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EVA

Herrschaft

von Franziska Szmania (Autor:in)
520 Seiten
Reihe: Selvia-Reihe, Band 1

Zusammenfassung

Düster, realistisch und packend.

Ausgezeichnet mit dem 3.Platz des Tolino media Newcomer Preis 2021.

»Es war besser, als ich von alledem nichts wusste. Leichter. Jetzt warte und bange ich.«

Vor 200 Jahren hat die Insel Selvia sich vom Festland abgeschottet. Eine gewaltige Mauer wurde gebaut, um die Bevölkerung vor den massiven Unruhen auf dem Festland zu schützen.

Technisch und medizinisch hochentwickelt, ähnelt ihr gesellschaftliches System noch immer dem von vor 200 Jahren. Die Regierung unter Präsident Adam hält unangefochten an dem Herrschaftsrecht der Männer fest. »Nur wenn die natürliche Geschlechterordnung beibehalten wird, kann Frieden und Wohlstand herrschen.« (Präsident Adam in seiner Rede zum 200-Jährigen Jubiläum der Mauer)

Eva, Tochter eines Kaufmannes, steht kurz vor einem bedeutenden Ereignis in ihrem 16-jährigen Leben: der Heiratsmarkt. Der Preis, den sie erzielt, bestimmt ihren Wert und ihre Zukunft. Eine Rebellion stellt diesen Wert in Frage und ihr Leben auf den Kopf. Was ist noch wahr in einer Welt, in der nichts so scheint, wie sie es jahrelang geglaubt hat.

EVA Herrschaft ist Teil der Selvia-Reihe, kann aber eigenständig gelesen werden und ist in sich abgeschlossen.

Enthält Szenen mit Angst, Gewalt und Tod.

(Selvia-Reihe: EVA Herrschaft und MARTHA Anarchie)

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


ÜBER DAS BUCH

Eva, Tochter eines Kaufmannes, lebt in einer Welt, in der die Männer regieren und Frauen keine Rechte haben. Für sie eine Normalität, die sie nicht in Frage stellt. Doch der bevorstehende Heiratsmarkt und eine aufkommende Rebellion wecken Zweifel in ihr.

Zweifel, die sie nicht haben darf, Gedanken, die verboten sind, und Worte, die unerhört bleiben müssen. Jeder Versuch, sich den Geschehnissen zu entziehen, misslingt und am Ende muss sie erfahren, wozu die Männer, die geschworen haben, das schwache Geschlecht zu beschützen, fähig sind. Wird sie es schaffen, der Dunkelheit zu entfliehen und die Wahrheit über sich und ihre Heimat Selvia herauszufinden?

Buch enthält Szenen mit Angst, Gewalt und Tod.

Für Carmen-Lysann und Marc

Ihr seid das Licht in meiner Dunkelheit.

10 TAGE VOR DER DUNKELHEIT

Inmitten einer Mädchenschar schlendere ich durch den Eingangsbereich unserer Schule in den Innenhof. Ich habe heute die Ehre, den Morgenappell zu leisten. Es ist nicht das erste Mal, aber Fehler werden nicht toleriert. Ich wische meine schwitzigen Finger an meinem grauen Rock ab. Langsam macht sich Aufregung in mir breit. Mit einem Räuspern zwinge ich mir ein Lächeln auf mein Gesicht. Auf keinen Fall sollen mir die anderen die Anspannung anmerken. Ich wärme die Stimmbänder auf, indem ich einige Mitschülerinnen begrüße. Immer wieder werde ich angerempelt, daher zwinge ich meine Füße, schneller zu laufen. Vor der Tür zum Innenhof staut es sich. Mein Atem beschleunigt sich und ich versuche, mich zu beruhigen. Einatmen und langsam ausatmen.

Von der Menge der Schülerinnen nach vorne geschoben gehe ich wie aufgezogen weiter und halte Ausschau nach meiner besten Freundin, Rahel. Dabei fällt mir Lillit ins Auge. Wir waren einmal unzertrennlich, bis ihr Verhalten dafür gesorgt hat, dass mir jeglicher Kontakt zu ihr verboten wurde. Ich wette, heute steht sie nicht rein zufällig an der Tür zum Innenhof und bremst den Strom der Schülerinnen aus. Ich husche an ihr vorbei und hatte Recht. Sie hält ein Plakat in den Händen. Aus den Augenwinkeln versuche ich, die Schrift zur entziffern. ›Freiheitsberaubung ist gegen die Menschenrechte‹. Spielt sie etwa wieder auf die Mauer und das Handelstor an? Ja, die Insel hat sich den Menschenrechten des Festlandes zu beugen. Das war eine Bedingung für die Aufnahme der Handelsbeziehungen. Die Abgeschiedenheit ist kein Käfig, sondern der Schutz vor unerwünschten Eindringlingen. Ich schüttle den Kopf. Sie wird es nie lernen. Wenn gleich die Aufseherinnen kommen, wird sie eine wirkliche Freiheitsberaubung erleben – zur Strafe eingesperrt in eine winzige Kammer ohne Licht. Ich war nie drin, man soll verrückt werden, wenn man länger als ein paar Minuten dort eingepfercht ist. Ich frage mich, warum der Direktor sie weiterhin toleriert. Die Regierung schreibt den Schulbesuch bis zum 14. Lebensjahr vor. Hat er Bedenken, die Tochter eines angesehenen Verwaltungsbeamten der Schule zu verweisen? Wie lange kann dieser Umstand sie schützen? Schulterzuckend lasse ich sie und ihr Plakat hinter mir zurück. Niemand soll mich mit ihr in Verbindung bringen.

