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Das Aschemädchen

von Maya Shepherd (Autor:in)
87 Seiten
Reihe: Die Grimm-Chroniken, Band 7

Zusammenfassung

Der Tod ist nicht das Ende, sondern ein Anfang. Die Geschichte wiederholt sich immer wieder. Das waren die letzten Worte ihrer sterbenden Mutter gewesen und Ember glaubte, sie nun verstehen zu können. Ihr jetziges Leben erlosch - es verschlang sie mit Haut und Haaren. Sie musste sterben, um an anderer Stelle aus ihrer Asche wiederauferstehen zu können.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Was zuvor geschah

1594

Mary und Dorian kämpfen sich mithilfe der Rapunzelpflanzen immer weiter den Baumstamm empor, welcher sich auf dem Rücken eines Wals befindet. Schließlich erreichen sie eine Tür, dahinter erwartet sie jedoch nur ein Turm mit unzähligen Stufen. Insgesamt sind sie sieben Tage unterwegs und sehen sich dabei gezwungen, fast alle Gegenstände zu benutzen, welche sich in dem Beutel befinden, den Jacob Grimm ihnen als Bezahlung für die Erdenmutter anvertraut hat.

Als sie das Ende des Turms erreichen, betreten sie ein verlassenes Zimmer, in dem schon lange niemand mehr zu leben scheint. Das einzige Zeichen dafür, dass irgendwann jemand hier gewesen sein muss, ist ein kaputter Stuhl.

Sie haben aus ihrem magischen Beutelchen nur noch ein Holzstück übrig. Dieses verwenden sie, um den Stuhl zu reparieren. Sobald dies geschehen ist, verwandelt sich der Raum vor ihren Augen in eine prächtige Stube. Darin befinden sich dreizehn Gemälde, die wie Fenster in fremde Welten erscheinen. Inmitten dieses Zaubers befindet sich die Erdenmutter. Sie weigert sich erst, den beiden zu helfen, da sie ihre Bezahlung aufgebraucht haben.

Außerdem weiht sie Mary in Dorians Geheimnis ein. Vlad Dracul ist nicht nur sein Vater, sondern auch ihrer. Sie sind Halbgeschwister. Eine Prophezeiung verkündet, dass sie ein Kind in die Welt setzen werden, welches entweder alle Vampire auslöschen oder der Untergang der Menschheit sein wird. Das ist der Grund, warum Dracula Mary töten will. Dorian schlägt vor, dass sie keine Kinder bekommen könnten, doch dafür ist es bereits zu spät, denn Mary ist nach ihrer ersten gemeinsamen Nacht schwanger.

Die Erdenmutter erklärt sich bereit, ihnen ihre Welt zu erschaffen, da sie selbst auch Mutter einer Tochter ist. Diese soll im Königreich von Mary und Dorian ein neues Zuhause finden.

Während die beiden in einen siebentägigen Schlaf fallen und von all dem träumen, was sie sich für ihre neue Heimat wünschen, malt die Erdenmutter Engelland aus Asche, Schnee und Blut.

2012

Sobald die Geschwister Maggy und Joe den Wald mit dem Lebkuchenhaus verlassen, betreten sie eine belebte Version von Königswinter. Das Städtchen ist keinesfalls verlassen: Menschen gehen zur Arbeit, Geschäfte bieten ihre Waren an und ganz besonders der Bahnhof ist am Morgen geradezu überfüllt.

An einem Ticketschalter kaufen sie ihre Fahrkarten zurück nach Berlin. Dabei erkundigt sich Maggy nach Schloss Drachenburg und erfährt, dass es täglich für Besucher geöffnet ist und niemand etwas von einem blutrünstigen Vampir weiß. Alles ist ganz normal. Wo immer sie in den letzten Tagen waren, es war kein Teil der realen Welt.

In Berlin führt sie ihr erster Weg direkt zu Ludwig beziehungsweise Jacob in die Psychiatrie. Dort finden sie heraus, dass dieser nach einem Anfall ins Koma gefallen ist. Er kann ihnen somit nicht helfen, Will zu retten.

Genauso wenig können sie nach Königswinter zurückkehren, da sie nicht in derselben Version wie ihr Freund landen würden. Zu dieser hat man nur mit einer Einladung der Königin Zutritt. Sie haben sich selbst aus der Geschichte ausgeschlossen, als sie entschieden, den Wald zu verlassen.

1812

Ember hilft Margery dabei, aus dem Schloss zu fliehen. Sie führt die Prinzessin durch den finsteren Wald, bis an die Dornenhecke, welche das gesamte Königreich umschließt. Engelland ist eine Insel und befindet sich seit seiner Entstehung im Krieg mit Margerys Großvater, der ihr nach dem Leben trachtet und deshalb versucht, einen Weg hinein zu finden.

Ihr Vater und viele tapfere Männer verteidigen täglich das Reich vor den Feinden. Umso mehr erstaunt es Margery, dass sie die Dornenhecke verlassen vorfindet. Es gibt dort keinerlei Anzeichen auf eine kürzliche Schlacht.

Ember erzählt ihr, dass die Dornenhecke Menschen mit einem reinen Herzen passieren lassen würde. Sie selbst führt ihr vor, wie die Dornen weichen, sobald sie sich ihnen nähert. Sie ermutigt Margery, es ebenfalls zu versuchen.

Erst sieht es so aus, als würde die Hecke auch der Prinzessin den Durchgang erlauben, doch plötzlich schlagen die Ranken nach ihr aus und sie verfängt sich in den Dornen. Ein Feuer bricht aus und ermöglicht es ihr, sich zu befreien.

