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Auch Entführen will gelernt sein

von Harald Schmidt (Autor:in)
188 Seiten

Zusammenfassung

»Die Flossen hoch! Das ist ein Überfall!« Die Aufforderung steht drohend im Raum des City Fitness, in dem auch Rita Richter trainiert. Die in der Schalke-Arena gestählte Frau beweist den Brutalos, dass selbst Waffengewalt nichts ausrichtet gegen Lebensmut und derbe Schlagfertigkeit. Als die drei Kleinganoven Freddy, Richard und Massimo ihren Plan entwickeln, wissen sie noch nicht, welcher übermächtige Gegner sich ihnen in den Weg stellt. Eigentlich hatten sie eine Entführung geplant. Eigentlich! Da das Opfer unverschämterweise Urlaub macht, muss spontan umdisponiert werden. Alles ohne Plan B. Schneller, als es sich das Trio vorstellen kann, erscheint die Polizei auf der Bildfläche und eine ungewollte Geiselnahme nimmt ihre kuriose Fahrt auf. Schnell bekommen die Ganoven zu spüren, dass die Polizei nicht ihr ärgstes Problem darstellt. Auch der leitende Hauptkommissar Holger Knoll wird diese ungewöhnliche Geiselnahme nie wieder vergessen können. Nichts ist vorhersehbar, alles läuft komplett aus dem Ruder. Die tatkräftige Hilfe kommt von einer Seite, die das Eingreifen des Polizeiteams fast überflüssig macht.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Harald Schmidt

 

 

Auch Entführen will gelernt sein

Kapitel 1

Gebannt starrten wir auf den Eingang zum Center. Wir warteten darauf, dass sich endlich die Tür in die Freiheit für uns öffnete. Schattengleich huschten schwerbewaffnete Männer über das Vordach, warfen vorsichtig Blicke durch die Riesenfenster in das Innere des Trainingsbereiches. Immer noch drückte Massimo seine Stirn auf den Fliesenboden, umklammerte seinen verbundenen Kopf mit beiden Armen. Sein leises Wimmern durchdrang die bedrückende Stille des riesigen Raumes. Meine Hand lag tröstend auf seiner zuckenden Schulter.

Durch Summen des einstigen Heintje-Erfolges Oma so lieb, versuchte ich, ihm die Angst vor dem zu nehmen, was nun unweigerlich folgen würde. Die Melodie war auch mir im Gedächtnis geblieben, da Papa immer davon erzählte. Sie begleitete ihn schon in seiner Jugendzeit und er summte sie mir vor, wenn ich nachts weinend aus einem schlimmen Traum erwacht war.

Massimo tat mir leid. Ich bedauerte diesen erwachsenen Mann, dessen Verstand immer noch, wie zu Kindertagen, in den sechziger Jahren weilte. Vor wenigen Stunden gestand er mir, dass er auch heute noch genau dieses Lied von seiner älteren Schwester beim Einschlafen vorgesungen bekam. Als Großmutter vor einigen Jahren starb, war ihm die wichtigste Bezugsperson von der Seite gerissen worden. Er quartierte sich bei Elena ein. Die Eltern waren schon früh bei einem Autounfall in der italienischen Heimat ums Leben gekommen, sodass sich Oma danach um ihn kümmerte. Nun war ihm nur noch das Lied und ein kleines Foto von Oma geblieben. Wie einen Schatz bewahrte er das zerknitterte Bild dieser gütig blickenden, älteren Dame in seinem Portemonnaie auf.

Immer wieder waren die Befehle der Polizeibeamten vor dem Gebäude deutlich zu hören. Die Geräusche, die ihre Stiefel verursachten, kamen aus allen Richtungen, ließen die Anspannung bei uns ins Unerträgliche steigen. Jeder der hier am Boden kauernden Menschen spürte, dass eine Entscheidung unmittelbar bevorstand. Alle sehnten natürlich ein Ende der Gefangenschaft herbei, obwohl die Angst nur selten die Oberhand gewinnen konnte. Dazu waren die Umstände und das Geschehen insgesamt viel zu surreal. Das, was passiert war, hatte uns alle zusammengeschweißt und sehr viel aus dem Inneren offenbart, was Menschen allzu gerne voreinander verheimlichen. Jetzt würde es nur noch Minuten dauern, bis der größte Teil wieder in die Freiheit, in ihre Familie entlassen wurde. In den kommenden Tagen hieß es, das Erlebte zu verarbeiten.

Immer wieder glitt mein Blick hoch zu den beiden Gangstern, die mit einem Laken bedeckt über uns standen. Sie wollten meine Kollegin Katja und mich als letzte Geiseln auf ihrer Flucht mitnehmen. Irgendwas an diesem Plan lief scheinbar schief, das ahnten sie jetzt. Und genau das bereitete mir Angst. Ihre Augen suchten hektisch die Fenster und möglichen Eingänge ab.

Meine Gedanken führten mich trotz der explosiven Lage weit zurück, während ich immer noch dieses traurige Lied summte. Massimo wimmerte nicht mehr.

Kapitel 2

Die Tür des italienischen Restaurants öffnete sich geräuschlos. Der Riesenschatten eines Mannes füllte fast den gesamten Türrahmen. Der Inhaber Claudio, der an den Kaffeeautomaten hantierte, begrüßte den ihm unbekannten Gast mit einem freundlichen Buon giorno. Er beobachtete, wie sich dieser an einen Tisch bewegte, an dem bereits zwei Männer warteten.

»Verdammt, das wurde aber auch Zeit. Wir warten schon fast eine Stunde auf dich. Hatte ich nicht fünfzehn Uhr gesagt? Jetzt haben wir fast vier. Das ist totale Scheiße, wenn man sich auf seinen Kumpel nicht verlassen kann. Das kann ganz schön ins Auge gehen, du Saftarsch.«

Massimo zog sich umständlich einen Stuhl ran und setzte sich gegenüber von Freddy, der ihn immer noch wütend anblitzte. Anstatt eine Antwort zu geben, griff Massimo zur Speisenkarte und vertiefte sich darin.

»Was soll denn die Scheiße jetzt? Freddy sagt, du Spasti kannst gar nicht lesen? Leg die Karte zur Seite und erklär uns Beiden mal, warum du uns so lange warten lässt.«

Massimo umklammerte die Karte fest, als der zweite Mann, den er zuvor noch nie gesehen hatte, versuchte, sie ihm aus der Hand zu reißen. Seine kräftige Faust umklammerte mit unbändiger Kraft den Arm des Mannes. Der Schmerz ließ dessen Gesicht rot anlaufen. Er sah hilfesuchend auf Freddy, der mit der Faust auf den Tisch hieb. Die Augen der Gäste und des Personals im La dolce Vita richteten sich auf ihren Tisch. Die Drei genossen nun die ungeteilte Aufmerksamkeit des gesamten Restaurants. Der Besitzer Claudio blickte verärgert herüber. Gäste, die sich in seinen Räumen nicht benehmen konnten, saßen schnell auf der Straße.

»Lass den Arm von Richard los, du Irrer. Willst du, dass uns später alle haarklein beschreiben können? Das gesamte Personal guckt schon rüber. Lass sofort den Arm los.«

Freddy winkte die Bedienung heran, während Massimo den Griff lockerte. Wild riss Richard seinen Arm aus der Umklammerung und rieb erleichtert sein schmerzendes Handgelenk. Sein hageres Gesicht mit dieser leicht verkrümmten Hakennase hatte sich im Hass verzerrt. Die kalten, stechenden Augen schossen Pfeile auf Massimo, der seinen Blick völlig gelassen erwiderte. Ja, es war sogar ein mildes Lächeln zu erkennen.

»Wir nehmen das Tagesgericht, diese Kalbsleber mit Gemüse und Rosmarinkartoffeln. Und dann eine große Flasche Wasser mit drei Gläsern.«

Freddy reichte dem Kellner die Speisekarte und wandte sich wieder den Kameraden zu.

»Ich ess keine Leber, pfui Teufel. Ich kriege keine Innereien durch den Hals. Die haben doch bestimmt noch was Anderes, Pasta, Pizza oder sowas? Und dann will ich auch eine Cola, kein Wasser. Bin doch kein Pferd.«

Massimo hielt den Kellner an der Schürze zurück.

»Wir haben auch Spaghetti mit Fleischsoße als Mittagsgericht. Darf ich das dann für den Herrn bringen? Also dann nur zwei Gläser und eine Cola zusätzlich. Sehr wohl die Herren.«

Freddy nickte schwach und schluckte eine weitere Bemerkung herunter. Als sie wieder allein waren, beugte er sich rüber zu Massimo.

»Damit das hier von Anfang an klar ist, ich bin der Boss. Was ich sage, wird gemacht. Darüber wird gar nicht lange diskutiert. Wenn hier jeder von euch sein eigenes Ding abzieht, wird das nicht klappen, was wir vorhaben. Ist das klar?«

»Ich fress trotzdem keine toten Innereien. Was ich mir durch die Gurgel schieb, bestimme ich selbst, ich ganz alleine. Damit auch das klar ist.«

Freddy musste seine aufkeimende Wut unterdrücken und sah von Einem zum Anderen.