Wie eine Mauer umfasst das Schulgebäude den Innenhof. Von Sonnenstrahlen beleuchtet, versammeln sich alle Mädchen um eine Bühne auf dem Betonplatz. Meine Datenverarbeitungsuhr, kurz DV-Uhr – eine technische Erfindung der Insel –, wird den Appell auf die DV-Uhren meiner Mitschülerinnen übertragen, damit ich in der letzten Reihe zu hören bin. Ich gehe die Rede im Kopf durch. Im Morgenappell huldigen wir unserer Regierung und ihrem System. Wir ehren Präsident Adam. Er wurde vor 10 Jahren gewählt und steht fest in seinem Amt. Die männlichen Bürger der inneren Ringe könnten eine Neuwahl beantragen, wenn sie unzufrieden sind. Aber es sieht nicht so aus, als ob das in den nächsten Jahren passieren wird. Nachdem wir den wichtigsten Männern der Insel gedankt haben, schwören wir uns auf unsere Rolle ein. Wir erinnern uns daran, wer wir sind: »Ich bin eine Inselfrau und stolz darauf.« Die Schule lehrt uns, eine gute Ehefrau zu sein, uns demütig zu verhalten. Damit wir tugendhaft, anständig und fürsorglich werden. Elegant und graziös sollen wir durchs Leben schreiten. Keine dieser Attribute fallen mir leicht oder wurden mir gar in die Wiege gelegt. Es war ein harter Weg bis hierher.

Mein Blick gleitet zu den vereinzelten Wölkchen und ich danke dem Einzigen und Wahren für einen blauen Himmel. Der Morgenappell wird jeden Tag abgehalten, ganz gleich, welches Wetter. Meine letzte Rede hielt ich im strömenden Regen. Es ist schwer, eine gute Miene zu wahren, wenn der ganze Leib vor Kälte zittert – ganz abgesehen von dem Gefühl, wie das Wasser mir den Rücken hinabläuft. Ich erinnere mich genau an den Anblick der Mädchen unter mir. Ein nasser Haufen Elend, der mutig dem Regen trotzte. Es wurden nur wenige bestraft, weil sie keine Haltung gezeigt hatten.

Jeden Moment erscheinen der Direktor und die Lehrer auf dem Hof. Mit einer Hand streiche ich den Rock glatt und versuche, das Pochen in meinem Magen zu beherrschen. Schultern zurück! Kinn nach vorn! Aufrecht stehen! Knie dezent gebeugt, Hände ineinanderlegen! Augen nach vorne! Heute noch gibt es Hiebe mit dem Stock, wenn meine Schulterblätter nicht ordnungsgemäß aneinander liegen.

Über unseren Handgelenken erscheint die Fahne mit dem Wappen der Insel: eine Welle, die auf ein Gebirge zurollt. Sofort stimmen wir gemeinsam die Nationalhymne an: »Wir danken unserem Präsidenten. Er ist unser Kopf und unser Verstand. Wir danken der Regierung und dem System. Sie schützen uns vor jeder Bedrohung und Angst. Wir danken unseren Vätern und Brüdern, durch ihre Gnade können wir überleben. Wir danken dem Einzigen und Wahren, der uns von unserer Sünde befreit und uns den Weg weist.« Mit dem Singsang im Hinterkopf beobachte ich, wie die Lehrerschaft ins Freie tritt. Das ist mein Zeichen. Ich betrete das Podium. Aus dem Augenwinkel sehe ich eine Bewegung und lasse den Blick eine Sekunde hinübergleiten. Rahel winkt mir zu. Sie dreht ihre Hand aus dem Gelenk sachte hin und her. Zaghaft. Damenhaft. Meine Augen fixieren das Mikrofon, doch ich spüre, dass mein linker Mundwinkel zuckt. Sie hat geübt.

Der letzte Ton verstummt. Alle Blicke sind auf mich gerichtet. Eine graue Masse, die sich kaum vom grauen Boden abhebt. Nur die unbedeckten Haare der unverheirateten Schülerinnen stechen wie zufällig verstreute Farbkleckse hervor. Die Lehrerinnen und Aufseherinnen verschwimmen dank ihrer grauen Haartücher zu einer einzigen Einheit.

Ich atme aus und fange an zu sprechen: »Verehrter Direktor, verehrte Lehrerschaft. Mitschülerinnen. Am heutigen Tage und an jedem zukünftigen Tag gilt unser Lobpreis der Insel. All unsere Ehrerbietung möge bis zur Regierung aufsteigen, sodass unsere Dankbarkeit von jedem Ohr in Selvia gehört werde. Durch das Erbauen einer Mauer werden wir seit jeher von der Insel und Regierung beschützt. Unruhe und Revolution sind uns erspart geblieben. Wir stehen fest und in Einheit, erleben die strahlende Lebensblüte und Wohlstand!« Inbrünstig betone ich jedes einzelne Wort, als hinge mein Leben davon ab. Ich fahre fort und füge einen Hauch Unheil hinzu. Hunderte Male habe ich das vor dem Spiegel geübt.

»Ein jeder von uns hat seinen zugewiesenen Platz. Das erkannten die großen Männer der Vergangenheit und behielten die natürliche Geschlechtertrennung bei. Nur dadurch sind wir alle das, was wir heute sind. Eine wohlgesittete und funktionierende Gemeinschaft. Als Kaufmannstochter weiß ich aus sicherer Quelle, wie schlimm die Zustände auf dem Festland sind. Vergewaltigungen und Mord gehören dort zur Tagesordnung. Mädchen und Frauen leben in ständiger Angst. Sie müssen Arbeiten leisten, die ihre Gesundheit gefährden. Nicht selten sind Frauen arm und sterben einsam.« Meine Stimme hallt über den Innenhof. Ich hoffe, dass sie den gewünschten Effekt erzielt. Durch die DV-Uhren klingt sie verzerrt, aber ich lasse mich nicht beirren: »Wir sind dankbar, Inselfrauen zu sein!« Das steht außer Frage. Mit diesen Worten schließe ich die Rede. Ich neige den Kopf und senke meinen Blick auf das Podium. In Gedanken zähle ich: ›22, 23, 24‹, auch das habe ich ein Dutzend Mal geübt. Ich erhebe mein Haupt wieder. Früher habe ich meinen Kopf zu kurz gesenkt, zu früh aufgeblickt. Doch die Aufseherinnen und ihr Stock sowie meine Mutter haben viel Zeit damit verbracht, mir die nötige Demut beizubringen.