Sie gelangt auf ein Mohnblumenfeld. Auch Ember hat es aus der Hecke geschafft, jedoch ist ihre Kleidung völlig verbrannt, während ihre Haut vollkommen unverletzt ist. Margery teilt ihre Kleider mit ihr, woraufhin die Magd ihr erzählt, dass das Feld von dem Blut der Mädchen rot gefärbt sei, die in dem Keller der Königin starben. Ihre Seelen müssten sieben Jahre durch die Mohnblumen tanzen, bevor ihnen ein neues Leben geschenkt werden würde.

Margery will wissen, woher Ember das alles weiß. Diese behauptet, dass sie es sich selbst nicht erklären könne. Es sei eine Art Eingebung.

Die Mädchen werden von den Jägern der Königin aufgespürt. Unter ihnen befindet sich auch Wilhelm, welcher sogar der Hauptmann ist. Er verhält sich Margery gegenüber wie ein Fremder, dabei waren sie als Kinder Freunde.

Zurück im Schloss, lässt die Königin ihre Tochter zu sich in den Keller bringen, wo sie gerade ein Blutbad nimmt. Sie erwähnt, dass Ember nicht wirklich an einer Freundschaft mit Margery interessiert sei, sondern sie nur benutzen würde, um durch sie Kontakt zu Prinz Philipp knüpfen zu können.

Margery glaubt ihrer Mutter jedoch nicht und deutet ihre Behauptung als den Versuch, einen Keil zwischen sie und ihre neue Freundin zu treiben.

Zwei Wochen später lässt die Königin die Prinzessin unerwartet zu sich in den Thronsaal führen. Dort befindet sie sich gerade im Liebesspiel mit einem fremden Mann. Sie zwingt ihre Tochter, im Raum zu bleiben, bis diese fertig sind. Danach offenbart sie ihr, dass der Krieg an der Dornenhecke vorbei sei und sie ihn verloren hätten. Den Mann stellt sie ihr als ihren Großvater Vlad Dracul vor.

Margery ahnt, dass das alles kein Zufall sein kann, und wirft ihrer Mutter vor, sie zu belügen. Sie vermutet, dass der Krieg schon länger vorüber ist und die Königin es bisher nur geheim hielt, um weiter die Angst der Menschen zu schüren. Außerdem will sie wissen, was mit ihrem Vater geschehen ist.

Ihre Mutter gibt zu, dass sie Dorian getötet hat, da er ihr im Weg stand. Dadurch löscht sie jedes Gefühl von Liebe bei Margery aus. Diese wird von Wilhelm zurück in ihr Zimmer im Nordturm geführt. Sie schwört sich, dass sie sich ihrer Mutter nicht kampflos ergeben wird. Sie wird gegen sie kämpfen und, sollte es ihr gelingen, sie auch töten.

Von Wilhelm erwartet sie kein Mitleid, da er sich ihr gegenüber seit Jahren abweisend verhält. Umso mehr überrascht es sie, als er ihretwegen weint. Wenn auch nur mit einem Auge. Sie betrachtet ihn näher und entdeckt in seinen Iriden Glassplitter. Einer davon hat sich durch die Tränen gelöst, sodass Margery ihn herausziehen kann. Es ist ein winziges Stück eines Spiegels.

Sie erinnert sich daran, dass die Veränderung ihrer Mutter begann, als der erste Spiegel nach Engelland kam. In dem Schlafzimmer der Königin befindet sich ein Exemplar, welches sogar sprechen kann. Es riet der Königin seit jeher zu bösen Dingen, unter anderem zum Bad im Blut junger Frauen. Margery vermutet in ihm den Ursprung allen Bösen.

Ein paar Tage später überredet Ember sie erneut zu einem Ausflug und führt sie in die nahegelegene Stadt Spiegeltal. Dort kauft sie bei einem Schmied Pottasche, bevor sie Margery in die Schenke führt. Sie vertraut der Prinzessin an, dass die Königin sie nicht töten wird, da diese sie für einen bestimmten Zweck braucht. Bevor sie sich weiter erklären kann, wird das Lokal von den Jägern gestürmt.

Sie treiben alle Bewohner der Stadt auf den Marktplatz und kontrollieren dort ihre Augen. Manche von ihnen lassen sie gefangen nehmen. Kurz bevor sie die beiden Mädchen erreichen, bricht ein grüner Nebel aus, der allen die Sicht raubt.

Margery wird von einem Unbekannten an der Hand gepackt und davon gezerrt. Als der Dunst sich wieder lichtet, steht sie vor Schloss Drachenburg und der Fremde entpuppt sich als Jacob Grimm. Er war lange Zeit verschwunden und ist nun zurückgekehrt, um ihr zu helfen. Sie muss ihm jedoch versprechen, niemandem von ihrer Begegnung zu erzählen.

Vermisst

Berlin, Kinderheim Elisabethstift, Oktober 2012

Ein endloser Freitag lag hinter Maggy und Joe, als sie in die Wohngemeinschaft zurückkehrten. Erst am Morgen hatten sie Königswinter verlassen und festgestellt, dass sie sich in einer Parallelwelt befunden hatten, die nun wie ein verrückter Traum auf sie wirkte.

Kaum dass sie zurück in Berlin gewesen waren, hatten sie die Charité aufgesucht, um Ludwig zu besuchen, der eigentlich Jacob Grimm war. Sie hatten sich von ihm Antworten erhofft, doch er konnte weder mit ihnen noch mit sonst jemandem reden, denn er lag im Koma.