»Ob das mit dem Boss klar ist, habe ich gefragt. Wäre es möglich, dass ihr mit einem verständlichen Ja antwortet? Wenn ich früher nur solche Idioten in meiner Kompanie gehabt hätte, wäre ich wahnsinnig geworden. Mensch, hätte ich euch Arschgeigen lang gemacht.«

»Jetzt beruhig dich mal wieder. Du warst als Unteroffizier gerade mal Gruppenleiter. Erzähl hier nichts von einer Kompanie. Außerdem warst du als Vorgesetzter ein ziemliches Arschloch. Ich hätte dich am Liebsten auf dem Schießplatz abgeknallt, zumindest war die Versuchung groß.«

Richard musterte seinen ehemaligen Vorgesetzten von der Seite. Er pulte währenddessen mit einem schmutzigen Zahnstocher, den er aus den Tiefen seiner Jacke hervorkramte, zwischen den lückenhaften Zahnreihen. Die sehnten sich infolge längerer Enthaltsamkeit bestimmt nach einer Zahnreinigung. Das von der Natur geplante Weiß hatte den Wechsel zum Hellbraun mühelos geschafft, ohne dass Zahnbürsten jemals diesen Prozess hätten aufhalten können. Der Zahnstocher wippte im Mundwinkel, während Richard weitersprach.

»Jetzt hocken wir hier und warten auf Mangare. Gut. Und was soll diese konspirative Sitzung nun? Du wirst ein Ding geplant haben, das wird selbst diesem Idioten da klar, aber was genau soll das sein? Bist du so nett und lässt uns an deinen genialen Gedanken teilhaben?«

Freddy ließ sich von Richards Sprüchen nicht aus der Ruhe bringen. Sein Blick ruhte ausschließlich auf Massimo.

»Wie geht es deiner Oma Martha? Wohnt ihr immer noch in diesem alten Zechenhaus in Essen-Katernberg? Verdammt, bei euch war es immer gemütlich. Bevor deine Alten damals vor den Brückenpfeiler gebrettert sind, hat dein Papa ja oft den Gigolo raushängen lassen. Hat man sich jedenfalls erzählt. War bestimmt nicht schön für deine Mutter. Da kannst du froh sein, nach dem Unfall bei der alten Dame untergekommen zu sein.«

»Halt jetzt die Schnauze, sonst passiert noch was. Kein Wort über Papa. Warum fragst du nach Oma Martha? Die konnte dich doch nie leiden. Die hat dir noch kurz vor ihrem Tod die Pest an den Hals gewünscht. Deine Aufschneiderei ist ihr immer gewaltig auf den Sack gegangen. Und dass du immer auf lau bei uns gefressen und gesoffen hast, hat sie dir übel genommen. Also lass die Frau in Frieden ruhen. Ich bin übrigens mit meiner Schwester Elena zusammengezogen. Wir leben jetzt in Herten, wie du wissen müsstest. Ihr Kerl hat sich ins Ausland abgesetzt. Weiß nicht, ob der jetzt wieder im Kosovo lebt oder woanders. Ist mir auch egal, wo dieses Schwein seine Eier legt. Wenn der sich sehen lässt, hau ich ihm was auf die Fresse. Aber was ist eigentlich mit dir? Bist du noch mit dieser Schlampe zusammen? Wie hieß die nochmal? Iris oder Irma, auf jeden Fall was mit »I« am Anfang.«

»Die Schlampe, wie du sie nennst, hieß Christa, du Penner. Ich wusste wenigstens, wo ich abends die Füße wärmen durfte. Hast du eigentlich jemals mit einer Frau geschlafen?«

Freddys Gesicht verfärbte sich, er hatte Mühe, seinen Zorn zu unterdrücken. Richard zeigte ein breites Grinsen. Er genoss die Situation. Ein freundschaftliches Beisammensein konnte das an diesem Abend nicht mehr werden. Der Kellner half allen Beteiligten aus dieser Misere, als er mehrere Teller mit Antipasti aufdeckte und die Getränke brachte. Alle drei griffen zu und beschmierten wortlos ihre Baguette-Scheiben mit Kräuterbutter. Richard verzog sein Gesicht, als er in eine Chilischote biss.

Die Männer hatten sich abgeregt und sprachen während des Essens über Belanglosigkeiten. Die Teller wurden abgeräumt und drei Espresso-Corretto bestellt. Jetzt ruhten die Blicke der Kumpel wieder auf Freddy.

»Also, es geht um ein problemloses Ding, bei dem wir uns für eine lange Zeit sanieren können. Ich hab da mal ein wenig recherchiert. In dieser bepissten Stadt leben eine ganze Menge Geldsäcke, das dürfte klar sein. Ab und zu verlassen diese Wichser ihre Häuser und vergnügen sich irgendwo. Damit sie das lange können, müssen die sich fit halten. Und wo machen die das? Na, ihr Luschen, wo turnen die rum?«

»Im Wald, beim Joggen?«

Massimos Augen glänzten vor Stolz, als er in die Runde blickte. Zwei Augenpaare blickten ihn verständnislos an.

»Im Wald, so so. Da scheinst du wohl zu leben. Du glaubst wirklich, dass die Geldsäcke durch die frische Luft rennen? Hast du sie noch alle? In welcher Welt lebst du eigentlich? Diese vor Geld stinkenden Hunde vergnügen sich entweder im Tennisclub, im Golfclub oder neuerdings im Fitness-Center. Da hängen die an den Geräten, damit sie bei ihren Freundinnen auch noch einen hochkriegen. Da saufen die nach dem Training noch Eiweißshakes, weil sie daran glauben, dass sie davon nicht nur einen Steifen, sondern auch einen Sixpack kriegen.«

»Einen was? Wieso sollten die sowas kriegen, von dem du da sprichst? Sixmac oder so ähnlich.«

»Verdammt Massimo, hast du irgendwann einmal einen schweren Unfall gehabt oder hast du deinen Verstand an jemanden verkauft? Wie kann man so blöd eigentlich überleben?«

Richard wurde blass, als sich eine massige Hand blitzschnell und um seinen Hals legte, ihm den Atem nahm. Freddy schnauzte seinen alten Kumpel an.

»Massimo, lass das! Die anderen Gäste sehen schon rüber. Die schmeißen uns hier bald raus.«

»Dieser Hirni soll niemals mehr sagen, dass ich doof bin. Dann schlag ich ihm die blöde Fresse ein. Niemand darf das ungestraft zu mir sagen ... niemand. Merkt euch das.«

Freddy legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm und drückte ihn herunter. Richard schnappte wie ein Fisch auf Land nach Luft. Mit der Serviette wischte er sich den Schweiß aus der Stirn. Jeder Finger von Massimos Riesenhand hatte einen deutlichen Abdruck auf Richards Hals hinterlassen.

»Mit dem kranken Arschloch soll ich zusammenarbeiten? Niemals. Da muss ich ja ständig auf meinen Rücken achten. Vergiss das Freddy.«

Immer noch versuchte Richard, normal zu atmen, und massierte sich den schmerzenden Hals. Sein Blick irrte zwischen den beiden Männern hin und her.

»Jetzt beruhige dich mal. Massimo ist kein übler Kerl, du darfst ihn nur nicht reizen. Mit dem habe ich schon ein paar Dinger gedreht. Der ist absolut zuverlässig. Jetzt gebt euch die Pfote und vertragt euch wieder. Na los!!«

Zögernd streckte Massimo dem immer noch wütenden Richard die Hand entgegen, die dieser nach einem strengen Blick von Freddy ergriff. Der Zeigefinger der anderen Hand wies auf Richard.

»Sage mir nie mehr, dass ich ein Idiot bin! Dann reiße ich dich in Stücke. Und du, Freddy, lass meine Familie aus dem Spiel, sonst wirst du es bereuen.«

Richard blieb ihm eine Antwort schuldig und stieß Freddy in die Seite.

»Jetzt komm endlich mit deinem verfickten Plan raus. Ich brauch dringend Kohle. Die Vermieterin macht mir die Hölle heiß. Die will noch drei Monatsmieten von mir. Dann will die mich endgültig rausschmeißen. Mit dem kleinen Nachtbesuch ab und zu gibt die sich nicht mehr zufrieden.«

Freddy grinste zufrieden und breitete ein zerknittertes Blatt Papier auf dem Tisch aus. Er strich es glatt. Keiner der Gäste konnte verstehen, worüber sich die drei Männer unterhielten.

Kapitel 3

Diese Nervosität, die ich so lange unterdrücken konnte, sprang mich wie ein wildes Tier an. Wie ein Virus verzögerte sie alle normalen Denkprozesse und brachte sogar mein Zeitgefühl in Unordnung. Ständig sah ich auf die Uhr, die wie ein bedrohlich wirkendes Ungeheuer über der Küchentür auf mich herabsah. Immer wieder hämmerte sie die gleichen Signale in mein Hirn. Du musst dich beeilen, sonst kommst du zu spät zum Vorstellungsgespräch! Sie hatte recht.

Es waren nur noch vier Stunden und ich wischte soeben die letzten Wassertropfen aus dem Gesicht, lehnte mich mit der Stirn an das nasse Duschglas. Der Ernst des Lebens rückte mir unerbittlich auf den Pelz. Ich musste grinsen, als ich dieses Mädchengesicht mit dem frechen Bubikopf später im Badespiegel betrachtete. Die kleine Fläche, die ich vom Wasserdunst freigerieben hatte, zeigte mir eine lächelnde junge Frau, die den schützenden Mantel der Kindheit abwerfen wollte und am Rande zum Erwachsenwerden stand. Mit den Fingerspitzen zog ich spielerisch die Linien der Brauen, des Mundes und der Nase nach. Das Badetuch war sorgfältig um den Körper geknotet. Als ich die Dreihundertsechzig-Grad-Drehung beendet hatte, holte mich ein dezenter Pfiff wieder in die Realität zurück. Papa hatte an die Badezimmertür geklopft und war, da ich das überhört hatte, eingetreten. Jetzt genoss er lächelnd die kostenlose Show seiner Tochter.