Es ist mucksmäuschenstill. Kein Applaus. Das wäre unangebracht. Bei den berühmtesten Morgenappellen des vergangenen Jahrhunderts gab es tosenden Beifall. So steht es jedenfalls in den Geschichtsbüchern. In der Realität ist jeder Ausdruck von Leidenschaft unerwünscht. Eine Inselfrau hat sittsam und zurückhaltend zu sein. Bevor ich das Podest verlasse, stimme ich das Abschlussgebet an. Wie eine einzige Stimme hallen unsere Worte über uns hinweg in den Himmel. Keiner betet außerhalb des Rhythmus. Niemand tanzt aus der Reihe.

Mit gemischten Gefühlen steige ich singend die Treppe hinab. Ich hebe meine gefalteten Hände und drücke sie auf mein Schlüsselbein – erleichtert, es überstanden zu haben, es gut gemacht zu haben. Leer von den gesprochenen Worten. Ich weiß, es ist nicht das, was die anderen Mädchen empfinden, wenn sie eine Rede gehalten haben. Rahel platzt jedes Mal fast vor Stolz. Ihre Augen glänzen vor Freudentränen, die Wangen sind rosig – und ich frage mich, was das über mich aussagt.

Lautstark stimmt der Mädchen-Chor die letzte Strophe an. Aus meinen Gedanken gerissen zucke ich zusammen und blicke mich um. Flach atmend betrachte ich die Mädchen, die demütig nach unten schauen. Ich habe Glück. So ist mein unkonzentriertes Verhalten nicht aufgefallen. Ich fokussiere mich auf das Danklied für den Einzigen und Wahren.

Die Masse verstummt, meine Frage bleibt. Wieso fühle ich keinen Stolz, sondern nur diese innere Niedergeschlagenheit?

Die grauen Wände im Klassenzimmer rufen heute ein bedrückendes Gefühl in mir hervor. Nur wenig Licht fällt durch die Scheiben und lässt die Gesichter der anderen blass und fahl wirken. Die Fenster sind aus dem künstlichen Stoff der Variabilispflanze hergestellt und nicht derart durchsichtig wie Scheiben aus Glas. Aus der Zuchtpflanze lassen sich Rohstoffe für viele Materialien gewinnen. Angefangen bei Kunststoffscheiben über Kleidung hinweg bis hin zu Verpackungsmaterialien, ist sie für so gut wie alles brauchbar. Fast der gesamte Norden wird für die Anbaufläche der Kunstpflanze genutzt. Eine Erfindung mit unschätzbarem Wert, da sie das Überleben und die Unabhängigkeit der Insel sichert.

Auf die Sekunde genau kommt Frau Aquila, unsere Literaturlehrerin, ins Klassenzimmer. Ihre Gestalt ist klein und dürr. Der Lehrerberuf ist der einzige, in dem Frauen arbeiten dürfen, ohne schief angeschaut zu werden. Dennoch bedeutet der Umstand, dass sie hier arbeitet, dass ihr Mann nicht genug Geld verdient. Sieht sie deswegen immer müde aus? Sie trägt ein graues Kleid ohne Stickereien. Sie ist keine der Frauen, die versuchen, mit ihrer Garderobe aufzufallen. Ihre Haare sind unter ihrem grauen Haartuch versteckt. Sie trippelt mit winzigen Schritten zum Schreibtisch. Genauso wie meine Mutter trägt sie enge Bekleidung, die es ihr nicht ermöglicht, einen Fuß gescheit vor den anderen zu setzen. Diese Gangart ist angeblich besonders weiblich.

Meine Mutter kauft mir immer wieder enge Röcke. Doch ich versuche, sie zu meiden, seitdem ich einmal auf Grund des Bewegungsmangels eine Treppe hinuntergefallen bin. Ich streiche mit den Fingern über meinen Lieblingsrock. Er ist weich, weit und leider bald zu kurz. Ich schiebe die Füße unter den Stuhl, damit meine Knöchel nicht zu sehen sind.

Frau Aquilas Augen wandern über uns hinweg. Die Mädchen in der ersten Reihe setzen sich kerzengerade hin, starren die Lehrerin so intensiv an, als wollten sie diese hypnotisieren. Die Streberinnen versuchen alles, um ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. Ich blicke hingegen sofort auf den Tisch vor mir.

Seufzend fordert Frau Aquila: »Sarah, lies bitte das Gedicht vor, welches ich euch letzte Stunde auf eure Tafeln geladen habe.«

Ich vermute, sie hat Mitleid mit ihnen. Augenblicklich hören Geraschel und Gewisper auf und es wird still im Klassenzimmer.

Die Zeilen handeln von der Liebe zwischen einem Mann und einer Frau. Ich begreife diese altmodischen Worte kaum. Es klingt zu schön, um wahr zu sein, dass ein Mann eine Frau aus Liebe heiratet und andersherum – kaum vorzustellen. Eine Frau heiratet jemanden, der ihr einen guten Lebensstandard bietet. Männer wollen hübsche, zarte Mädchen. Ich gebe meiner Mutter Recht. Alles andere entspricht nicht der Wahrheit.

»Das Gedicht ist eine Lüge!«, ertönt Lillits Stimme hinter mir.

Erschrocken drehe ich mich um. Wie hat sie es geschafft, den Aufseherinnen zu entgehen, und wie ist sie ins Klassenzimmer geschlüpft? Sie fordert ihr Glück heraus.