Das Einzige, was die Geschwister noch wollten, war, in ihre eigenen Betten zu sinken, den Kopf in dem Kissen zu vergraben und sich die Decke über den Kopf zu ziehen, um wenigstens für ein paar Stunden ihrer aussichtslosen Situation entfliehen zu können.

Sie hatten Will an einem Ort zurückgelassen, den sie nicht mehr erreichen konnten. Ihr Freund war nun auf sich allein gestellt und es fühlte sich entsetzlich an, nichts für ihn tun zu können. Schwere Schuldgefühle plagten beide.

Es brannte Licht, als sie die Tür öffneten. Sogleich trat Hannah, eine ihrer beiden Mitbewohnerinnen, in den Flur und starrte sie aus großen staunenden Augen an.

»Ihr könnt euch auf etwas gefasst machen«, prophezeite sie ihnen kopfschüttelnd. »Nico und Lisa reißen euch den Kopf ab!«

Melanie, die ebenfalls hier wohnte, trat auch hinzu. »Wo wart ihr die ganze Zeit?«, fragte sie sowohl fürsorglich als auch verständnislos darüber, dass sie sich nicht einmal gemeldet hatten.

Maggy stieß ein erschöpftes Seufzen aus. Das Letzte, was sie gerade wollte, war, Fragen zu beantworten.

Joe zog sie tröstend an sich. Sie würden das zusammen durchstehen.

Erst auf ihre Reaktion und ihr Schweigen hin realisierten die beiden Mädchen, dass einer fehlte: Will. Ihre neugierigen Mienen verwandelten sich in ernste Besorgnis.

»Kommt doch erst einmal rein und setzt euch«, meinte Melanie. »Ihr seht ganz durchgefroren aus. Soll ich euch einen Tee oder Kaffee kochen?«

Hannah zog sich derweil zum Telefonieren zurück.

»Ein Tee wäre prima«, antwortete Joe, hauptsächlich damit ihre Mitbewohnerin etwas zu tun hatte und sie wenigstens eine kurze Zeit in Ruhe lassen würde. »Pfefferminze«, setzte er noch nach, ehe Melanie fragen konnte. Das war Maggys Lieblingstee.

Er half seiner Schwester aus dem Mantel, da ihr selbst dafür die Kraft zu fehlen schien. Ihre Schuhe streifte Maggy sich von den Füßen und ließ sie achtlos mitten im Gang liegen, was sie unter normalen Umständen niemals gemacht hätte. Auf Socken schlich sie in Richtung ihres Zimmers, dabei kam sie an der Küche vorbei. Vor nur einer Woche hatte dort Rumpelstein gesessen. Es war der Anfang eines Albtraums gewesen.

Sie ging weiter und hielt vor der geschlossenen Tür zu Wills Zimmer inne. Sie starrte auf das Holz und strich zärtlich über die Zarge. Dabei stiegen Tränen in ihren Augen auf und sie schniefte leise, ehe sie es schaffte, sich loszureißen, und weiter in ihr eigenes kleines Reich lief.

Joe folgte ihr mit ungutem Gefühl. Ihr Anblick bereitete ihm große Sorgen, da er sie noch nie so erlebt hatte. Maggy war sonst die Letzte, welche die Hoffnung verlor. Er konnte sie in diesem niedergeschlagenen Zustand nicht allein lassen, auch wenn es gerade nicht den Eindruck erweckte, als würde sie ihn wahrnehmen.

Beinahe apathisch ließ sie sich auf ihr Bett sinken und blickte aus dem Fenster. Es war bereits dunkel draußen, sodass sie kaum etwas erkennen konnte. Nur das Licht einer Straßenlaterne schien zu ihnen herein.

Joe schloss die Tür hinter sich und wollte sich gerade neben sie setzen, als Maggy erst konzentriert die Augen zu Schlitzen formte und dann murmelte: »Das gibt es doch nicht.« Sie hastete zum Fenster, löste die Verriegelung und riss es zornig auf. »Verschwindet«, brüllte sie wie von Sinnen und fuchtelte wild in Richtung eines Baumes.

Nun entdeckte auch Joe, was sie derart aus der Fassung gebracht hatte: In den Zweigen hockten große schwarze Vögel, die lauernd zu ihnen spähten – Raben. Doch Maggys Geschrei verscheuchte sie nicht. Stumm und starr blieben sie an Ort und Stelle und ließen die Geschwister nicht aus den Augen, als würden sie sich an ihrer Niederlage ergötzen.

Joe verstand den Zorn und die Verzweiflung seiner Schwester, aber sie musste sich jetzt zusammenreißen, bevor ihre Betreuer eintrafen und sie für übergeschnappt erklären würden.

»Komm da weg«, bat er sie erst sanft, doch als sie darauf nicht reagierte und weiter in die Nacht hinausschrie, legte er kurzerhand seinen Arm um ihre Taille und zog sie gegen ihren Willen zurück.

»Lass mich los«, fauchte sie und versuchte, sich zu befreien.

Joe war stärker und es gelang ihm, das Fenster zu schließen. Er ließ unter Maggys lautem Protest den Rollladen herunter und sperrte somit die Späher der Königin aus.

Als er sich wieder zu ihr herumdrehte, verpasste sie ihm eine Ohrfeige und funkelte ihn zornig an. »Das ist alles deine Schuld«, warf sie ihm vor. »Nur wegen dir habe ich Königswinter verlassen.«

Ihre Worte trafen ihn mitten ins Herz, denn er hatte sich insgeheim schon dieselben Vorwürfe gemacht, doch sie tapfer von sich geschoben und versucht, nicht an sich heranzulassen.

