Ich wache vor dem Klingeln der DV-Uhr auf. Habe ich überhaupt geschlafen? Es fühlt sich nicht so an. Meine Augen sind geschwollen und mein Kopf scheint auf das Doppelte angewachsen zu sein. Die Sache von gestern Abend hat einiges in mir aufgewirbelt. Mein Mund schmeckt bitter. Eine Frau ist Präsidentin. Das Gefühl, etwas Wichtiges, Großes erfahren zu haben, lässt meine Arme und Beine kribbeln. Meine Haut fühlt sich an wie nach einer eiskalten Dusche. Völlig neben der Spur greife ich in meinen Kleiderschrank und ziehe an, was meine Hände zuerst ergreifen. Grau in Grau. Was kann ich da schon falsch machen? Ich seufze. Mutter hätte viele Gegenargumente. Hoffentlich begegne ich ihr nicht.
Im Esszimmer erwarten mich eine Schale Haferflocken mit Wasser und mein Bruder. Er sitzt am Tisch, frühstückt und sieht nicht auf. Natürlich hat er, Mandelsaft zu den Flocken bekommen. Seine Augen huschen gleichmäßig über die DV-Tafel in der linken Hand. Ob er die Zeitung liest? Mit der rechten führt er mechanisch das Essen in den Mund. Auf der Insel wurde jegliches Papier verbannt. Zum Lesen und Schreiben haben Männer und sogar Frauen eine Datenverarbeitungsanlage erhalten. Sie sind von der Größe einer Miniatur-Tafel. Ganze Bücher befinden sich als Datei auf ihnen. Die Tafeln für die Männer können weitaus mehr. Die Zeitung beispielsweise bekommen nur sie zugeschickt. Ich gehe an Aaron vorbei und versuche, ein paar Schlagzeilen aufzuschnappen.
»Aaron, leg deine Daten-Tafel weg! Nachrichten haben am Essenstisch nichts zu suchen!«, ertönt die Stimme unserer Mutter, die in diesem Moment den Raum betritt. Mist.
Aaron legt seufzend die DV-Tafel weg und lächelt mich an. »Guten Morgen, Schwesterherz. Gut siehst du aus!«
Ich starre ihn an. Er ist gut erzogen, hat Manieren und ist höflich. Daher nehme ich sein Kompliment nicht ernst und gebe keine Antwort. Steif sinke ich auf meinen Platz. Ich habe gehofft, weitere Informationen über das nächtliche Gespräch zu ergattern. So viel zu meinen Vorhaben, nicht mehr über Politik nachzudenken.
Mutter hasst es, wenn die Männer am Tisch lesen. Ihrer Meinung nach hat Politik einen fatalen Einfluss auf mich – ohne, dass ich auch nur ein Wort davon lese. Allein die Anwesenheit der Daten-Tafeln, fürchtet sie, führe mich direkt ins Verderben. Ich wüsste nicht, wie mich die Ergebnisse der diesjährigen Ernte, die Erträge der Variabilispflanze oder die Einfuhrkosten vom Festland negativ beeinflussen sollten. Aber in Anbetracht dessen, was ich gestern erfahren habe, hat sie vielleicht Recht. Ich lächle und setze mich an den Tisch. Wenigsten bin ich Mutters kritischen Blicken entgangen.
»Was steht bei dir an?«, fragt mein Bruder ungeachtet dessen, dass ich nicht zum Sprechen aufgelegt bin.
»Das Übliche.« Ich versuche erst gar nicht, den gelangweilten Ton zu unterdrücken.
»Achte auf deine Haltung, Eva. Sitz gerade. Sprich nicht mit vollem Mund und antworte im ganzen Satz.«
Ich schlucke meinen Haferbrei herunter. »Ja, Mutter«, sage ich und schaue sie provokativ an. Sie funkelt mich erbost an. Ihre Lippen sind ein dünner Strich. Jetzt heißt es aufpassen. Ich wende mich wieder zu meinem Bruder und sehe seinen mitleidigen Blick.
Seit ich meine Blutung habe, ist Mutter unerträglich geworden. Keine Minute vergeht, die sie nicht damit verbringt, an mir herum zu mäkeln und mich zu kritisieren. Und nun steht auch noch das größte Ereignis des Jahres bevor. Der Heiratsmarkt. Mit eiligen Schritten wuselt sie wieder hinaus.
»Wir müssen bald eine andere Lösung finden, Eva.« Wovon redet er. Wegen Mutter? »Der zweite Teil meiner Ausbildung beginnt und dafür werden wir in den inneren Ring ziehen. Dann kann ich dich nicht mehr zur Schule begleiten.« Aaron ist gemeinsam mit seinen Freunden auf die Regierungshochschule gewechselt.
Ich schlucke den Bissen herunter. »Ich kann auch alleine zur Schule gehen, Aaron. Das geht schon in Ordnung.« Ich schiebe einen weiteren Löffel hinterher, um meinem Mund etwas zu tun zu geben. Meine Hand krampft sich um das graue Material und ich habe Mühe, sie zu lockern. Schmeckten die Haferflocken vor kurzem noch nach nichts, haben sie jetzt einen schalen Beigeschmack bekommen.
»Das wird nicht gehen Eva, aber ich überlege mir etwas.« Aaron steht auf und packt seine Tasche.
Mutter eilt mit Lea im Schlepptau herein. Das Dienstmädchen räumt die Teller von meinem Bruder weg. Für mich hat sie nur ein Stirnrunzeln übrig. Lea ist etwa so alt wie meine Mutter und arbeitet für uns, seit ich ein Kleinkind war. Warm geworden sind wir nie. Die Jahre haben nichts von ihrer Strenge genommen. Ihr Blick ist finster und ihre Haltung steif. Sie tut, was Mutter sagt. Wenn ich dadurch leiden sollte, ist es ihr nur recht.
»Komm Eva, wir müssen los.« Aaron reicht mir meine Tasche und wir gehen gemeinsam aus der Wohnung.
Mutter folgt uns. Sie hat einen wichtigen Termin, wie sie uns verkündet. Ja, sicher. Beim Friseur oder so. Ihre Schuhe klackern auf dem Boden – spitze Trippelschritte, die mich bis aufs Äußerste reizen. Sie kann in ihrem engen Rock kaum einen Fuß vor den anderen setzen. Ich presse die Lippen aufeinander.
Im Fahrstuhl herrscht Stille. Der süßliche Duft von Mutters Parfüm füllt die Kabine. Ich versuche, ihren Blicken auszuweichen. Aarons auch. Ihn anzusehen, würde mich zum Lachen bringen. Das ist seine Spezialität. Ich betrachte das Lämpchen, das von einer Zahl zur nächsten hüpft. Lachen ist nicht damenhaft und gäbe Ärger – und das ist Mutters Spezialität: keifen und mit mir schimpfen.
Draußen erwartet uns Sonnenschein. Es ist Sommer auf Selvia. Die Insel heizt sich für den bevorstehenden Winter auf. Ich schwitze in meiner langen Kleidung. Tief atme ich ein und verabschiede mich von Mutter. Sie setzt ein Lächeln auf. Die Frau ist die Repräsentantin des Hauses und sie weiß, wie die Wirkung nach außen ist. Da mein Vater ein Kaufmann mit Verbindungen zum Festland ist, gehen Leute oft bei uns ein und aus. Die Fassade darf nicht bröckeln, denn er steht unter ständiger Beobachtung – und damit auch seine Familie. Doch seine Arbeit ermöglicht uns ein Leben in Wohlstand. Ein einziger Fehltritt unsererseits wäre das Ende. Mutter küsst mich auf beide Wangen, winkt meinem Bruder zu und steigt in eine Limousine, die auf sie wartet.
Stumm folge ich meinem Bruder. Halte mich dabei im Schatten der Häuserwände auf. Mehr Autos als sonst fahren an uns vorbei. Wir begegnen vielen Menschen. Aufregung liegt in der Luft. Selvia wartet. Die Vorbereitungen für den Heiratsmarkt laufen. Ein Markt, auf dem Männer ihre zukünftigen Ehefrauen aussuchen. Ein Tag, der mein Leben verändern kann.
Seit gestern gibt es die Kleider zu kaufen. Ob Mutter deswegen zum Friseur geht? Der Markt hat in diesen Tagen Hochkonjunktur. Viele bedeutende Frauen werden vor Ort sein. Dem Kaufrausch verfallen, werden sie sich darin messen, wer reicher, wer schöner, wer besser ist. Vergessen sind die Momente der Langeweile. Der Zurückhaltung. Der Demut. Jede Mutter ist auf der Suche. Das Ziel? Das bunteste, das hübscheste, das auffälligste Kleid zu bekommen. Für sich und für ihre Tochter.