»Wo entscheidet die Liebe, wer wen heiratet, wenn die Mädchen auf dem Heiratsmarkt an den höchst Bietenden versteigert werden?« Herausfordernd wandern ihre Augen durch die Reihen. Ist das Wahnsinn in ihrem Blick? Oder glaubt sie tatsächlich, was sie da sagt? Alle, einschließlich mir, senken die Augen auf die DV-Tafeln. Niemand antwortet.

»Das ist so nicht richtig, Lillit«, entgegnet die Lehrerin. Ihre Stimme zittert. Das ist kein gutes Zeichen. Ich schiele nach oben. Zwischen ihren Augen hat sich eine tiefe Falte gebildet. Die linke Hand wandert zu ihrer DV-Uhr. Bei Lillit wird nicht mehr gezögert.

»Ach nein? Wie erklären Sie dann das demütigende Zurschaustellen der Mädchen mit diesen übertriebenen Kleidern auf dem Markt?« Lillit hört nicht auf, obwohl sie gesehen haben muss, dass die Lehrerin die Aufseherinnen gerufen hat. Ich versuche, nicht hinzuhören, nicht über ihre Worte nachzudenken. Sie benutzt sie wie eine Waffe gegen das männliche Geschlecht und die Regierung. Ihr ewiger Kampf, den ich so wenig nachvollziehen kann wie ihre Abneigung gegenüber bunten Kleidern. Meine Hände sind zu Fäusten geballt. Ich bohre die Fingernägel in die Handflächen. Der Schmerz durchströmt meinen Körper – eine willkommene Ablenkung von Lillits unablässigem Gerede.

»Der Heiratsmarkt ist eine ungerechte Tradition, um uns Frauen niederzumachen, uns klein zu halten, uns zu beschämen. Wir haben keine Rechte. Wir werden wie Gegenstände behandelt! Oder finden Sie es wirklich gerecht, uns zu verkaufen?«

Verkaufen? Ich verstehe ihre Aussage nicht. Wie kann sie nur so etwas sagen? Meine Wangen werden heiß.

»Wir werden doch nicht verkauft!«, kreischt Frau Aquila. »Der Kaufpreis soll unseren Wert darstellen. Wir sind wertvoll!«

Ehe Lillit etwas erwidern kann, platzen die Aufseherinnen herein. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie sie abgeführt wird. Sie wehrt sich nicht. Vielleicht ahnt sie, dass es dadurch nur schlimmer wird. Ich atme durch. Sie hat es eindeutig übertrieben. Die meisten Mädchen schütteln den Kopf, schnaufen erleichtert durch. Sie freuen sich auf den Heiratsmarkt. Ich schaue beunruhigt zu Frau Aquila, und hoffe, dass sie aufgrund von Lillits Verhalten nicht die ganze Klasse bestrafen wird. Beim letzten Mal mussten wir einen zehnseitigen Aufsatz darüberschreiben, warum wir es als Frauen auf der Insel gut haben. Lillit saß währenddessen in der Kammer in der Dunkelheit und schmorte. Mich macht allein der Gedanke verrückt, in einem Raum ohne Licht eingesperrt zu sein. Sie muss sich da wohlfühlen.

Die nächste Stunde ist bei Frau Hanniel. Eine weitere graue Gestalt in meinem Leben. Sie unterrichtet Handarbeiten. In ihren Augen ist dieses Fach das wichtigste von allen. Ihre Nase ist so spitz wie die Nadel in meiner Hand. Passend. Ihre Stimme steht im völligen Widerspruch zu ihrem Verhalten. Lieblich trällert sie uns vor, welch traumhafte Stunde uns bevorsteht. Sie bleibt vor einem Mädchen aus der ersten Reihe stehen.

»Oh wie hübsch, Liebes!«, rühmt sie dessen Arbeit und hält ein perfekt gesticktes Tuch nach oben. Deutlich hebt sich die Stickerei von diesem ab und keine Naht ist schief oder falsch gesetzt. Meine Mitschülerin lächelt und ich sehe, wie ihre Wangen erröten.

»Das ist ein Beispiel für eine gelungene Umsetzung unseres Themas«, spricht die Lehrerin zu der ganzen Klasse. »Der Engel in einem Bett aus Rosen. Einfach nur wunderschön.« Das letzte Wort betont Frau Hanniel auf jeder einzelnen Silbe.

Sie liebt es. Was so toll daran sein soll, verstehe ich nicht. Auf der Insel existieren nur wenige Rosen. Engel aber sind allgegenwärtig. Unsere Religion beruht auf dem Glauben an den Einzigen und Wahren. Die Engel sind seine Diener und vollstrecken seine Urteile.

Ich schaue auf mein Haartuch. Das hellgraue Garn setzt sich von dem dunkleren Saum ab. Dennoch sieht es furchtbar aus. Es ist kein Muster zu erkennen, sondern ein Wirrwarr aus grauen Fäden auf grauem Stoff. Nähen, Sticken und Klavier spielen sind Dinge, die eine Frau der Insel können muss. Für mich sind sie eine Tortur, meine Finger verrichten nie das, was ich von ihnen will, führen nicht aus, was mein Kopf ihnen befiehlt. Vielleicht liegt es an den Schlägen, die sie zu oft erhalten haben? Wird diese Arbeit wieder ein ›Ungenügend‹, gibt es Ärger zu Hause. Sie ist die letzte Chance, die Note auf meinem Zeugnis zu verbessern. Ich unterdrücke ein Seufzen. Literatur und Mathe liegen mir wesentlich besser. Mein grauer Garnengel starrt mich an. Vorwurfsvoll und zugleich verhöhnend. Ich beiße die Zähne zusammen. Blöder Engel.

Ich schaue zu Rahel. Sie sitzt neben mir und stickt unbekümmert weiter. Konzentriert hat sie ihre Lippen zusammengepresst und ihre Nadel sticht in einem gleichmäßigen Rhythmus in ihr Tuch. Meine beste Freundin ist mein Vorbild und die perfekte Inselfrau.

