Brand entstanden ist«, gab sie zu bedenken.

»Wenn ich nicht unter Halluzinationen leide, habe ich dich gerade mit einer Flamme in deinen Händen gesehen, oder? Könntest du das noch mal machen?«, hakte er nach.

»Jederzeit«, bestätigte sie und schnippte mit ihren Fingern, wobei winzige Funken aufflogen.

Es hatte den Prinzen mehr überrascht, ein Mädchen unter dem Umhang vorzufinden, als die Tatsache, dass sie Feuer aus dem Nichts auflodern ließ. Magie war in Engelland zwar verpönt, aber kam im Vergleich zu anderen Welten relativ häufig vor. Sie hoffte, dass er sie dafür nicht verurteilen würde. Aber immerhin wollte er auch Margery helfen, obwohl sie ein Vampir war.

»Weiß die Königin, was du kannst?«, wollte er neugierig wissen.

Es schmeichelte Ember, dass er ihre Feuermagie wie eine Gabe oder ein Talent beschrieb und nicht als etwas, das sie ausmachte. Sie war nicht nur ein Phönix, sondern auch ein Mensch wie er. »Das ist der einzige Grund, warum ich noch am Leben bin«, offenbarte sie ihm.

»Weiß sie auch von deiner Freundschaft zu Margery?«

»Ich nehme es an«, gestand Ember. »Sie hat uns schon einmal dabei erwischt, wie wir zusammen aus dem Schloss geflohen sind.«

»Dann wird sie vermuten, dass du für das Feuer verantwortlich bist«, meinte er und hob seine Hände mit gespielter Unschuldsmiene. »Wer würde schon einen ehrenhaften Prinzen verdächtigen? Bevor sie irgendetwas unternehmen kann, wirst du bereits mit Margery und den anderen auf der Flucht sein. Die Jäger werden es schwerer haben, euch einzuholen. In der Zeit kann ich die Königin weiter im Auge behalten.«

Ember musste zugeben, dass eine Ablenkung die perfekte Ergänzung zu ihrem ursprünglichen Plan darstellte, dennoch gefiel es ihr nicht, Philipp zurücklassen zu müssen. Ihre Bedenken standen ihr ins Gesicht geschrieben, aber der Prinz ließ sich nicht umstimmen. Nachdrücklich drückte er ihr die Zügel seines weißen Pferdes in die Hand.

»Bevor du losreitest, könntest du mir noch einen winzigen Gefallen tun und ein kleines Feuer legen«, bat er sie, wobei er auf eine Ansammlung von Strohballen deutete. Innerhalb von Sekunden würde sich das Feuer darin ausbreiten und lichterloh brennen. »Für dich bedarf das sicher nicht mehr als einer Handbewegung, während ich mich vermutlich minutenlang abmühen müsste.«

»Sag bloß, du kannst kein Feuer legen?«, zog Ember ihn schmunzelnd auf. »Lernt man so etwas nicht in der Ausbildung zum Prinzen?«

Er zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Ich kann zwar kein Feuer entfachen, aber dafür könnte ich dir in fünf verschiedenen Sprachen sagen, dass du jetzt besser aufbrechen solltest. Außerdem bin ich ein begnadeter Tänzer.«

»Zu blöd, dass du kein Feuer antanzen kannst«, grinste Ember und ließ sich von ihm auf den Rücken des Schimmels helfen.

Sie hatte Philipp schon immer aus der Ferne gemocht, aber erst jetzt hatte sie erfahren, dass er selbst in einer aussichtslosen Situation wie dieser Humor bewahren konnte. Auch das war eine seltene Gabe.

Philipp schob das Tor weit genug auf, um sie ungehindert passieren zu lassen. Zischend ließ Ember die Flammen in ihrer Hand auflodern.

Die Ohren des Hengstes stellten sich furchtsam auf, seine Nüstern blähten sich und er trat unruhig von einem Huf auf den anderen. Auch die anderen Tiere rochen den Rauch und schreckten vor dem glühenden Licht zurück. Sie würden alle in Panik ausbrechen und versuchen, ihren Boxen zu entkommen. Philipp könnte dabei leicht von einem von ihnen niedergetrampelt oder verletzt werden. Falls er das Bewusstsein verlor, würde er womöglich im Feuer sterben. In dem Feuer, das Ember verursacht hatte.

»Hab keine Angst«, redete der Prinz ihr gut zu und legte seine Hand ermutigend auf ihr Knie. »Wir sehen uns wieder. Das verspreche ich dir.«

Ember stieß spöttisch Luft aus. »Hat dir niemand beigebracht, dass man keine Versprechen gibt, die man nicht halten kann?«

Philipp schüttelte mit einem verschmitzten Grinsen den Kopf. »Nein, aber ich habe noch nie eines meiner Versprechen gebrochen und bei diesem wird es auch nicht anders sein.«

Das Aschemädchen wünschte sich seine Zuversicht und rief sich in Erinnerung, dass Margery auch im Jahr 2012 noch am Leben sein würde. Dabei ignorierte sie den Gedanken, dass das keinesfalls für sie selbst oder den Prinzen gelten musste. Sie ließ das Feuer noch einmal auflodern, bevor sie es auf die Strohballen schleuderte.

Der Anblick der sich ausbreitenden Flammen genügte, um den Hengst scheuen zu lassen. Wiehernd stellte er sich auf seine Hinterbeine, ehe er lospreschte. Ember beugte sich über den Hals des Pferdes und klammerte sich in die Mähne, als sie den Stall hinter sich ließen und in den Finsterwald galoppierten. Nun hatte es begonnen und es gab kein Zurück mehr.

Zeit, zu handeln

Engelland, Schloss Drachenburg, Oktober 1812

Erst als der dunkle Turm sich drohend über den Baumkronen erhob, zog Ember die Zügel des Pferdes an. Der Nebel hatte sich mit der aufgehenden Sonne gelichtet, sodass sie ihre Umgebung gut erkennen konnte.

Im Schritttempo ließ sie das Pferd zwischen den Baumstämmen hindurchlaufen und schaute sich nach einem Anzeichen von Jägern oder Wölfen um. Als sie niemanden entdeckte, hielt sie den Hengst an und stieg von seinem Rücken. Sie tätschelte ihm dankbar den Hals und lauschte in den Wald: Blätter raschelten und hier und da war das Zirpen eines Vogels zu hören, aber ansonsten war es still.

Sie ließ das Tier zurück und schlich allein weiter durch das Unterholz, um möglichst wenig Geräusche zu verursachen. Maggy und die anderen erwarteten sie an einem vereinbarten Treffpunkt in Sichtweite des Turms, aber weit genug entfernt, um die Wachen davor nicht auf sich aufmerksam zu machen. Es war ein umgestürzter Baum, dessen Wurzeln aus dem Erdboden ragten, sodass dahinter ein kleiner, nicht einzusehender Hohlraum entstanden war.

Sobald Ember die Stelle erreichte, bückte sie sich und krabbelte auf allen vieren durch das Laub in das Versteck. Dort wurde sie bereits ungeduldig von Maggy und Jacob erwartet.