Zu gern will ich Aaron mit Fragen löchern. Würde er mein Geheimnis wahren? Das Pochen in meinem Kopf wird stärker. Ich traue mich nicht. Seit ich erblüht bin, distanziert mein Bruder sich von mir. Den für heute geplanten Marktbesuch mit Rahel hat er mir auch verboten. »In deinem Alter geht man nicht mehr aus, Eva!« Er hat es forsch gesagt. So kenne ich seine Stimme gar nicht.
Ich vermisse die Zeiten, in denen wir für einander da waren. Früher, wenn er nach Hause kam, hat sich Mutter zurückgezogen, mich aus ihren Fängen gelassen. Aaron war bei mir. Mit mir. Nachts, wenn ich Alpträume hatte, am Tag, wenn die Langeweile mich zu ersticken drohte. Wir sind gemeinsam durch die Straßen gezogen, haben gespielt. Als Mutter entschied, eine Dame, eine Inselfrau aus mir zu machen, war all das vorbei. Aaron fand andere Freunde. Er ging immer länger zur Schule. Vater wurde in unsere Erziehung mit einbezogen. Ausreißer wurden hart bestraft. Auch Aaron, denn er hat oft versucht, mich zu decken. Ob er kapiert hat, dass eine Beziehung zu mir nur Leid für ihn bedeutet?
»Eva, alles in Ordnung?« Ich zucke zusammen. Mein Blick gleitet von Aaron zu meinen Händen. Die Nagelhaut am linken Daumen blutet. Ich schüttle den Kopf und Aaron zuckt mit den Schultern.
Reiß dich zusammen! Die Feen sind verschwunden. Es gibt auch keine Zwerge, die nach Edelsteinen suchen oder Trolle, die Aaron bekämpfen muss. Werd erwachsen! Das ist Vergangenheit. Wie mein Märchenbuch, das Mutter verkauft hat. Das einzige gedruckte Buch, das wir je besessen haben. Eine Rarität. Sie hat bestimmt viel Geld dafür bekommen. Meine erfundenen Geschichten hat sie ebenfalls von der Tafel gelöscht. Mit zehn Jahren war meine Kindheit vorbei.
An der Kreuzung zum Markt warten wir auf Aarons Freunde. Lachend begrüßen sich die Jungen untereinander, als wären sie noch Kinder. Dass sie bald auf die Regierungsschule wechseln, kann man ihnen nicht ansehen. Der Gedanke daran, Aaron bald verabschieden zu müssen, sticht mir ins Herz. Ein kurzes Nicken in meine Richtung und wir gehen weiter. Jungs in ihrem Alter haben sich von Mädchen fernzuhalten. Besser gesagt anders herum. Das bewahrt die weibliche Tugend. Diese wird einen entscheidenden Teil des Kaufpreises ausmachen.
Ich folge den Jungs und schaue dabei auf meine Füße. An einer Ampel bleiben wir stehen und ich finde mich neben Chamuel wieder. Ich fühle mich unwohl in seiner Nähe. Vielleicht ist es wegen Ariel, seiner Schwester, die oft geprügelt wird? Ihr Vater ist äußerst jähzornig. Dass Chamuel nach ihm kommt, kann ich mir nicht vorstellen. Aaron wäre nicht mit ihm befreundet. Zu mir ist er zuvorkommend. Nie herablassend. Dann ist es eher wegen seiner Augen – glaube ich – und bemerke zu spät, dass ich ihn anstarre. Er lächelt und ich spüre, wie mein Gesicht heiß wird. Ich taumle und falle fast über die Bordsteinkante. ›Wie eine Strandkrabbe!‹. Das würde meine Mutter jetzt sagen und schimpfen. Einen Jungen anzuschauen. ›Was bist du, eine Dirne?‹ Ich schüttle den Kopf und senke den Blick wieder auf den Boden.
Am Mädchenschultor bemerken wir einen Stau.
»Worauf starren die denn so?«, frage ich Aaron. Ich würde gern sehen, was los ist, doch er hält mich zurück.
»Misch dich nicht ein, Eva.« Seine Finger legen sich um meinen Arm und er starrt mich warnend an. Für einen Moment bin ich wie gelähmt. Immer öfter lässt er seinen Status als Mann heraushängen. Das hat er früher nicht gemacht.
»Ich will wissen, was los ist!«
Mit unveränderter Miene fixiert er mich: »Wir warten, bis der Andrang sich aufgelöst hat!«
Ich wende mich zu dem Aufruhr und strecke meinen Hals. Ob Lillit etwas angestellt hat?
»Guten Morgen.«
Ich fahre herum, den Arm weiterhin in Aarons beißendem Griff. Da steht sie. Die Verdächtige. Als würde sie zu uns gehören. Mir klappt der Mund auf. Die Hand meines Bruders zieht sich zusammen. Sofort schließe ich ihn wieder. Aarons Miene zeigt keine Regung. Er sieht kühl zu meiner ehemaligen besten Freundin. Ein Ziehen durchfährt mich. Seit Wochen reden wir kein Wort miteinander. Der Schmerz wandert meine Brust hinauf und treibt mir die Hitze ins Gesicht. Ich blicke zu Aarons Hand und reiße mich los. Seine Augen weiten sich, ich strecke ihm die Zunge raus. Lillit beobachtet unsere stumme Konversation mit hochgezogenen Augenbrauen. Ich habe den Eindruck, dass sich ein Grinsen in ihren Zügen anbahnt, doch ich ignoriere es und eile zum Tumult. Mit einem Gefühl von Stolz und Unbehagen stürze ich mich in die Menge und pralle gegen eine zierliche Person mit schwarzen Locken.
»Irgendjemand hat das Schultor verschandelt.« Rahels Stimme bebt vor Erregung.
»Was? Was ist los?« Mein Gehirn verarbeitet ihre Worte nur langsam.
Schultor. Verschandelt.
Meine Augen weiten sich. Ich sehe sie an und ihre Augen sind gefüllt mit Tränen. Beide versuchen wir, einen Blick auf den Schaden zu erhaschen. Auf Beschädigungen und Beschmutzungen von Gebäuden und anderen Dingen steht auf der Insel eine schwere Strafe. Das Mindeste ist eine Freiheitsstrafe, das Schlimmste – die Verbannung in die schwarze Zone.
Mühsam drängen sich ein paar Aufseherinnen von außen durch die Menge. Zwei von ihnen tragen ein Tuch bei sich. Sie schieben sich an uns vorbei nach vorne. Dadurch können wir einen Blick auf den Tatort werfen. ›Frauen erhebt euch!‹, steht in dicker, weißer Schrift auf dem Tor. Daneben eine Hand mit gekreuztem Zeige- und Mittelfinger.
Rahel zieht die Luft scharf ein und murmelt: »Das darf nicht wahr sein!«
Ich höre das Getuschel der anderen Mitschülerinnen und grinse – zu meiner eigenen Überraschung. Sie regen sich über den Text auf und beschimpfen die Frauen, die das geschrieben haben als Sünderinnen und Dirnen.
»Es wäre angebrachter gewesen, ›Frauen setzt euch‹ zu schreiben«, bemerke ich kichernd. »Immerhin stehen wir schon sehr häufig: Beim Morgenapell, beim Sonntagsgebet, bei der Begrüßung jedes Lehrers, wenn ein Mann den Raum betritt.« Ich lache.
Rahel schaut mich aus den Augenwinkeln an. Ihre Mundwinkel verziehen sich zu einem erschütterten Ausdruck, als würde sie mich nicht kennen.
»War doch nur ein Witz.« Ich hebe beschwichtigend die Hände. Ihre Miene verändert sich nicht. Meine Augen wandern zu Boden und ich lasse beschämt die Schultern hängen. Wieso kann ich nicht einmal meinen Mund halten?!
Ich gehe zurück, um mich von meinem Bruder zu verabschieden. Die Aufseherinnen mühen sich ab, das Banner abzuhängen. Lillit ist verschwunden und seine Freunde stehen etwas abseits von ihm. Er funkelt mich erzürnt an, doch zu meiner Überraschung drückt Aaron mich und küsst mich auf die Wange.
»Pass auf dich auf!«, flüstert er mir ins Ohr.
Verdutzt vergesse ich, zu antworten. Ob sein baldiger Auszug damit zu tun hat? Mir schnürt es die Kehle zu und Verwirrung macht sich in mir breit.
Die Jungs verschwinden in der Masse der ankommenden Schülerinnen.