Er wusste, dass es nicht stimmte. Er konnte nichts dafür, dass es eine böse Königin gab, die Will benutzte, um die Vergessenen Sieben zu finden. Es war nicht seine Schuld, dass Will ein Märchenerzähler war, der in einen Krieg zwischen Licht und Dunkelheit verstrickt war. Maggy und er hatten mit all dem nichts zu tun.

Aber Will war ihr Freund und sie hatten ihn verlassen. Er hatte ihn verlassen.

Die Art, wie Maggy ihn bebend vor Wut ansah, verriet ihm, dass sie damit rechnete, dass er sich auf der Stelle umdrehen und aus dem Zimmer stürmen würde. Ein Teil von ihr wollte das vielleicht sogar.

Doch er kannte seine Schwester gut genug, um zu wissen, dass ein anderer Teil von ihr, der stärkere Teil, schon jetzt zutiefst bereute, derart die Kontrolle verloren zu haben, und nur zu stolz war, es zuzugeben. Maggy hatte noch nie jemanden geschlagen, das war nicht ihre Art. Dass sie es nun getan hatte, zeigte, wie verzweifelt sie war.

Er breitete seine Arme aus und zog seine Schwester an sich. Erst sträubte sie sich und versuchte, ihn von sich zu schieben, dann erstarb ihre Gegenwehr jedoch und sie ließ sich schluchzend an ihn sinken.

»Es tut mir leid«, entschuldigte sie sich schniefend. »Ich wollte das nicht.«

Er streichelte ihr liebevoll über das braune Haar und hielt sie so fest wie schon lange nicht mehr. »Ich weiß«, versicherte er ihr und nahm ihr den Ausbruch nicht übel, auch wenn seine Wange noch etwas brannte.

»Ich habe es nicht so gemeint«, beteuerte sie und sah mit verheulten Augen und laufender Nase zu ihm auf. »Du bist nicht schuld!«

Unglücklich lächelte er sie an und wusste zu schätzen, dass sie versuchte, sein schlechtes Gewissen zu besänftigen, aber sie hatte nur ausgesprochen, was ohnehin schon an ihm genagt hatte.

Was hätte Will an seiner Stelle getan? Wäre er mit Maggy geblieben, wenn der Fluch des Schlafenden Todes Joe getroffen hätte? Auch wenn er nichts für ihn hätte tun können? Oder hätte er Maggy ebenfalls in Sicherheit gebracht? Hätte Will gewusst, dass für Joe das Leben seiner Schwester über allem stand?

Etwa eine halbe Stunde später erreichten Lisa und Nico die Wohngemeinschaft. Sie kündigten ihre Anwesenheit mit einem ungeduldigen Klopfen gegen Maggys Zimmertür an, ehe sie diese auch schon aufrissen, ohne auf ein Herein zu warten.

Lisa hatte einen knallroten Kopf – ob vor Kälte oder Wut, ließ sich nicht sagen. »Was habt ihr euch nur dabei gedacht?«, platzte es ungehalten aus ihr heraus, während sie vor ihnen auf und ab tigerte. Sie hatte nicht einmal ihre Jacke oder ihre Schuhe ausgezogen. »Wisst ihr überhaupt, was für Sorgen wir uns gemacht haben? Wir haben die Polizei eingeschaltet!«

Nico stand mit verschränkten Armen vor der Zimmertür, als müsste er diese für den Fall absichern, dass die Geschwister versuchten, die Flucht zu ergreifen. Wie üblich übernahm er den ruhigeren Part.

Er und Lisa waren beide erst Anfang dreißig. Normalerweise war ihr Umgang freundschaftlich, sie waren mehr ältere Freunde als vom Jugendamt abgestellte Betreuer. Sie ließen ihren Schützlingen so viele Freiheiten, wie sie nur konnten, umso mehr musste ein derartiger Vertrauensbruch sie verletzt haben.

»Wo wart ihr? Wo ist Will?«, rief Lisa und stemmte die Hände in die Hüften. Sie verlangte nach einer Antwort.

Joe und Maggy schauten sie beide reumütig an.

»So war das nicht geplant«, setzte Maggy entschuldigend an. »Wir wollten uns melden, aber …«

»Hör auf damit!«, schnaubte Lisa wütend. »Ich will keine Ausreden hören, sondern die Wahrheit. Ganz besonders von dir, Maggy, bin ich maßlos enttäuscht. Ich habe dir vertraut und hätte nie gedacht, dass du so verantwortungslos sein könntest.«

»Hey«, ging Nico dazwischen. »Beruhige dich! Die beiden sind wieder da und wir müssen jetzt Ruhe bewahren. Wie wäre es, wenn wir ins Wohnzimmer gehen und dort weiterreden?«

Es war weder eine Bitte noch ein Vorschlag, sondern eine nett formulierte Aufforderung, der sie nun alle Folge leisteten.

Im Flur standen Hannah und Melanie, die beide versuchten, einen beschäftigten Eindruck zu erwecken, als die vier aus dem Zimmer traten, um ja nicht den Verdacht zu erregen, dass sie lauschten. Joe konnte es ihnen nicht verübeln. Er hätte es ganz genauso gemacht.

Maggy und er setzten sich auf die Couch, während Nico und Lisa auf den Sesseln zu beiden Seiten davon Platz nahmen. Sie befanden sich nun im Kreuzverhör.