Das braunhaarige Mädchen umarmte sie herzlich zur Begrüßung, wobei der Frosch in der Tasche ihrer Schürze quakend protestierte. »Geht es dir gut?«, erkundigte sie sich bei ihr, was Ember ein Lächeln entlockte.

Ganz gleich, ob Gretel oder Maggy, sie war eine gute Seele, die sich immer um ihre Freunde sorgte. Selbst für Menschen, die sie gerade erst kennengelernt hatte, war sie bereit, durchs Feuer zu gehen.

»Ich habe die Uniformen«, erwiderte Ember stolz und schob den Beutel in ihre Mitte, damit die anderen beiden sich daran bedienen konnten. »Aber sollten wir nicht mehr sein?«

Maggy war zuversichtlich, dass der Tod und der Wolf sich ihnen anschließen würden, doch bisher war von ihnen nichts zu sehen. »Sie werden noch kommen«, beharrte sie weiterhin.

»Die Sonne geht bereits auf und wir können nicht mehr lange warten«, erinnerte Jacob sie, während er sein Hemd gegen die dunkle Weste der Jäger tauschte. »Jede Minute zählt.«

»Sie würden uns nicht im Stich lassen«, verteidigte Maggy unnachgiebig ihre Gefährten und schlang sich den schwarzen Umhang über die Schultern. Ihre geflochtenen Zöpfe verschwanden unter der Kapuze.

Ember hatte bisher weder Bekanntschaft mit dem Tod noch mit einem Wolf gemacht, abgesehen von dem Rudel, das immer in der Nähe des Schlosses durch den Wald streifte. Sie vertraute auf Maggys Einschätzung, aber musste gleichzeitig Jacob damit recht geben, dass sie es sich nicht leisten konnten, Zeit zu verschwenden. Zu viel stand auf dem Spiel. Wenn sie den Turm zu spät erreichten, würden sich ihnen die richtigen Jäger in den Weg stellen. Selbst wenn ihnen die Flucht gelingen sollte, wäre ihre Tarnung dann aufgeflogen.

»Vielleicht wurden sie aufgehalten«, gab Ember zu bedenken.

Ihre Vermutung sorgte für einen bestürzten Gesichtsausdruck bei Maggy.

»Ich könnte mir vorstellen, dass der Tod heute noch viel zu tun hat«, quakte der Frosch spöttisch.

»Sei nicht so pessimistisch«, wies Maggy ihn verärgert zurecht. »Simonja ist unsere Freundin.«

»Solange sie nicht den Auftrag erhält, uns zu töten«, konterte das grüne Tier. »Hast du schon einmal daran gedacht, dass Wölfe Rudeltiere sind? Was meinst du, wo der Rest des Rudels gerade ist?«

Maggy antwortete darauf nicht, aber Ember tat es an ihrer Stelle. »Sie sind beim Schloss, um die Königin zu beschützen.«

»Ganz genau«, stimmte der Frosch ihr zu, der weder dem Tod noch dem Wolf zu trauen schien. »Wenn ihr mich fragt, sollten wir keine Sekunde länger warten.«

»Es fragt dich aber keiner«, zischte Maggy unnachgiebig. Es war ihr gleichgültig, wie verständlich und logisch das Misstrauen des Frosches auch sein mochte. Sie hatte Simonja und Arian in die Augen geblickt und gespürt, dass sie auf derselben Seite standen. Obwohl sie alles andere als dumm war, vertraute sie seit jeher mehr auf ihr Herz als auf ihren Verstand.

Ember schätzte diese Eigenschaft sehr an ihr, doch in ihrer jetzigen Situation stand sie ihr im Weg.

»Wir schaffen es auch zu dritt, uns an den Plan zu halten«, meinte Jacob zuversichtlich.

»Zu viert«, korrigierte der Frosch ihn beleidigt, was Jacob schmunzeln ließ.

»Zu viert. Drei falsche Jäger und ein Kampffrosch«, gab er nach. »Wir schleichen uns nah genug an den Turm, um die Tür erkennen zu können. Für gewöhnlich sind dort nicht mehr als zwei Wachen postiert. Ich blase in meine Pfeife und beschwöre den grünen Nebel. In dessen Schutz schleicht ihr euch an und Ember wird die Männer mit einem Feuerball ablenken, sodass ich sie von hinten angreifen kann.« Er schaute zu Maggy. »In der Zeit wirst du die Tür öffnen.«

Das Mädchen klopfte auf die Tasche, die sie bei sich trug. Ein altes, in Leder gebundenes Buch schaute daraus hervor. »Ich habe dafür einen Zauberspruch entdeckt«, verkündete sie grinsend.

Das Buch musste zuvor Baba Zima gehört haben. Die Hexe hatte ihre Schülerin nur das Nötigste gelehrt, aber Maggy war klug genug, um sich den Rest selbst beizubringen. Und sollte sie dennoch scheitern, würde der dicke Wälzer auch als Waffe dienlich sein.

»In Ordnung«, fuhr Jacob fort. »Wir holen uns die Prinzessin und fliehen mit ihr zu den Mohnblumenfeldern, wo wir versuchen werden, die Dornenhecke zu passieren.«

»Beim letzten Mal ist es Margery nicht gelungen«, erinnerte Ember sich. »Aber dieses Mal wird sie schlafen. Wir müssen hoffen, dass dieser Zustand ausreicht, um die Dornen von ihrer Unschuld zu überzeugen.«

»Wenn sie nicht zuvor aufwacht«, gab der Frosch zu bedenken.

»Ich müsste sie kurzzeitig erneut in einen Schlaf versetzen können«, meinte Maggy, die seit Baba Zimas Tod deren Buch studiert hatte. Es waren jedoch derart viele Sprüche und Rituale darin niedergeschrieben, dass sie längst noch nicht alle erlernt hatte.

»Hauptsache, wir bekommen sie erst einmal frei«, entschied Jacob und kroch als Erster aus dem Versteck unter der Baumwurzel.

Sobald sie alle draußen standen, bewegten sie sich langsam auf den Turm zu. Sie umrundeten ihn in einigem Abstand, bis sie die Tür im Sichtfeld hatten. Doch zu ihrem Erstaunen befand sich niemand davor.

Konnte es sein, dass die Königin ihre Tochter gänzlich unbewacht zurückgelassen hatte? Rechnete sie nicht damit, dass jemand versuchen würde, sie zu retten? Glaubte sie, es reichte, die Prinzessin in einen tiefen Schlaf zu versetzen, aus dem sie nicht allein erwachen konnte?

»Wartet hier«, wies Jacob die Mädchen an, schlich sich in gebückter Haltung bis zu der Tür und rüttelte daran. Sie war verschlossen, aber zumindest versuchte niemand, ihn aufzuhalten. Sie schienen wirklich allein zu sein.

Ember und Maggy folgten ihm. Kaum dass sie den Eingang erreicht hatten, legte Maggy ihre flache Hand auf das Schloss, atmete tief durch und konzentrierte sich darauf, den Hebel im Inneren mit ihrer bloßen Geisteskraft zu drehen. Alles, was sie dafür brauchte, war der Glaube an sich selbst. Wenn sie davon überzeugt war, dass sie es tun konnte, dann gelang es ihr auch.