Ich wende mich wieder meiner Arbeit zu. Der Engel erinnert mich an mein gestriges Gespräch mit meinem Kindermädchen, Beth. Sie ermahnte mich nachdrücklich, dass Engel alles sehen. Mein Herz setzte in diesem Moment einen Schlag aus. »Sie wollen uns nur vor uns selbst beschützen«, erklärte sie. »Uns vor unserer Sünde der Lasterhaftigkeit bewahren. Frauen erdulden den Geschlechtsverkehr. Frauen, denen das Freude macht, sind Dirnen!«, hat sie mich eindringlich ermahnt.

Ich habe mich nicht mehr getraut, sie anzusehen, denn mein Gesicht war heiß geworden. Weiß sie, was ich nachts unter der Decke treibe? Hat sie eine Videokamera in meinem Zimmer angebracht?

Die Sticknadel rutscht hin und her. Würde ein Mann mich auf die Art berühren ... Hitze steigt in mir auf und ein wohliger Schauer überfährt meinen Körper. Ich schüttle den Kopf. Frauen macht das keinen Spaß. Sie hat Recht. Die Hochzeitsnacht ist etwas Furchtbares, Schmerzhaftes. Mein Brustkorb zieht sich zusammen und ich steche meine Sticknadel so fest in das Tuch, dass sie auf die Tischplatte stößt. Sofort sind alle Blicke auf mich gerichtet. Eine Entschuldigung murmelnd sticke ich weiter. Ahnend, dass Frau Hanniel sich auf den Weg zu mir macht.

Ich betrachte mein Werk und Panik ergreift mich. Die Rose ist halbwegs gelungen, der Engel sieht furchtbar aus. Eine Karikatur, die eine gewisse Ähnlichkeit mit dem alten Ermel hat. Eine riesige mit Pockennarben verzierte Nase und gelbunterlaufene Augen zieren den gebrechlichen Mann vom Markt. Er hat einen Stand, ohne dass ich sagen kann, was er dort verkauft. Ekel steigt in meiner Kehle auf und legt sich bitter auf meine Zunge. Er hat immer eine Hand in seiner Hose und selbst die älteren Frauen beschimpfen und bespucken ihn. Eine Straftat, der nicht nachgegangen wird, wenn es den Ermel betrifft. Wie eine unausgesprochene Regel. Jeden widert er an. Ich seufze innerlich auf. Jetzt ziert er mein Haartuch, das ich tragen soll, wenn ich verheiratet bin.

Das Aufgehen der Tür lässt mich zusammenfahren. Ich blicke auf und bemerke Frau Hanniels misstrauischen Ausdruck in meine Richtung. Wortlos wendet sie sich zur Tür. Ich habe die Luft angehalten und atme erleichtert aus. Lillit kommt, begleitet von einer Aufseherin, herein. Ihr Blick ist hart. Mit geballten Fäusten setzt sie sich stumm und ohne Aufforderung an ihre Stickarbeit. Ich und die anderen Mädchen starren sie einen Moment an.

»Weiterarbeiten!«, poltert Frau Hanniels Stimme und meine Finger stechen die Nadel im Akkord in den Stoff.

Ohje, meine Hände haben sich verselbstständigt. Der Ermel ist einem Wirrwarr aus bunten Nähten gewichen. Der Versuch, aus ihm einen Engel zu machen, ist misslungen. Stattdessen habe ich Würmer vor mir, die sich übereinander schlängeln. Ich streife mir einige Haarsträhnen aus dem Gesicht. Meine Stirn fühlt sich nass an und das liegt nicht nur an der Wärme des Klassenraumes.

Ein Klaps auf den Hinterkopf holt mich aus den Gedanken.

»Wie sieht das denn wieder aus, Eva! Das ist die schrecklichste Arbeit, die ich je gesehen habe, selbst von dir!«, keift Frau Hanniel in meinem Nacken und reißt mir die Stickerei aus der Hand. Ich schlucke schwer und sage kein Wort. Mit einem Kopfschütteln schmeißt sie das Tuch vor meine zitternden Hände auf den Tisch. Ich mache mich schleunigst daran, die Stickerei wieder aufzutrennen, und beobachte gleichzeitig, wie die Lehrerin eine Notiz ins Klassenbuch schreibt. Das wird Ärger zu Hause geben. Ich presse die Lippen aufeinander. Meine Finger sind geschwollen und schmerzen. Zu oft habe ich mir in die Kuppen gestochen.

In der Frühstückspause versorgt Rahel mich mit Pflastern. Sie lacht über meine Ungeschicktheit, doch das ist mir egal. Hier mit ihr ist meine Brust nicht mehr eng. Auf jede Bandage malen wir ein Gesicht und spielen Theater. Ich wackle mit meinen weißen Fingerspitzen vor ihrem Gesicht, bis eine Aufseherin sich neben unserem Tisch platziert. Ihre vor Zorn funkelnden Augen fixieren uns unter tief zusammengezogenen Augenbrauen. Sie tippt mit ihrem Stock auf ihre linke Hand. Eine unausgesprochene Warnung, wenn wir uns nicht benehmen. Ich lasse die Hände sinken. Breitbeinig steht sie vor uns, wartet mit finsterer Miene. Ihre graue Uniformjacke hebt sich auf und ab. Ihr Atem dringt keuchend an meine Ohren und steigt mit einem fauligen Geruch in meine Nase. Atmet sie vor Wut so schwer, oder weil ihr Gewicht sie auf dem kurzen Weg zu uns überanstrengt hat? Ich nehme meinen Vitaminsaft, den wir täglich erhalten, und trinke ihn mit einem Zug leer. Hastig tut Rahel es mir nach. Gleichzeitig senken wir unsere Köpfe und sehen zu Boden.

