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Blutrote Schwestern

von Maya Shepherd (Autor:in)
110 Seiten
Reihe: Die Grimm-Chroniken, Band 21

Zusammenfassung

Die Zeit des Drachens war vorbei. Er bekam, was er verdiente, nachdem Mary und Dorian seinetwegen in die Ferne fliehen mussten. Aber nicht einmal dort waren sie vor ihm sicher. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten weder Margery noch Rosalie je das Licht der Welt erblickt. Seinetwegen mussten die Schwestern getrennt voneinander aufwachsen. Sie waren geboren worden, um einander zu hassen und gegenseitig im Krieg der Farben zu töten. Weiß gegen Schwarz. Gut gegen Böse. „Warum sollte ich dich nicht auf der Stelle umbringen?“, wollte Margery von ihrer Schwester wissen. „Du bist nicht wie ich“, erwiderte Rosalie mit einem traurigen Lächeln.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Was zuvor geschah

Samstag, 27. Oktober 2012

9.00 Uhr

Simonja, Ember, Maggy, Will und Joe kehren mit dem Körper von Arian in die Villa am Rheinufer zurück. Die Stimmung ist niedergeschlagen, da sie Rosalie in der Schlosskommende zurücklassen mussten, nachdem diese sich geopfert hatte, um ihnen zur Flucht zu verhelfen. In dem alten Gebäude wird die Gruppe bereits von Jacob, Dorian und Margery erwartet, die ihnen schwere Vorwürfe wegen ihres riskanten Verhaltens machen.

Es kommt zum Streit zwischen den Verbündeten und ihre Differenzen erscheinen kaum noch überwindbar. Zudem gefährdet Rosalies Gefangennahme ihre Pläne für die Nacht des Spiegelballs, sodass sie gezwungen sind, diese zu überdenken.

Zur selben Zeit trifft Rosalie in der Schlosskommende auf die böse Königin. Diese will von ihr wissen, welche Geheimnisse sie den Vergessenen Sieben und ihren Freunden entlocken konnte. Es kommt heraus, dass Rosalie sich nie von Elisabeth abgewandt hat, sondern für sie spioniert hat. Nun verrät sie ihr alles, was sie herausgefunden hat, aber verlangt dafür von Elisabeth, sich an eine gemeinsame Vereinbarung zu halten.

11.00 Uhr

Eva erwacht in einem Zimmer der Schlosskommende. Dorthin hat ein Polizist sie gebracht, nachdem ihr die Flucht aus dem unterirdischen Bunker, in dem sie von Rumpelstein gefangen gehalten wurde, gelungen ist. Sie erhält Besuch von einer Frau, die sich ihr als Elisabeth vorstellt und ihr Fragen zu ihrer Entführung stellt.

Eva wähnt sich in Sicherheit und erkennt erst, dass sie sich nun in noch viel größerer Gefahr befindet, als Elisabeth sie in ihren Folterkeller führt und ihr dort ein Stück ihres Herzens entnimmt.

15.00 Uhr

Maggy und Will verabreichen Joe heimlich einen Schlaftrank, der ihn davon abhalten soll, auf dem Spiegelball zu erscheinen. Sie wollen ihn dadurch schützen, da sie befürchten, dass er ein zu großes Risiko eingehen würde, um Rosalie zu retten.

16.00 Uhr

An einem ihr unbekannten Ort kommt Eva wieder zu sich. Als Elisabeth sie erneut aufsucht und von ihr verlangt, sich an ein Spinnrad zu setzen, kommt Eva dem aus Furcht nach. Obwohl sie nichts mehr davon weiß, je zuvor an einem Spinnrad gesessen zu haben, geht ihr die Arbeit leicht von der Hand. Um zu verhindern, dass Eva sich jemals an ihre Vergangenheit in Engelland erinnert, lässt die böse Königin sie erblinden.

21.00 Uhr

Ember und Maggy haben sich auf den Spiegelball geschlichen. Dort erfahren sie, warum Elisabeth bereits in Engelland nach Scherben in den Augen der Menschen suchte: Sie will daraus einen zweiten schwarzen Spiegel erschaffen, der es ihr ermöglichen würde, über die ganze Welt zu herrschen.

Einige Splitter hat sie bereits gefunden, sodass sie den Anwesenden einen zerbrochenen Spiegel präsentieren kann. Elisabeth ist es gelungen, die ehemaligen Bürger Engellands in Königswinter ausfindig zu machen, und sie hat sie zum Spiegelball geladen. Nacheinander fordert sie diese auf, durch den Spiegel zu treten, woraufhin sie ins Nirgendwo verschwinden. Ihre Splitter bleiben allerdings zurück, sodass die gläserne Oberfläche sich immer weiter zusammensetzt.

An Elisabeths Seite befinden sich Rosalie, die sie den Gästen als ihre Erbin vorstellt, und Prinz Philipp.

Während Maggy in der Gestalt einer Spinne den Ballsaal verlässt, um ihren Verbündeten unbemerkt Zutritt zum Anwesen zu gewähren, ist Ember fest entschlossen, Kontakt zu Philipp aufzunehmen, um ihm zur Flucht zu verhelfen.

22.00 Uhr

Dorian mischt sich unbemerkt unter die Gäste des Spiegelballs und nimmt Kontakt zu Rosalie auf, um sie vermeintlich vor der bösen Königin zu retten. Es gelingt ihm, mit ihr den Ballsaal zu verlassen und in den Apfelgarten zu fliehen. Dort richtet Rosalie allerdings ihre Waffe gegen ihn und offenbart ihm, dass sie gemeinsam mit Elisabeth plant, Margery zu töten. Sie hat die ›Grimm-Chroniken‹ nie gelesen, da sie glaubt, die Wahrheit bereits zu kennen.

Obwohl Dorian von ihrem Geständnis schockiert ist, gibt er sie nicht auf und versucht, sie von seiner Aufrichtigkeit zu überzeugen.

Als Rosalie ihm verrät, dass sie Margerys Versteck an die böse Königin verraten hat und sich gerade Jäger auf dem Weg dorthin befinden, um Margery gefangen zu nehmen, erzählt Dorian ihr, dass sich auch Joe dort befindet. Rosalie weiß, dass die Jäger ihn nicht verschonen würden, deshalb willigt sie ein, mit Dorian zur alten Villa aufzubrechen, um sowohl Margery als auch Joe vor den Feinden zu retten.

Zur selben Zeit begegnen sich Philipp und Ember auf dem Spiegelball. Ember ist überzeugt davon, dass Philipp sie nicht erkennen kann, da Maggy ihr mit Magie ein anderes Äußeres verliehen hat. Doch Philipp vermag, den Zauber zu durchschauen. Gemeinsam beschließen sie, den Spiegelball zu verlassen, um seine Eltern aus dem Verlies zu befreien.