Ihre Schule liegt auf der anderen Seite der Nord-Süd-Straße. So nah und doch so fern. Während unsere ein langweiliger, eckiger Bau umgeben von einem massiven, unter Strom gesetzten Zaun ist, wirkt die Schule der Jungen wie aus einem Märchen – einem Märchen aus der Zukunft. Sechs Türme – alle verbunden mit unzähligen Brücken – und ein ungewohnt hoher Verbrauch an Glasscheiben lassen die Schule im Sonnenlicht glitzern und funkeln. Die Turmdächer verlaufen in einer Spirale spitz nach oben und sollen einen sagenhaften Ausblick über die Stadt Selvia bieten. Das hat Aaron mir zumindest erzählt. Meine Schule ist eher länglich als hoch und die Aussicht deprimierend.
Die Menge bewegt sich, das Tor scheint frei und offen zu sein. Traurig und beunruhigt verharre ich vor dem Sensor, damit der mich identifizieren kann. Ein mechanischer, chromblitzender Arm mit einer kleinen Lampe fährt zuckend über unsere Köpfe hinweg und surrt unablässig. Ein blaues Licht blitzt auf und ich gehe wie blind durch das Tor. Meine Hände zittern. Ich denke an Rahels Blick. Ich denke an die Präsidentin vom Festland. Ich denke an meinen Bruder, der bald ausziehen wird. Mein Magen fühlt sich an wie ein zusammengedrückter Klumpen und mir ist übel.
In der ersten Stunde habe ich die Gelegenheit, für meine vorlauten Worte Buße zu tun. Religion. Der Priester hält wie immer einen monotonen Monolog und ich nutze die Zeit, meine Gedanken zu sammeln. Rahel sitzt steif neben mir – sauer wegen des schlechten Witzes. Bei Kritik an der Insel versteht sie keinen Spaß.
»Wie war gestern deine Klavierstunde, Eva?«, fragt sie mich, nachdem es geklingelt hat.
»Alles gut, ich bin schon viel besser geworden.«
Rahel lächelt steif und nickt. Die Sache mit Herrn Kornelius behalte ich für mich. Vor allem seine Überlegung, mich zu heiraten.
Wir erreichen den nächsten Klassenraum und setzen uns. Haushaltsführung. Schwerpunkt in diesem Schuljahr: Vorbereitung auf ein Leben als Ehefrau. Das Thema heute: Wie umsorgt man seinen Mann, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt?
Die Übelkeit breitet sich meine Kehle hinauf aus. Wieso musste Rahel mich an den Unterricht erinnern? Mir wird die Brust eng. Will er mich wirklich heiraten? Ich denke an meine Mutter und es graut mir davor, eines Tages wie sie zu enden.
Im Literaturunterricht verteilt Frau Aquila die Aufsätze von letzter Woche. Sie bleibt bei mir stehen und sucht meinen auf ihrer Daten-Tafel.
»Ah, hier ist er ja.« Meine leuchtet auf, als sie ihre DV-Uhr in die Nähe hält. »Eine schöne Ausdrucksweise, Eva. Gut gemacht!«
Der Aufsatz mit ihren Bemerkungen erscheint auf dem Bildschirm.
»Danke, Frau Aquila. Das kommt bestimmt vom vielen Lesen und Schreiben«, antworte ich höflich und überfliege das Dokument.
»Was schreibst du denn, Eva?«, will sie wissen und schaut mich neugierig an.
Ich sehe auf. Warum habe ich geredet?! »Aufsätze ... Briefe, Reden für die Wohltätigkeitsveranstaltungen meiner Mutter ... «, stammle ich, »Nichts Besonderes!« Schon wieder fühlen sich meine Wangen heiß an. Wieso kann ich nicht so unscheinbar wie alle anderen sein?
Rahel dreht sich auf ihrem Platz langsam zu mir. »Du hast eine Brieffreundschaft!? Mit einem Mann?« Das letzte Wort presst sie hysterisch kreischend hervor.
»Was? Wie? – Nein! Mit der Tochter eines Geschäftskollegen meines Vaters. Meine Eltern kontrollieren jeden Brief. Voll öde! Da kann man nicht wirklich spannende Sachen schreiben.«
Wie wenig Rahel und ich uns kennen, obwohl sie meine vermeintlich beste Freundin ist.
Nach den Geschehnissen mit Lillit kam sie auf mich zu. Ich war einsam und empfand Rahel als mutig und aufmunternd. Es hat mir geholfen, meine Eltern waren begeistert. Sie kommt aus einer angesehenen Arztfamilie. Ich senke die Augen auf den Aufsatz. Um nichts in der Welt würde Rahel ihr Ansehen gefährden. Ich spüre ihren Blick auf mir ruhen. Ich brauchte nicht hinzusehen, um zu wissen, dass ihr der Vorwurf ins Gesicht geschrieben steht.
»Ich muss mit dir reden.« Das gestern Gehörte bereitet mir immer noch Kopfschmerzen.
Rahels Hand ruht auf dem Türknauf zum Pausenhof. Die Sonne scheint, die meisten Schülerinnen sind draußen. Ich mache keine Anstalten, ihr zu folgen. Sie hält inne und sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Meinen Witz scheint sie nicht verdaut zu haben.
»Geht das nicht draußen?« Sie klingt gelangweilt, desinteressiert. Ich schüttle kaum merklich den Kopf.
Im Essenssaal ist es trist. Die Lichter leuchten kalt auf uns herab.
»Was gibt es denn?« Widerwillig lässt sich Rahel auf einen Stuhl an einem Zweiertisch plumpsen. Ihre Augen schweifen misstrauisch hin und her. Ich zögere. Was ist denn mit ihr los? Gestern noch hat sie mir grinsend Süßigkeiten geschenkt und heute?
Ihre Miene ändert sich zu einem sorgenvollen Ausdruck: »He, ist alles in Ordnung? Hat dein Vater etwa noch keine Anfragen von Männern für dich bekommen?«
Ich starre sie an. »Äh, nein, darum geht es nicht«, druckse ich herum. Wie soll ich bloß anfangen? Ich überlege und rattere alles herunter, was ich gestern erfahren habe. Meine Stimme stolpert an manchen Stellen, weil ich Rahel keine Chance geben will, dazwischen zu sprechen. Als ich den Mund schließe, blicke ich sie mit angehaltenem Atem an. Meine Füße vollführen einen Tanz unter dem Tisch. Die Hände ruhen verkrampft vor meinem Teller.
Rahel schneidet gelassen ein Stück von ihrem Ameisenpuffer ab, taucht es in das Karotten-Weizen-Püree und kaut bedächtig. Ich sehe ihre Kiefermuskulatur langsam, geradezu rhythmisch arbeiten. Ihre grazilen Bewegungen sind perfekt, doch jetzt zerren sie an meinen Nerven. Endlich sieht sie mich an und scheint wenig beeindruckt. Mit einer Serviette tupft sie ihren Mund ab und seufzt. Ich komme mir wie ein kleines Kind vor, das darauf wartet, von seiner Mutter ein Bonbon zu bekommen.
»Na ja, wir wissen doch, dass die Festländer spinnen«, sagt sie freudlos.
Ich starre sie an, gehe jedes ihrer Worte in meinen Gedanken durch. Warte.
Sie schneidet ihren Puffer, ehe sie weiterredet: »Ich konnte letztens einen Blick in die Zeitung meines Vaters werfen. Die haben eine total hohe Arbeitslosigkeit dort drüben. Von der Kriminalität will ich gar nicht anfangen ... Aber das weißt du ja alles selber.« Sie kaut langsam und schluckt.
Mein eigenes Essen lasse ich unberührt.
»Drogen, Mord ... Keine Frau ist dort sicher. Wir könnten nicht einmal alleine über den Markt gehen. Die würden uns sonst was antun.« Rahel schüttelt ihren Kopf. »Und ungebildet sind die. Viele können nicht lesen und schreiben. Wenn die also den Wahlzettel in der Hand haben und einfach irgendwo ein Kreuz setzen, dann passiert genau das.« Sie spuckt das letzte Wort aus wie Gift. Ein weiterer Bissen verschwindet in ihrem Mund.
Ich starre auf mein Mittagessen. Alle Aufregung in mir ist verflogen. Lähmende Erkenntnis breitet sich in meinen Gedanken aus. Mein Kopf verabschiedet sich. Ihre Antworten sind logisch und vernünftig. Beklemmung zieht meine Schultern herunter. Ich fahre mit einem Finger über den Rand meines Tellers.
»Welche Frau stellt sich denn zur Wahl für die Präsidentschaft?«, frage ich kleinlaut.
Meine Freundin schnaubt und fährt mit einer Hand an ihren Mund. So etwas Undamenhaftes von ihr! Sie muss wirklich erzürnt sein!
Sie zischt kopfschüttelnd: »Na, eine Frau wie Lillit! Aber glaubst du, dass Lillit in der Lage wäre, unsere Insel zu regieren?« Ehe sie einen weiteren Happen aufspießt, atmet sie tief ein und aus.
»Nein ... Natürlich nicht.« Ich nehme mein Besteck in die Hand.