Nico atmete noch einmal tief durch, wie er es immer tat, wenn wichtige Themen zur Besprechung anstanden. »So, und nun erzählt uns bitte, was vorgefallen ist.«

Unsicher blickten sich die Geschwister an. Sie hatten keine gemeinsame Geschichte abgemacht, die sie den Betreuern und der Polizei auftischen wollten. Die Wahrheit kam nicht infrage, so viel war klar.

»Es sind Herbstferien«, begann Joe schließlich. »Wir hatten eigentlich nicht vor, wegzufahren, doch dann hat mir ein Bekannter von dem Ferienhaus seiner Eltern in der Nähe von Köln erzählt. Er hat es mir kostenlos angeboten und wir wussten, dass ihr so einer spontanen Reise nicht zugestimmt hättet. Alles muss immer erst offiziell genehmigt werden und das hätte so schnell nicht geklappt. Deshalb sind wir einfach losgefahren und wollten euch anrufen, wenn wir da sind.«

Lisa war anzusehen, dass es ihr schwerfiel, den Mund zu halten und nicht aufgebracht dazwischenzufahren. Rote Stressflecken bedeckten ihren Hals, nachdem sie es geschafft hatte, sich ihre Jacke und den Schal auszuziehen.

»Während der Zugfahrt haben wir uns die Zeit mit unseren Handys vertrieben«, fuhr Joe fort. Es war erstaunlich, wie schnell er sich dieses Lügenkonstrukt aus den Fingern sog. »Als wir ankamen, hatten wir alle nur noch wenig Akku. Aber wir waren viel zu aufgeregt, um uns darüber Gedanken zu machen. Wir haben das Ferienhaus aufgesucht und erst am nächsten Morgen, als die Handys alle leer waren, festgestellt, dass niemand daran gedacht hat, ein Ladegerät einzupacken.«

»Wofür gibt es Telefonzellen?«, fuhr Lisa nun dazwischen, die sich nicht länger zurückhalten konnte. »Ihr hättet auch in einem Geschäft bitten können, zu telefonieren. Oder irgendjemanden nach seinem Handy fragen können! Jeder hat heutzutage so ein verdammtes Teil. Das ist doch eine lächerliche Ausrede!«

»Wir hatten Angst, jemanden anzusprechen, da wir uns schon dachten, dass ihr die Polizei einschalten würdet«, rechtfertigte sich nun auch Maggy. »Es tut uns wirklich leid. Wir haben es nicht böse gemeint und wollten nur auch einmal etwas erleben.«

Lisa schüttelte verständnislos den Kopf, während sich Nico unsicher durch die dunkelblonden Haare fuhr.

»In welchem Ort war denn dieses Ferienhaus?«, fragte er und versuchte, seine Stimme beiläufig klingen zu lassen, was ihm jedoch nicht gelang.

»Königswinter«, erwiderten die Geschwister gleichzeitig. Zumindest in diesem Punkt brauchten sie nun nicht zu lügen.

»Und wie heißt dein Bekannter?«, fragte er weiter, woraufhin er jedoch nur betretenes Schweigen erntete.

»Seine Eltern wissen nicht, dass wir dort waren«, gab Joe schließlich zu. »Ich will ihn nicht in die Sache reinziehen. Er war schließlich nicht einmal dabei.«

Nico rollte mit den Augen, nickte dann aber, da er wusste, dass Joe ihm nicht mehr dazu verraten würde. »Wer war denn dabei? Ihr zwei und wer noch?«

»Will«, antwortete Maggy. »Nur wir drei.«

»Und wo ist Will jetzt?« Nico sah sie durchdringend an.

Auch Lisa beugte sich gespannt vor. Beide Betreuer waren besorgt. Sie hatten allen Grund dazu.

»Er wollte nicht zurück«, sagte Joe leise. Es klang schuldbewusst.

»Ist er noch in dem Ferienhaus?«, hakte Lisa aufgeregt nach, woraufhin Joe und Maggy den Kopf schüttelten.

»Nein, er ist weitergezogen«, meinte Joe. »Er wusste, dass ihr dort als Erstes nach ihm suchen würdet.«

»Was ist mit seinem Handy?«, wollte Nico wissen. »Hat er sich vielleicht ein Ladekabel gekauft? Können wir ihn anrufen?«

Wenn es doch nur so einfach wäre, dachte Maggy traurig. Sie schüttelte den Kopf. »Bisher nicht.«

»Aber ihr müsst doch irgendwie in Kontakt stehen«, rief Lisa aus. »Ihr seid befreundet!«

Nun konnte Maggy ihre Tränen nicht länger zurückhalten und begann zu weinen. »Wir machen uns doch auch Sorgen um ihn«, schniefte sie. »Wir wollten ihn nicht zurücklassen.«

Auch wenn sie jetzt die Wahrheit sagte, machte sie durch ihre Reaktion ihre Lügengeschichte nur umso glaubhafter.

Gegen Tränen war Lisa machtlos und ihre Wut schwand dahin. Fürsorglich erhob sie sich von ihrem Sessel und setzte sich neben Maggy auf die Couch. Tröstend legte sie ihr einen Arm um die bebenden Schultern und reichte ihr ein Taschentuch.

»Maggy, die Polizei wird ihn finden«, versuchte sie ihren Schützling zu beruhigen. »Ganz bestimmt!«

So wie sie uns gefunden hat, lag es Joe auf der Zunge, doch er verkniff sich den bissigen Kommentar. Stattdessen machte er eine betretene Miene und nickte nur einsichtig, als Nico meinte, dass er nun die Polizei anrufen würde.