22.30 Uhr

Simonja betritt verkleidet als Margery den Spiegelball. Durch ihre Kostümierung gelingt es ihr, die Aufmerksamkeit der bösen Königin zu wecken und diese aus dem Ballsaal bis in den zweiten Stock zum Spiegelzimmer zu locken. Dort wird Elisabeth bereits von Vlad Dracul, seinen Vampiren sowie Maggy und Jacob erwartet. Die Gruppe stößt sie in einen magischen Salzkreis, der verhindert, dass die böse Königin sich ihrer Blutmagie bemächtigen kann. Durch ein Ritual soll Elisabeths Geist aus Marys Körper vertrieben werden. Auch Mary ist durch den schwarzen Spiegel anwesend und kann dem Geschehen folgen.

Zuerst sieht es so aus, als könnte der Plan erfolgreich sein. Doch dann verrät Elisabeth Vlad, dass sich Philipps Eltern in ihrer Gewalt befinden. Diese sind der Grund dafür, weshalb Vlad überhaupt zum Vampir wurde. Er jagt sie seit Jahrhunderten, um Rache an ihnen zu üben. Jetzt, wo sein Ziel zum Greifen nah ist, kann er es sich nicht entgehen lassen und verhilft deshalb Elisabeth zur Flucht. Jacob, Maggy und Simonja ist es nur möglich, den Vampiren zu entkommen, weil Jacob mit seiner Pfeife einen grünen Nebel hervorruft.

Ember und Philipp ist es gelungen, den Spiegelball zu verlassen. Bevor sie sich auf den Weg ins Verlies machen, nutzt Ember die Chance, um Philipp ihre Liebe zu gestehen. Dieser erwidert ihre Gefühle und die beiden küssen sich. Als sie jedoch die Zelle erreichen, in der seine Eltern von der bösen Königin gefangen gehalten wurden, finden sie diese verlassen vor. Sie ahnen Schlimmes, was ihnen außerhalb der Schlosskommende bestätigt wird, als sie dort auf Simonja treffen. Vlad Dracul hat Philipps Eltern in seiner Gewalt.

23.00 Uhr

Margery leidet immer mehr unter dem Verlust ihrer Gefühle. Verzweifelt vertraut sie sich Will an, in der Hoffnung, dass ihre Liebe für ihn stark genug ist. Doch auch ein Kuss vermag nichts in ihr zu bewegen.

Kurze Zeit später wird die Villa, in der sie sich verstecken, von den Jägern der bösen Königin gestürmt. Margery fordert Will auf, mit ihr zu fliehen, doch dieser weigert sich, da er den schlafenden Joe und den bewusstlosen Arian nicht zurücklassen will.

Um ihr eigenes Leben zu retten, ergreift Margery allein die Flucht und lässt Will im Stich.

23.45 Uhr

Will wird im Kampf gegen die Jäger lebensbedrohlich verletzt. Erst zu Mitternacht, als Arians Geist erscheint, gelingt es ihnen gemeinsam, die Feinde zu überwältigen.

Aus Furcht, dass noch mehr Feinde die Villa aufsuchen könnten, fliehen sie mit dem schlafenden Joe in den Wald, woraufhin Arian loszieht, um Hilfe zu holen. Wills Verletzung ist so stark, dass er das Bewusstsein verliert. Als er später wieder zu sich kommt, ist eine ihm unbekannte Frau bei ihm, die ihn verarztet. Sie ist ein Geist und gibt sich als Wills leibliche Mutter zu erkennen. Durch ihr Medaillon, welches er bei sich trägt, war es ihr möglich, ihn zu finden. Es ist ihre unsterbliche Mutterliebe, die dem Schmuckstück seine Magie verleiht.

Sonntag, 28. Oktober 2012

0.00 Uhr

Maggy und Jacob kehren in den Ballsaal zurück und müssen feststellen, dass nur noch wenige Gäste übrig sind, die noch nicht den Spiegel passiert haben. Um die Pläne der bösen Königin zu vereiteln, legt Maggy einen Zauber über die letzten Anwesenden. Dieser wird jedoch von Baba Zima gebrochen, die als Geist von den Toten zurückkehrt, um Rache an Maggy zu üben.

Die beiden Hexen liefern sich ein magisches Duell, bis Elisabeth hinzustößt und ihre Blutmagie ebenfalls gegen Maggy richtet. Diese unterliegt im Kampf und droht ihr Herz an Elisabeth zu verlieren. Doch Baba Zima ist nicht die einzige Tote, die den Spiegelball aufsucht. Die Geister der Mädchen, welche die böse Königin in ihrem Keller ausbluten ließ, treffen unter der Führung des Teufels ein und stürzen sich auf Elisabeth.

Dennoch schreiten weiterhin Gäste durch den Spiegel. Jacob ahnt, dass es nur eine Möglichkeit gibt, um zu verhindern, dass die Oberfläche vervollständigt wird. Er befreit Elisabeth aus den Fängen ihrer Opfer und stößt diese in den Spiegel. Dabei hält sie sich allerdings an ihm fest und reißt ihn mit in das schwarze Glas.

0.15 Uhr

Dorian und Rosalie treffen bei der alten Villa ein, um Margery und Joe vor den Jägern der bösen Königin zu retten. Doch sie finden in dem Gebäude nur noch die Leichen der Feinde vor. Als Rosalie zur Schlosskommende zurückkehren will, überwältigt Dorian seine Tochter und schlägt sie bewusstlos.

0.45 Uhr

Simonja, Ember und Philipp befinden sich auf dem Weg zu Schloss Drachenburg, um Philipps Eltern aus der Gewalt von Vlad Dracul zu befreien. Plötzlich werden sie im Finsterwald von den Geistern der Toten aufgesucht, deren Seelen Simonja ins Jenseits befördert hat. Diese sind auf Rache aus und greifen die Gruppe an. Nachdem es der Gruppe nicht gelingt, sie abzuhängen, beschließt Simonja, allein weiterzugehen, und lockt die Geister von ihren Freunden fort.

Instinktiv flieht sie zum Friedhof, wo die Toten sie einholen und zu überwältigen drohen. Unerwartet erhält sie Hilfe von ihrer Mutter Nisha, die sich Seite an Seite mit ihr den Geistern im Kampf entgegenstellt.

1.30 Uhr

Auch Lavenas Weg führt sie auf den Friedhof, um dort im See des versunkenen Mondes ihre letzte Ruhe zu finden. Sie ist bereit, von dieser Welt Abschied zu nehmen, da das Tor zur Unterwelt sich nur durch ihren Tod verschließen lässt.

Ihr Vorhaben wird jedoch von Arian unterbrochen, der ahnt, was sie vorhat, und sie davon abbringen will. Aber es ist Lavena, die es schafft, ihn davon zu überzeugen, dass sein Leben auch ohne sie lebenswert sein kann. Dazu trägt auch bei, dass sie vom Ufer aus beobachten können, wie Simonja und ihre Mutter sich gegen die Geister zur Wehr setzen müssen. Nicht nur ihr Leben, sondern das aller Menschen schwebt in Gefahr, solange die Unterwelt geöffnet bleibt.