Lillit ist schlau, aber ein ganzes Land regieren? Unvorstellbar. Mir leuchtet nicht ein, warum sie unser System kritisiert.
Ich sehe mich um. Eine Aufseherin schaut grimmig zu mir. Sie achtet darauf, dass ich alles aufesse. Und das ist richtig. So geht es uns gut. Wir sind fein angezogen, haben jeden Tag etwas zu essen. Will ich wie die Festländer Minute für Minute in Angst leben, Hunger haben, nur weil ich darauf bestehe, mir den Mann selber auszusuchen?
Rahel legt plötzlich ihre Gabel weg und drückt meine Hand, die eben den Puffer zerteilen wollte. »Ich bin froh, eine Inselfrau zu sein. Froh, mir nicht meinen hübschen Kopf zerbrechen zu müssen, wie Vater. Er ist immer gestresst. Wir dürfen das Leben genießen, Eva. Was soll daran falsch sein?«
Tausend Antworten schießen mir durch den Kopf. Doch keine davon ist richtig, weil ich nicht richtig bin. Ich bin diejenige, die falsch ist. Ich bin nicht wie Rahel, so sehr ich es auch sein möchte. Ich kann es nur versuchen. Sie ist nicht traurig, weil ihre Brüder nichts mit ihr zu tun haben wollen. Sie geht gerne zum Klavierunterricht und muss nie ihr Kleid lüften. Ihre Mutter ist stolz auf sie und braucht keinen Schnaps, um sich ihre Tochter schön zu trinken. Ich zwinge mir ein Lächeln aufs Gesicht.
»Du hast recht, Rahel.«
Unsere DV-Uhren leuchten auf und retten mich vor anderweitigen Worten. Nicht ein weiteres würde ich ertragen. Ich fühle mich wie eine leblose Hülle. Leer und ausgebrannt.
Träge verrinnen die Sekunden meines Lebens. Ich zähle die Momente, in denen sich der graue Nebel in meinem Kopf lichtet. Die letzte Stunde für heute steht an. ›Gesellschaftskunde‹ oder auch ›Werbung für die Regierung‹, wie ich es heimlich nenne. Dieses Fach unterrichtet einer der wenigen, männlichen Lehrer, Herr Abraham.
Ich mache eine Liste auf meiner Daten-Tafel. Ein Quer-Strich, wenn er das Wort ›Frieden‹ benutzt. Ein Kreuz, wenn er das Wort ›Gerechtigkeit‹ nennt. Ein Punkt für das Wort ›Wohlstand‹. Meine Liste ist übersät von den kleinen Zeichen. Sie verhindern, dass ich einschlafe.
Der Lehrer unterbricht seinen Monolog und befiehlt uns, einen Text mit dem Titel ›Der Mann und seine Frau‹ auf der Datentafel zu lesen und abzuschreiben. In Schönschrift. Ein kollektives Stöhnen ertönt laut genug, um den Lehrer ein ›Ruhe!‹ in voller Lautstärke zu entlocken. Augenblicklich ist nur noch das dumpfe Schaben von unseren Stiften auf den Tafeln zu hören.
Der Mann und seine Frau
Die Frau ist von Natur aus nicht für Veränderungen gemacht. Dieses körperlich und seelisch schwache Geschlecht ist dazu geboren, dem Mann zu dienen. Hier trifft die lebensspendende Kraft auf ihren Beschützer und Versorger. Stärke und Vernunft sorgen dafür, dass die Frau in ihrer bewahrenden und empfangenden Existenz aufgehen kann. Sittsamkeit und Fleiß sind weibliche Tugenden, die jede Inselfrau auszeichnet. Dem gegenüber steht das kühne, zielstrebige und rationale Geschlecht. Während die Frau das Stete und Häusliche verkörpert, sorgt der Mann für Fortschritt. Es liegt in der Natur des Mannes, eine Dominanz gegenüber der Frau zu haben. Sein Intellekt und Urteilsvermögen sorgen dafür, dass die Frau sich auf ihn verlassen kann und ihre Ergebenheit den richtigen Nährboden findet, ihr Wankelmut und Flatterhaftigkeit aber Grenzen gesetzt bekommen.
Die Frau ist bemüht zu lernen, aber ihr Gehirn ist nicht in der Lage, höhere intellektuelle Aufgaben zu bewältigen.
Der Text erinnert mich an einen Streit zwischen Ariel und ihrem Vater mitten auf der Straße. Die Öffentlichkeit war ein Skandal. Seine Schläge weniger. Die Worte, die er ihr entgegen gespuckt hat, haben sich in meinen Kopf gebrannt: »Ihr Mädchen und Frauen seid eine unangenehme Notwendigkeit der Natur. Eure einzige Aufgabe ist es, den Nachwuchs zu gebären. Ihr werdet nie das Gleiche wert sein wie wir Männer!«
Ich schüttle den Kopf, um die Erinnerung von mir abzustreifen. Meine Gedanken gehen wieder auf die falsche Reise. Eine lästige Angewohnheit von ihnen. Die Folge sind Kopfschmerzen. Etwas, worauf ich heute gerne verzichten kann, weil mir noch ein heikles Gespräch mit meiner Mutter bevorsteht. Ich spüre ein Ziehen in meinem Gesicht, weil ich die Zähne zu fest aufeinanderpresse. Mühsam lockere ich die Kiefer. Die Datentafel summt auf und ich löse die verkrampften Finger vom Stift. Mit geballter Konzentration darauf, schön zu schreiben, verbanne ich jeden Gedanken an Ariel oder meine Mutter.
Die Stunde endet mit dem erlösenden Signal auf unseren DV-Uhren. Still erheben wir uns. Ich schüttle mein Handgelenk und schiebe den Stift in die Datentafel-Schlaufe. Es ist keiner mit Tinte wie früher, sondern einer, der auf dem Bildschirm schreibt.
»Bleibt es bei unserem Marktbesuch heute Nachmittag?«, fragt Rahel, als wir durch das Schultor treten.
Sie lächelt. Was hat ihr Gemüt besänftigt?
Ich seufze. »Aaron will nicht, dass ich gehe.« Ich presse die Lippen zusammen. »Ich hoffe, Mutter umstimmen zu können. Ich rufe dich an, in Ordnung?« Ich drücke sie und gehe zu Beth.
Aaron ist nicht zu Hause. Mutter sitzt im Damenzimmer und liest lächelnd auf ihrer Tafel. Die Gelegenheit, zu fragen.
»Mutter, Rahel und ich wollten heute über den Markt schlendern«, sage ich und versuche, dabei nicht drängend zu klingen, »ganz wie die feinen Damen.« Rahels Worte. Das passende Kichern kommt mir nicht über die Lippen. Mutter reagiert nicht, sondern liest unbeirrt weiter. Ungeduldig wechsle ich von einem Fuß auf den anderen. Bis sie endlich aufblickt und mich fragend anschaut.
»Du wolltest darüber nachdenken«, versuche ich es erneut.
»Du darfst gehen, Eva.« Ich schaue sie gefühlt minutenlang ungläubig an.
»Ist noch etwas?«, fragt sie mich und runzelt die Stirn.
Ich sollte aufhören, sie nur stumm wie ein Fisch anzuglotzen.
»Nein«, stammle ich, »Danke Mutter. Vielen Dank!« Ein breites Grinsen stiehlt sich in mein Gesicht und ich verschwinde, ehe Mutter es sich anders überlegt.
Oben in meinem Zimmer rufe ich Rahel an. Sie erzählt sofort, was sie für die Babysocken, die sie gerade strickt, braucht. Ich bekomme eine Gänsehaut. Ein Baby … Verantwortung. Ein Knoten bildet sich in meinem Hals.
»Rahel, ich muss mich zurechtmachen.«
»Ja! Ich auch! In einer Stunde dann?« Ihre Stimme überschlägt sich vor Aufregung.
»Genau. Bis dann.« Ich lege auf, bevor sie antworten kann.
Es klopft. Ohne abzuwarten, kommt Tirza herein. Lea scheint endlich nach Hause gegangen zu sein und das jüngere Dienstmädchen hat ihre Schicht angetreten. Sie hält ein nagelneues Kleid in Händen. Grauer Stoff mit schwarzen Stickereien und dezenten weißen Perlen wallt sich in ihren Armen. Mir dämmert es, wieso Mutter mich gehen lässt. Widerwillig ziehe ich mich um. Ursprünglich wollte ich damit nur Rahel abwürgen.
Auf dem Weg durch die Haustür mit Beth im Schlepptau ruft meine Mutter mit trällernder Stimme: »Immer schön lächeln, Eva!«
Mutter will, dass ich die ersten Herren auf mich aufmerksam mache. Das fördert den Wettbewerb zwischen ihnen und lässt die Preise steigen.