»Geht doch«, knurrt die Aufseherin. Ich verharre in der Position, wage es nicht, zu atmen, doch sie rührt sich nicht von der Stelle. Was denn noch? Ich erwarte einen Schlag. Nichts passiert. Endlich bewegt sich ihr langer, grauer Rock und sie entfernt sich. Ich erlaube es mir, zu Rahel zu linsen, und bemerke, dass sie ein Grinsen unterdrückt.

Die nächsten Stunden ziehen an mir vorüber. Das Grau des Gebäudes findet seinen Weg in meinen Kopf. Ich habe Mühe, mich zu konzentrieren. Die Eintönigkeit lullt mich ein. Mir ist langweilig. Den anderen Mädchen geht es ähnlich. Häufiger als sonst rutschen sie auf ihren Plätzen hin und her. Bei ihnen ist es jedoch die Aufregung wegen des Heiratsmarktes. Aber jedes Kichern wird sofort im Keim erstickt. Mehrere Mädchen müssen nach unkontrolliertem Seufzen den Satz ›Ein Inselmädchen ist still und zurückhaltend‹ zehnmal auf ihre Datentafel schreiben. »Ihr seid doch keine Delfine«, bekommen wir mehr, als einmal zu hören.

In der Mittagspause scheint die Sonne und Rahel und ich beschließen, draußen zu essen. Auf der hinteren Seite des Schulgeländes befindet sich der Pausenhof. Bänke und Tische stehen hier auf Betonboden, der wegen des ständigen Windes vom Strandsand bedeckt ist. Die frische Meeresbrise bietet dort eine Abkühlung und die Strahlen lockern meine triste Stimmung auf. Der salzige Duft des Meeres überdeckt den Geruch unseres Mittagessens aber leider nicht. Steckrübensuppe mit gerösteten Heuschrecken. Ich starre auf mein Tablett und unterdrücke ein Würgen. Ich hasse Steckrüben. Doch Essen wird nicht weggeworfen. Das steht genauso unter Strafe wie das Vergeuden von Materialien. Unsere Insel hat nur begrenzt Land zur Verfügung und was wir selbst nicht herstellen, wird teuer auf dem Festland eingekauft.

Ich löffle die Suppe, ohne das Gesicht zu verziehen.

»Schmeckt es dir?«

Ein Klumpen der Steckrübe wandert in meinen Mund. Ich sehe auf. Rahel grinst mich verschwörerisch an.

»Wenn du brav aufisst, habe ich etwas für dich.« Ihre Stimme klingt verheißungsvoll.

Ihr Onkel arbeitet in einer Lebensmittelfabrik. Von Zeit zu Zeit bringt sie mir etwas Außergewöhnliches mit. Was ist es heute? Ich hoffe Süßigkeiten. Ich denke an den berauschend süßen Geschmack von getrockneten Datteln. Der Speichel läuft mir im Mund zusammen. Meine Mutter meidet Derartiges wie die Pest. Sie glaubt, das würde die Zähne und den Verstand verkleben. Doch mein Vater und ich lieben alles, was süß ist. Ein einziges Mal hat er mir Schokolade vom Festland mitgebracht. Ein Traum, wie sie auf der Zunge zerfließt. Später hat die Regierung die Einfuhr verboten. Nachdem wir aufgegessen haben, packt Rahel tatsächlich eine Tüte mit getrockneten Früchten aus. Ich erkenne Aprikosen, Datteln und Feigen und greife zu.

»Heute Abend ist ein Kollege meines Vaters mit seiner Familie bei uns zu Gast. Er hat einen Sohn, der eine Anstellung im Regierungskrankenhaus übernommen hat«, erzählt Rahel. Sie schaut mich an und zwinkert mir zu. Wieso betont sie das so? Da ich nicht reagiere, redet sie weiter. »Vater hat das Treffen arrangiert, damit er meine Bekanntschaft bereits vor dem Heiratsmarkt machen kann. Mutter hat mir zu diesem Zwecke ein neues Kleid gekauft. Natürlich kann es bei weitem nicht mit einem Heiratsmarktkleid mithalten, aber ich werde umwerfend aussehen«, schwärmt sie mir mit strahlenden Augen vor. Sie hält immer noch die erste Frucht in der Hand, während ich die Hälfte der Tüte allein gegessen habe.

Ich lächle ihr zu. »Das klingt gut. Ich hoffe, er ist nett.« Innerlich erschaudere ich. Wird mein Vater ebenfalls demnächst Kollegen mit Söhnen einladen? Welch schrecklicher Gedanke. Ich verspüre keinerlei Sehnsucht, andere Männer kennenzulernen. Wenn es nach mir ginge, würde ich erst in zwei Jahren heiraten.

Aber Rahel möchte wohl bereits mit 16 verheiratet werden. Ein Arzt der Regierung ist nicht ohne. Ihr Leben in Wohlstand wäre gesichert.

Der restliche Schultag ist langatmig. Genauso wie der gestrige, vorgestrige und überhaupt jeder im Jahr. Eine Sekunde dehnt sich zu einer Stunde, eine Stunde wirkt wie ein Tag. Ein Tag wie eine Ewigkeit. Die Ewigkeit wird zur Qual. Ich sammle alle Kräfte für den Kampf gegen meine Augenlider, die immer wieder zufallen.

In der letzten Stunde habe ich Mathematik. Dieser Unterricht ragt als Hoffnungsschimmer im Stundenplan hervor.

»Hier, bitte sehr, Eva.« Herr Nahum reicht mir meine Datentafel. Ein Schmunzeln umspielt seine Mundwinkel. Er hat mir neue Aufgaben hochgeladen. Ich nicke mit einem Knicks und gehe zurück auf meinen Platz.