Der Preis des Lebens

Engelland, Februar – April 1796

Nach sieben Tagen erwachten wir an der Küste jener Welt, welche die Erdenmutter für uns erschaffen hatte. Schwarzer Kies klebte an meiner Haut und in meinem Haar. Ein kalter Wind jagte über uns hinweg und peitschte das Meer auf. Wellen griffen nach meinen Beinen und wollten mich zurück in ihr Reich zerren. Keuchend stemmte ich mich auf meine Ellbogen und hob den Kopf, um zu sehen, wo wir gelandet waren.

Steile mit Gras bewachsene Klippen schlossen den Strand ein. Der Himmel war wolkengrau und ließ ein nahendes Gewitter erahnen. Es herrschte ein raues Klima, welches ich von zu Hause nicht gewohnt war. Seit meiner Geburt waren die Winter mild gewesen und die Sommer hielten lange an. Dennoch empfand ich bei dem Anblick unseres neuen Zuhauses eine unglaubliche Erleichterung und eine Woge der Zuneigung.

Es war der Ort, an dem wir neu anfangen konnten. Es würde die Heimat unseres Kindes werden.

Der bloße Gedanke daran ließ mich lächeln und ich fuhr über meinen flachen Bauch, der sich schon bald zu wölben beginnen würde. Ich konnte es kaum erwarten.

Dorian rappelte sich neben mir auf und klopfte sich den Sand von den Kleidern, ehe er mir seine Hand reichte. Ich blickte zu ihm auf und schaute in sein wunderschönes Gesicht, welches ich mehr als jedes andere liebte.

Aber meine Bewunderung war zum ersten Mal getrübt und mit Schmerz versetzt. Er hatte mich belogen und mich absichtlich in Unwissenheit gelassen. Wir waren Halbgeschwister und unsere Beziehung somit frevelhaft. Unser Kind war eine Sünde, auch wenn ich nicht bereuen konnte, sie begangen zu haben. In dieser neuen Welt würde niemand wissen, wer wir zuvor gewesen waren, aber ich könnte es nicht vergessen.

Immer wenn ich Dorian nun betrachten würde, käme ich nicht umhin, mich zu fragen, ob wir äußerliche Gemeinsamkeiten teilten, die unsere Verwandtschaft zur Schau stellten.

Es gab kein Zurück mehr. Wir hatten uns für ein gemeinsames Leben entschieden und nun würden wir das Beste daraus machen.

Ich legte meine Hand in seine und ließ mich von ihm hochziehen. Zärtlich strich er mir die feuchten Haarsträhnen aus dem Gesicht.

»Willkommen in unserer Welt«, sagte er liebevoll. »Ich bin gespannt darauf, ihre Wunder zu erkunden.«

»Unser neues Zuhause sollte einen Namen haben«, erwiderte ich und schenkte ihm ein Lächeln, in der Hoffnung, dass mit der Zeit meine negativen Gefühle für ihn schwinden würden.

»Du bist die Königin, wähle weise«, meinte er ermutigend. Ein verschmitztes Grinsen bildete sich auf seinen einladenden Lippen.

Ich entschied mich für einen Namen, der all dem Bösen, das versuchen würde, uns hier zu finden, zum Trotz stand. Unser Königreich sollte ein Ort sein, an dem die Menschen Frieden, Sicherheit und Geborgenheit fanden. Ein Platz, an dem Kinder sorglos aufwachsen konnten.

»Diese Insel soll Engelland heißen. Hier zu leben, soll sich anfühlen, als würden Engel über einen wachen.«

Dorian lächelte mich herzerwärmend an, legte seine Hände um meine Wangen und küsste mich aus einem Impuls heraus, den er nicht unterdrücken konnte oder wollte – genauso wenig, wie ich versuchte, ihn daran zu hindern.

Wir liebten uns. Immer noch. Für immer.

Der Glassarg des Bruders von Jacob Grimm war, soweit ich es erkennen konnte, ebenfalls unversehrt ans Ufer gespült worden. Selbst die Plane hatte den Wellen standgehalten und war immer noch um den Sarg gewickelt.

Dorian schulterte ihn und Hand in Hand gingen wir den Strand entlang, bis wir schließlich einen schmalen Pfad fanden, der uns durch die Klippen zu den Dünen emporschleuste. Zwischen dem schwarzen Kiessand wuchs grünes Gras, welches schon bald in einen dichten Wald aus Tannen- und Laubbäumen überging.

Auf den Zweigen saßen Vögel, die allerdings in ihrem Gesang verstummten, als wir an ihnen vorübergingen. Eichhörnchen huschten zwischen den Stämmen entlang und aus einiger Entfernung konnten wir sogar ein scheues Reh mit seinem Jungen erkennen. Sie alle beäugten uns misstrauisch wie Eindringlinge, dabei war diese Welt nur für uns erschaffen worden und sie waren ein Teil von ihr.

Nachdem wir einige Zeit ziellos durch das Gehölz gelaufen waren, kamen wir zu einer großen Weide. Schafe grasten darauf, die niemandem zu gehören schienen. Träge hoben die Tiere bei unserem Anblick die Köpfe und blökten verhalten. Hinter ihnen erstreckte sich jedoch ein Hügel, auf dem sich ein eindrucksvolles Schloss befand. Sobald Dorian es erblickte, weiteten sich seine Augen vor Staunen.

»Da ist es«, murmelte er, als hätte er nicht daran geglaubt, dass es wirklich möglich sein würde. »Das ist unser Heim – Schloss Drachenburg. Von dort werden wir über Engelland regieren.«

Es sah schön und friedlich aus. Nichts davon erinnerte mich an den kalten und dunklen Ort, an dem ich einst gefangen gehalten worden war und beinahe gestorben wäre. Ich verband keine schlechte Erfahrung damit, denn letztendlich war Dorian sich dort über seine Liebe für mich bewusst geworden.