Mit gebrochenem Herzen entscheidet Arian sich für das Leben, während Lavena den Tod wählt und auf dem Grund des Sees ihre Augen für immer schließt.

2.00 Uhr

Ember und Philipp erreichen Schloss Drachenburg und werden dort von den Vampiren in Empfang genommen. Vlad Dracul erwartet sie bereits im Thronsaal, wo er auch Philipps Eltern gefangen hält. Er verlangt von den ehemaligen Herrschern Hamelns, zuzugeben, was sie ihm angetan haben. Diese haben jedoch keine Erinnerung an ihre Vergangenheit und sind ihm deshalb ahnungslos ausgeliefert.

Vlad offenbart Philipp, dass er als Mensch zu seinem Vater, dem König, kam und dieser ihm für seine Hilfe einen Unterschlupf im Winter versprach. Er hielt sein Wort nicht und verdammte Vlad zu einem grausamen Tod durch Erfrieren. In seiner Not wurde Vlad vom Teufel aufgesucht, der ihn zum ersten Vampir machte. Seitdem jagt Vlad die von Hamelns von einer Welt in die andere, um sich an ihnen zu rächen.

Philipp ist zwar schockiert über die einstige Herzlosigkeit seiner Eltern, aber möchte diese dennoch retten. Er bietet sein eigenes Leben im Tausch für das seiner Eltern. Vlad Dracul weist sein Angebot zurück und schlägt den Eltern stattdessen die Köpfe ab. Damit nicht genug, lässt er ihre Körper auch noch pfählen, um Philipp mit dem Anblick zu quälen.

3.30 Uhr

Margery betritt den Thronsaal von Schloss Drachenburg und verhindert dadurch den Tod von Ember und Philipp. Es entsetzt sie, zu sehen, wie Vlad Dracul die Leichen von Philipps Eltern zugerichtet hat. Sie lässt sich davon jedoch nichts anmerken, sondern spielt ihrem Großvater vor, dass sie bereit ist, im Krieg der Farben an seiner Seite zu kämpfen.

Vlad glaubt ihr und heißt sie in seiner Familie willkommen. Es trifft ihn vollkommen unerwartet, als sie ihre spitzen Zähne in seinen Hals schlägt und ihm die Kehle herausreißt. Margery zeigt keine Gnade und lässt ihn verbluten, bis sein Körper sich in Asche auflöst.

Die anwesenden Vampire erkennen sie durch ihre Tat und ihr Erbrecht als rechtmäßige Thronfolgerin an und ernennen sie zu ihrer Königin.

Sonntag,

28. Oktober 2012

Noch drei Tage


Unbeantwortete Fragen

Sonntag, 28. Oktober 2012

4.00 Uhr

Königswinter, Finsterwald, Friedhof des versunkenen Mondes

Eingeschlagene Fensterscheiben, zerbrochene Möbel, Porzellanscherben und ein komplett abgebrannter Dachstuhl – mehr war von Simonjas ehemaligem Zuhause in dieser Welt nicht übrig geblieben. Zwischen all dem Chaos saß sie auf der Couch mit den hervorquellenden Polstern und fühlte sich genauso zerstört wie ihre Umgebung.

Nachdem die Geister der Toten sich plötzlich in Luft aufgelöst hatten, war das Totengräberhaus der nächstgelegene Zufluchtsort gewesen.

Simonjas Mutter Nisha stieg über die Trümmer ihrer Existenz und suchte nach Verbandsmaterial, ohne sich auch nur einen Hauch Bestürzung anmerken zu lassen. Ein Außenstehender wäre niemals auf die Idee gekommen, dass dies einmal ihr Zuhause gewesen war. Der Ort, an dem sie ihre Tochter hatte aufwachsen sehen und Simonja ihre ersten wackligen Schritte von einem Grabstein zum nächsten gemacht hatte. Hier hatten sie sich Gruselgeschichten wie andere Leute Witze erzählt, vor Lachen geweint und sich manchmal so heftig gestritten, dass die Toten in ihrer Ruhe gestört wurden.

Für Nisha schien das alles nicht von Bedeutung, sondern Teil eines anderen Lebens zu sein. Aber auch Simonja trauerte nicht um die Vergangenheit, sondern um die Gegenwart. Natürlich war sie froh, mit dem Leben davongekommen zu sein, aber sie wusste auch, dass es nur eine Erklärung dafür geben konnte, dass die Geister noch vor Sonnenaufgang verschwunden waren: Die Tore der Unterwelt mussten wieder verschlossen worden sein.

Was hieß das für Arian? Hatte er sich für das Leben oder für die Ewigkeit mit Lavena entschieden?

Wenn Simonja tief in sich hineinhörte, kannte sie die Antwort. Sie wusste, dass er ohne Lavena nicht leben konnte. Dennoch hoffte sie etwas anderes. Aus purem Egoismus war sie bereit, ihn leiden zu sehen, solange er dann noch bei ihr wäre. Hatte sie ihn nun für immer verloren? Er hatte ihr doch in der Schlosskommende versprochen, dass sie sich wiedersehen würden! Ein Versprechen war bindend und musste gehalten werden.

Ihre Gedanken waren töricht, aber nur so konnte sie sich davon abhalten, zusammenzubrechen. Wenn sie Gewissheit haben wollte, musste sie zu der alten Villa am Rheinufer aufbrechen, um zu überprüfen, ob sich Arians Körper noch dort befand. Sollte er sich für die Ewigkeit entschieden haben, würde sie nur noch einen Leichnam vorfinden, in dem kein Herz mehr schlug. Dann wäre es endgültig. Dann müsste sie ihn gehen lassen und akzeptieren, dass ihre Liebe nicht ausgereicht hatte. Es war in gewisser Weise nicht nur eine Entscheidung zwischen Leben und Tod, sondern auch zwischen Lavena und ihr.

Sie verfluchte dieses Gefühl, über das andere Lieder sangen, Gedichte reimten oder ganze Bücher schrieben. Liebe tat weh und machte verletzlich. Sie raubte einem die Luft zum Atmen und zog einem den Boden unter den Füßen weg. Nichts war rosarot in ihrer Gegenwart, sondern alles nur umso schwerer. Es war nicht fair, dass man einen Menschen lieben konnte, dieser aber einen anderen liebte. Wer hatte sich diesen Mist ausgedacht? Derselbe Sadist, der einem erst das Leben schenkte, nur um es einem dann viel zu früh wieder zu rauben?

Na, gefällt dir dein Leben? Bist du glücklich? Tja, jetzt ist es vorbei!

Ein höhnisches Lachen hallte durch Simonjas Kopf und sie presste sich die Hände auf die Ohren, ehe sie sich das Haar raufte, welches sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte. Das war genug! Sie würde noch wahnsinnig, wenn sie hier länger tatenlos herumsaß.