Es ist nicht ungewöhnlich, dass ich andere Lektionen bekomme als meine Mitschülerinnen. Ich bin oftmals schneller und brauche nicht so viele Wiederholungen. Gespannt, welcher Stoff auf mich wartet, öffne ich das Dokument. Eine schwarze Fläche starrt mir entgegen. Nur mit viel Fantasie kann ich das Wort ›Wahrscheinlichkeitsrechnung‹ entziffern. Der Rest des Kopfteils ist geschwärzt – genau die Stelle, an der normalerweise die Adresse unserer Schule steht. Ich halte den Atem an. Ob das bedeutet ... Mein Herz beginnt heftig zu hämmern. Ob Herr Nahum sich vertan hat? Fieberhaft streiche ich eine dünne Haarsträhne mit meiner Hand hinters Ohr. Sie ist schwitzig. Ich atme tief ein und aus, zögere und sehe zu Herrn Nahum. Er beobachtet mich. Täusche ich mich, oder nickt er mir kaum merklich zu? Ich senke den Blick auf die Aufgaben. Unsicherheit macht sich in mir breit. Wieso sollte ich anspruchsvolle Themen der Jungenschule begreifen?

Doch ich überrasche mich selbst. Es fällt mir nicht schwer. Im Gegenteil. Keine Sekunde lang muss ich überlegen, wie die Rechnungen zu lösen sind. Ich versinke in den Zahlen und vergesse alles um mich herum.

Die Hand meines Mathelehrers auf der Datentafel holt mich in die Gegenwart des Unterrichtsraumes zurück. Er lächelt und zieht die Arbeitsblätter mit seiner DV-Uhr wieder herunter. Beide sagen wir kein Wort. Was die anderen Mädchen wohl denken? Im Grunde kann mir das egal sein. Hoffentlich zeigt Herr Nahum mir seine Korrektur. Ich senke den Blick auf die Tischplatte. Auf der anderen Seite will ich keinen Ärger und ihn als Mathelehrer unbedingt behalten. Hoffentlich spricht mich niemand darauf an.

Nach dem Unterricht wartet Beth vor der Schule, um mich abzuholen. Ihre steinerne Miene ist wie ein Leuchtsignal für mich. Sie macht jeden Tag das gleiche Gesicht. Mit verkniffenem Mund läuft sie stumm neben mir her. Wir haben kein besonders gutes Verhältnis. Früher war sie wie ein Elternteil für mich. Die Blutung hat mir das genommen. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat Mutter ihr klar gemacht, dass sie anders mit mir umgehen muss. Seitdem ich eine Frau und kein Kind mehr bin, hat sie aufgehört, mich zu bemuttern. Aus dem Augenwinkel beobachte ich sie einen Moment. Womöglich schmerzen ihre Gelenke, aber sie würde Vater nie um Medikamente bitten. Ich überlege, ob ich ihr anbieten soll, ihn für sie zu fragen. Er würde ihr welche geben, aber ... Lieber nicht. Beth ist eigen. Ginge ich zu Vater, hätte sie das Gefühl, nicht mehr ernst genommen zu werden. Langsam gehen wir die Straßen entlang. Ich lasse die Grübeleien über meine Begleiterin weiterziehen und genieße den Weg. Entspanne mich, während ich Schritt vor Schritt setze, koste die körperliche Bewegung aus.

Die Häuser, grau und alle gleich, umfassen die Straßen zu einem engen Labyrinth. In den Arbeitersiedlungen soll es Häuser geben, die über zwanzig Stockwerke hoch sind. Hier genügen sechs, um die Sicht zu versperren. Der Blick reicht nie weiter als bis zur nächsten Ecke. Die Gebäude haben nur vorne Fenster, da von den Seiten und von hinten weitere Häuser angebaut sind. Effizient und ressourcenschonend. Die Eckhäuser haben mehrere. Sie sind teurer und die Bewohner zwangsläufig reicher.

An einer Ampel bleibe ich stehen. Die zweispurige Straße ist kaum befahren. Die wenigen Autos rollen langsam an mir vorbei. Niemand fährt schnell. Die Fahrer wollen gesehen werden. Außerdem ist die Schutzwehr bei Verkehrsregelmissachtungen gnadenlos. Es gilt Effizienz. Eine niedrige Unfallrate sorgt für geringeren Medikamentenverbrauch, weniger Verlust an Arbeitskräften und eine sparsamere Nutzung von menschlichen wie räumlichen Ressourcen im Krankenhaus. Ich beobachte die leisen, grauen Schatten. Geräuschlos und geruchsneutral fährt eins nach dem anderen an mir vorbei. Unsere Fahrzeuge fahren mit einem von der Insel entwickelten Wasserstoffbrennmotor. Vorsicht ist geboten. An jeder Straße stehen Warnschilder. Leuchtend. Blinkend. Mein Bruder hat mir erklärt, dass es viele Unfälle gab, nachdem die neuen Autos eingeführt wurden, weil niemand die Fahrzeuge hörte oder roch. Früher sollen sie gestunken haben wie die Deponie. Ihr Geruch weht manchmal von Osten über die Stadt.

Die Ampel springt auf Grün und ich drehe mich zu Beth um. Mein Kindermädchen ist noch ein gutes Stück entfernt und ich warte die nächste Grünphase ab. Ein Bus kommt angefahren, ebenso geräuschlos wie seine kleineren Gefährten. Autos fahren nur die Bürger der Stadtringe. Die Menschen aus den Randzonen werden mit den Bussen zu ihren Arbeitsstellen in die inneren Stadtringe transportiert. So wie Marie, unsere Köchin, die im Osten der Insel direkt neben der Mülldeponie lebt. Allein die Vorstellung lässt mich die Nase rümpfen.

Zu Hause angekommen empfängt uns der Duft von frisch gekochtem Tee.

»Eva, erst Hände waschen und deine Sachen ordentlich wegräumen«, ermahnt mich Beth.

Ich rolle mit den Augen – wohlbedacht, dass sie es nicht sieht. Ich kenne die Regeln in- und auswendig! Wie ein gehorsames Kleinkind komme ich mir vor, wenn Beth mir Lappalien vorschreibt und ich sie folgsam erledige.