Mit einem Klicken gab die Tür nach und sie konnten das stockfinstere Innere betreten.

Ember ließ eine kleine Flamme in ihrer Hand auflodern, die gerade genug Licht spendete, dass sie die unzähligen Treppenstufen erkennen konnten. Es war ein ziemlich entmutigender Anblick, der sie jedoch nicht zurückschrecken ließ.

»Du kannst uns nicht zufällig einfach nach oben hexen, oder?«, beklagte sich der Frosch, der nicht einmal selbst zu laufen brauchte.

»Nein«, entgegnete Maggy. »Aber ich könnte dir Flügel zaubern und dann schicken wir dich einfach von außen vor, um einen Blick durch das Fenster zu werfen. Wie wäre das?«

»Heißt es nicht, dass dort oben eine gefährliche Bestie wohnt?«, gab das Tier nun etwas kleinlauter zu bedenken.

»Es scheint keine Prinzessinnen zu fressen, aber ich weiß nicht, ob das auch für Frösche gilt«, erwiderte Maggy schmunzelnd, während sie die Stufen emporstieg. »Abgesehen davon würde ein Greifvogel dich wohl für ein vorzügliches Saltimbocca halten.«

»Saltimbocca?«, quietschte der Grünling.

Jacob lachte herzlich über die Zankerei der beiden. »Das ist ein Fleischgericht«, erklärte er. »Übersetzt bedeutet es Spring in den Mund.«

Bis sie das Ende des Turms erreichten, war gut eine Stunde vergangen. Es kam Ember seltsam vor, dass es keine Jäger gegeben hatte, die versuchten, sie aufzuhalten. Waren sie alle durch das Feuer in den Ställen abgelenkt? Sie hoffte, dass es Philipp gut ging und es ihm gelungen war, alle Tiere zu befreien.

Die Treppe führte direkt in ein Zimmer, das jedoch kaum einzusehen war. Es ließ sich lediglich erkennen, dass es ein heller Raum war, da Sonnenlicht durch die Fenster fiel.

Das Aschemädchen ließ seine Flamme verglühen, ehe es eintrat. Sieben Fenster zierten die Wände und waren in alle Himmelsrichtungen des Königreichs ausgerichtet. Vor einem stand ein blondes Mädchen mit dem Rücken zu ihnen.

Sollte sie die Bestie sein, vor der ganz Engelland gewarnt wurde?

Es gab Möbel in der Stube, die vermuten ließen, dass sie dort wohnte: ein Tisch, ein Stuhl, ein Bett und ein Spinnrad. Doch von Margery war keine Spur zu sehen.

»Ihr seid zu spät«, richtete die Fremde plötzlich das Wort an sie, ohne sich zu ihnen umzudrehen. Sie schien genau zu wissen, weshalb sie hier waren. »Die Königin ließ Prinzessin Margery bereits in dieser Nacht abholen.«

Das erklärte, warum der Turm nicht bewacht wurde. Es irritierte Ember allerdings, dass sie das Gesicht des Mädchens nicht sehen konnte. Dadurch wirkte sie unaufrichtig, so als wäre dies eine Falle.

»Lebst du hier?«, hakte sie misstrauisch nach. »War Margery die ganze letzte Woche bei dir?«

Einige Sekunden vergingen, ohne dass irgendetwas geschah, dann drehte die Fremde sich zu ihnen herum. Sie war in Embers und Maggys Alter und in ihrem Gesicht zeigte sich die gleiche Verzweiflung, die auch sie empfanden.

»Ich habe seit acht Jahren nichts außer dem Inneren dieses Turms gesehen«, antwortete sie gequält. »Wenn du das als Leben bezeichnen würdest, kann ich deine erste Frage bejahen. Aber ich sehe diesen Ort vielmehr als ein Gefängnis an, in dem ich lediglich existiere, ohne wirklich zu leben.«

Embers ungutes Gefühl in Bezug auf sie verschwand schlagartig. Das Leid des Mädchens war deutlich spürbar. Es stand in ihren gebrochenen braunen Augen. Sie brauchte sie nicht einmal zu fragen, wer ihr das angetan hatte. Nur die Königin wäre grausam genug, um ein Mädchen seiner Kindheit zu berauben und über Jahre in Einsamkeit gefangen zu halten.

Die Fremde holte tief Luft, als müsste sie sich sammeln, ehe sie nickte. »Margery war bei mir. Die Königin hat mir befohlen, sie mithilfe meiner besonderen Begabung in einen tiefen Schlaf zu versetzen, sodass sie nicht fliehen konnte. Ich wusste nicht genau, wann man sie wieder abholen würde, aber ich habe immer gehofft, dass zuvor jemand käme, um sie zu retten.«

Embers Vermutung, dass es sich um einen Trick handeln könnte, löste sich in Luft auf und somit schwand auch ihre Hoffnung, Margery doch noch an diesem Ort anzutreffen. Margery war ihr bereits ganz nah gewesen und sie hatte ihre Freundin unwissentlich im Schloss zurückgelassen.

Aber sie verstand nicht, wie es dazu hatte kommen können. Sie hatte gehört, wie die Königin mit Rumpelstein die Planung des Festtages besprochen hatte, und war sich sicher, dass die Prinzessin erst zum Mittag aus dem Turm gelassen werden sollte. Warum hätte die Königin ihren Plan ändern sollen? Hatte sie etwas geahnt? Woher hätte sie von ihrem Vorhaben wissen können?

»Warum dachtest du, dass jemand kommen könnte, um Margery vor der Königin zu retten?«, wandte sich Maggy nun an das Mädchen. »Hat sie irgendetwas gesagt, bevor du sie hast einschlafen lassen?«

»Wir haben nicht viel miteinander gesprochen«, gab sie zu. »Dafür fehlte uns die Zeit. Ich lasse Menschen nicht einfach nur einschlafen, sondern schenke ihnen Träume mit meinem Spinnrad.« Sie deutete auf den Gegenstand, der neben dem Bett stand. »Um den perfekten Traum für jemanden erschaffen zu können, muss ich einen Blick in sein Innerstes werfen. Ich muss wissen, wer dieser Mensch ist, woran ihm etwas liegt und wovor er sich fürchtet. Margery besitzt eine gute Seele.« Sie schaute sie nachdrücklich an, als ob daran je Zweifel bestanden hätten. »Ich sah in ihren Gedanken einen jeden von euch sowie noch wenige andere. Ihre Hoffnung ruht auf euch, auch wenn sie euch diese Last nicht aufbürden wollte. Sie will niemanden in Gefahr bringen, aber ein Teil von ihr sehnt sich danach, gerettet zu werden.«

Das klang ganz nach Margery und schmerzte Ember deshalb umso mehr. Sie war es gewesen, die sie immer wieder ermutigt hatte, nicht aufzugeben. Sie hatte ihr versprochen, dass sie gemeinsam einen Weg finden würden, um ihren Tod zu verhindern. Und nun waren sie zu spät.

»Das war es dann wohl«, quakte der Frosch ernüchternd.