»Du siehst toll aus, Schätzchen. Das machst du heute mit links. Eine attraktivere Empfangsdame könnten die sich überhaupt nicht an Land ziehen. Du machst das Rennen schon ungeschminkt. Noch etwas Make-up und du stehst deiner Mutter in puncto Schönheit nichts mehr nach.«

»Wo holst du eigentlich schon am frühen Morgen diesen verlogenen Charme her?«

Mamas Hände schlangen sich von hinten um seinen Hals. Ihr verschlafenes Gesicht tauchte neben Papas auf und beide verfolgten lachend meine Flucht ins Schlafzimmer. Der Kaffeeduft lockte sie schließlich in die Küche, wo sie sich vorsichtig, gegenseitig stützend, auf die Polster der Eckbank gleiten ließen. Das Frühstück hatte ich ihnen bereits vorbereitet.

Als ich schließlich in der Tür erschien, unterbrachen sie ihr leises Gespräch und betrachteten ausgiebig mein Outfit. Diesen Augenblick betrachtete ich als Testlauf für die spätere Vorstellung bei meinem hoffentlich neuen Arbeitgeber. Es war bis zu mir durchgedrungen, dass oft die ersten sechs Sekunden darüber entschieden, ob der Funke überspringt oder nicht. Geduldig ertrug ich die kritischen Blicke meiner Eltern, deren Meinung mir sehr wichtig war.

»Na, wo liege ich auf eurer Wertungsskala?«

»Ich würde sagen, bei ...«

Mama unterbrach Papas sicher hohe Wertung, indem sie ihm die Hand über den Mund legte.

»Lass dich von Papas Voreingenommenheit nicht beeinflussen.«

Mit einem gewissen Unterton, der mir nicht entging, fuhr sie in ihrer Bewertung fort.

»Du siehst ganz toll aus, mein Schatz.«

»Aber ... da kommt doch bestimmt noch ein Aber, stimmts?«

Mama beachtete Papas vorwurfsvollen Blick nicht und winkte mich mit ernster Miene zum Tisch. Sie nahm meine Hand.

»Sieh mal, Manu ... grundsätzlich hast du alles richtig gemacht. Du hast dir die Haare toll geföhnt, dir ein tolles Make-up aufgelegt und dieses schicke Kleid von der Abi-Feier steht dir immer noch gut. Du siehst darin bezaubernd aus. Doch ... ich meine ... du bewirbst dich für das Service-Center eines Fitness-Studios. Das ist schließlich nicht das Vorzimmer des Siemens-Chefs. Verstehst du, was ich dir sagen will? Du solltest meiner Meinung nach ... du solltest etwas salopper auftreten. So, jetzt ist es raus.«

Der Blick, mit dem sie Papa nach dieser Predigt ansah, enthielt die unausgesprochene Nachricht widerspreche mir jetzt bloß nicht ... ich habe auf jeden Fall recht! Er senkte einen Augenblick die Augen. Seine Worte klangen ehrlich.

»Manu ... deine Mutter liegt genau richtig. Dein Kleid ist wunderschön, aber einfach zu festlich. Du hast eine tolle Figur, die würde ich an deiner Stelle in eine enge Jeans und ein freches T-Shirt zwängen. Zeig den Leuten, dass du durchtrainiert bist und vor allem, dass du Selbstbewusstsein hast. Trage eine sportliche Note und du wirst die Herzen der Männer im Flug gewinnen. Also, wenn ich da an Stelle des Chefs ...«

»Du sitzt da aber nicht, du Schwerenöter. Doch grundsätzlich hast du völlig recht.« Mama richtete die nächsten Worte wieder lachend an mich. »Liebes, du hast dir doch vor Wochen diese hellblaue Jeans mit den Applikationen an den Waden gekauft. Die zusammen mit dem gelben Shirt ... das mit dem Key West-Schriftzug ... dann bist du perfekt gestylt. Und ich würde dazu einfach nur ein paar flache Treter anziehen. Denen werden die Augen überlaufen. Und deine Haare ... ein Traum.«

Es war wieder einer dieser Augenblicke, in denen sich das Herz nicht entscheiden möchte, ob es weinen oder lachen soll. Einerseits war ich tief enttäuscht darüber, dass man meiner Entscheidung, in diesem Kleid aufzutreten, nicht zustimmte. Andererseits bestätigte die Meinung der Beiden aber auch deutlich meine heimlichen Selbstzweifel an diesem Outfit. Ich entschied mich für einen Wechsel und warf mich voller Begeisterung an Mamas Hals. Ich spürte ihre zitternden Hände auf meinem Rücken, über die sich Papas ebenfalls gelegt hatten. Tief in meinem Inneren verfestigte sich einmal mehr der Wunsch, auch irgendwann einmal einen Partner zu finden, der mich derart vorbehaltlos liebte. Was sollte an diesem Tag noch schieflaufen?

 

Bis zum Vorstellungstermin war noch fast eine Stunde Zeit. Unauffällig hatte ich mich in einem bequemen Sessel gegenüber des zentralen Info-Standes verzogen, um den Betrieb im City Fitness beobachten zu können. Mama hatte völlig recht mit ihrem Hinweis auf meine anfänglich geplante Kleidung. Damit wäre ich hier aufgefallen wie ein Polarbär in der Damensauna. Nicht dass man hier einen Ghettostyle mit Ballonseiden-Anzügen pflegte ... ganz und gar nicht. Es herrschte durchweg eine sportliche Eleganz, die sich angenehm von anderen Muckibuden unterschied, die ich schon besucht hatte. Das so berühmte Muskelshirt war hier verpönt, zumal es in diesem Riesentrainingsraum auch an testosterongesteuerten, muskelbepackten Angeber-Typen fehlte.

Jetzt zur Mittagszeit überwogen trainierende Frauen, die ich spontan zu den etwas einkommensstärkeren Gruppen zählen würde. An einem Nebentisch diskutierten vier Damen mittleren Alters über die aktuelle Erweiterung des Saunabereiches und dem angrenzenden Ruhebereich mit bequemen Liegen, auf denen man sich sogar einen Milchshake oder einen Espresso servieren lassen konnte. Als eine rötlichgefärbte Mittvierzigerin über ihre amourösen Abenteuer bei einem Kuraufenthalt in Bad Camberg berichtete und das Kichern der Zuhörerinnen für meine Ohren unanständig klang, konzentrierte ich mich auf die Männer, die sich für weitere Aktivitäten an den Fahrrädern aufwärmten. Auch hier durchweg Gesellschaft, bei der sich bei einer Begegnung selbst in den Abendstunden in der Innenstadt bei mir keinerlei Fluchtgedanken entwickelt hätten. Man nannte es, so glaubte ich zu wissen, die gutsituierte Gruppe von Männern. Ein älterer Herr, den man ganz salopp zu den Silberrücken zählen durfte und der das geschätzte Alter von fünfundachtzig erreicht haben durfte, rang mir großen Respekt ab. Obwohl ihn der Anstieg über die fünfzehn Stufen hoch zum Kraft-/Ausdauerbereich bereits an die Grenzen des für ihn Machbaren getrieben hatte, bewegte er sich tapfer auf die Foltergeräte zu. Nachdem er die Getränkeflasche in das Rondel gestellt hatte, betrachtete er mit dem Blick eines kampfbereiten Boxers die Beinpresse. Er legte noch einmal die Hände hinter dem Kopf zusammen und dehnte den ausgemergelten, doch immer noch sehnigen Körper. Sein Blick ging noch ein letztes Mal über die Trainingsfläche, so als suchte er vorausschauend nach Studiopersonal, das ihn nach der Trainingseinheit wieder reanimieren konnte. Die Sehnen traten weit aus den dünnen Beinen hervor. Sie schafften es dennoch, die Metallplatte acht mal bis zum Anschlag zu drücken. Stolz verließ Methusalem das Gerät und gönnte sich einen tiefen Schluck aus der Pulle. Ein Gesprächspartner, der dankbar die Unterhaltungsmöglichkeit nutzte, setzte sich zu ihm auf den Treppenabsatz. Das heutige Trainingspensum schien damit erreicht.

Meine Aufmerksamkeit wurde auf eine korpulente Dame gelenkt, die sich aus einem der hinteren Räume mit Hilfe eines Rollators durch die Gänge mühte. Sie bewegte sich, mit einem Jogging-Anzug ausstaffiert, innerhalb einer Frauengruppe auf den Service-Point zu. Angeregt unterhielt sie sich mit einem Mitarbeiter des Studios, lachte lauthals über eine Bemerkung des Mannes. Meine Gedanken eilten nach Hause, verglichen die Lockerheit dieser Frau mit der meiner Eltern. Auch hier fiel mir auf, wie verbissen und humorlos die scheinbar Gesunden sich auf den Trainingsgeräten alles abverlangten, sich quälten, nur um sich selbst und der Umwelt zeigen zu können, dass sie leistungsfähig und ohne gesundheitliche Einschränkungen leben können. Keiner von ihnen war sich dessen bewusst, wie schnell sich diese Situation ändern konnte. Viele hatten nur ein Ziel. Sie wollten diesen Schönheitsidealen nacheifern, die einen perfekten Body besaßen. Dass Photoshop da häufig Hilfe geleistet hat, wurde großzügig ignoriert.