Auch Rahel ist in Begleitung ihres Kindermädchens, Tabea. Alleine, ohne Anstandsdame auf den Markt zu gehen, wäre nicht damenhaft. Doch Beth entschuldigt sich am Rand des Marktplatzes. Ihr sei warm und die Füße täten ihr weh. Sie setzt sich auf eine Bank in den Schatten und Rahels Kindermädchen leistet ihr Gesellschaft. Eine Sekunde tauschen Rahel und ich einen Blick, zucken kaum merklich mit den Schultern und schlendern weiter. Wir sind froh, alleine über den Platz bummeln zu können.
Der Markt ist gut besucht. Ein Tick zu gut für meinen Geschmack. Was am bevorstehenden Heiratsmarkt liegt. Die Menschen drängen sich um die Stände und es ist schwierig, unbehelligt zwischen ihnen hindurch zu schlüpfen. Mir wird heiß und ich spüre erste Schweißtropfen auf meiner Stirn.
Die Tische, auf denen die Ware angeboten wird, werden von Zelten aus robustem Stoff geschützt. Saum, Perlen und Muscheln wechseln sich mit den unterschiedlichsten Lebensmitteln ab. Gewürze – heimische und welche vom Festland – finden sich neben Meeresfrüchten oder Obstsorten, die ich nicht kenne. Dazwischen eine Menge Menschen. Verschiedenste Gerüche, von scharf bis süß, vermischen sich in der Sommerluft und lassen mich niesen. Rahel zieht missbilligend eine Augenbraue hoch. Eine Entschuldigung murmelnd versuche ich, die nächste Attacke zu unterdrücken.
Die Stimmen der Marktbesucher und das Schreien der Verkäufer liefern sich einen Wettkampf. Ich kann nicht sagen, wer gewinnt. Alle sind sie auf der Suche, in diesen Tagen besonders nach Kleidern und Stoffen in allen erdenklichen Farben.
Mutter ist zum Glück heute Vormittag auf dem Markt gewesen. Das wird ihre tägliche Routine sein, bis sie das perfekte Kleid für sich und vor allem für mich gefunden hat.
Weitere Modegeschäfte, Friseure und Schneidereien finden sich in den Häusern, die den Marktplatz umgeben. Nur hier haben sich Gebäude früherer Zeiten gehalten. Überall sonst wurden sie ersetzt. Genau das macht diesen Ort, trotz seiner grauen Präsenz, schön: Die abwechslungsreiche Architektur und die Auslagen der Händler bieten etwas zu bestaunen. Ein Vorgeschmack auf das Spektakel in einer Woche. Bunte Fahnen werden am Sonntag den Platz schmücken, Musik wird erklingen und die köstlichsten Gerüche über der Menge hängen. Der Heiratsmarkt ist nicht nur ein Markt für die älteren Mädchen und Männer, sondern ein Fest für die ganze Familie. Ich bin immer gern hingegangen. Dieses Jahr würde ich lieber zu Hause bleiben.
Eine sanfte Brise kommt auf und ich genieße die kurze Erfrischung. Rahel sonnt sich unter den Blicken der Männer. Sie stolziert mit mir Arm in Arm und wedelt sich mit ihrem Fächer Luft zu. Dabei lässt sie wie zufällig immer wieder ein Lächeln durchblitzen oder verweilt ein wenig länger auf den Gesichtern der Herren, die mutiger werden und vorab einige Blicke riskieren. Ich wäre am liebsten unsichtbar. Die meiste Aufmerksamkeit gilt ihr, auch wenn sie höflich behauptet, dass sie genauso mich betreffen. Ich weiß es besser. Gegen sie habe ich keine Chance. Mich hat die Verwandlung in eine Frau mit fettigen Haaren, Pickeln und Speck an den falschen Stellen aus der Bahn geworfen. Die Diät von Mutter hat bewirkt, dass meine Oberweite nicht wirklich gewachsen ist, und die gebogene Nase noch riesiger in meinem hageren Gesicht wirkt. Dafür sind mein Po und meine Beine umso dicker. Lange Füße, für die es kaum schöne Schuhe gibt, vollenden mein Erscheinungsbild. Rahel dagegen wird mit jedem Tag hübscher, weiblicher. Wie eine Frucht, die man gern pflückt. Ich vergammle, bevor ich reif geworden bin.
Wir gönnen uns einige Leckereien und Rahel kauft sich einen hellgrauen Stoff und dunkles Garn. Daraus möchte sie sich ein Haartuch nähen.
»Ich zeige dir, wie ich das mache. Ist ganz leicht, wenn man den Dreh raushat, Eva«, sagt sie zu mir und lächelt mich an. Dabei wirken ihre Gesichtszüge wie eingefroren. Ich zwinge mich, zu nicken. Auch wenn sie eine ausgelassene Fröhlichkeit an den Tag legt, spüre ich ihre angespannte Haltung mir gegenüber. Immer wieder erwische ich sie, wie sie mich beobachtet. Beim sehnsuchtsvollen Lippenlecken an den Süßgkeitenständen oder beim Bestaunen von Schmuckstücken. Sie nimmt mir meinen Scherz von heute Morgen noch übel.
Ich gehe in mich und versuche, mich mit der Rolle der zukünftigen Ehefrau abzufinden, und schaue aufmerksam die Stände ab. Ich will es ihr recht machen. Doch ich ringe mich nicht dazu durch, mein wertvolles Taschengeld für Stoff oder Kleidung auszugeben. Am nächsten Stand für getrocknete Früchte kann ich nicht widerstehen.
Wir spazieren auf das Marktzentrum zu, wo die Lucretia-Statue steht. Eine weiße Frau, die von Kopf bis Fuß verhüllt ist. Ihre Hände halten ein Messer und einen Spiegel. Lockige Haare wallen unter den Tüchern hervor und reichen ihr bis zu den Füßen. Gewaltig prangt sie vor uns auf einem Sockel, der von mehreren Treppen umgeben ist. Es liegen frische Blumen auf den Stufen. Zur Verschönerung eines Raumes oder Ortes sind Pflanzen verpönt, aber nicht hier. Jemand hat geheiratet und es ist Brauch, vor jeder Trauung Blumen vor die Statue zu legen, um Lucretia zu ehren, die lieber starb, als unehrenhaft weiterzuleben. Sie wurde von einem Cousin ihres Ehemannes vergewaltigt. Sie fühlte sich entehrt und wollte ihrem Mann nicht zumuten, mit einer ehrlosen Frau zusammenzuleben.
Wann immer ich vor ihr stehe, klumpt sich mein Magen zusammen. Ihr wird Gewalt angetan und sie ist schuldig.
Ich setze mich neben Rahel auf den Sockel. Eine Tüte voll Datteln versüßt mir unsere Pause. Sie sind saftig und klebrig. Meine Freundin hält ihr Gesicht in die Sonne. Nur kurz. Keine von uns will vor dem Heiratsmarkt Farbe bekommen. Je weißer unsere Haut, umso höher der Preis.
Plätze im Schatten werden frei und wir rutschen auf die andere Seite des Sockels. Hier haben wir einen Blick auf ein Holzhaus, das unter Denkmalschutz steht. Es besteht aus massiven Baumstämmen, die übereinander gereiht sind. Die anderen Häuser, die den Marktplatz umgeben, bestehen aus Stein. Ich stellte mir vor, in einem Haus mit dem Geruch von Bäumen zu leben. Unwillkürlich verziehen sich meine Mundwinkel zu einem Lächeln.
»Es stimmt tatsächlich«, unterbricht Rahel meine Gedanken. Ich schaue zu ihr. Fragend.
»Die neue Mode fällt dieses Jahr sehr spärlich aus.«
Mir ist nicht aufgefallen, dass weniger Kleidung verkauft wurde.
»Die Stände mit der Garderobe für den Heiratsmarkt waren wirklich ärmlich bestückt. Und die Geschäfte dort«, sie zeigt auf die Läden in den Häusern uns gegenüber, »haben auch darüber geklagt, dass sie keine neue Ware geliefert bekommen und die Kleider vom letzten Jahr verkaufen müssen.« Ihre Mundwinkel sind missmutig nach unten verzogen.
Sie glaubt wohl, dass eine geringe Auswahl die Chancen auf das perfekte Kleid senkt. Ich zucke mit den Schultern. Mir ist das egal. Meine Chancen auf ein Kleid, das mir gefällt, steigen, wenn Mutter keine große Auswahl hat.
»Vielleicht haben sie dieses Jahr zu spät mit dem Nähen begonnen und die neuen Kleider werden Montag geliefert.« Etwas Besseres fällt mir nicht ein.