»Das war es noch lange nicht«, widersprach Maggy ihm energisch. »Wir haben immer noch die Uniformen der Jäger, damit können wir uns unbemerkt auf das Fest schleichen.«

»Und dann?«, konterte er. »Was willst du dann tun? Wie willst du die Prinzessin befreien, wenn wir von Wölfen, Vampiren und richtigen Jägern umzingelt sind?«

»Uns wird schon etwas einfallen«, beharrte Maggy sturköpfig. »Wilhelm wird dort sein«, setzte sie etwas leiser nach. Zuneigung schwang in ihrer Stimme mit, die Ember nicht teilen konnte.

Sie wusste nicht, wie Wilhelm im Jahr 2012 war, aber in Engelland konnten sie keine Hilfe von ihm erwarten. Er würde es sein, der Margery das Herz aus der Brust schnitt.

»Es ist riskant«, gab Jacob zu. »Aber wir dürfen nichts unversucht lassen, um sie zu retten. Mit meiner Pfeife könnte ich für etwas Tumult sorgen.«

»Im Schloss wartet Verstärkung auf uns«, ergänzte das Aschemädchen, das nichts unversucht lassen würde, um Margery zu helfen. »Ich bin heute Morgen Prinz Philipp begegnet. Er hat Feuer im Stall gelegt, damit ich unbemerkt entkommen konnte. Wenn er erfährt, dass Margery bereits dort ist, wird er uns dabei helfen, sie zu retten.«

»Ihr müsst die Königin töten«, sagte das fremde Mädchen bestimmt. Es war nicht ihr eigener Wunsch nach Rache für die jahrelange Gefangenschaft, sondern sie wusste, dass es so enden musste. »Das ist die einzige Möglichkeit, um nicht nur die Prinzessin, sondern uns alle zu retten.«

Jacob nickte. Er kannte die Prophezeiung in- und auswendig. Zu einer anderen Zeit hatte er nach einem Ausweg gesucht, ohne je einen zu finden. »Ich werde es tun.«

»Das kannst du nicht allein«, widersprach Maggy ihm besorgt.

Jacob drehte sich zu ihr herum und legte ihr seine faltigen Hände auf die Schultern. »Ich hätte das schon vor langer Zeit tun müssen, dann wäre es nie so weit gekommen. Versprich mir bitte, dass du dich um Wilhelm kümmern wirst.«

»Vielleicht übersehen wir irgendetwas«, protestierte Maggy verzweifelt. »Ich habe in den ›Grimm-Chroniken‹ über Mary gelesen und sie erschien mir nicht …«

Jacob unterbrach sie. »Maggy, bitte versprich es mir!«

Das braunhaarige Mädchen starrte noch einen Moment flehend zurück, ehe es einknickte. »Du weißt, dass ich immer versuchen würde, Will zu beschützen. Ich verspreche es dir.«

Das beruhigte den älteren Mann. »Ihr solltet jetzt aufbrechen.«

Ihr?, dachte Ember irritiert, doch noch ehe sie Jacob darauf ansprechen konnte, fragte die Fremde: »Darf ich mit euch kommen?« Ein sehnsuchtsvoller Ausdruck lag in ihren Augen. »Bitte! Ich möchte helfen.«

Ein paar Minuten reichten gewiss nicht, um einen Menschen kennenzulernen oder zu durchschauen, aber nach dem, was die Königin ihr angetan hatte, konnten sie sich zumindest sicher sein, dass sie eine gemeinsame Feindin hatten. Es war außerdem die Art, wie sie von Margery gesprochen hatte, die Ember dazu brachte, ihr Vertrauen zu schenken.

»Wir können jede Hilfe gebrauchen«, erwiderte sie und reichte ihr den Beutel mit den übrigen Uniformen. »Wie heißt du?«

»Ich bin Eva.«

Ember schenkte ihr ein kurzes Lächeln und wandte sich an Jacob. »Was ist mit dir?«

Er hatte sich vor eines der Fenster gestellt, den Blick auf das Schloss Drachenburg gerichtet. »Die Königin würde wissen, dass ich in der Nähe bin, selbst wenn ich mein Gesicht unter einem Umhang verberge«, antwortete er. »Sie und ich sind auf magische Weise miteinander verbunden. Verlasst euch aber darauf, dass ich zur rechten Zeit zur Stelle sein werde.«

Jacob verbarg viele Geheimnisse, aber es bestand kein Zweifel daran, dass er nur das Beste für sie alle wollte. Die Mädchen verließen sich auf seine Einschätzung und ließen ihn schweren Herzens zurück.

Es sollte nur ein kurzer Abschied sein, denn schon bald würden sie sich wiedersehen.

Weich wie Samt

Königswinter, Drosselweg 10, Oktober 2012

Das Licht einer Straßenlaterne schien von oben herab durch die Kellerfenster in Embers Zimmer. Von draußen war die Müllabfuhr zu hören. Es musste früh am Morgen sein und somit Zeit für Joe, aufzubrechen. Er schlug die Wolldecke zurück und richtete sich von der Matte am Boden auf, die ihm als Nachtlager gedient hatte.

Ember schlief auf der anderen Seite des Raumes mit dem Rücken zu ihm in ihrem Bett. Ihr kupferfarbenes Haar schien sogar im Dunkeln zu leuchten. Wie eine Flamme war es rund um ihren Kopf gefächert.

Sie hatte am vergangenen Abend noch lange im Flüsterton geredet, nachdem sie ihn zu sich nach Hause geschleust hatte. Sie wohnte mit ihrer Familie ein Stück außerhalb der Stadt in einer schönen Doppelhaushälfte. Der Vorgarten war mit bunten Blumen bepflanzt und aus dem oberen Stock hatte Joe einen Hund bellen gehört. Es war die perfekte Idylle, abgesehen davon, dass sie im Keller wohnte und sich wie ein Einbrecher in ihr eigenes Haus geschlichen hatte.

Ihr Zimmer war nicht groß. Außer ihrem Bett gab es einen Kleiderschrank und einen Tisch mit einem Stuhl. Es war zweckmäßig eingerichtet und hatte keine persönliche Note, wirkte eher wie ein Gästezimmer für jemanden auf Durchreise.

Ember war nun vermeintlich ein Teil dieser Welt, genau wie er, und trotzdem hatte er keinerlei Probleme, sie sich als das Aschemädchen vorzustellen, über das er in den ›Grimm-Chroniken‹ gelesen hatte. Sie strahlte einen gewissen Zauber aus, den er nicht näher benennen konnte.

Plötzlich hörte er von außerhalb der Tür ein leises Poltern, als wäre etwas heruntergefallen oder jemand irgendwo dagegen gestoßen. Ein paar Sekunden war es still, dann wurde die Klinke heruntergedrückt. Erst ganz vorsichtig, dann noch mal etwas stärker, als die Person bemerkte, dass abgeschlossen war.

»Em«, zischte eine männliche Stimme. »Mach die Tür auf!«

Ember zuckte in ihrem Bett zusammen, als hätte sie einen elektrischen Schlag bekommen. Ihre Augen starrten angstvoll zur Tür.

Erneut wurde an der Klinke gerüttelt, dieses Mal drängender. Aggressiver.