Wütend stemmte sie sich von der Couch hoch, als ein scharfes Stechen in ihrem Schienbein sie daran erinnerte, dass sie verletzt war. Geplagt von ihren Sorgen und ihrer Trauer erschien ihr der körperliche Schmerz nebensächlich. Der Schnitt an ihrem Bein hatte aufgehört, zu bluten, und irgendwie würde sie es damit schon zu der Villa schaffen. Sobald sie Gewissheit hatte, könnte sie sich immer noch ausruhen. Vermutlich würde sie dann sogar nie wieder aufstehen wollen.

Ihre Mutter sah das jedoch etwas anders.

»Simonja!«, rief Nisha tadelnd, als sie ihre Tochter vor der Couch stehend erwischte. Unter ihrem linken Arm klemmte ein Verbandskasten. »Kann man dich keine fünf Minuten aus den Augen lassen?«

»Ich muss …«, setzte Simonja an, doch ihre Mutter ließ sie gar nicht ausreden, sondern drückte sie an der verletzten Schulter wieder auf das Polster. Simonja jaulte auf vor Schmerz, was ihre Mutter ebenfalls ignorierte. Es war sogar möglich, dass sie ihr absichtlich wehgetan hatte, nur um sie spüren zu lassen, weshalb es keine gute Idee war, in ihrem Zustand irgendwohin gehen zu wollen.

»Das Einzige, was du musst, ist, auf deine Mutter zu hören«, setzte sie auch noch stichelnd hinterher, als sie neben ihr Platz nahm und den Verbandskasten öffnete.

Nisha war verdammt stur, ungefähr genauso stur wie ihre Tochter. Simonja hatte nicht nur ihr Äußeres, sondern auch viele Charakterzüge von ihr geerbt. Das machte das Streiten mit ihr umso anstrengender, weil es war, wie eine Diskussion mit sich selbst zu führen – sie konnte nur verlieren.

Es musste für Nisha schwer gewesen sein, die Bestimmung des Todes an ihre Tochter abzugeben. Es war einer dieser Punkte, bei denen das Schicksal ihr keine Wahl gelassen hatte. Sonst hätte Simonja vermutlich nie einen Fuß vor die Tür setzen dürfen und Nisha würde immer noch einem ominösen Beruf nachgehen, bei dem man mit Kuchen und Wein das Haus verließ und blutverschmiert zurückkam.

»Wo bist du in den letzten Tagen gewesen?«, fuhr Simonja ihre Mutter aufgebracht an, während diese das Desinfektionsmittel hervorholte und es rücksichtslos über das verletzte Bein ihrer Tochter schüttete, die ihre Zähne zusammenbeißen musste, um nicht vor Schmerz zu schreien.

Nisha hatte noch nie viel davon gehalten, Simonjas Fragen zu beantworten. Sie hielt es für besser, ihre Tochter so wenig wie möglich wissen zu lassen. Meist tat sie so, als hätte sie gar nichts gehört, stellte eine Gegenfrage oder verbot Simonja schlicht, das Thema noch einmal anzusprechen.

Aber Simonja war nicht in der Verfassung, sich abwimmeln zu lassen. »Was für eine Fortbildung soll das gewesen sein? Eine für Sensenmörder oder der Kurs für Fortgeschrittene, wie man Blutflecken am besten aus der Kleidung bekommt? Warum bist du überhaupt früher zurückgekommen?«

Auch wenn es so klang, fand Simonja nichts daran witzig. Sie neigte nur dazu, in den Sarkasmus zu verfallen, wenn sie besonders zornig war.

Nisha stieß ein gedehntes Seufzen aus, als gäbe es für sie nichts Anstrengenderes, als sich den lästigen Fragen ihrer Tochter stellen zu müssen. »Ohne mich wärst du jetzt tot.«

Das stimmte zwar, beantwortete aber keine von Simonjas Fragen. »Du erinnerst dich offenbar an Engelland«, stellte sie fest und ihr Blick streifte die Sense, die griffbereit auf dem Boden vor der Couch lag. »Hast du das schon die ganze Zeit?«

Simonjas eigene Erinnerung war erst zurückgekehrt, als plötzlich Arian, Ember, Philipp, Will und Margery auf dem Friedhof aufgetaucht waren, um Lavena aus dem See zu befreien. Aber es würde ihrer Mutter ähnlichsehen, ihr die Vergangenheit zu verheimlichen.

»Spielt das eine Rolle?«, konterte Nisha und umwickelte Simonjas Bein mit einem Verband, vielleicht etwas fester als nötig.

Simonja liebte ihre Mutter, aber zugleich konnte niemand sie so sehr aufregen. Seit jeher gab es eine Frage, die sie drängender als alle anderen plagte. Das war jene nach ihrem Vater. Bis heute wusste sie nicht, wer er war. Wenn sie sich mit ihrer Mutter streiten wollte, brauchte sie ihn nur zu erwähnen. Blieb sie besonders hartnäckig, erhielt sie manchmal sogar eine Antwort, allerdings keine, die ihr weiterhalf. Es waren alles Lügen. Mal war er tot, ein anderes Mal abgehauen. Erst kannte Nisha seinen Namen nicht, dann hatte sie ihn vergessen oder durfte ihn nicht preisgeben.

Ihr Vater musste ein Unsichtbarer ohne Persönlichkeit sein, denn Simonja hatte angeblich keinerlei Ähnlichkeit mit ihm. Nicht einmal die Frage, ob Nisha ihn je geliebt hatte, wollte sie ihrer Tochter beantworten.

In ihrer Neugier und Verzweiflung war Simonja nicht davor zurückgeschreckt, ihre Großmutter Baba Zima nach ihrem Erzeuger zu fragen. Aber diese wusste ebenso wenig, sonst hätte sie spätestens vor ihrem Tod alles ausgeplaudert, allein um Simonja zu quälen oder Nisha eins auszuwischen.

Simonja holte tief Luft, um ihrer Mutter eine Schimpftirade darüber zu halten, wie leid sie deren Ausflüchte und Geheimnisse war, als es auf einmal an der Tür klopfte.

Nisha erstarrte in ihrer Bewegung und blickte ihre Tochter erschrocken an.

Wer konnte das um diese frühe Uhrzeit sein? Wer würde vor allem bei einem halb abgebrannten Haus davon ausgehen, dass dort noch jemand wohnte, und den Anstand wahren, seinen Besuch durch ein Klopfen anzukündigen?

»Du bleibst hier«, zischte Nisha mit erhobenem Zeigefinger, ehe sie sich die Sense vom Boden griff und damit aus dem Wohnzimmer in Richtung Flur verschwand.

Angespannt lauschte Simonja in die Stille. Sie hörte das Knarren der Haustür und leises Stimmengewirr, ohne auch nur ein Wort verstehen zu können. Aber zumindest schien es keinen Kampf zu geben. Was immer dort besprochen wurde, dauerte auch nicht lange, denn bereits wenige Sekunden später erklangen Schritte auf dem Parkett und Nisha kam mit gesenkter Waffe zurück.