Rahel antwortet nicht. Ich sehe von meiner Tüte zu ihr. Sie ist aufgestanden und versucht, über den Köpfen einer aufkommenden Menschenmenge einen Blick auf etwas zu erhaschen. Es ist ungewöhnlich unruhig. Wahrscheinlich wegen eines Hauptdarstellers des Theaters oder eines berühmten Musikers. Es interessiert mich nicht. Ich bin froh, dem Thema Mode zu entkommen, und greife in meine Datteltüte.
Ihr spitzer Schrei zerreißt mir beinahe das Trommelfell. Rahel keucht und hält sich die linke Hand erschrocken vor dem Mund. Ihre rechte Hand wedelt in der Luft herum. Ich brauche einen Moment, bis ich verstehe, dass sie mir etwas zeigen will. Irritiert erhebe ich mich und schaue, wohin ihr Finger deutet.
In einer Reihe kommen Frauen mit Masken über den Markt marschiert. Den linken Arm erhoben, überkreuzen sie ihre Zeige- und Mittelfinger zu einem Symbol. Sie starren durch kleine Öffnungen in den Masken nach vorne. Drängen sich durch die Menge. Wie eine Mahnung, eine Drohung. Mein Herz hämmert in meiner Brust und ich bekomme eine Gänsehaut. Die Marktbesucher um uns herum bleiben stehen und starren auf die Frauen, die direkt auf uns zukommen. Rahel und ich drängen an die Statue, als ob die Berührung mit den Maskierten wehtun könnte.
Sie laufen an uns vorbei und ich höre ihren Gesang. Er ist leise. Monoton. Ein stetiger Takt: »Lügen. Ungerecht. Wehrt euch. Steht auf. Schreit.«
Plötzlich fühlt sich die Luft an, als würde sie explodieren. Männer brüllen, Frauen kreischen. Die Schutzwehr kommt in voller Montur auf den Marktplatz gehechtet und versucht, die Maskierten zusammenzutreiben. Diese lösen sich auf, verteilen sich. Ich sehe, wie drei von ihnen das Holzhaus emporklettern. Sie hangeln sich über abstehende Balken bis aufs Dach.
Jemand schubst mich und ich falle gegen Rahel. Sie hält sich an meiner Hand fest. Ihre Augen sind geweitet und ihr ganzer Körper zittert. Ich wende den Kopf von links nach rechts. Die Schutzwehr hat ein heilloses Durcheinander verursacht. Männer und Frauen hasten hin und her, versuchen, dem Platz zu entfliehen.
Ich ziehe meine Freundin die Treppenstufen hinauf. Der Sockel reicht mir bis knapp über die Schultern. Ich kralle mich in den Stein, der dank vieler Jahre durch Wind und Wetter aufgerieben wurde. Mit den Händen ziehe ich mich hoch und schaffe es, meine Beine über den Rist zu heben. Dann stehe ich oben, keuchend, die Füße auf Lucretias. Meine Hände und Knie sind aufgeschürft. Ich spüre den Schmerz nicht. Mein Blick gleitet nach unten. Ich helfe Rahel, die es alleine nicht schafft.
Hier oben sind wir sicher, pressen uns an Lucretias Beine. Sehen zu, wie die Menschen zusammengetrieben werden. Einige fallen, es wird über sie hinweg getrampelt. Keiner nimmt Rücksicht. Männer lassen ihre Familien zurück. Ich höre Rahels hektischen Atem. Ihr Gesicht ist verzerrt.
Die Schutzwehr sucht weiter nach den maskierten Frauen. Durchkämmt die Markthäuser, drängt unschuldige Besucher zusammen. Waren krachen zu Boden. Stände, die nicht feststehen, stürzen um. Panik regiert. Die Schutzwehr ist nicht in der Lage, Ordnung in das Chaos zu bringen.
Mein Herzschlag beruhigt sich. Ich schüttle den Kopf. Was für ein Armutszeugnis. Meine Freundin klammert sich ununterbrochen an mir fest. Ihr Blick zuckt immer wieder hektisch nach unten. Ich streichle ihr tröstend den Rücken, fühle mich selbst vollkommen sicher. Wir müssen nur abwarten, bis alles vorbei ist. Dann können wir nach Hause.
Ich lehne mich an den kalten Stein der Statue, hole meine Datteln heraus und beobachte, wie der Markt zu einem Schauplatz des Krieges wird. Herein und heraus kommt man nur durch wenige, enge Gassen. Es gibt eine einzige Zufahrtsstraße, welche die Schutzwehr mit ihren Fahrzeugen versperrt hat. Die Menschen blockieren sich gegenseitig bei dem Versuch, durch die engen Straßen zu kommen. Ich hoffe, Beth und Tabea haben es rechtzeitig geschafft.
Rahel schaut mit geweiteten Augen auf ihre Hände. Ich habe nicht bemerkt, dass sie angefangen hat, zu beten. Die überkreuzten Finger sind verkrampft, die Arme beben und ihre Lippen wispern unablässig Worte.
Ungerührt sehe ich auf und erstarre – sehe ihn. Seine rotblonden Haare stechen in der Masse hervor. Was macht er hier? Sucht er jemanden? Seine Schwester? Gesehen habe ich Ariel nicht. Ich unterdrücke den Impuls, ihn zu rufen, und sehe an mir hinab. Mein Kleid ist zerrissen und meine Hände sind schmutzig. Er darf mich nicht sehen. Ich beobachte, wie er vor der Statue auf und ab läuft. Vielleicht ist Aaron bei ihm?
Doch auch ihn kann ich nirgends entdecken und starre wieder zu Chamuel. Er hält sich die DV-Uhr vor das Gesicht. Mit wem er wohl telefoniert? Mit der anderen Hand fährt er durch sein Haar, sodass es zu allen Seiten absteht. Im Gegensatz zu meinem Bruder ist er nicht auf sein Äußeres bedacht, zieht häufig wie heute Jeans und Hemd an. Ich mag das. Ich weiß von Schwärmereien, die auf der Mädchentoilette stattfinden, dass ihn viele gutaussehend finden.
Mein Kiefer spannt sich. Jeder kennt die Realität. In ihr stehen wir nicht an der Seite eines jungen, gutaussehenden Mannes, sondern an der eines Herren mit Bart und dickem Bauch. Auch mein Vater trägt einen großen, langen Schnurrbart. Er zwirbelt ihn, wenn er seine Reden am Esstisch schwingt, sodass mir schlecht wird. Ich finde dieses Gestrüpp im Gesicht widerlich.
Chamuel senkt sein Handgelenk und stolpert suchend weiter. Sein Blick streift die Statue und ihm klappt der Mund auf. Er sieht direkt in mein Gesicht, erstarrt, als könne er es nicht glauben. Ich höre ein Rauschen und Hitze wandert meinen Hals hinauf. Wieso habe ich ihn auch so angestarrt? Erleichterung breitet sich auf seinem Gesicht aus und er hebt den Arm.
Hat er mich gesucht? Mein Herz macht einen Hüpfer und ich wische meine Hände am Rock ab. Sie sind ganz verschwitzt. Wie ich im Gesicht aussehe, will ich gar nicht wissen.
Chamuel eilt zur Statue und beginnt, sie hochzuklettern. Freude und Entsetzen packen mich. Ich sehe zu Rahel. Sie sieht aus wie ein Engel in Not, die Lieblichkeit in Person.
Er braucht nicht lange und ist Sekunden später bei uns, ohne sich schmutzig zu machen, wie mir auffällt.
»Geht es euch gut? Eva? Bist du verletzt?«
Sehe ich so schlimm aus? Ich schüttle den Kopf: »Alles gut. Wir haben uns rechtzeitig in Sicherheit gebracht.«
Rahel fängt lautstark an, zu weinen. Sie wankt gefährlich und Chamuel packt sie am Arm. Er taumelt auf dem schmalen Sims, hält sich aber.
»Es war furchtbar. Ich hatte solche Angst«, schluchzt meine Freundin. Sie krallt ihre Hände in sein Hemd und wimmert kläglich. Ein Stich durchzuckt mich, fährt mitten in mein Herz.
Er drückt sie etwas zurück. Seine Gesichtszüge verzerren sich zu einer hilflosen Grimasse, der Blick huscht zu mir.
Ich spüre meine steinerne Miene. Wut wallt in mir auf. Am liebsten würde ich Rahel vom Sims schubsen. Was ist los mit mir?
»Ähm«, räuspert er sich. »Jetzt ist ja alles gut. Also, Garda, könntest du mich loslassen, dann hole ich Unterstützung.« Er versucht erneut, Abstand zu gewinnen, und drückt sie gegen Lucretia.
»Rahel, sie heißt Rahel«, werfe ich ein – irgendwie zickig und irgendwie erleichtert.
»Entschuldigung. Rahel.« Chamuels Gesicht läuft rot an. Die Farbe schluckt einige seiner Sommersprossen. Ist er etwa verunsichert?