 

»Sie sind bestimmt Manuela Richter, oder irre ich mich?«

Der Schreck fuhr mir durch alle Glieder, als mich der zum Mensch gewordene Berg ansprach. Er stand vermutlich schon eine Weile neben mir und hatte mich beobachtet. Eigentlich hätte mir sein großer Schatten schon auffallen müssen. Der Gedanke, der mir spontan durch den Kopf fuhr, beschäftigte sich mit der Frage, wo in Gottes Namen man derartige Kleidergrößen erhielt. Die ausgestreckte Hand, die er mir entgegenhielt, hätte problemlos einen mittelgroßen Wassereimer abdecken können. Entsprechend vorsichtig übergab ich meine zarten Finger ihrem Schicksal. Die Entfernung zum Kopf meines Gesprächspartners hatte sich dadurch, dass ich aufstand, nur geringfügig verringert. Er umfasste milde lächelnd meine Hand und legte die andere auf meine Schulter.

»Schön, dass Sie schon etwas früher gekommen sind, dann können wir schon beginnen. Sie haben doch nichts dagegen? Meine beiden Jungens haben schon angerufen, sie wollen, dass ich sie vom Schwimmen abhole. Ich heiße übrigens Michael Kessler und führe den Laden mit einem Partner. Der sitzt aber hauptsächlich in unserem Zweitbetrieb in Leverkusen. Gehen wir ins Café? Was darf ich uns bringen lassen? Was Kaltes oder lieber Kaffee? Kommen Sie!«

Diese angenehm klingende Stimme hätte ich niemals einem solchen Fels von Mann zugeordnet, eher einem mittelgroßen Bankangestellten, der mich davon überzeugen wollte, dass die Wertpapiere mit dreiunddreißig Prozent Gewinn schon im ersten Jahr kein Risiko beherbergten. Wieder einmal ein Beweis dafür, wie fehlerhaft Vorurteile sein konnten.

»Eine Coke wäre schön.«

»Martina, bitte eine Cola für die Dame, für mich das Übliche.«

Das schwarzhaarige Mädel hinter der Service-Theke nickte und machte sich am Kaffeeautomaten zu schaffen. Michael Kessler öffnete die Mappe, die er irgendwo zwischen Oberarm und Brust versteckt gehalten hatte. Spontan verglich ich diesen Bizeps mit dem Umfang meiner Oberschenkel. Zum Vorschein kam mein Bewerbungsschreiben, das ich mir wohlüberlegt aus dem Internet als Muster geladen und ausgefüllt hatte. Gespannt verfolgte ich seine weitere Vorgehensweise, denn er sah diese Zeilen schließlich nicht zum ersten Mal. Dennoch überflog er das Geschriebene und sah erst auf, als die Bedienung mit den Getränken kam.

»Sie schreiben, dass Sie das Abi gemacht und dies ihr erster Job wäre. Haben Sie denn keine weiteren Pläne wegen eines Studiums? Bei Ihren Noten ... Hut ab ... stehen Ihnen doch alle Türen offen. Wenn ich da an meine Noten denke.«

Kessler verdrehte, von einem breiten Grinsen begleitet, die Augen, wurde aber sofort wieder ernst.

»Ich meine, dass man damit doch alles erreichen kann. Warum also eine Anstellung in einem Fitness-Studio?«

Auf diese Frage hatte ich mich eingerichtet, denn meine Abinoten waren wirklich echte Spitze. Seinem forschenden Blick aus den etwas tief liegenden, blauen Augen, die vielleicht einen Tick zu nahe beieinanderstanden, hielt ich eine Weile stand. Ich musste gestehen, dass dieses Ralf Möller-Double was Besonderes hatte, obwohl mein Herz nicht unbedingt an solchen Muskelbergen hing. Doch er hatte zumindest eine sehr angenehme Ausstrahlung. Warum ich in diesem Moment Volker, einen mir ständig nachstellenden, pickligen Nachbarsjungen vor Auge hatte, war mir unerklärlich.

»Dieser Job soll mir helfen, mein Studium zu vorzufinanzieren. Sie schrieben doch, dass Sie eine Kraft für den Service suchen, die bereit ist, in Schichtarbeit tätig zu sein. Nun ... hier bin ich. Dann könnte ich mir schon Geld zusammensparen, bevor ich ins Studium einsteige.«

Sein Gesicht verriet nicht, welche Gedanken gerade durch seinen Kopf gingen. Wieder hing sein Blick auf dem Bewerbungsschreiben. Die Wangenmuskeln zuckten, was seinem Gesicht einen besonderen Reiz, eine gewisse Verwegenheit verlieh.

»Grundsätzlich will ich Ihnen folgen. Was gedenken Sie denn zu studieren? Da gibt es doch viele Optionen bei Ihren Abinoten. Englisch, Französisch, Latein Einser und eine Zwei. Mathe, Deutsch, Physik ebenfalls eine Zwei. Bei Sport sehr gut, Hochachtung. Und das geht in gleicher Art weiter. Also, raus mit der Sprache. Wo soll die Reise hingehen?«

Ich musste zugeben, alles, und vor allem, wie er es sagte, ging runter wie Öl. Schneller als ich es beabsichtigte, verließ es meinen Mund.

»Ich möchte Medizin studieren, mit Schwerpunkt Sportmedizin. Ich möchte mich darauf spezialisieren, die Menschen vor Krankheiten zu schützen, anstatt diese später zu behandeln. Das wäre eine Aufgabe, die mir gefallen könnte.«

Kessler stoppte die Tasse, die er gerade zum Mund führen wollte. Langsam stellte er sie zurück auf den Tisch und betrachtete mich erstaunt. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit wanderte sein Blick wieder in die offenliegende Mappe. Ich hätte eine stolze Summe dafür gezahlt, nur um zu wissen, was ihm jetzt durch den Kopf ging.

»Sie leben bei Ihren Eltern, sehe ich. Welchem Beruf gehen die nach, wenn ich fragen darf? Ich sehe hier keinen Eintrag an der Stelle. Da haben Sie einen Strich gemacht ... warum?«

Sein Gesicht war ein einziges Fragezeichen, als er meine Antwort verarbeiten musste.

»Weil es doch für Sie völlig belanglos sein sollte, was meine Eltern beruflich tun, denn die bewerben sich doch nicht bei Ihnen, sondern ich. Aber ich habe es mir überlegt, da das Gespräch anders verläuft, als ich mir das vorgestellt habe. Meine Eltern gehen keiner Beschäftigung nach. Sie sind hin und wieder ehrenamtlich in einer Begegnungsstätte tätig. Ansonsten leben sie nur zuhause. Aber bevor Sie falsche Schlüsse daraus ziehen. Sie sind nicht arbeitslos und beziehen auch kein Hartz vier ... sie sind beide krank und erwerbsgemindert eingestuft. Meine Eltern sind an multipler Sklerose erkrankt. Wo wir einmal dabei sind, noch etwas. Mama war vorher Fremdsprachenkorrespondentin und mein Papa war Dachdecker. Sein erster Schub kam damals so plötzlich und unerwartet ... er fiel aus großer Höhe vom Dach. Die Knochenbrüche sind schnell wieder verheilt, aber die verdammte Krankheit blieb. So, Herr Kessler, jetzt wissen Sie alles über meine Familie.«

Schweigend hatte er mir zugehört. Sein anfänglich verärgertes Gesicht hatte wieder freundlichere Züge angenommen. In einem Zug leerte er seine Tasse und setzte sie vorsichtig wieder ab. Seine Hand fuhr durch das dichte, lockige Haar, das im Nacken von einem braunen Gummi zum Pferdeschwanz zusammengehalten wurde. Ohne dass er es verlangt hatte, tauschte Martina seine leere Tasse gegen einen neuen Cappuccino. Wortlos verrührte er den Zucker darin und stierte in den Schaum.

»Haben Sie noch weitere Fragen?«

Ich hatte keine Lust, weitere Zeit mit Jemandem zu vertun, den ich möglicherweise durch meine patzige Antwort verärgert hatte und der nach den passenden Worten suchte, um mich abzuwimmeln. Die riesige Handfläche, die er mir entgegenhielt, deutete an, dass ich ruhig sein sollte. Ein Pssst unterstrich diese Geste noch.

»Das war gut, Mädel ... wirklich gut. Das hätte ich mich damals nicht gewagt, als ich mich um eine Stelle bewarb. Mein Lehrherr hätte mich vermutlich die Treppe runtergeworfen. Und mein Vater ... oh Gott ... der hätte mir eine Abreibung verpasst. Mutig, mutig ... das muss ich sagen. Das mit Ihren Eltern tut mir leid, ein sicherlich schweres Schicksal. Geben Sie mir ein paar Tage Zeit, um mich zu entscheiden. Ich werde mich dann bei Ihnen unaufgefordert melden. Ich muss jetzt auch zur Schwimmhalle ... Sie wissen ja ... die beiden Jungs.«

Kessler hielt mir die Hand entgegen, die ich nur zögernd ergriff. Er drehte sich mit einem verbindlichen Lächeln ab und strebte dem Ausgang zu.