»Du hast Besuch«, meinte sie so beiläufig, als wäre das völlig normal.

Simonja runzelte die Stirn, doch als sie sah, wer hinter ihrer Mutter in die Stube trat, vergaß sie, zu atmen, und die Zeit schien stillzustehen.

Arians große Gestalt schob sich durch den Türrahmen und er schenkte ihr ein schiefes Lächeln angesichts ihres Schocks. Prüfend ließ sie ihren Blick über ihn gleiten, aber es gab keine durchscheinende Stelle an ihm, kein verräterisches Flimmern und keinen bläulichen Glanz. Er war ganz und gar vollkommen real, aus Fleisch, Blut und Knochen. Jede Faser seines Körpers war von Leben erfüllt. Seine Brust hob und senkte sich. Er atmete. Sein Herz schlug.

Ein Keuchen entwich ihrer Kehle und Tränen ergossen sich ohne jede Vorwarnung über ihre Wangen. Sie konnte ihn sehen, aber konnte dennoch nicht glauben, dass er wirklich da war.

Erst als er sich ihr gegenübersetzte und ihre Hände in seine nahm, die mit ihrer rauen Haut und aufgrund der Größe immer noch entfernt an Pranken erinnerten, erlaubte sie sich, den Gedanken zuzulassen, dass er gegen jede Wahrscheinlichkeit zu ihr zurückgekehrt war. Er hatte sich für das Leben entschieden. Er hatte sich für sie entschieden.

Sie löste ihre Finger aus seinen und legte sie ihm auf die Wangen. Tastend fuhr sie über die Stoppeln seines Bartes und bemerkte die dunklen Schatten in seinem Gesicht, die verquollenen Lider und die roten Augen, welche von vergossenen Tränen zeugten. Sie hatte die Wölfe schon oft heulen gehört, aber noch nie einen Mann seiner Stärke weinen gesehen. Das erzwungene Lächeln konnte seinen Schmerz nicht verbergen. Arian ging aufrecht, aber sein Innerstes war gebrochen. Simonja hatte ihn zurück, aber ein Teil von ihm war mit Lavena gestorben – unwiederbringlich.

Wie konnte sie so unglaublich glücklich sein, ihn zu sehen, während er von Leid zerrissen war? Sie schämte sich für die pulsierende Freude, die ihren ganzen Körper erfüllte, ihre Haut kribbeln und ihr Herz rasen ließ.

Es gab keine Worte, um die Dankbarkeit auszudrücken, die sie empfand, die kein Hohn für seine Trauer gewesen wären. Ihre Lippen blieben verschlossen, aber ihre Augen sprachen Bände. Er sah alles in ihnen, was er ohnehin schon wusste, und zog sie in eine Umarmung.

Vielleicht würde es in seinem Leben immer wieder Momente geben, in denen er seine Entscheidung bereute, aber dies war kein solcher Moment. Seine Versprechen an Lavena und Simonja waren die Gründe, weshalb er geblieben war – bessere Gründe konnte es nicht geben.

Zwiegespalten

Sonntag, 28. Oktober 2012

5.00 Uhr

Königswinter, Finsterwald

Ein Tag, der mit dröhnenden Kopfschmerzen beginnt, kann nur mies enden, dachte Joe, als er sich stöhnend eine Hand auf die Stirn presste. Zudem war ihm eiskalt, weshalb er sich auf die Seite rollte und seine Beine etwas enger an seinen Körper zog. Als dabei Laub unter ihm raschelte, wurde er misstrauisch und blinzelte verwirrt. Sein Blick fiel auf die Wurzeln eines Baumes, der sich nur wenige Zentimeter von ihm entfernt in den Himmel erhob. Alles, was sich dahinter erstreckte, war in dichten Nebel gehüllt. Es musste früher Morgen sein und die Dämmerung hatte gerade erst begonnen.

Was mache ich im Wald?, fragte er sich mit einem unguten Gefühl. Er war noch etwas benommen, sodass die Erinnerung an den vergangenen Abend ihn erst beim Aufsetzen traf, als er Will neben sich auf dem Boden vorfand. Seine Kopfschmerzen wurden von einer rasenden Wut verdrängt, die wie eine Welle durch seinen Körper jagte.

Sie haben mich verraten. Sie haben mich verraten! SIE HABEN MICH VERRATEN!

Für einen Moment konnte er an nichts anderes denken und er war über die Tat seiner Schwester und seines besten Freundes noch genauso fassungslos und entsetzt wie in dem Augenblick der Erkenntnis. Ausgerechnet die beiden Personen, denen er am meisten auf der Welt vertraute, hatten ihn hintergangen. Das hätte er ihnen niemals zugetraut. NIEMALS!

Scheinbar kannte er sie nicht gut genug, obwohl er sein ganzes Leben mit ihnen verbracht hatte. Oder sie hatten sich verändert, so wie beinahe alles und jeder in den letzten Tagen. Dieses verdammte Engelland! Dieses verdammte Königswinter! Dieser verdammte Krieg der Farben, der alles auf den Kopf stellte, noch bevor er überhaupt begonnen hatte.

Nie wieder würde er ein Märchenbuch auch nur ansehen. In Zukunft – sollte er eine Zukunft haben – würde er einen weiten Bogen um Geschichten jeglicher Art machen. Bücher konnten ihm gestohlen bleiben! Er hatte genug Irrsinn für mindestens zehn Leben erlebt, da brauchte er nicht auch noch die Fantastereien von anderen.

Die Nacht war vorübergegangen, ohne dass er wusste, was geschehen war. Hatte Rosalie fliehen können? Oder war sie womöglich … Er schüttelte bestimmt den Kopf. Nein, daran durfte er nicht einmal denken! Sie war stark. Stärker als jeder andere! Sie hatte es geschafft, unter Vlad Dracul aufzuwachsen, dann konnte eine weitere Nacht in der Gewalt der bösen Königin sie nicht umbringen.

Seine Schwester stellte ein viel größeres Risiko dar. Seitdem sie ihre Magie entdeckt hatte, fühlte sie sich verpflichtet, ständig ihren Hals zu riskieren, und überschätzte sich dabei völlig. Er hätte ebenfalls Grund genug gehabt, sie zu ihrer eigenen Sicherheit auszuschalten. Aber im Gegensatz zu ihr wäre ihm nie in den Sinn gekommen, sie mit einem Schlaftrank zu vergiften! Wie hatte sie ihm das nur antun können? Wo war sie jetzt überhaupt? Warum lagen Will und er im Wald anstatt in der alten Villa? Irgendetwas musste geschehen sein.

Eigentlich war es Joe zuwider, mit jemandem zu sprechen, der ihn derart hintergangen hatte. Am liebsten wäre er aufgestanden und einfach weggegangen, aber Will war gerade der Einzige, der ihm Antworten geben konnte.

Unsanft holte er mit seinem Fuß aus und trat Will gegen das Schienbein. »Hey, wach auf!«, schnauzte er ihn wütend an. Er hatte damit gerechnet, dass dieser erschrocken zusammenzucken und aus dem Schlaf hochfahren würde, doch er rührte sich nicht.