Er schiebt die Frau in Nöten endgültig von sich, doch sie hört nicht auf, zu weinen. Vielleicht sollte ich ihr einfach meine Datteltüte in den Mund stopfen! Es ist doch überhaupt nichts passiert.
Chamuel klickt seine DV-Uhr an und telefoniert.
»Aaron, kommt. Er hat auf der anderen Seite des Marktes nach dir gesucht«, teilt Chamuel mir mit und telefoniert erneut. Hat Aaron seine Freunde auf mich angesetzt? Die Wut in meinem Bauch verfliegt. Ich sehe zu Rahel. Sie kommt keiner suchen.
»Hast du jemanden, den ich anrufen kann, Rahel?«, fragt Chamuel. Ob er meine Gedanken lesen kann?
Sie schüttelt den Kopf. Ihr Vater ist gewiss bei der Arbeit und ihre Brüder sind zu klein. Fünf Jahre jüngere Zwillinge, um die ich sie nicht beneide. Eine Ausnahme auf der Insel. Jede Familie muss zwei Kinder haben, einen Jungen und ein Mädchen. Die Reihenfolge ist egal. Damit sichergestellt werden kann, dass die zweite Schwangerschaft das gewünschte Geschlecht hervorbringt, wird künstlich nachgeholfen. Männliche Zwillinge sind erlaubt. Ist ein Sohn als zweites Kind nicht lebenstauglich, dürfen die Eltern einen Antrag auf eine dritte Geburt stellen.
Rahel schluchzt immer noch. Ihr Getue zerrt an meinen Nerven. Das stetige Wimmern kratzt wie ein Stein über meine bröckelnde Selbstbeherrschung. Obwohl der Marktplatz sich allmählich leert und die Schutzwehr offenbar ihre Aufgabe erledigt, beruhigt sie sich nicht.
Chamuel schaut mich an und dann auf den Boden. »Ich denke, wir können wieder runter. Ich zuerst und dann ihr. in Ordnung?«
Ich nicke. Er springt und landet geschmeidig auf den Füßen. Dann stellt er sich auf den Sockel und streckt seine Arme in die Höhe.
»Rahel, komm! Chamuel fängt dich auf.« Ich helfe ihr, sich rückwärts hinuntergleiten zu lassen. Sie wimmert, als hinge sie an einem Abgrund. Chamuel umgreift ihre Taille und hebt sie herunter. Rahel schmeißt sich zu ihm herum und sucht Halt. Ich beiße mir auf die Zunge, durchschaue ihr Spiel. So ungeschickt kann selbst sie nicht sein.
Chamuel zieht unbeholfen den Kopf zurück, blinzelt und versucht, sie wegzuschieben. Schluchzend und wankend bringt Rahel Abstand zwischen ihn und sich – etwas zu langsam für meinen Geschmack. Ich wende mich ab und atme durch. Mein Herz schlägt mir heftig bis zum Hals und meine Hände sind zu Fäusten geballt. Was ärgert mich bloß an Rahels Verhalten? Ich kenne sie doch, hilfsbedürftig und wehleidig.
Ein- und ausatmen, Eva!
Einen Hauch zu energisch werfe ich meine Tasche herunter. Ich verfehle ihren Kopf nur um Haaresbreite. Chamuel blinzelt mich verdutzt an, aber ich fahre eilig herum. Mit den Füßen stemme ich mich gegen den Sockel und kralle mich an den Rist. Ich stoße mich ab, lasse los und falle direkt gegen Chamuel. Kräftige Arme halten mich fest. Ich spüre sein Herz an meinem Rücken klopfen. Ein Geruch nach frischer Minze dringt mir in die Nase. Hastig stoße ich mich von ihm weg. Taumelnd versuche ich, das Gleichgewicht zu halten, und drehe mich zu ihm um. Kurz blicke ich in seine Augen, er schaut hastig weg und fährt sich mit der Hand durch seine Haare. Mir wird erneut ganz warm.
»Hast du dir wehgetan?«, fragt er. Ich sehe an ihm vorbei. Glaubt er, ich bin so eine Memme wie Rahel? Ich schüttle steif den Kopf und versuche zu ignorieren, dass sein Gesicht die Farbe seiner Haare angenommen hat.
Ein spitzes Jammern. Ich unterdrücke nur mühsam ein Stöhnen. Sie ist wie ein Kind, das Aufmerksamkeit sucht.
Hände packen mich und ich werde an eine harte Brust gedrückt.
»Mensch, Eva! Geht es dir gut?« Mein Bruder schiebt mich von sich und mustert mich von oben bis unten. Er sieht meinen zerrissenen Rock und runzelt die Stirn.
»Mir geht es gut, Aaron!«
Er drückt mich erneut und küsst mich auf meinen Scheitel.
»Beth muss hier irgendwo sein«, erinnere ich mich mit Schrecken an die Kindermädchen.
Er lässt mich nicht los. »Ihnen geht es gut. Sie waren es, die mich angerufen haben.«
Die Worte dringen nur langsam in meinen Kopf. Über seine Schulter hinweg sehe ich Rahel, wie sie verloren neben Chamuel steht. Er scheint die Nähe zu ihr nicht zu suchen.
Nathan und Jacob stürmen auf uns zu. Aaron klatscht alle ab und bedankt sich für ihre Hilfe. »Ab nach Hause. Auf diesen Schreck könnte ich was zu essen gebrauchen.«
Erst jetzt bemerkt er meine Freundin: »Kommt dich jemand abholen?«
»Nein«, schluchzt sie. Rahels Verzweiflung prallt an Aaron ab. Er hat sich nie für sie interessiert.
»Ich kann sie fahren.« Nathans tiefe Stimme lenkt Rahels Aufmerksamkeit auf sich. Als Arzt-Sohn kennt er ihre Familie.
Aaron nickt. Sie macht einen Knicks und schaut verdächtig lange zu Chamuel. Tränen kullern über ihre fleckigen Wangen:
»Danke! Danke, dass du mich gerettet hast!«
Sein Kopfschütteln irritiert mich. Die meisten reagieren anders auf Rahel. Aaron und Jacob lachen. Mein Gehirn fühlt sich verknotet an – ich bin k.o., eindeutig.
»Bist du mit dem Auto da, Aaron? Ausnahmsweise hätte ich nichts dagegen.« Hoffnungsvoll schaue ich auf. Meine Glieder erinnern sich allmählich, dass sie rauen Stein hinaufgeklettert sind. Mir brennen Knie und Hände.
Er lacht erneut. »Ich nicht, aber Chamuel. Fährst du uns nach Hause?«
»Ja klar. Wir sind ja sowieso heute Abend bei dir. Oder ist dein Vater zu Hause?«
»Nein, wir haben das Herrenzimmer für uns.«
Aaron nimmt mich bei der Hand. Gemeinsam verlassen wir als Letzte den Marktplatz. Jacob albert herum. Er scheint Chamuel auszulachen. Ich grinse. Was Jacob so lustig findet? Eine Sekunde erlaube ich es mir, diesen Anblick aufzusaugen. Chamuels hochroten Kopf erlebt man nicht alle Tage.
»Wieso bist du auf den Markt gegangen, obwohl ich es dir verboten habe, Eva?«, bringt Aaron meine Gedanken auf die lästigen Dinge des Tages.
»Mutter hat es erlaubt. Wegen des Heiratsmarktes. Ich sollte mich sehen lassen. Konnte doch keiner ahnen, dass so was passiert.« Was auch immer das zu bedeuten hatte.
Aaron schüttelt den Kopf, sagt nichts und drückt meine Hand fester.
Chamuel hat ein Auto vom Festland, das erkenne ich sofort. Es ist braun-beige mit roten Streifen und schnittig gebaut – nicht grau und kastenartig, wie alle anderen Fahrzeuge der Insel. Er muss eine Menge Geld für den Wagen bezahlt haben. Wie hat er überhaupt eine Genehmigung dafür bekommen? Vater würde ausrasten, wenn Aaron solch ein Auto in Erwägung ziehen würde.
»Es sieht toll aus!«
Jacob schnaubt und ich verfluche mich, das laut gesagt zu haben.
»Halt den Mund, Jacob«, warnt ihn Aaron sofort.
Sein Freund hält sich die Hand vor dem Mund, Chamuel nickt nur und boxt Jacob in den Oberarm. Ich verstehe nur Bahnhof, steige mit Aaron hinten ein und lehne mich an ihn. Mit einem leisen Brummen fahren wir los. Chamuel macht etwas Musik an. Ich lächle und schließe die Augen. Der ganze Tag kommt mir auf einmal nur halb so schlimm vor, trotz des Vorfalls.