Er umfasste meine Hand etwas fester und beschleunigte seine Schritte, als könne er es kaum erwarten, nach Hause zurückzukehren. Es war das Schloss seiner Kindheit und nun würde es dies auch für unser gemeinsames Kind werden.

An die Schafswiese schloss sich ein herrlicher Apfelgarten an. Der Duft der Früchte umhüllte mich und beschwor die Erinnerung an meine lieben Eltern herauf. Ich hoffte, dass, wo immer sie nun waren, sie spürten, dass es mir gut ging, und sie ihr kurzweiliges menschliches Leben nicht damit vergeudeten, sich um mich zu sorgen. Ich hatte ihnen das Herz gebrochen, indem ich verschwunden war, ohne mich zu verabschieden. Die übereilte Flucht hatte ihrem Schutz dienen sollen.

Dorian bemerkte den feuchten Glanz meiner Augen und pflückte mir einen der blutroten Äpfel, um mich damit zu trösten. Die Schale glänzte, ganz so, wie ich sie in Erinnerung hatte.

Beherzt nahm ich einen ersten Biss und schloss genießerisch die Augen, als sich der süße Geschmack mit einer leicht sauren Note in meinem Mund ausbreitete. Sie waren perfekt bis ins kleinste Detail. Selbst das Fruchtfleisch war rot. Durch die Blutäpfel würde ich wenigstens etwas von meiner Heimat nun auch in Engelland bei mir haben. Zudem war der Garten so gewaltig, dass niemand aus unserem Reich jemals würde hungern müssen.

Direkt hinter den Apfelbäumen befand sich ein wunderschöner Park, der bis zum Schloss reichte. Rosenbüsche zierten den Weg und trugen selbst zu dieser kalten Jahreszeit weiße und rote Blüten.

Sobald wir den Eingang erreichten, sprang Dorian beschwingt die Treppenstufen empor und hielt mir die unverschlossene Tür auf. In seinen Augen lag ein kindlicher Glanz der Vorfreude, wovon ich mich anstecken ließ. Gut gelaunt schlenderten wir durch die Flure der Burg mit ihren meterhohen Decken.

Unsere Schritte hallten von den Wänden wider, ebenso unser Lachen. Sämtliche Räume waren möbliert und die Schränke bestückt, egal ob mit Porzellan, Büchern oder Kleidern. Es würde uns an nichts fehlen.

Der Westflügel endete in einem Raum, der zu allen Seiten von deckenhohen Fenstern umschlossen war. Buntes Glas tauchte alles in ein malerisches Licht. Es wäre ein schöner Ort gewesen, um seinen Nachmittagstee zu sich zu nehmen und dabei die Aussicht zu genießen. Doch wir hatten ein ganzes Schloss für uns, sodass ich diesen friedlichen Platz einem anderen überlassen wollte.

»Du kannst den Sarg mit dem Jungen jetzt abnehmen«, sagte ich zu Dorian, der zwar überrascht die Augenbrauen hob, aber sogleich meiner Aufforderung nachkam.

Er setzte das von der Plane verhüllte Paket vor mir ab. Gemeinsam schoben wir es direkt vor die Fensterfront, sodass es in einem bunten Lichtermeer badete.

Dies sollte der Ort sein, an dem Wilhelm Grimm etwas mehr als sieben Jahre schlafen würde, bis unser eigenes Kind in seinem Alter wäre. Sie sollten wie Geschwister miteinander aufwachsen.

Es war eine lange Zeit, die ich brauchte, um ein geeignetes Herz für ihn zu finden. Dieses eine Versprechen an Jacob würde ich halten, selbst wenn wir uns niemals wiedersahen.

Dorian befreite den Glassarg aus der Plane, als ich den Raum verließ. Ich würde den Jungen immer nur aus der Ferne betrachten können, aber die Hauptsache war, dass er überleben würde.

Den höchsten Punkt des Gebäudes bildete der Nordturm, welcher etwas abseits des Hauptgebäudes lag. Die Treppenstufen, welche hinaufführten, bereiteten uns jedoch kaum Mühe, nachdem wir sieben Tage damit verbracht hatten, den Turm der Erdenmutter zu erklimmen.

Oben erwartete uns ein kleines Zimmer, dessen Fenster in alle Himmelsrichtungen wiesen. Von dort konnten wir beinahe die gesamte Insel überblicken.

Sieben Berge befanden sich darauf, die mich an das Siebengebirge erinnerten. Wald bedeckte die meiste Fläche. Vögel flatterten aus den Baumkronen empor. Es war ein fruchtbares Land, das sich gut als Boden für die verschiedensten Pflanzen eignen würde und beinahe eine Garantie für eine ertragreiche Ernte bot. Unserem Königreich fehlte nur noch eins: Menschen, die es belebten.

Wir waren auf unserem Weg niemandem begegnet und hatten auch keine Anzeichen für eine Ortschaft vorgefunden. Lange würde es jedoch sicher nicht mehr dauern, bis die ersten Bewohner Engelland erreichten, immerhin hatte die Erdenmutter unsere Welt nur erschaffen, damit sie all jenen, die auf der Flucht vor dem Schicksal waren, ein Zuhause bot. Ihre eigene Tochter würde hier unter uns leben.

Dorian legte mir seinen Arm um die Schultern und zog mich dicht an sich. Er vergrub sein Gesicht in meinem Haar, sodass sein Atem über meine Haut kitzelte. »Lass uns zu Bett gehen«, raunte er verführerisch, was mir ein Kichern entlockte.