»Herr Kessler?«

Er drehte sich noch einmal um und sah mich fragend an.

»Gibt es neben mir noch weitere Bewerberinnen ... oder bin ich die Einzige?«

Es war spürbar, dass er nach Floskeln suchte. Schließlich sprach er das aus, was ich hören wollte.

»Nein, Frau Richter, Sie sind die einzige Bewerberin.«

»Dann frage ich mich, Herr Kessler, warum Sie für eine Entscheidung noch Tage benötigen. Jetzt stehe ich vor Ihnen, kann all Ihre Fragen beantworten, alle Zweifel beseitigen oder bestätigen. Wenn Sie mich ablehnen, können Sie das doch besser jetzt tun. Ich fände es einfach fairer, als wenn Sie mich noch einige Tage im Ungewissen zappeln lassen würden. Ich wäre Ihnen deshalb auch nicht böse. Nur dieses Warten ... das ist nicht mein Ding. Ich weiß immer gerne recht früh, wenn man mich nicht mag. Sagen Sie es frei heraus, bitte.«

Wieder ruhten diese seltsam faszinierenden Augen auf mir, ließen die Zweifel in mir wachsen, ob ich mit dieser Forderung nicht zu weit gegangen war. Zwei Schritte dieses Riesen reichten aus, bis er direkt neben mir stand und sich eine gewaltige Hand auf meine Schulter legte.

»Martina, darf ich dir deine neue Kollegin vorstellen? Zeig Manuela bitte, wie es bei uns zugeht. Ich muss jetzt die Kröten abholen. Willkommen in unserem Center, Manuela ... so war doch Ihr Name, oder? Den Papierkram erledigen wir morgen.«

Meine Beine wollten den Dienst versagen, als ich auf den mächtigen Rücken dieses Mannes starrte. Nur sehr schwer brachte ich meine innere Anspannung unter Kontrolle. Die zitternden Hände versteckte ich in den Taschen der Jeans.

»Wow. Was hast du denn mit dem Chef angestellt? So schnell hat der sich noch nie für Jemanden entschieden. Komm, ich zeig dir alles.«

Kapitel 4

»Das hast du dem wirklich so gesagt? Du musst verrückt gewesen sein. Oh Gott, das hätte ich mir nie erlaubt.«

Mama saß mir mit weit aufgerissenen Augen gegenüber und drückte meine Hand. Immer wieder sah sie zu Papa hinüber, der unserer Unterhaltung am Tisch scheinbar ohne jegliches Interesse gefolgt war. Über den Rand der Zeitung, die er wie einen Schutzwall vor sich aufgebaut hatte, sah ich sein Schmunzeln, als hätte er eine besonders amüsante Story gelesen. Er ließ meinen Bericht unkommentiert. Ein eindeutiges Zeichen dafür, dass er die Vorgehensweise befürwortete und er vor Stolz fast platzte.

»Meine Tochter!«

Mehr trug er zu diesem Thema nicht bei. Dass Mama das Thema sehr beschäftigte, war unübersehbar. Ihre Hände zitterten leicht, als sie versuchte, die Butter auf der Brötchenhälfte zu verteilen. Ich nahm ihr das Messer aus der Hand, da ich schon einmal eine tiefe Schnittwunde nach dem Frühstück behandeln musste. Mit einem dankbaren Lächeln händigte sie mir das Brötchen aus und ließ zu, dass ich ihr den selbst gemachten Pflaumenmus, den sie über alles liebte, darauf verstrich. Mit beiden Händen umklammerte sie den Kaffeebecher, der die Aufschrift We will rock you trug. Beide waren stolz auf ihre große Sammlung von Porzellanbechern, die sie im Laufe der vielen Jahre angesammelt hatten.

Es war eine Manie meiner Eltern, sich bei jeder Gelegenheit einen solchen Becher zu kaufen. Ob es, wie in diesem Fall, die Premiere des Queen-Musicals in Köln war oder auch bei den vielen anderen Musik-Veranstaltungen. Immer musste es ein Becher aus der Merchandising-Ecke sein. Auch bei ihren vielen Reisen durch die Welt wurde der Rückflieger nicht eher bestiegen, bis die Andenkentasse im Reisegepäck verstaut war. Das war zu einer Zeit, als sie sich noch weite Reisen zumuteten.

Mit der Zeit wurde ich mir dessen bewusst, wie wichtig ihnen diese Erinnerungen heute sein mussten. Immer wieder beobachtete ich Mama, wenn ihre Finger liebevoll, mit verträumtem Blick, über die Aufdrucke glitt. Papa bekam dann immer feuchte Augen und nahm sie in den Arm. Diese Andenken an weite Reisen waren wichtig für sie, lieferten ihnen schöne Erinnerungen. Papa meinte immer, dass ihnen sowas Niemand jemals wieder nehmen könnte.

Papas Frage riss mich aus meinen Gedanken. Er senkte die Zeitung etwas und sah mich über den Rand der Lesebrille an.

»Ich habe gestern noch mit Mama darüber diskutiert. Natürlich ist es letztendlich deine eigene Entscheidung, aber willst du es dir nicht nochmal überlegen, ob du zum Studium wirklich nach München ziehst? Sieh mal, bei diesen großen Universitäten bist du so verloren. Dir fehlt in der Regel jegliche Verbindung zu den Dozenten und es wird viel mehr Selbstständigkeit von dir erwartet. Da bist du mit Magdeburg oder Regensburg viel besser dran. Das ist doch viel familiärer und du bist näher dran, wenn du etwas mit den Dozenten zu besprechen hast. Sicher ist da weniger los, aber du könntest, wenn du Regensburg wählst, sogar bei Tante Rosi wohnen. Die würde sich freuen, und es sind nur wenige Kilometer von Bad Abbach zur Uni. Denk mal darüber nach. Ich habe noch vor wenigen Tagen mit ihr ...«

»Papa, bitte hör auf damit. Ich habe noch nicht einmal die Bewerbungsschreiben raus. Du tust ja so, als hielte ich schon die Immatrikulation in den Händen. Gib mir noch Zeit zum Nachdenken. Jetzt möchte ich erst einmal etwas Luft aus dem Arbeitsleben schnuppern und mir ein paar Euro verdienen. Die Bewerbungsfrist für die Uni ist ja noch lange hin. Und ich habe mich ja noch gar nicht endgültig für München entschieden, das war doch nur eine Idee. Da gibt es ja auch noch Heidelberg oder Berlin. Macht euch bitte nicht schon jetzt verrückt. Ich schaffe das schon. Solltest du mich allerdings aus dem Haus haben, dann ...«

»Manu, wie kannst du sowas auch nur denken? Papa meint das nicht so. Der wird sowieso unausstehlich werden, wenn du einmal aus dem Haus bist.«

»Das weiß ich doch, Mama. War doch nur Spaß. Ich hab euch lieb.«

Da saßen sie vor mir. Zwei erwachsene Menschen, die sich an den Händen hielten und ihre fast volljährige Tochter mit einem gequälten Lächeln betrachteten. Ich wollte es mir gar nicht vorstellen, was passierte, wenn ich eines Tages mit gepackten Koffern vor ihnen stehen würde. Ohne dass ich es verhindern konnte, legte sich meine Hand über Mamas. Eine Szene, die ich sicher irgendwann einmal vermissen würde. Schon oft hatten mich die Sorgen gequält, wie es hier weiterging, wenn ihnen die kleinen Hilfen wegfallen, die ich ihnen geben konnte. Niemand konnte voraussagen, wie sich ihre multiple Sklerose auf Dauer auswirken, sich und sie verändern würde. Man nannte sie nicht ohne Grund die Krankheit mit den tausend Gesichtern. Dabei musste doch gerade ich es am besten wissen, wie gut sie sich organisieren konnten.

Als ich abends auf dem Bett lag und meinen Gedanken nachhing, stahl sich ein Schmunzeln auf mein Gesicht. Viele schöne Erlebnisse mit ihnen füllten mein bisheriges Leben aus, doch dieser besondere Tag in der Schalke-Arena würde mir wohl ewig im Gedächtnis bleiben. Er zeigte mir, wie meine Eltern das Leben wirklich sahen.

Kapitel 5

Mama war überglücklich. Sie riss die Arme hoch und feierte das Ausgleichstor der Schalker Knappen gegen Hertha BSC. Jörg Böhme war für sie der absolute Held des Tages. Papa lächelte, als er in die strahlenden Augen seiner geliebten Rita sah. Sie übertraf seine Liebe zum Schalke 04 noch um ein Vielfaches und besaß jedes Saisontrikot, kannte jede Zeile der Fangesänge. Das lebensgroße Poster des anbetungswürdigen Trainers Huub Stevens schmückte die Stirnwand ihres kleinen, aber feinen Lesezimmers. Besonders stolz war sie auf das Selfie, das sie mit ihm auf dem Trainingsgelände zeigte. Es wurde an einem Tag geschaffen, als sie ohne fremde Hilfe aufrecht am Spielfeldrand stehen konnte. Das handsignierte Buch Fallrückzieher, die Lebensgeschichte des Schalker Fußballgottes Klaus Fischer, ruhte in einer besonderen Vitrine und hatte den Status des Unantastbaren. Es wurde nur zu besonderen Anlässen wirklich guten Freunden gezeigt. Anfassen? Nur über Mamas Leiche.