Das kam Joe eigenartig vor. Er runzelte die Stirn und tippte ihn erneut mit dem Fuß an, dieses Mal aber weniger hart. »HEY«, rief er wieder.

Als erneut keine Regung von Will kam, krabbelte er auf allen vieren zu ihm und rüttelte ihn an den Schultern. Erst dabei bemerkte er die blutverschmierten Stoffbahnen, die unter seiner Jacke hervorschauten. Er war verletzt, aber irgendjemand musste ihn in der Nacht bereits verarztet haben. Doch wo war dieser Jemand nun?

Besorgt legte Joe Will eine Hand an die Stirn, die sich trotz der Kälte heiß anfühlte. Will ging es gar nicht gut und mit dieser Erkenntnis verflog Joes Ärger. Wie konnte er wütend auf jemanden sein, der ihn nicht einmal ansehen, geschweige denn sich verteidigen konnte?

Es musste einen Kampf in der alten Villa gegeben haben, bei dem er sich die Verletzung zugezogen hatte. Trotzdem hatte er Joe nicht dort zurückgelassen, sondern mit ihm im Wald Schutz gesucht. Das entschuldigte zwar nicht seinen vorherigen Verrat, aber bewies Joe zumindest, dass er sich immer noch auf ihn verlassen konnte, wenn es darauf ankam.

»Was soll ich jetzt nur machen?«, flüsterte er Will ratlos zu, ohne eine Antwort von ihm zu erwarten.

Sein Freund brauchte dringend Hilfe, aber Joe wusste nicht, wo er hingehen sollte oder an wen er sich wenden konnte. Vielleicht war niemand von den anderen mehr übrig. Vielleicht hatte die böse Königin bereits gewonnen.

Nicht weit von ihm entfernt erklang plötzlich ein Rascheln. Alarmiert starrte Joe in die Richtung, aus der es gekommen war, doch er konnte durch den grauen Nebel nichts erkennen.

Als sich das Geräusch wiederholte und dabei noch näher zu sein schien, stand er auf, griff nach der Armbrust, die neben Will am Boden lag, und spannte einen Bolzen ein. Er hielt die Waffe vor sich und zielte schussbereit in den dichten Dunst. Sobald er auch nur die Umrisse eines Feindes erahnen konnte, würde er nicht zögern.

Angespannt lauschte er in die morgendliche Stille. Da waren Schritte im Unterholz und die beschleunigte Atmung einer einzelnen Person, die direkt auf ihn zukam. Wer auch immer es war, schien nicht damit zu rechnen, jemandem zu begegnen. Vielleicht war es gar kein Feind, sondern ein Freund? Ein Fremder würde auch schon genügen – irgendwer, der Will helfen konnte.

Aus den grauen Nebelschleiern trat eine einsame Gestalt hervor. Noch bevor Joe ihr Gesicht sehen konnte, wusste er, wer sie war. Er erkannte sie an ihrer Gangart, die ihm vertrauter als jede andere war. Er hätte erleichtert sein sollen, sie lebend wiederzusehen, aber stattdessen schloss er die Finger fester um das Holz der Armbrust, die er noch nicht bereit war, sinken zu lassen.

In ihren Händen hielt sie das aufgeschlagene Hexenbuch, welches Joe mehr denn je verdammte. Gewiss standen darin auch die Zutaten für den Schlaftrank, mit dem sie ihn vergiftet hatte. Dieses blöde Buch machte sie zu einem anderen Menschen! Zu jemandem, von dem er nicht wusste, ob er ihn in seiner Nähe haben wollte.

Maggy schaute von den vergilbten Seiten auf wie von einer Karte und ihr Blick begegnete dem von Joe. Es schien sie nicht zu überraschen, ihn hier anzutreffen, sondern es wirkte eher, als ob sie ihn bereits erwartet hätte. Kurz hellte sich ihr Gesicht auf und sie machte einen weiteren Schritt in seine Richtung, bis sie die Waffe in seinen Händen bemerkte. Erst da wurde ihr wieder bewusst, was sie ihm angetan hatte, und Schuld legte sich über ihre Gesichtszüge.

»Wie hast du mich gefunden?«, war alles, was er wissen wollte.

Vielleicht war sie es sogar gewesen, die Will in der Nacht den Verband angelegt hatte. Er wusste es nicht. Genauso wenig, wie er irgendetwas aus den vergangenen Stunden wusste. Das war ihre Schuld! Sie hatte ihn seines freien Willens beraubt.

Zwar sehnte ein Teil von ihm sich dennoch danach, sie vor Erleichterung darüber, dass sie am Leben war, in die Arme zu schließen, aber sein Zorn war stärker. Im Gegensatz zu Will lag sie nicht bewusstlos und verletzt am Boden, sondern musste sich seiner Wut stellen.

Obwohl sie mit seiner Reaktion gerechnet haben musste, zeigte sich Enttäuschung in ihrer Miene und sie hob beschwichtigend die Hände. »Durch unsere Adern fließt dasselbe Blut, Joe. Ich würde dich überall finden.«

»Magie«, entfuhr es ihm abfällig.

Natürlich hatte sie ihn nicht einfach gesucht, wie normale Menschen das taten, sondern ihr kleines Buch voller Gemeinheiten zurate gezogen. Konnte sie überhaupt noch einen Fuß vor den anderen setzen, ohne dabei irgendeinen Zauber zu wirken? Sie war sechzehn Jahre lang gut ohne einen Funken Magie ausgekommen, warum glaubte sie nun, diese so dringend zu brauchen? Natürlich war sie nützlich im Kampf gegen eine böse Königin, aber war Maggy sich auch des Preises bewusst, den sie dafür zahlen musste? Schockierte es sie nicht selbst, wie leichtfertig sie mittlerweile mit ihren Kräften umging? Sie richtete diese nicht nur gegen ihre Feinde, sondern auch gegen ihn – ihren eigenen Bruder.

Sie zuckte mit den Schultern, als wäre das für sie keine große Sache, sondern lediglich das, was sie hatte tun müssen, um ihn zu finden. Das Ziel war erreicht und alles andere unbedeutend.

Ihr Blick glitt an ihm vorbei und sie entdeckte Will hinter ihm am Boden liegend. Trotz der auf sie gerichteten Waffe zögerte sie nicht, zu Will zu gehen und sich neben ihm im taufeuchten Laub niederzulassen. »Was ist mit ihm?«, fragte sie bestürzt, während ihre Hände von seinem Gesicht zu seiner Brust glitten.