»Jetzt lass mich schon rein«, verlangte der Jemand von draußen gedämpft. Obwohl er hörbar genervt war, verhielt er sich ruhig, als wolle er die anderen Bewohner des Hauses nicht wecken. »Du kannst dich nicht vor mir verstecken!« Er klang jung, als wäre er in ihrem Alter.

Fragend schaute Joe zu Ember, die ihre Beine angezogen hatte. Sie musste seinen Blick gespürt haben, denn erst jetzt drehte sie sich zu ihm herum und schien im ersten Moment verwirrt über seine Anwesenheit. Das Klopfen hatte sie aus dem Schlaf gerissen und sie war offenbar noch nicht ganz bei sich. Sie legte ihren Zeigefinger auf ihre Lippen und bedeutete ihm, leise zu sein. Seufzend fuhr sie sich durch das zerzauste Haar, ehe sie laut rief: »Verschwinde!«

Durch Joes Gegenwart schien sie ihre Kräfte zu mobilisieren. Sie wollte nicht schwach wirken und straffte ihre Schultern, bevor sie sich aus dem Bett erhob. Ihm entgingen ihre geballten Fäuste nicht.

»Ich will doch nur kurz mit dir reden«, beschwerte sich der Jemand von draußen. »Du weißt, dass meine Mutter keine abgeschlossenen Türen in ihrem Haus erlaubt.«

Ember schnaubte spöttisch. Irgendetwas an seiner Aussage verärgerte sie noch mehr als seine bloße Anwesenheit. »Ist mir egal«, fauchte sie. »Petz doch!«

»Sie wird den Schlüssel von dir zurückverlangen und dann komme ich dich morgen früh wieder besuchen.«

Es klang nach einer Drohung, die das Mädchen erschaudern ließ, auch wenn es vor Joe versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.

»Heute ist aber nicht morgen«, kanzelte sie den ungebetenen Gast ab. »Verzieh dich und mach, was du willst.«

»Dann eben bis morgen, Em«, knurrte es von draußen bedrohlich, ehe wütende Schritte auf der Treppe zu hören waren.

Als Ember zu Joe herumfuhr, zwang sie sich zu einem schiefen Grinsen, als ließe sie der Vorfall kalt. Sie zuckte mit den Schultern. »Nur mein nerviger Stiefbruder Roman«, murmelte sie, wobei ihre Unterlippe zitterte.

Die perfekte Idylle zerbrach vor Joes Augen. Er kannte Ember kaum, aber das musste er auch nicht, um zu begreifen, was hier vor sich ging. Das war nichts Neues für ihn. Er hatte es in den Heimen miterlebt, auch wenn es nie jemand bei seiner Schwester gewagt hatte. Will und er hätten es nicht zugelassen und der bloße Versuch hätte jedem mehr als eine blutige Nase eingebracht. Aber es gab auch Mädchen, die niemanden hatten, der sich um sie scherte. Ebenso wie Jungen, die kein Nein kannten und glaubten, sich alles nehmen zu können.

Das machte Joe wütend. Er wollte nicht, dass Ember sich beschämt fühlte, aber er musste dennoch fragen. »Tut er dir weh?«

Ihr aufgesetztes Grinsen wurde zu einem traurigen Lächeln, aber sie schüttelte den Kopf. »Er würde gern, aber ich lasse ihn nicht.«

Joe hatte keine Zweifel daran, dass Ember ein starkes und selbstbewusstes Mädchen war, aber sie konnte sich nicht ewig vor einem Feind schützen, der in ihrem eigenen Zuhause ein und aus ging. »Was ist mit euren Eltern?«

Ihre Miene verhärtete sich. »Egal, in welcher Welt oder in welcher Zeit ich mich auch befinde, es gibt nie einen Vater, der schützend seine Hand über mich hält. Er ist tot und hat seiner zweiten Frau Barbara neben seinem Haus auch seine Tochter vererbt. Barbara ist an sich nett und wirklich bemüht, aber leider völlig blind, wenn es um ihren Sohn geht. Selbst wenn sie mir glauben würde, unternehmen würde sie nichts gegen ihn. Sie würde alles tun, um Roman zu schützen.«

»Ich könnte ihn mir mal vornehmen«, schlug Joe vor, als er sich vom Boden erhob.

Ember betrachtete seine muskulösen Oberarme und schien für einen Augenblick darüber nachzudenken, schüttelte dann aber den Kopf. »Nein, das würde ihn wohl eher reizen. Ich komme schon irgendwie zurecht.«

Sie wandte ihm den Rücken zu und zog etwas Frisches zum Anziehen aus ihrem Kleiderschrank.

»Was ist eigentlich mit deiner richtigen Mutter?«, fragte Joe vorsichtig. »Maria Harms ist doch auch ein Phönix, oder? Lebt sie irgendwo in dieser Welt?«

»Ich hoffe, dass es so ist«, antwortete Ember und drückte sich ihre Kleidung vor die Brust. »Aber auch ein Phönix ist nicht unsterblich und kann getötet werden. Wir werden nicht älter als gewöhnliche Menschen, sondern springen nur zwischen Raum und Zeit, wenn wir beschließen, in Flammen aufzugehen. Wir haben keinen Einfluss darauf, wohin unser neues Leben uns führt. Sie könnte praktisch überall und in jedem Jahrhundert sein.«

Joe verstand, dass von ihr keine Hilfe zu erwarten war. »Das heißt, du wurdest gar nicht in dieser Welt geboren, sondern bist von einem auf den anderen Tag in ihr erwacht und warst plötzlich ein Teil von ihr, so wie in Engelland?«

Sie nickte. »Für mich sind erst zwei Wochen vergangen, seitdem ich aus Engelland fliehen musste. Dabei waren es zwei Jahrhunderte.«

Es fiel Joe schwer, sich vorzustellen, wie es wäre, plötzlich in einem anderen Leben aufzuwachen. »Wie ist das mit den Menschen in deinem Umfeld? Glauben sie, dass du schon immer da gewesen bist?« Er konnte sich nicht daran erinnern, dass er in dem Flur Kinderfotos von ihr gesehen hätte, aber das könnte auch daran liegen, dass sie nur noch das Stiefkind war.

»Ich kann dir nicht erklären, wie es funktioniert, aber immer wenn ich eine Zeit verlasse, wird mir in einer anderen ein Platz eingeräumt.« Sie zuckte mit den Schultern. »Barbara und Roman erinnern sich an Erlebnisse mit mir, die für sie real sind, dabei haben sie nie stattgefunden.«

Joe runzelte die Stirn. »Und was ist mit dir? Weißt du auch von all den Dingen, die gar nicht wirklich passiert sind?«

»Ja, aber ich habe keinen Bezug zu ihnen. Es ist für mich, als ob ich über das Leben eines anderen gelesen hätte.« Sie verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. »Schade ist das allerdings nicht, denn meine erfundene Vergangenheit ist nichts, was ich erleben wollen würde.«

Er empfand es als Ungerechtigkeit, dass es das Schicksal einfach nicht gut mit ihr meinte. Alles, was er von ihr wusste, überzeugte ihn davon, dass sie ein guter Mensch war, der ein besseres Leben verdient hatte, egal in welcher Welt. »Bist du in Engelland gestorben? Ist das der Grund, warum du jetzt hier bist?«

Sie schlug die Augenlider nieder und nickte.