Er wirkte so unbeschwert, wie ich ihn nie zuvor erlebt hatte, und war dadurch nur noch unwiderstehlicher. Uns war ein Tag des Glücks geschenkt worden und wir sollten ihn in vollen Zügen genießen, solange er währte.

Als er mich hochhob und auf seinen starken Armen die Treppenstufen hinabtrug, protestierte ich nicht, sondern schmiegte mich verliebt an ihn. Für diesen Moment gab es nur ihn und mich. Wir waren genug.

Schon am nächsten Morgen hatten ein paar Menschen den Weg zu uns gefunden. Sie strandeten an der Küste, genau wie Dorian und ich am Tag zuvor. Mit ihrer Ankunft tauchten plötzlich Häuser an Orten auf, wo zuvor nur Wald gewesen war. So ging es jeden Tag, bis sich die ersten kleinen Städte und Dörfer gebildet hatten.

Mein erster Weg führte mich nach jeder Nacht an den Strand, wo ich versuchte, den Neuankömmlingen zu helfen. Ich empfing sie mit dampfendem Apfeltee und unterstützte sie dabei, ihren Platz in der neuen Welt zu finden. Mir lagen diese Menschen am Herzen – jeder von ihnen. Sie waren wie ich und suchten nach einem Ort, an dem sie neu anfangen konnten.

Während ich mich unter sie mischte, in der Hoffnung, endlich irgendwo dazuzugehören, hielt Dorian sich eher im Hintergrund. Zwar kam auch er, um zu helfen, aber er empfing niemanden mit offenen Armen, sondern betrachtete sie voller Argwohn und Misstrauen, als vermute er in jedem von ihnen einen Feind.

Er machte ihnen deutlich, dass wir es waren, die über dieses Königreich herrschen würden. Wir würden die Befehle erteilen, die sie zu befolgen hatten. Dadurch schuf er von Anfang an eine Distanz, die es mir erschwerte, diese zu durchbrechen, egal wie sehr ich mich bemühte.

Dazu kam, dass er auch in einer neuen Welt seine Natur nicht ablegen konnte. Er brauchte Menschenblut, wenn auch nicht oft.

Ich bot mich ihm immer wieder an, aber er weigerte sich standhaft, von mir zu trinken. Stattdessen schlich er sich mitten in der Nacht, wenn alle schliefen, aus dem Schloss und suchte diejenigen auf, die allein den Weg in unser Reich angetreten hatten. Er nahm nur so viel von ihnen, wie er brauchte, und ließ sie vergessen, was sie erlebt hatten.

Dennoch blieben die Male an ihren Hälsen als Beweis für seinen nächtlichen Übergriff. Gerede wurde laut und Gerüchte verbreiteten sich. Die Angst hielt Einzug in Engelland, dabei hatten wir sie so weit wie möglich von unserem Reich verbannen wollen.

Es waren bereits einige Wochen vergangen, als eine schwangere Frau den Weg auf die Insel fand. Ihr Bauch war im Gegensatz zu meinem bereits kugelrund und die Geburt stand bald bevor. Sie hieß Marie Hassenpflug.

Ich fühlte mich ihr vom ersten Augenblick an verbunden. Sie kam nicht allein, sondern in Begleitung ihres Mannes Georg und eines kleinen Sohnes namens Johannes, der erst ein paar Monate alt war.

Die kleine Familie bezog nicht weit entfernt vom Schloss eine Hütte im Wald. Tagsüber machte sich Georg als Holzfäller nützlich, sodass Marie oft allein mit dem Jungen war. Wir besuchten einander gegenseitig und halfen uns mit dem Haushalt. Zusammen backten wir Apfelkuchen und lachten über Belanglosigkeiten. Ihre Gesellschaft erfüllte mir einen lang ersehnten Herzenswunsch: Sie wurde zu meiner ersten Freundin.

Obwohl ich ihr vertraute, vermied ich es, ihr von meiner Vergangenheit zu erzählen. Die wenigsten sprachen in Engelland darüber. Jeder ertrug seine Schrecken verschlossen in seinem Herzen. Sie wusste nichts von der Prophezeiung und auch nicht, was Dorian war. Nicht einmal von meiner Schwangerschaft hatte ich ihr erzählt. Das war jedoch auch nicht nötig gewesen, denn sie war von allein darauf gekommen.

Als wir an einem Nachmittag zusammen vor einem prasselnden Feuer in ihrer Hütte saßen und Äpfel schälten, fragte sie mich auf einmal: »Wie wirst du sie nennen?«

»Was meinst du?«, entgegnete ich ihr verständnislos.

»Na, deine Tochter«, erwiderte sie wie selbstverständlich. »Hast du dir noch keinen Namen für sie überlegt?«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739445564
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Mai)
Schlagworte
Grimm Rumpelstilzchen Sterntaler Aschenputtel Märchenadaption Märchen Schneewittchen Cinderella Romantasy Fantasy düster dark Urban Fantasy Romance Episch High Fantasy

Autor

  • Maya Shepherd (Autor:in)

Maya Shepherd wurde 1988 in Stuttgart geboren. Zusammen mit Mann, Tochter und Hund lebt sie mittlerweile im Rheinland und träumt von einem eigenen Schreibzimmer mit Wänden voller Bücher. Seit 2014 lebt sie ihren ganz persönlichen Traum und widmet sich hauptberuflich dem Erfinden von fremden Welten und Charakteren.
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Titel: Das Aschemädchen