Joe ließ die Armbrust sinken, denn er würde sie ohnehin nicht gegen seine Schwester zum Einsatz bringen. »Das weiß ich nicht«, entgegnete er ihr demonstrativ. »Wenn mich ein gewisser Jemand nicht betäubt hätte, könnte ich es dir vielleicht sagen. Aber wie es aussieht, lief in dieser Nacht wohl einiges nicht so, wie ihr es euch ausgemalt habt. Will ist verletzt und ich kann von Glück sagen, dass ich nicht tot neben ihm liege.«

»Das ist nicht der richtige Zeitpunkt für Vorwürfe«, zischte sie leise zurück und begann, in ihrer Umhängetasche nach irgendwelchen Kräutern zu wühlen.

Wie konnte sie es wagen, ihn auch noch zurechtzuweisen? Glaubte sie etwa, dass sie ihm so etwas antun konnte, ohne dass es irgendwelche Folgen hatte? Er ballte seine Hände zu Fäusten, weil er fürchtete, sonst dem Verlangen, ihr eine Ohrfeige zu geben, nicht widerstehen zu können. Noch nie hatte er die Hand gegen seine Schwester erhoben, aber er war kurz davor. Allerdings wollte er ihr diesen Gefallen nicht tun, denn dann hätten sie beide Grund, auf den anderen wütend zu sein.

Er kniete sich auf die andere Seite von Will, sodass er ihr gegenübersaß. »Das ist deine Schuld«, sagte er in aller Härte. »Mir ist klar, dass du das nicht hören willst und es auch nicht deine Absicht war, aber dieser Tatsache musst du dich stellen. Du hast nicht nur ihn, sondern auch mich mit deinem dämlichen Zauber in Gefahr gebracht.«

Ihre Hände begannen zu zittern und die Kräuter glitten ihr aus den Fingern. Sie hatte es vermieden, ihn anzusehen, aber als sie nun den Kopf hob, standen Tränen in ihren Augen. »Aber ich hatte recht«, verteidigte sie sich kleinlaut und mit bebender Unterlippe. »Rosalie steht auf der Seite der bösen Königin. Sie hat dir die ganze Zeit etwas vorgemacht – uns allen.«

Empört schnappte Joe nach Luft. Seit wann rechtfertigte das vermeintliche Fehlverhalten anderer das eigene Vergehen? Außerdem glaubte er ihr nicht! Er konnte es nicht. Nachdem die beiden Menschen, die ihm am nächsten standen, ihn verraten hatten, war Rosalie die einzige Vertraute, die ihm noch blieb. Er durfte sich nicht in ihr getäuscht haben. »Das kannst du nicht wissen.«

»Joe, ich habe sie gesehen«, rief Maggy nachdrücklich aus, während sie versuchte, die Kräuter zu ordnen. Es fiel ihr allerdings schwer, sich darauf zu konzentrieren und gleichzeitig ihrem Bruder Rede und Antwort zu stehen. »Sie wirkte nicht wie eine Gefangene und Elisabeth hat sie sogar als ihre Erbin vorgestellt. Die beiden stecken unter einer Decke und es würde mich nicht wundern, wenn Rosalie ihr alles erzählt hat, was sie bei uns erfahren hat. Das würde auch erklären, warum Will mit dir aus der alten Villa fliehen musste. Vermutlich wurde er angegriffen. Niemand wusste von diesem Versteck, auch Vlad Dracul nicht.«

Joe glaubte Maggy, was sie gesehen und gehört hatte, dennoch war er überzeugt davon, dass sie daraus die falschen Schlüsse zog. »Was, wenn sie keine andere Wahl hatte? Hast du mit ihr gesprochen?«, wollte er herausfordernd von ihr wissen.

»Nein«, gab sie zu. »Aber das war auch nicht nötig.«

Joe schnaubte verächtlich auf und schüttelte den Kopf. Maggy machte es sich leicht, indem sie Rosalie verurteilte, ohne ihr auch nur die Chance zu geben, sich zu erklären. Nur weil es in das Bild passte, das sie von Anfang an von Rosalie gehabt hatte. Alle hatten ihr misstraut. Margery war die Gute und somit musste Rosalie die Böse sein – anders konnte es nicht sein. Natürlich nicht, denn das hätte bedeutet, dass sie sich die ganze Zeit geirrt hatten. Die Sieben hätten ein Stück des Herzens von der Person in sich getragen, die der Untergang für Engelland bedeutete. Und seine Schwester hätte sich von allen am schuldigsten gemacht, weil sie es gewesen war, die den Zauber ausgeführt hatte.

Er konnte ihre Selbstgerechtigkeit nicht länger ertragen und erhob sich vom Boden. Sie würde es auch ohne ihn schaffen, Will zu heilen. Schließlich hatte sie ihre Magie, wofür brauchte sie dann noch ihn?

»Wo ist Rosalie jetzt?«, wollte er von ihr wissen, entschlossen, zu dem Mädchen zu gehen, das er liebte, und sich dessen Sicht der Ereignisse erzählen zu lassen. Sie hatte ihn einmal hintergangen, das würde sie ihm kein zweites Mal antun. Nicht nach allem, was zwischen ihnen gewesen war! Verdammt, er hatte ihr seine Liebe gestanden! Das hatte er zuvor bei keiner getan.

Maggy starrte entsetzt zu ihm auf. »Das weiß ich nicht.«

Sie ahnte, was er vorhatte, und nach dem, was sie am letzten Abend getan hatte, musste Joe davon ausgehen, dass sie ihm Rosalies Aufenthaltsort nicht einmal verraten hätte, wenn sie ihn gewusst hätte. Er konnte ihr nicht mehr vertrauen. Diese Erkenntnis schmerzte ihn am meisten.

Wortlos drehte er sich um, bereit, sie zurückzulassen, so wie sie es mit ihm gemacht hatte.

»Joe!«, rief Maggy verzweifelt, als er die ersten Schritte von ihr weg machte. »Geh nicht! Bitte bleib bei mir!«

Es tat ihm weh, sie so flehen zu hören, trotzdem hielt er nicht an. Sie war seine Schwester und wäre ihm niemals gleichgültig, aber Rosalie hatte niemanden außer ihm. Er war es ihr und auch sich selbst schuldig, dass er sie nicht einfach so aufgab, nur weil alle anderen das taten. Maggy hatte bereits verhindert, dass er ihr in dieser Nacht zu Hilfe kam. Vielleicht wäre sonst alles ganz anders gekommen.

»Bitte, Joe! Ich brauche dich«, schluchzte sie nun hilflos. »Alles ist schiefgelaufen. Ich habe Jacob verloren.«

Der Kummer in ihrer Stimme schnürte Joe die Kehle zu. Er spürte ihren Schmerz wie seinen eigenen. Er wollte gehen, aber er konnte sie nicht verlassen. Seine Füße verharrten, wo er stand, und er drehte sich widerwillig zu ihr um.

Aber er war es nicht, der fragte: »Was ist mit Jacob?«

Will war wieder zu sich gekommen, während sie miteinander gestritten hatten. Er litt sichtlich unter seiner Verletzung und dem Fieber, aber die Sorge um seinen Bruder war in diesem Augenblick größer.