»Du musst sehr verzweifelt gewesen sein, wenn du beschlossen hast, zu Asche zu verbrennen«, vermutete er. »Was ist passiert?« Es musste schlimm gewesen sein, denn nach dem, was Joe über sie in den ›Grimm-Chroniken‹ gelesen hatte, war sie fest entschlossen gewesen, Margery zu helfen. Sie hätte sie niemals freiwillig im Stich gelassen, sondern nur dann, wenn sie keine andere Chance gesehen hätte.

Embers Blick glitt in weite Ferne und sie schien sich an Dinge zu erinnern, die sie lieber vergessen hätte. Mit einem leichten Kopfschütteln verjagte sie diese aus ihren Gedanken. »Barbaras Schlafzimmer liegt gegenüber vom Bad und ihr Wecker geht in zehn Minuten«, teilte sie ihm mit, ohne auf seine Frage einzugehen. »Roman wird also nicht wagen, es noch einmal zu versuchen. Du musst dich rausschleichen, bevor sie aufsteht. Wir treffen uns in einer halben Stunde an der Bushaltestelle.« Sie schenkte ihm ein tapferes Lächeln, als sie seinen besorgten Gesichtsausdruck bemerkte, und schlüpfte durch die Tür in den dunklen Flur.

Joe verspürte eine innerliche Unruhe, als Ember und er vor dem Hotel auf Julia warteten. Seitdem Ember den Verdacht ausgesprochen hatte, dass es sich bei Julia um die böse Königin handeln könnte, die sich in dem Körper eines jungen Mädchens tarnte, fiel es ihm schwer, sie mit denselben Augen zu sehen. Auch wenn sie bisher keinen Hinweis gefunden hatten, der ihre Vermutung bestätigt hätte.

Am Vorabend hatte Joe in der Charité angerufen, um sich nach Jacob zu erkundigen. Es ging ihm zwar nicht besser, aber zumindest war er am Leben. Wenn die Königin ihn verfolgt hatte, warum hätte sie Jacob dann am Leben lassen sollen? Es wäre ein Leichtes für sie gewesen, ihn in solch einer schutzlosen Lage zu töten. Ein gezogenes Kabel hätte schon gereicht.

Wenn Joe an Julia dachte, zog sich sein Herz zusammen. Es hatte Momente zwischen ihnen gegeben, die ihm einfach nicht aus dem Kopf gingen. Augenblicke, die ihm das Gefühl gegeben hatten, dass zwischen ihnen eine besondere Verbindung bestand, obwohl sie einander nicht kannten. Wenn er an ihre erste Begegnung dachte, konnte er ein Grinsen nicht unterdrücken. Er hätte sie am liebsten zum Mond geschossen.

Ganz egal, was sie tat oder sagte, selbst wenn er sich über sie ärgerte, fühlte er sich gleichzeitig zu ihr hingezogen. Da war dieses Knistern zwischen ihnen, das es ihm oft unmöglich machte, sich zu konzentrieren. Dabei hing so viel von dieser Reise nach Königswinter für ihn ab. Im Grunde alles. Es ging um Maggys Leben.

Es hieß immer, dass die Liebe einen dann traf, wenn man am wenigsten mit ihr rechnete. Nur ein blöder Spruch, hätte Joe zuvor gesagt, aber jetzt war er sich nicht mehr sicher. Er konnte nicht einmal benennen, was es war, das ihn an Julia so sehr anzog. War es vielleicht ein Zauber? Ein Liebesfluch, sodass er gar nicht anders konnte?

»Seid ihr startklar?«, fragte Julia, als sie durch den Ausgang des Hotels schritt und die beiden auf der Treppe entdeckte. Ihr blondes Haar ergoss sich in sanften Wellen über ihre Schultern. Sie trug ihren rosafarbenen Wollmantel, den sie allerdings nicht zugeknöpft hatte, sodass darunter ein rotes Samtkleid zu erahnen war. Es war hochgeschlossen, doch dadurch nicht weniger aufreizend, denn der Stoff endete knapp über ihren Knien. Ihre nackten Beine steckten in High Heels, die genauso rot waren wie ihre Lippen.

»Du bist spät dran«, stellte Ember gereizt fest. Joe und sie warteten bereits seit einer halben Stunde auf die Blondine. Ember hatte darauf bestanden, dass sie weiterhin so taten, als würden sie keinen Verdacht schöpfen. Sie konnten sich die Chance, vielleicht auf Philipp zu treffen, nicht entgehen lassen, selbst wenn es sich am Ende als Falle herausstellen sollte.

Julia überging den Tadel. »Ich habe uns ein Taxi bestellt«, verkündete sie gönnerhaft. »Damit sind wir im Nullkommanichts da.«

Ember sagte dazu nichts. Joe bemerkte allerdings, wie sie ihre Hände aneinander rieb, als würden diese brennen. Sie hatte ihm erzählt, dass es ihr manchmal schwerfiel, die Flammen zurückzuhalten, wenn sie wütend war oder Angst hatte. Wahrscheinlich war gerade ein solcher Moment, denn sie begab sich in ein großes Risiko, mit Julia in ein Auto zu steigen, die sie für die böse Königin hielt.

Joe betrachtete das Mädchen, zu dem er sich so hingezogen fühlte, und wusste nicht, was er glauben sollte. Er versuchte, ihre nackten Beine auszublenden und sich auf ihr Gesicht zu konzentrieren.

War da ein angespannter Zug um ihre Mundwinkel zu erkennen? Fürchtete sie sich vor irgendetwas? Wenn sie die Königin wäre, müsste sie dann nicht voller Triumph sein, weil ihr Plan aufzugehen schien?

Sie spürte seinen Blick und drehte sich zu ihm um. Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen. »Hast du gut geschlafen?«

Lag ein Hauch Eifersucht in ihrer Stimme? Wenn sie wirklich nur ein normales Mädchen war, hatte sie sich dann Gedanken darüber gemacht, ob zwischen Joe und Ember vielleicht etwas laufen könnte?

»Ja, ich gewöhne mich langsam an den Boden«, feixte Joe und gab ihr dadurch auch zu verstehen, dass zwischen Ember und ihm nichts war.

Das schien sie tatsächlich zu beruhigen, denn die Anspannung wich aus ihrer Miene. Dennoch zupfte sie unsicher an dem Saum ihres Kleides. Sie schaute zu Ember, die eine Jeans trug und ihre Haare in einem lockeren Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. »Findest du das Outfit zu gewagt?«, wollte sie dann von Joe wissen und deutete an ihrem Körper hinab.

Es erschien ihm seltsam, dass sie ihn danach fragte, denn es schien ihr bisher nie an Selbstbewusstsein gemangelt zu haben. Aber vieles war bei ihr nur Fassade.

Er traute sich kaum, sie anzusehen, denn er wusste, dass er seine Augen kaum von ihr lösen könnte, wenn er erst einmal einen Blick riskiert hatte. Allerdings waren ihm direkt ihre trainierten Waden aufgefallen, an denen die Andeutung von Muskeln zu erkennen war. Als sie behauptet hatte, seit Jahren Taekwondo zu trainieren, hatte er es für einen Scherz gehalten, nun schien es gar nicht mehr so unwahrscheinlich.