Ab und zu ließ ich mich dazu überreden, die Beiden zu Heimspielen in die Arena zu begleiten. Ich musste zugeben, dass ich es nur ihnen zuliebe tat, da mein Herz nicht unbedingt am Fußball hing. Meine Leidenschaft gehörte dem eleganteren Tanzsport. Vehement verteidigte ich vor dem Start nach Gelsenkirchen mein Outfit, das eine blau-weiße Grundfärbung einfach nicht zuließ. Aus einem reinen Selbstschutz heraus verzichtete ich aber auf die Farbe Gelb in der Kleidung. Immer wieder verzweifelte ich an der Tatsache, dass mir das Bemühen zunichtegemacht wurde, Mama durch Föhnen eine schöne Frisur nach dem Duschen zu zaubern. Diese verfluchte Wollmütze in Schalke-Farben zerstörte in Sekunden alles, was ich im Schweiße meines Angesichts geschaffen hatte. Vom Block U hatten wir einen recht guten Blick über das Geschehen auf dem Rasen. Mama schrie begeistert mit, wenn die Nordtribüne das Wort Schalke intonierte und die Südtribüne mit 04 antwortete. Dann bebten nicht nur die Tribünen, sondern auch die Rollstühle meiner Eltern.

Nichts erinnerte in dem Augenblick daran, dass zumindest Mama noch kurz vor der Abfahrt eine Infusion mit Kortikosteroide erhalten hatte, die einen mittelschweren Schub bei ihr abmildern konnte. Nur sehr wenige Menschen im Rund dieser gewaltigen Halle wussten davon, dass meine Eltern schon viele Jahre unter der Geißel der multiplen Sklerose litten. Eigentlich erstaunlich, da sie aus dieser Krankheit niemals ein Geheimnis machten. Sie war irgendwann einfach da und hatte sie mit ihren tückischen Anfällen überfallen. Doch sie hatten den Kampf dagegen aufgenommen und waren nicht gewillt, ihn zu verlieren. Jeden Tag aufs Neue rang mir diese Einstellung höchsten Respekt ab, da ich wusste, wie hinterhältig und überraschend die Krankheit zuschlagen konnte.

Das Spiel ging schließlich mit einem 3:1-Sieg für die Knappen zu Ende und bereitete meinen Eltern einen traumhaft schönen Tag. Der Aufzug, mit dem wir zum Haupteingang hinunterfuhren, war erfüllt von Freudengesängen der ausschließlich in blauweiß gekleideten Anhänger, die sich um die Rollstühle drängten. Ihr Gegröle konnte nur teilweise durch meine Kopfhörer abgemildert werden, über die ich mir vorsichtshalber Sussido von Phil Collins gönnte. Kurz bevor wir das Erdgeschoss erreichten und sich ein halbvoller Becher Bier über Papas Blouson ergossen hatte, zog ein überaus euphorisch wirkender Fan an meinem rechten Ohrhörer und schrie mir das inhaltsreiche Wort Schalke in die Ohrmuschel. Der Tinnitus setzte ohne Verzögerung ein und brachte mich an den Rand einer Verzweiflungstat. Nur die beruhigende Hand meiner Mutter hielt mich davon ab, dem Wahnsinnigen meine frischlackierten Fingernägel durch sein vom Alkohol entstelltes Gesicht zu ziehen. Nur ihr mildes Lächeln und das kaum wahrnehmbare Kopfschütteln stoppte meine aufkeimende Wut über diese Rücksichtslosigkeit. Die Kratzspuren wären im Gesicht des Betrunkenen wohl niemals verheilt, da ich mir die Fingernägel schon aus purer Opposition heraus, knallgelb lackiert hatte. Eine Farbe, die in diesem Hause selbst harmlosen Honigbienen übel genommen wurde.

Wir warteten einen Augenblick, bis der Strom der siegestrunkenen Fans Richtung Ausgang endlich abebbte und die sperrigen Elektro-Rollstühle gefahrlos bewegt werden konnten. Wir wählten, um zum Transporter zu gelangen, den jetzt schlammigen Ötte-Tibulski-Weg. Stundenlanger Regen hatte den Untergrund aufgeweicht, sodass ich arge Bedenken hatte, ob die Rollstühle die Strecke problemlos schaffen würden. Als wir eine Gruppe von angetrunkenen Fans der gegnerischen Mannschaft aus Berlin überholen wollten, musste Mama in die morastige Wiese ausweichen. Ein sattes Schmatzen zeigte deutlich, dass das schwere Gerät dankbar vom weichen Boden aufgenommen worden war, der nicht gewillt war, es jemals wieder freigeben zu wollen. Mamas Haar und Mütze waren zwischenzeitlich vom Regen völlig durchnässt. Das Wasser lief ihr in Strömen hinter den Kragen, den Rücken hinunter. Die kleinen Räder des Rollstuhls drehten durch und kündigten damit einen zeitraubenden Aufenthalt mit kostenfreiem Blick auf die so geliebte Veltins-Arena an.

»Oh, das tut uns leid. Hey Jungs, lasst uns mal anpacken. Da steckt ein Schalker in der Scheiße. Na ja, gnädige Frau, einen Vorteil haben Sie ja durch Ihre Behinderung gegenüber Ihrem Verein ... Sie können nicht absteigen.«

Der Joke gefiel ihm so gut, dass er wie ein Bär im Zirkus um die eigene Achse tanzte. In der Berliner Gruppe wurde es augenblicklich still, als man merkte, dass sich dieser lange Schlacks mit seinen ungepflegten Haaren in fataler Weise im Ton vergriffen hatte. Jeder sah auf den Übeltäter, der den Fehler im gleichen Augenblick bemerkte. Er blieb wie angewurzelt stehen und machte sich ganz klein. Sogar Mama hatte es für einen Augenblick ebenfalls die Sprache verschlagen, bis sich ein erneutes Lächeln auf ihrem Gesicht zeigte.

»Hör mal, du Berliner Großmaul, das hat Schalke bis 1988 dreimal hinter sich gebracht. Damit ist seitdem endgültig Schluss. Ich steige nicht wegen der Krankheit, sondern aus purer Solidarität mit meinem Verein nicht mehr ab. Nachdem Hertha zuvor als Fahrstuhlmannschaft fünf mal in der Zweiten Liga war, habt ihr erst wieder 2011 gegen einen Verein wie Schalke 04 in der höchsten Klasse spielen dürfen. Also schön die Füße still halten, mein Freund. Und jetzt stemmt mal die Socken in den Schlamm und helft einer Frau aus dem Mist, die das nicht mehr aus eigener Kraft schafft. Mein Mann kann das nämlich auch nicht mehr ... der schlappe Vogel.«

Die Erleichterung machte sich bei allen Beteiligten breit. Johlend drängten sich die Männer, die ebenfalls in Vereinsfarben, also blauweiß gekleidet waren, um das festsitzende Gefährt und versuchten, es wieder frei zu bekommen. Mit einem wilden Aufschrei rutschte der junge Mann, der zuvor den Mund weit aufgerissen hatte, aus und legte sich neben den Rollstuhl in den Schlamm. Mama sah auf ihn herunter, während seine Kameraden sich vor Vergnügen auf die Schenkel klopften.

»Ich würde Dir ja aufhelfen, aber ich kann leider nicht absteigen.«

Das Lachen der Gruppe schallte über die angrenzenden Parkplätze und erregte die Aufmerksamkeit der Schalke-Fans, die immer noch diskutierend in Gruppen zusammenstanden. Einige näherten sich den gegnerischen Anhängern, als sie bemerkten, dass diese augenscheinlich eigene Schalke-Leute bedrängten. Als sie bis auf wenige Meter herangekommen waren, steuerte Papa seinen Rollstuhl zwischen die Gruppen und hob beruhigend die Hände. In breiter Front bauten sich die Schalker vor den Gegnern auf. Die Fäuste waren geballt. Es lag eine beängstigende Spannung in der Luft.

»Kein Grund zur Aufregung. Wir feiern nur gemeinsam den Schalke-Sieg und sind dabei etwas vom Weg abgekommen. Jetzt, wo ihr einmal da seid, könntet ihr vielleicht sogar helfen, den Rollstuhl meiner Frau wieder auf den Weg zu stellen. Gemeinsam sind wir stärker, oder Jungs? Beim Rückspiel in Berlin können wir ja dann gemeinsam ein Bierchen im Olympia-Stadion schlabbern. Also, auf geht´s, Leute.«

Mir war das Herz stehen geblieben, als sich die Schalker Meute bedrohlich näherte. Papa hatte die Situation sofort erkannt und eine Eskalation verhindert. Mama verschwand kurzzeitig in einem Knäuel von johlenden Männer, die den havarierten Rollstuhl noch bis zum Auto eskortierten. Erst nachdem die Berliner Jungs den Text von Blau und weiß, wie lieb´ich dich laut mitgesungen hatten, gingen alle Arm in Arm zu ihren Fahrzeugen, nicht ohne uns nochmal zugewunken zu haben.

Die Erleichterung stand meinen Eltern ins Gesicht geschrieben, was ich durch Blicke in den Rückspiegel immer wieder feststellen konnte. Sie hielten sich an den matschbeschmierten Händen, die sie gefühlte hundert Mal schütteln mussten, und tauschten Blicke, die ihre tiefen Gefühle zueinander deutlich zeigten.