»Habt ihr die Frauen auch gesehen?« Ich muss einfach fragen, auch wenn ich den Moment dadurch zerstöre. Es wird still im Auto. Selbst Jacob hört auf, aufgeregt zu plappern, und wirft Aaron einen zögerlichen Blick über die Schulter zu.
»Nein«, antwortet mein Bruder bedächtig. »Nein, ich habe nur die Schutzwehr von ihnen sprechen hören. Haben sie dir was getan?«
»Nein. Sind nur über den Markt gegangen und dann kam auch schon die Schutzwehr. Ich wüsste nur zu gern, was die wollten. Und heute Morgen der Schriftzug am Tor ...«
Ich blicke fragend zu Aaron. Er hat die Lippen aufeinandergepresst.
»Wer weiß schon, was in deren Köpfen vor sich geht«, meint er und macht eine wegwerfende Handbewegung. Ein künstliches Grinsen huscht über seine Züge.
»Vielleicht sind das die Frauen aus dem Lager?«, wirft Jacob ein. »Die sollen verrückt sein.«
Aaron schaut ihn lange und emotionslos an. Sein Freund zuckt mit den Schultern.
»Aus dem Lager?«, murmle ich.
»Mach dir keinen Kopf, Eva. Du musst nur auf dich aufpassen.«
Ich ziehe die Augenbrauen zusammen. Die Jungs verschweigen mir etwas. Das ist nicht ungewöhnlich. Aber was Jacob eingeworfen hat – das ist ungewöhnlich.
Es klingelt.
Das wird wohl Nathan sein. Sie wollen ihre Zusage für die Regierungsschule feiern. Sie stampfen durchs Haus, sodass ich sie bis in mein Zimmer höre. Gelangweilt liege ich auf meinem Bett und starre zur Decke hinauf. Ich sollte ihnen empfehlen, Fabrikarbeiter oder Maschinenbauer zu werden. Würde besser passen.
Meine DV-Uhr piept. Mutter. Ich stehe auf. Sie ist völlig aufgelöst wegen des Aufruhrs auf dem Marktplatz. Obwohl ich nur Ruhe haben will, hat sie mich in der letzten Stunde mindestens sieben Mal hinunter bestellt.
Ich reiße verärgert meine Tür auf und stürme hinaus – mitten hinein in zwei Arme. Verdutzt blicke ich auf eine Brust. Das Hemd kommt mir bekannt vor. Hastig stoße ich Chamuel weg, als ob ich mich verbrannt hätte, und stammle eine Entschuldigung. Dabei hat er mich fast umgerannt. Ich sehe auf. Mein Kopf muss in Flammen stehen.
Er lächelt und sieht mir fest in die Augen. »Habe ich dir weh getan?« Er. Mir. Zum zweiten Mal heute.
»Ähm, nein.« Mich schwindelt es. Meine Stimme ist kaum ein Flüstern. Ich packe das Geländer und warte, dass er geht. Mit einer Verbeugung gibt er mir zu verstehen, dass ich vorgehen soll. Kleiner Scherzkeks. Die Treppe vor ihm runterzugehen, ist die reinste Tortur. Bei jeder Stufe spüre ich seinen Blick in meinem Rücken. Wie durch ein Wunder gelange ich nach unten, ohne zu fallen oder auf den Rock zu treten. Ich sehe, dass die Jungs sich im Herrenzimmer versammelt haben und blicke verlegen zu Chamuel.
»Hübscher Rock, Eva! Obwohl der zerrissene mir auch gut gefallen hat.«
Ich starre ihn an. Ein leises Lachen dringt aus seiner Kehle. Mir wird heiß und kalt zugleich. Seine Augen strahlen etwas Ehrliches aus. Ihre Wärme sickert in mich hinein und füllt meine Brust aus. Er schlendert ins Herrenzimmer und kurz bevor er die Tür schließt, zwinkert er mir zu.
Stille.
Etliche Sekunden vergehen, ehe ich mich aus meiner Starre löse. Was ist da grad passiert?
Verwirrt gehe ich zu Mutter ins Damenzimmer. Sie sitzt auf der Couch und sieht mit strengem Ausdruck zu mir.
»Aaron hat Besuch, du darfst auf deinem Zimmer essen.«
»Ja, Mutter.« Mit seinen Freunden von ihm zusammen essen zu müssen, wäre das schlimmere Übel.
Ich gehe in die Küche, um mir Abendbrot zu holen. Ich nehme einen Teller aus dem Regal und höre Schritte hinter mir. Mein Bruder stolziert herein und bleibt schlagartig stehen. Seine Augenbrauen wandern nach oben und sein Mund steht offen. Ich grinse.
»Was machst du denn hier unten. Ich dachte, du wärst in deinem Zimmer?« Sein vorwurfsvoller Ton schlägt mir ins Gesicht.
Was ist sein Problem? Mir vergeht das Lächeln.
»Ich muss mein Essen holen, Aaron. Wenn ich darf?«
»Sicher.« Er schaut beschämt zu Boden. »Stört dich doch nicht, allein zu essen, oder? Wir Jungs wollten unter uns bleiben.«
Mit zittrigen Fingern lege ich mir zwei Scheiben Brot auf meinen Teller. Der Tag heute. Der Zusammenprall mit Chamuel. Mein Bruder, der mich loswerden will. Wut steigt in mir auf. Als ob ich mich aufdrängen wollte. Was denkt er nur?
Ich blicke ihn kühl an. »Natürlich nicht.« Ich erschrecke mich vor meiner eigenen Stimme. Sie klang abschätzig.
Ich verlasse so elegant wie möglich den Raum und stoße mich am Türrahmen. Vor Schmerzen lasse ich den Teller los und das Essen fällt zu Boden. Eva, du bist so dumm! So, so dumm! Ich bücke mich, fixiere angestrengt das Brot, um nicht loszuschreien, aber eine andere Hand ist schneller.
»Lass es einfach sein!«, zische ich zornig. Mein Kopf schnellt in die Höhe. Ich hole Luft, um ihn anzuschreien, doch die Worte bleiben mir im Hals stecken. Es ist Chamuel, der mir hilft. Mir klappt der Mund auf und mein Körper erstarrt. Routiniert pumpt mein Herz das Blut in meinen Kopf. Er ist einfach überall!
»Ist schon gut, Eva. Dein Bruder hat Angst, dass wir uns vor dir nicht benehmen.« Dieses Grinsen raubt mir den Verstand.
Ich blicke schnell zu Boden und klappe meinen Mund zu. Du bist schon hässlich genug, Eva!
Beim Aufsammeln der Radieschen berühren sich unsere Hände und ich zucke zusammen. Habe ich einen Stromschlag bekommen? Chamuel blinzelt mich an. Die Zeit scheint stillzustehen. Ich betrachte seine Augen, blicke in dieses tiefe, leuchtende Grün. Ich sehe nicht weg. Er ist es, der den Blickkontakt unterbricht. Ich rühre mich nicht, hocke einfach so da. Was hat dieser Chamuel bloß, dass er es schafft, mich immer wieder in peinliche Situationen zu bringen?
Ein Räuspern ruft mir in Erinnerung, dass wir nicht allein sind. Eilig sammle ich den Rest auf meinen Teller und fliehe auf mein Zimmer.
Die Jungs haben eine Menge Spaß. Ich höre sie lachen und reden. Schlafen kann ich bei diesem Lärmpegel nicht. Warum müssen sie ausgerechnet bei uns feiern? Es gibt Männerklubs in der Stadt, in denen sie sich normalerweise treffen. Gut, dass Vater nicht da ist. Der hätte Aaron etwas erzählt. Mein Vater ist nie ausgelassen. Immer hat er sich unter Kontrolle. Ob er in seinen jungen Jahren anders war? Kaum vorzustellen.
Schläfrig kreisen meine Gedanken um die maskierten Frauen, um die Zukunft und manchmal auch um zwei grüne, dicht bewimperte Augen. Chamuel. Ich seufze. Es wäre besser, er würde aus meinem Kopf verschwinden.
Unbewusst legt sich meine Hand zwischen meine Beine. Die verbotene Zone. Ich zögere, denn ich weiß, dass diese Gefühle Sünde sind und dass ich mich dort nicht anfassen soll. Es ist widerwärtig, schmutzig und unrein.
Ich schmiege die Hand sanft in den Schoß. Wenn der Druck in meinem Kopf zu groß wird, verschafft mir dieses Streicheln jedoch wahre Linderung. Es ist zu schön, das Kribbeln, ausgelöst durch eine kleine Berührung. Ich stelle mir vor, dass es seine Hand ist. Eine Welle des Hochgefühls überrollt mich und fast hätte ich gestöhnt. Wer blickt mich aus seinen tiefgrünen Augen an?
Chamuel.
Ich lasse den Laut über meine Lippen kommen – aus Verzweiflung.