Er überlegte noch, wie er darauf antworten sollte, als Ember ihm mit einem Schnauben zuvorkam. »Was fragst du ihn?«, gluckste sie. »Er ist ein Typ, denen kann doch kein Rock kurz genug sein.« Offenbar bemühte sie sich, einen Hauch Normalität aufrechtzuerhalten.

»Das stimmt doch gar nicht«, protestierte Joe, was beide Mädchen lachen ließ. Die Stimmung war dadurch direkt etwas lockerer. Allerdings nur für wenige Sekunden, denn dann bog das Taxi in die Straße ein. Joe bemerkte, wie Ember sich versteifte und den Wagen kritisch musterte, als könnte sie irgendeinen verdeckten Hinweis entdecken.

Julia hingegen hob ihren Arm und winkte dem Fahrer zu, der sogleich vor dem Hotel zum Stehen kam. Es war ein älterer Mann zwischen vierzig und sechzig, was vermutlich auf die meisten Taxifahrer zutraf. Also nichts Ungewöhnliches.

»Wir möchten bitte zum Funpark«, erklärte Julia ihm, als sie sich zu seinem Fenster hinunterbeugte.

»Alles klar«, meinte der Mann nur und bedeutete ihnen, einzusteigen.

Ember ließ sich auf dem Beifahrersitz nieder, vermutlich glaubte sie, dadurch die Situation besser unter Kontrolle zu haben, sodass Joe die Hintertür öffnete und Julia den Vortritt ließ. Als sie an ihm vorbeiging, schnappte er eine Note ihres Rosenparfums auf. Augenblicklich fühlten sich seine Beine wie Gummi an, sodass er froh war, neben ihr auf die Rückbank rutschen zu können.

Sobald alle Türen geschlossen waren, ging die Fahrt los. Das Radio war an und es spielte leise einen Song aus den Neunzigern – Ironic von Alanis Morissette. Es erinnerte Joe an Maggy, die das Lied auswendig konnte. Aber der Text passte auch seltsam zu seiner eigenen Situation, zumindest hatte er das bis gestern noch geglaubt. Er traf das schönste und interessanteste Mädchen, das ihm je begegnet war, aber zu einer völlig ungünstigen Zeit.

Nun saß sie neben ihm und er spürte ihren Blick auf sich. Als er sich zögernd zu ihr umdrehte, schenkte sie ihm ein sanftes Lächeln. Dabei sah sie so normal und gleichzeitig so schön aus, dass es ihm den Atem verschlug. Sie durfte einfach nicht die böse Königin sein, die ihr übles Spiel mit ihm trieb. Er konnte sich doch nicht derart in einem Menschen irren, oder?

»Du siehst gut aus«, stellte er fest. »Ich kam gerade gar nicht dazu, dir das zu sagen.«

Das Lächeln erreichte ihre blauen Augen und ließ sie erstrahlen. »Danke«, meinte sie mit rosigen Wangen, wobei sie ihren Blick an ihm auf und ab wandern ließ. »Ich würde das Kompliment gern zurückgeben, aber du siehst ehrlich gesagt nicht anders aus als gestern«, scherzte sie schelmisch. »Hast du überhaupt geduscht?«

In ihrer Stichelei lag ein liebevoller Unterton. So hatte es mit ihnen begonnen. Das war irgendwie ihr Ding und es hätte Joe wohl enttäuscht, wenn sie plötzlich damit aufgehört hätte.

»Du kannst gern mal an mir riechen«, konterte er, worüber Julia leise kicherte, aber nicht näher zu ihm rückte.

»Ich verzichte«, grinste sie nur.

Das Wummern der lauten Musik schallte bis auf den Parkplatz hinaus und vermischte sich dort mit dem Stimmengewirr der Besucher. Von dem Eingang führte eine Schlange an der kompletten Hausfront entlang. Große Plakate bewarben das ausverkaufte Event mit Phil Harmonic.

Joe, Ember und Julia verließen das Taxi und bahnten sich einen Weg vorbei an den anderen Autos. Die erste Hürde hatten sie gemeistert, denn sie waren tatsächlich bei der Diskothek angekommen und nicht in einem Schloss oder einem unterirdischen Verlies gelandet. Aber das bedeutete keinesfalls, dass Julia jene war, für die sie sich ausgab. Es könnte sein, dass sie ihre Tarnung weiter aufrechterhielt, um sich auch noch den Prinzen zu schnappen. Doch je mehr Zeit sie zusammen in der Realität verbrachten, umso schwerer fiel es Joe, sich vorzustellen, dass sie eine jahrhundertealte Hexe sein könnte.

An einem Abend wie diesem, umgeben von jungen Menschen, auf dem Parkplatz einer Großraumdisko und beschallt mit House-Musik, erschien es sogar geradezu unmöglich. Dies war ein Ort, an dem Märchen nicht mehr als die beschriebenen Seiten eines Buches waren. Eine erfundene Geschichte, die keinen Einfluss auf die Wirklichkeit hatte.

»Wie sollen wir an Philipp rankommen, wenn wir erst einmal drin sind?«, raunte Ember Joe leise zu und erinnerte ihn damit an ihren Auftrag. Im Gegensatz zu ihm ließ sie sich nicht ablenken, sondern war darauf fixiert, den Prinzen zu finden.

Als sie von dem Konzert erfahren hatten, war klar gewesen, dass sie irgendwie zumindest in seine Nähe mussten. Weiter hatten sie nicht gedacht. Obwohl sich Prinz Philipp – oder Phil Harmonic, wie er sich in dieser Welt nannte – vermutlich in diesem Augenblick nur ein paar Meter von ihnen entfernt aufhielt, war er dennoch unerreichbar.

»Vielleicht erkennt er dich, wenn er dich sieht«, meinte Joe ratlos. Es fühlte sich surreal an, dass ein international gefeierter DJ und er eine gemeinsame Vergangenheit in Engelland haben sollten. Auch wenn sie sich dort als Prinz und Hänsel vermutlich nie begegnet waren, da Hänsel jung gestorben war.

»Was, wenn er sich an nichts erinnern kann?« Ihr Tonfall klang unsicher, was gar nicht zu ihr passte. Nicht einmal, als Roman zudringlich geworden war, hatte sie zugelassen, dass sich ihre Angst auf ihre Stimme niederschlug.

Joe hätte ihr gern widersprochen, da er jedoch selbst nichts mehr von seiner Zeit in Engelland wusste, war ihre Befürchtung naheliegend. »Wenn es nach seinem Auftritt die Möglichkeit für Fotos oder Autogramme gibt, könnten wir versuchen, mit ihm zu reden«, schlug er vor, auch wenn ihm klar war, dass Phil ihnen kaum zuhören oder gar glauben würde, sollte er nicht wissen, wer Ember war.

Er sah sich nach Julia um, die sicher bestens informiert war, und entdeckte sie bei der Eingangstür, wo sie wild mit den Händen in ihre Richtung wedelte. Sie musste irgendwie die Türsteher überredet haben, sie früher einzulassen – sehr zum Ärger der anderen wartenden Besucher.