Kapitel 6

Langeweile gab es im City Fitness nie, da dieses Sportcenter sehr gut besucht wurde. Angenehm empfand ich die Tatsache, dass es sich bei den Besuchern fast ausschließlich um Gäste handelte, die es auf ein niveauvolles Miteinander anlegten. Muskelbepackte, mit anabolen Steroiden vollgepumpte Körper suchte man hier vergebens. Ein testosterongesteuertes Verhalten, das so manchem Studio ein schlechtes Image verlieh, fehlte hier völlig. Das Miteinander sowohl unter den Gästen als auch im Team war einfach umwerfend. Beeindruckend, aber auch gewöhnungsbedürftig war für mich, dass allgemein ein Du gepflegt wurde, ohne Rücksicht auf die Stellung und das Alter. Damit erklärten sich die Mitglieder schon in den Satzungen einverstanden. Ab und zu erwischte ich mich allerdings noch dabei, dass ich bei älteren Gästen ein Sie gebrauchte. Schon nach wenigen Tagen fühlte ich mich angenommen. Kurz, die Arbeit machte sogar Spaß.

Was mich besonders freute, war die Tatsache, dass ich Mama dazu überreden konnte, Mitglied zu werden. Die Krankenkasse bewilligte ihr Kurse, sodass sich die Mitgliedsbeiträge im erträglichen Rahmen bewegten. Bei Papa war ich diesbezüglich auch schon auf einem guten Weg, denn er beobachtete mit Wohlwollen, wie gut es Mama tat, Körper und Geist aufzubauen. Die Zeit würde es richten, da war ich mir sicher.

 

»Manu, könntest du mir einen Eiweißshake mit Heidelbeeren zubereiten? Aber heute nur die kleine Portion, ich werde gleich zuhause essen. Wenn ich was auf dem Teller lasse, dann ist stets eine Erklärung dafür fällig. Hat es dir nicht geschmeckt, Schatz? Das will ich mir auf jeden Fall ersparen.«

Doktor Hanisch kam immer mittwochs am Vormittag, um sein Pensum im Ausdauer-/Kraft-Training zu absolvieren. Ich mochte diesen liebenswerten Kahlkopf, der schon vor Jahren seinen Dienst im Krankenhaus beendet hatte. Seine Fertigkeiten in der Gefäßchirurgie waren legendär. Das erfuhr man so nebenbei an der Servicetheke. Ich hatte mir vorgenommen, ihn irgendwann darauf anzusprechen, warum er nie daran gedacht hatte, diese große Geschwulst auf seiner rechten Wange entfernen zu lassen. Schließlich war er doch an der Quelle. Er zog einen Hocker näher zur Servicetheke und ließ sich ächzend darauf nieder. Das Handtuch lag locker um seinen mageren Hals, der überdeutlich einen tanzenden Kehlkopf zeigte. Ich fand es bewundernswert, wie sich dieser Mann gegen den normalen Verfall des Körpers stemmte. Andere Männer, die auf sechsundsiebzig Lebensjahre zurückblickten, hatten sich längst aufgegeben und saßen lieber vor der Glotze. Doktor Hanisch besaß nicht nur den eisernen Willen, dem Alterungsprozess zu trotzen, er besaß auch die nötige Portion Humor, die den Geist wach hielt und ihn vor dem Verfall bewahrte. Einfach ein liebenswerter Mensch ohne Allüren.

Die Hand auf meinem Hintern ließ mich erstarren. Ich musste mich bücken, um den vorgekühlten Mixbehälter aus dem Eisfach zu holen. Die Empörung über diese Dreistigkeit trieb mir die Röte ins Gesicht. Mit der Absicht, dem Grabscher ordentlich die Meinung zu geigen, fuhr ich herum und blickte in die leuchtenden Augen der kleinen Christina. Der quirlige Lockenkopf strahlte mich an, sodass meine Wut blitzartig verschwand. Sie legte beide Hände um meine Taille und drückte ihren Kopf gegen meinen Bauch. Erleichtert drückte ich die Fünfjährige und fuhr ihr durch die blonden Haare.

»Ich bin´s nur, Manu. Habe ich dich vielleicht erschreckt? Mama zieht sich schon für ihr Turnen um. Bringst du mich in den Kinderhort? Sven hat mir gesagt, dass er mich zu seinem Geburtstag zu sich einlädt. Ich weiß gar nicht, was ich ihm schenken soll. Kannst du ...«

»Langsam, langsam, du kleiner Wirbelwind. Ich muss erst noch was erledigen, dann zischen wir beide ab, damit du zu Sven kommst. Der wartet schon auf seine kleine Freundin. Fass mal an hier. Ist kalt, nicht wahr?«

Christina zog schnell ihre kleine Hand wieder zurück, die sie kurz auf den Mixbehälter gelegt hatte.

»Was machst du damit?«

»Ich muss für den netten Herrn da einen Eiweißshake machen. Der ist sehr gesund, weil da auch noch viele Heidelbeeren reinkommen. Du kannst mir helfen. Gib mir mal den Behälter mit den Beeren rüber.«

Mit großem Eifer verfolgte Christina, wie ich den Shake zubereitete. Die Beeren durfte sie selbst darauflegen. Doktor Hanisch verfolgte unsere Arbeit mit einem Lächeln und bedankte sich überschwänglich bei der Kleinen.

»So, jetzt aber flott ins Spielzimmer. Komm, meine Süße.«

Christina war in den letzten Wochen zu meinem liebsten Sonnenschein geworden, der nun vergnügt an meiner Hand neben mir her hüpfte. Für jeden, der sich auf den Sportgeräten quälte, hatte sie ein nettes Wort. Sie war der Liebling aller Gäste. Kaum hatte ich die Tür zur Kinderbetreuung geöffnet, stürmte Sven uns entgegen und riss mir die Süße von der Seite. Er zerrte sie in eine stille Ecke und redete auf sie ein. Ich wechselte mit Maja, die heute als Aufsicht eingeteilt war, einen Blick. Beide fragten wir uns, was diese beiden Kinder wohl an Geheimnissen austauschen mochten.

Am Service-Point stauten sich mittlerweile die Besucher und warteten geduldig darauf, endlich einchecken zu dürfen. Ganz am Ende der Theke entdeckte ich Mama, die ihre Sporttasche neben sich abgestellt hatte und mich anstrahlte. Sie besaß die VIP-Karte, mit der sie sich direkt über ihren eingearbeiteten Chip anmelden konnte. Geduldig wartete sie, bis ich die Gäste abgefertigt hatte. Gemeinsam mit Annegret, die jetzt ihren Dienst angetreten hatte, ging das sehr flott.

Der Betrieb an der Service-Theke erinnerte mich an die Abfertigung beim Check-in am Flughafen. Vor drei Jahren durfte ich mit Papa nach München fliegen, wo er seinen neuen BMW direkt in der dortigen Niederlassung abholte. Auf der langen Rückfahrt erzählte er mir von einigen kleinen Abenteuern aus seiner Junggesellenzeit. Natürlich musste ich ihm das große Indianerehrenwort geben, es vor Mama unbedingt geheimzuhalten. Es war nichts dabei, dessen er sich schämen müsste, das wurde mir klar. Doch von da an teilten wir beide ein Geheimnis. Ich war so unendlich stolz darauf.

Kapitel 7

Freddy und Massimo sahen von ihrem Lageplan auf und konzentrierten sich auf das Motorengeräusch, das kurze Zeit später erstarb. Eine Autotür fiel ins Schloss, Schritte näherten sich der Schuppentür. Richard schob die beiden Rolltore weit auseinander, sodass der Blick auf den Wagen frei war.

»Voilà, unser Fluchtwagen. Gerade frisch eingetroffen. Geile Karre, oder?«

Abwartend blieb er im Eingang stehen und sah auf die beiden Kumpane, die wortlos das Auto betrachteten. Freddy sah verständnislos in das Gesicht von Massimo, das zu Freddys Leidwesen nur ein zufriedenes Lächeln zustande brachte. Seine Wut wuchs. Nur schwer konnte er einen Anfall vermeiden. Er suchte verzweifelt nach Worten, ohne dabei die Fassung zu verlieren.

»Was genau war deine Aufgabe, Richard? Was solltest du heute Vormittag für uns erledigen? Bitte erinner dich daran.«

»Was soll jetzt diese blöde Fragerei? Bin ich hier in der Schule? Du hast mir gesagt, dass wir ein Fluchtauto brauchen. Und? Ist das kein Auto? Was soll das Theater nun? Hääh?«

Auf Freddy ruhten nun zwei Augenpaare, die eine Antwort erwarteten. Beide Männer wussten tatsächlich nicht, worauf ihr Kumpel hinaus wollte. Freddy verdrehte die Augen und versuchte, Ruhe zu bewahren.

»Nun gut, dann nochmal von vorne. Wir wollen morgen in das bepisste Studio, um da die Familie Klosterhard zu entführen. Die kommen in der Regel zu dritt. Vater, Mutter und Tochter. Ist das soweit klar?« Beide nickten. »Entführen bedeutet, dass wir die Herrschaften mitnehmen. Hört ihr? Wir nehmen sie mit! Dazu brauchen wir ein passendes Fahrzeug. Das dürfte selbst euch klar sein. Wenn wir die drei Vögel nehmen und uns drei noch dazuzählen, wie viel Personen sind wir dann insgesamt? Na los, ich warte Richard.«

Massimo schnippte mit den Fingern und präsentierte das Ergebnis. Stolz blickte er in die Runde.