Erstaunt sahen die Geschwister ihn an, bis Maggy sich dazu durchrang, ihm die schreckliche Wahrheit zu offenbaren. Sie erzählte von dem Spiegelball und wie Elisabeth seit Engelland versuchte, einen zweiten schwarzen Spiegel zu erschaffen, indem sie nach den Scherben in den Augen der Menschen suchte. Fast wäre es ihr gelungen, wenn Jacob sie nicht in das Glas gestoßen hätte.

»Sie hat sich an ihm festgeklammert und ihn mit sich gerissen. Beide sind in dem Spiegel verschwunden«, beendete Maggy aufgewühlt ihren Bericht.

Die Ereignisse lagen erst wenige Stunden zurück und sie fühlte sich schuldig, weil sie Jacob nicht hatte helfen können. Es war ungewiss, ob sie ihn je wiedersehen würden.

Joe hatte Mitleid mit seiner Schwester. Er hatte Jacob erst vor wenigen Tagen richtig kennengelernt, aber Maggy verband schon seit Jahren eine besondere Freundschaft mit ihm. Für Will war sein Bruder alles, was ihm von seiner Familie geblieben war. Nach den vielen Geheimnissen war ihr Verhältnis angespannt, aber sie waren gerade dabei gewesen, zueinanderzufinden. Umso schmerzlicher musste der Verlust ihn treffen.

»Wenn Jacob und Elisabeth nun beide in dem Spiegel gefangen sind, bedeutet das, dass die Schlosskommende gerade unbewacht ist?«, hakte Joe vorsichtig nach.

»Könnte sein«, überlegte Maggy. »Die Jäger haben nicht versucht, mich aufzuhalten, als ich gegangen bin. Ich glaube, sie sind ohne die Befehle ihrer Herrscherin ebenfalls ratlos, was sie nun tun sollen.«

Das war die Gelegenheit! Eine bessere Chance würde Joe nicht bekommen.

»Ich muss zu Rosalie«, sagte er bestimmt und machte erneut auf dem Absatz kehrt. Zwar fühlte es sich falsch an, Will und Maggy in dieser Situation allein zu lassen, aber sie hatten zumindest einander. Außerdem durfte er nicht vergessen, dass sie auf seine Wünsche auch keine Rücksicht genommen hatten.

»Du weißt doch gar nicht, ob sie noch dort ist«, warnte Maggy ihn.

»Ich werde es herausfinden«, entgegnete Joe unbeirrt, während er in den Nebel lief.

Hinter ihm knisterten die teils gefrorenen Blätter, als Maggy sich vom Boden hochrappelte und ihm nachgelaufen kam. Sie hielt ihn an der Jacke fest und stellte sich ihm in den Weg. Verzweiflung spiegelte sich in ihren großen braunen Augen. »Bitte geh nicht«, bat sie ihn erneut. »Bitte bleib bei Will und mir! Es sind gefährliche Zeiten und ich könnte es nicht ertragen, nicht zu wissen, wo du bist und wie es dir geht. Wir müssen zusammenbleiben.«

Auch wenn Joe es nicht zugeben wollte, erging es ihm ähnlich. Trotz seiner Wut hatte ihn die Sorge um Maggy gequält, als sie noch nicht wieder bei ihnen gewesen war. Er wollte ihr so gern verzeihen, aber ihr Verrat war zu groß gewesen.

»Was, wenn ich nicht freiwillig bleibe? Wirst du mich dann zum Bleiben zwingen? Was lässt du dir dieses Mal einfallen? Verwandelst du mich wieder in einen Frosch?« Aus ihm sprachen Enttäuschung und sein verletztes Vertrauen.

»Nein«, rief Maggy bestürzt aus. »Ich schwöre dir, dass ich nie wieder meine Magie gegen dich richten werde. Es tut mir leid! Ich wollte nur dein Bestes, aber ich sehe ein, dass es falsch war. Wenn ich meine Entscheidung rückgängig machen könnte, würde ich es tun. Bitte vergib mir, Joe!«

Er wusste nicht, ob er ihr glauben konnte oder ob sie das alles nur sagte, um ihn bei sich zu behalten. Es tat weh, an ihrer Aufrichtigkeit zweifeln zu müssen.

Will hatte sich allein vom Boden hochgestemmt und kam ihnen mit wackligen Schritten entgegen. »Mir tut es auch leid! Wir hätten an dich glauben müssen und dich nicht einfach ausschalten dürfen. Du kannst mir glauben, dass ich meinen Fehler schon heute Nacht bereut habe.« Er setzte ein schiefes Grinsen auf. »Ich hätte deine Hilfe gebrauchen können.«

Widerwillig knirschte Joe mit den Zähnen. Er sollte es ihnen nicht so leicht machen, da sie es sonst vielleicht noch einmal tun würden. Sie hatten ihn nicht nur hintergangen, sondern ihm damit auch bewiesen, dass sie an seiner Urteilsfähigkeit zweifelten. Die Sorge, dass er sich vor lauter Verliebtheit von Rosalie blenden lassen könnte, hatte sie dazu getrieben, ihn ruhigzustellen. Er liebte Rosalie und er wollte sie nicht aufgeben, aber er war kein Idiot! Sollte er herausfinden, dass sie ihm wirklich die ganze Zeit etwas vorgemacht hatte, würde er kein Erbarmen kennen. Wenn er sich zwischen ihr und seiner Familie entscheiden müsste, war seine Wahl eindeutig.

Hatte er Maggy etwa ein anderes Gefühl vermittelt? Fürchtete sie womöglich, dass er sich gegen sie stellen könnte?

Will streckte ihm zur Versöhnung seine blutverkrustete Hand entgegen. Joe zögerte noch kurz, aber ergriff sie dann, auch wenn er keinesfalls vergessen konnte, was sie getan hatten.

Maggy seufzte erleichtert auf und schmiegte sich an ihn. »Danke«, wisperte sie gerührt.

»Euch kann man einfach nicht allein lassen«, brummte Joe gutmütig. Er wusste nicht, ob er irgendetwas von dem, was in der Nacht geschehen war, hätte verhindern können, aber zumindest konnte er das vor den beiden nun immer behaupten. Sie waren ohne ihn gnadenlos gescheitert.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752115260
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (November)
Schlagworte
Brüder Grimm Dornröschen Schneeweißchen Hexe Märchenadaption Rosenrot Schneewittchen Märchen Königin Fantasy düster dark Romance Saga historisch Familie Urban Fantasy

Autor

  • Maya Shepherd (Autor:in)

Maya Shepherd wurde 1988 in Stuttgart geboren. Zusammen mit Mann, Kindern und Hund lebt sie mittlerweile im Rheinland und träumt von einem eigenen Schreibzimmer mit Wänden voller Bücher. Seit 2014 lebt sie ihren ganz persönlichen Traum und widmet sich hauptberuflich dem Erfinden von fremden Welten und Charakteren. 2019 gewann Maya Shepherd mit den Grimm-Chroniken den Skoutz-Award in der Kategorie "Fantasy".
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Titel: Blutrote Schwestern