»Ich wäre schon fast ohne euch reingegangen«, schimpfte sie, als Ember und Joe sie erreichten und sie sich zu dritt einen Weg ins Innere bahnten.

Der Mann, der ihre Taschen kontrollierte, runzelte argwöhnisch die Stirn, als er in Joes Sporttasche den angebissenen goldenen Apfel und das große Buch entdeckte – die ›Grimm-Chroniken‹. Ember hatte ihm vorgeschlagen, es bei sich zu Hause zu lassen, doch ihm hatte der Gedanke, den wertvollsten Trumpf, den sie besaßen, unbeaufsichtigt zurückzulassen, nicht behagt. Erst recht nicht, seitdem er von ihrem Stiefbruder wusste, der sich in ihr Zimmer verirren könnte.

»Die Tasche gibst du aber an der Garderobe ab«, meinte der Mann skeptisch, was Joe mit einem Nicken bestätigte, auch wenn er nicht vorhatte, sich daran zu halten.

»Wie hast du es geschafft, dass wir vor allen anderen reindürfen?«, wollte Ember von Julia wissen, als sie sich weiter vorwärtsbewegten. Eine gewisse Anerkennung lag in ihrem Blick, der Julia ein zufriedenes Grinsen entlockte.

Sie fächerte sich mit den Eintrittskarten Luft zu. »Wir haben VIP-Tickets«, flötete sie. »Das bedeutet, wir dürfen vor allen anderen rein, haben Plätze in einer Lounge mit besserer Sicht und eigener Bar. Nach der Show dürfen wir sogar hinter die Bühne.« Sie schlüpfte aus ihrem Mantel und übergab diesen der Garderobiere. Der weiche Stoff ihres langärmeligen Samtkleides schmiegte sich wie eine zweite Haut an ihren schlanken Körper. Ihr Outfit würde es Joe nicht leichter machen, sich auf seine Aufgabe zu konzentrieren.

»Werden wir dann auch Phil persönlich treffen?«, wollte Ember von ihr wissen, als sie ebenfalls ihre Jacke abgab. Darunter trug sie ein schlichtes schwarzes Top.

Julia nickte gönnerhaft und hakte sich bei ihr unter, als wären sie Freundinnen. »Er ist total heiß, oder?«, raunte sie ihr verschwörerisch zu und warf einen Blick über die Schulter zu Joe, der missmutig den Mund verzog.

»Darum geht es mir gar nicht«, behauptete Ember, deren gerötete Wangen jedoch das Gegenteil sagten. »Ich finde seine Musik gut und würde ihn gern etwas dazu fragen.«

»Was denn?« Julia sah sie neugierig an.

»Na, wie er das so gemacht hat«, versuchte Ember, sich herauszureden.

»Warum? Machst du auch Musik?«

Die Art, wie Julia ihre Fragen stellte, hatte fast etwas von einem Verhör.

»Nein, es interessiert mich einfach«, erwiderte Ember und löste sich aus der aufgesetzten Umklammerung.

Die laute Musik ließ den Boden vibrieren und drang bis in Joes leeren Magen vor. Zuletzt hatte er am Morgen etwas mit Ember in einer Bäckerei gegessen. Danach waren sie zum Schloss Drachenburg hinaufgestiegen, wo sie allerdings keine schlafende Prinzessin vorgefunden hatten, nur jede Menge Touristen. Auch mit dem Aschemädchen an seiner Seite konnte Joe nicht komplett in das Königswinter zurückkehren, das ihn bei seinem letzten Besuch empfangen hatte. Sie waren in der Realität gefangen.

Julia dirigierte sie zu einem abgesperrten Bereich, der auf eine Art Empore führte. Dort gab es verschiedene Sitzecken, wovon sie eine für sich in Beschlag nahmen. Kaum dass sie saßen, machte Julia sich zur Bar auf und kam ein paar Minuten später mit drei Longdrinks zurück. Sie überreichte jedem von ihnen einen. »Auf eine besondere Nacht«, verkündete sie voller Vorfreude und hob ihr Getränk. Das Glas klirrte, als sie anstießen.

»Wie bist du denn an Alkohol gekommen?«, wunderte sich Ember, ohne davon zu trinken. Immerhin war Julia gerade einmal sechzehn, wenn sie nicht auch bei ihrem Alter gelogen hatte.

Joe hielt bei ihrer Frage inne, dabei hatte er das Glas bereits an seinen Mund geführt.

Julia beugte sich vertrauensvoll zu dem rothaarigen Mädchen vor. »Ich habe einen gefälschten Pass, der mich ein paar Jahre älter macht«, raunte sie kichernd.

Das schien Embers Misstrauen nur zu verstärken, denn sie machte keine Anstalten, etwas zu trinken. Sie fürchtete wohl, dass Julia ihnen etwas in die Gläser gemischt haben könnte.

Joe wusste nicht, was er tun sollte, und starrte auf das Colagemisch, als würde jeden Moment ein Goldfisch an der Oberfläche auftauchen. Sein Verhalten blieb nicht unbemerkt.

»Was ist los? Magst du keinen Wodka?«, erkundigte sich Julia überrascht und schaute nun auch zu Ember, die sich ebenso verweigerte.

Noch ehe sie sich eine Ausrede ausdenken konnten, schien Julia zu begreifen, was vor sich ging, und runzelte sowohl fassungslos als auch verärgert die Stirn.

»Ihr glaubt doch nicht etwa, dass ich euch etwas ins Getränk gemischt habe?«, rief sie empört aus. »Für wen oder was haltet ihr mich eigentlich? Müsste ich es nicht sein, die euch mit Skepsis begegnet? Immerhin wart ihr es, die in einen Wald zu einem unheimlichen Haus geschlichen seid!«

Joe überkam schlagartig ein schlechtes Gewissen. Julia hatte sicher ihre Geheimnisse, daran gab es keinen Zweifel, aber er war selbst nicht besser, eher schlimmer. Seine Geheimnisse könnten für sie zu einer echten Gefahr werden. Wenn sie ihnen ihre beiden Karten nicht überlassen hätte, wäre es ihnen wohl nicht möglich gewesen, heute auf Prinz Philipp zu treffen. Sie sollten ihr dankbar sein und stattdessen behandelten sie Julia wie eine Psychopathin, von der man nur das Schlimmste erwarten konnte.

Er hob beschwichtigend die Hände. »Es tut mir leid. Das ist eine dumme Angewohnheit und reine Vorsichtsmaßnahme …«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739463193
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Oktober)
Schlagworte
Rumpelstilzchen Dornröschen Rapunzel Aschenputtel Märchenadaption Wolf Märchen Mond Schneewittchen Fantasy düster dark Romance Urban Fantasy Episch High Fantasy

Autor

  • Maya Shepherd (Autor:in)

Maya Shepherd wurde 1988 in Stuttgart geboren. Zusammen mit Mann, Kindern und Hund lebt sie mittlerweile im Rheinland und träumt von einem eigenen Schreibzimmer mit Wänden voller Bücher. Seit 2014 lebt sie ihren ganz persönlichen Traum und widmet sich hauptberuflich dem Erfinden von fremden Welten und Charakteren.
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Titel: Das Mondmädchen