»Sechs. Ist doch klar, drei und drei sind sechs.«

»Ich hatte Richard gebeten, du Arschloch. Der sollte mir seine Rechenkünste vorführen. Also gut, das wären sechs Personen. Und was haben wir hier vor dem Schuppen stehen? Sagt es mir.«

Richard trat gegen den Kotflügel und kam mit in den Hosentaschen vergrabenen Händen auf den Tisch zu, an dem seine Kumpane saßen.

»Willst du mich eigentlich verarschen? Hier steht genau das, was du wolltest. Was soll das Gefasel mit den Personen? Die Karre rollt gut und war schnell zu kriegen. Der Fahrer wird sich gewundert haben, als die Kiste weg war, nachdem er zurückkam. Wir haben ein Auto, oder etwa nicht?«

Nun sprang Freddy auf und ging mit großen Schritten auf Richard zu, der erschrocken einen Schritt zurückwich. Er spürte Freddys harte Hand an seiner Jacke, die ihn zum Auto zog.

»Ja, du Spasti, wir haben ein Auto. Aber musste das ausgerechnet ein Pizzataxi sein? Da stehen noch zig Kartons drin, die ausgeliefert werden sollten. Ist dir aufgefallen, dass da eine Riesenreklame von dem Laden draufsteht? Der Fahrer wird nicht nur dumm geguckt haben, sondern sofort die Bullen verständigt haben. Die suchen bestimmt schon stadtweit nach einem blutroten Renault mit der Aufschrift Ristorante Italia.

Und dann noch eine Kleinigkeit. Wie sollen wir darin sechs Personen unterkriegen? Kannst du mir das erklären?«

»Aber ...«

»Nix aber, du dämlicher Sack. Du stellst diese Kiste jetzt irgendwo in der Umgebung ab und verpisst dich schleunigst. Ich will doch nicht in einer Zelle landen, weil man mir die Entführung von dreißig Mafiatorten nachgewiesen hat. Auf gehts´s!«

Freddy fuhr herum, als er Massimos Riesenhand auf seiner Schulter spürte.

»Könnten wir denn nicht wenigstens ein paar Kartons hierbehalten? Ich meine nur ... ist ja noch lange hin, bis wir wieder was zu futtern kriegen. Dann könnte ich Elena auch direkt für heute Abend ...«

»Ich halte das nicht aus. Bin ich denn nur noch von Wahnsinnigen umgeben? Ihr könnt doch nicht nur ans verdammte Fressen denken. Schafft mir, verdammt nochmal, die Karre aus den Augen, bevor ich durchdreh!«

Freddy fasste sich mit beiden Händen an den Kopf. Hilfesuchend sah er zum Schuppendach, als erhoffe er sich vom Schöpfer einen Beistand. Richard stand wie festgemeißelt im Schuppeneingang. Freddy näherte sich drohend.

»Kannst du erkennen, was das hier ist?« Freddy zeigte auf seine Füße.

»Ja sicher, das sind deine Schuhe.«

»Und genau die stecken gleich in deinem Arsch, wenn du nicht in zehn Sekunden mit dem verdammten Wagen verschwunden bist. Ich werde mich selber um einen anderen Wagen kümmern. Und gib vorher dieser fleischgewordenen Lebensmittelvernichtungsmaschine einige Pizzakartons, damit der nicht vor lauter Schwäche vor unseren Augen zusammenbricht.«

Massimo gab ihm einen Klaps gegen den Hinterkopf, der Freddy einen Meter nach vorne stolpern ließ. Anschließend marschierte er zum Auto und sortierte mehrere Pizza-Kartons aus, die er auf dem Tisch stapelte.

Richard setzte sich, immer noch beleidigt, hinter das Steuer und verschwand mit dem Pizza-Taxi um die nächste Hausecke. Als er wieder am Treffpunkt eintraf, saßen seine Partner kauend am Tisch und diskutierten lautstark über die mickrigen Zahlungen, die monatlich vom Arbeitsamt geleistet wurden. Die Welt war so ungerecht.

 

»So, jetzt gehen wir den Plan noch ein letztes Mal durch. Vergesst bloß nicht, wann ihr euren Einsatz habt. Davon hängt alles ab. Seht euch die Fotos noch einmal an, damit ihr nicht die falschen Leute verschleppt. Die Klosterhards kommen so um etwa elf Uhr. Bisher parkte der Alte seinen Jaguar immer unter den Fenstern der Männer-Umkleide. Nachdem die sich umgezogen haben, klettern alle drei zuerst auf die Ergometer. Anschließend ...«

Massimo zog das Pizzastück wieder zurück, in das er gerade beißen wollte und sah Freddy erstaunt an.

»Worauf klettern die? Was ist ein Ergodingsbums?«

»Heilige Scheiße, was ist nur mit euch los? Wie konntet ihr bisher überhaupt überleben? Wisst ihr was? Wir werden morgen mal in das Studio gehen und so tun, als würden wir uns für eine Mitgliedschaft interessieren. Dann seht ihr mal vor Ort, was die für Geräte haben und wo ihr euch die Klosterhards krallen könnt. Das hat ja überhaupt keinen Zweck, wenn ich Dinge erkläre, die ihr noch nie gesehen habt. Aber den restlichen Plan können wir ja trotzdem schon durchgehen.«

Ausdruckslose Gesichter ließen bei Freddy Zweifel daran aufkommen, dass man ihn überhaupt verstanden hat. Sein Finger lag auf einem Punkt des Planes, den er zwischen leeren Pizzakartons ausgebreitet hatte.

»Genau hier parken wir den Wagen.«

»Welchen Wagen?«

»Verdammt, Massimo, ich sagte doch, dass ich den selbst besorgen werde. Hörst du überhaupt zu? Also, die Karre steht hier unter dem Baum. Dann steigen wir aus und gehen ganz ruhig in den Laden. Vorher zieht ihr euch die Masken über. Nicht vergessen. Die Klosterhards werden genau hier sein. Dann haltet ihr dem Alten den Püster unter die Nase und sagt ihm ganz ruhig, dass er und seine Bagage mitkommen sollen. Wenn der nicht spurt, helft ihr etwas nach. Ich warte an der Service-Theke und sorge dafür, dass keiner die Bullen ruft. Dann verschwindet ihr mit den Dreien und schmeißt die in den Wagen. Massimo bleibt hinten bei denen, du fährst. Wenn ihr am Eingang anhaltet, spring ich rein und ab geht die Post, zurück zum Schuppen. Das dauert nur ein paar Minuten, dann haben wir die Goldesel unter Dach und Fach. Noch Fragen?«

»Was mache ich, wenn der Alte sich wehrt?«

»Dann haust du ihm was auf die Fresse. Ist das so schwer? Aber denkt daran, wir brauchen die lebend. Außerdem musst du die Scheißer mit Kabelbinder fesseln. Wenn einer von den anderen Leuten im Studio aufmuckt, einfach einmal in die Decke schießen. Dann kuschen die schon.«

Richard stieß Massimo in die Seite.

»Sei mit der Knarre bloß vorsichtig. Nicht dass du aus Versehen einen von uns triffst. Man kann ja nie wissen.«

»Glaubst du tatsächlich, dass ich euch scharfe Munition in die Hand drücke? Wenn die Sache schief läuft, kriegen wir fünfzehn Jahre. Nee, ich habe Platzpatronen besorgt.»

Freddy schaltete sich schnell dazwischen, als er sah, dass Massimo bereits zum Schlag ausholte. Er machte sich Sorgen, dass die Feindschaft der beiden Idioten noch zu Problemen führen könnte. Zu diesem Zeitpunkt wusste er noch nicht, dass dies nur sein kleinstes Problem sein sollte.

Kapitel 8

Massimo nahm seiner Schwester mit einem dankbaren Lächeln den heißen Teller ab, auf den sie ein Riesenstück noch dampfende Lasagne gelegt hatte. Während er aß, wanderten seine Gedanken in die geliebte Vergangenheit.

Das gemeinschaftliche Essen am Abend war ihnen immer noch wichtig, da es ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, von Familie vermittelte. Schon als Kinder gewöhnten sie sich daran, mit den Eltern und der Oma an einem Tisch zu Abend zu essen. Dabei wurde über den ablaufenden Tag gesprochen, ein Ritual, das von allen geliebt und gepflegt wurde.

Der Unfall der Eltern riss sie wie ein Tornado aus dem friedlichen Alltag. Massimo fiel deshalb schon als Kind in eine tiefe Depression, was ihn später immer wieder im Alltag einholte. Er vernachlässigte die Arbeit, was zwangsläufig dazu führte, dass ihn die Firma auf die Straße setzte. Der innere Zwang, allein für die Familie sorgen zu müssen, führte dazu, dass er kleine, geringbezahlte Jobs annehmen musste, bis ... ja, bis er diesen Freddy auf einer Baustelle kennenlernte.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752119374
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Oktober)
Schlagworte
Geiselnahme Fitnessstudio Kleinganoven MultipleSklerose Mut Krimi Thriller Spannung

Autor

  • Harald Schmidt (Autor:in)

Der Autor begann nach Eintritt in den Ruhestand mit dem Schreiben von spannenden Romanen unter seinem Klarnamen Harald Schmidt. Da dieser durch TV bekannte Name falsche Erwartungen beim Leser weckte, übernahm er das Pseudonym H.C. Scherf zum Schreiben etlicher Thriller-Reihen.
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Titel: Auch Entführen will gelernt sein