»Willst du Ärger mit deiner Mutter bekommen?«, hat sie mich ein Dutzend Mal schon gefragt, sobald ich in der Vergangenheit nicht augenblicklich gespurt habe. Und natürlich will ich keinen Stress. Auch heute nicht.

Mit einem Pochen in der Brust, aber sauberen Händen gehe ich in die Küche und umarme die Köchin. Marie ist dünn, beinahe ausgemergelt. Sie lacht immer, sie könne essen, was sie will, und würde nicht zunehmen. Ich beneide sie um diese Veranlagung. Trotz ihres strengen Aussehens – die grauen Haare hat sie wie jede verheiratete Frau unter ein Tuch gesteckt und das Gesicht ist mit tiefen Falten übersät – ist Marie die Einzige neben Tirza, unserem zweiten Dienstmädchen, die etwas Herzlichkeit in dieses trostlose Heim bringt.

»Also wirklich, Eva! Lernst du es nie? Die Küche ist kein Ort für ein Mädchen deines Standes. Setz dich ins Esszimmer, Lea bringt dir deinen Tee.« Beth ist wie ein Aasgeier. Immer auf der Suche nach Fressen – oder besser: nach dem, was ich ausfresse. Ich wende mich zu ihr und nicke. Sie sieht müde aus. Sie sollte sich lieber hinlegen, anstatt mich zu überwachen.

»Einen Moment noch.« Marie lächelt und wischt sich die Hände an ihrer Schürze ab. Sie nickt zu einer Dose und greift hinein. Beinahe hätte ich die Hände vor meiner Brust zusammengeschlagen. Ich bremse mich und lege sie stattdessen lautlos zusammen. Kekse! Nur Marie schafft es, aus geschmacklosen Haferflocken was Leckeres zu zaubern.

»Aber nur einen!«, ermahnt Beth die Köchin und zieht die Augenbrauen zusammen.

»Ach Beth, du bist zu streng mit dem Mädchen.« Ich sehe, wie sie lächelnd einen Keks, der so groß ist wie meine Handfläche, aus der Dose fischt.

Eilig verschwinde ich aus der verbotenen Zone. Hoffentlich wird Beth ihn nicht halbieren.

Im Essbereich angekommen seufze ich. Gern würde ich in meinem Zimmer essen. Beth scheint heute nicht bei bester Laune zu sein. Dem Schicksal ergeben setze ich mich an den Tisch. Wenigstens kann ich aus dem Fenster schauen.

Die Wohnung besteht aus zwei Etagen, was unseren Stand und Reichtum widerspiegelt. Ich weiß, dass die aus dem äußeren Ring in wesentlich kleineren leben. Die Menschen aus dem inneren Ring hausen dafür in größeren. Teilweise gehen deren Wohnungen über drei Etagen. In unserer befindet sich unten die Küche, das Esszimmer sowie Herren- und Damenzimmer. Eine kleine Toilette sorgt für die Annehmlichkeit, dass Gäste nicht in die obere Etage müssen. Dort liegen unsere Schlafräume – vier an der Zahl – und zwei Badezimmer. Da die Inselhäuser aneinandergebaut sind, haben nur die Zimmer an der Vorderseite des Hauses Fenster. Bei uns sind es unten das Ess- und Damenzimmer und oben die Schlafräume von Vater und Aaron. Die Räume ohne Fenster müssen mit der Lüftungsanlage auskommen.

Zehn Stühle umgeben den Tisch. Zusammen wirken sie verloren in diesem kahlen Raum. Allein hier zu sitzen, fühlt sich seltsam leblos an. Insgesamt können in diesem Raum bis zu 15 Personen Platz finden. Das ist wichtig für Geschäftstreffen und Empfänge.

Ich habe früher eine Menge unsichtbarer Freunde erfunden. Mutter und Beth haben mir diese Marotte ausgetrieben. Gerne würde ich mich jetzt mit ihnen unterhalten. Mein Blick wandert über die Stühle und Sitzpolster. Alles ist akribisch symmetrisch ausgerichtet. Ein Krümel oder Staubkörnchen ist nirgends in Sicht – nicht einmal in der Luft. Alles ist grau. Farbe wird auf Selvia nicht gerne gesehen. Dekoration und unnützes Zeug noch viel weniger. Lediglich ein besticktes, graues Deckchen ziert den Tisch, der aus abgeschliffenem, verwittertem Treibholz gefertigt wurde. Die Tischdecke ist nicht von mir, das würde Mutter nie tun. Zu beschämend sind meine Arbeiten. Bei dem Gedanken breitet sich eine dumpfe Leere in meiner Magengegend aus. Ich versuche, Trauer zu fühlen, aber da ist nichts außer Gleichgültigkeit in mir.

Lea kommt herein und ich reiße mich zusammen. Auf ihrem Tablett ruht der unberührte Keks mit einer frischen Tasse Tee. Das Dienstmädchen deckt mir meinen Platz und geht, nicht ohne einen Knicks zu machen. Das ist lächerlich. Ich bin nicht Mutter. Schon oft habe ich sie darum gebeten, aber sie wird es nicht lassen. Zum Glück ist morgen Tirza da. Mit Beginn meiner Menstruationsblutung nahm ich die Rolle einer Inselfrau an. Was hatte ich die rote Zeit herbeigesehnt. Ich schüttle den Kopf und rühre geräuschlos in meinem Tee.

Wenn ich daran denke, bald eine Ehefrau zu sein, läuft es mir eiskalt den Rücken hinab. Unvorbereitet komme ich mir vor. Ich fühle mich nicht erwachsen, nicht bereit für einen Mann, nicht bereit für ein eigenes Zuhause mit all seinen Verpflichtungen und Regeln. Nicht bereit für ein Kind. Eine Wahl habe ich nicht. Wenn Vater es gut mit mir meint, schickt er mich die letzten zwei Jahre auf die Schule, ehe ich heirate. Wenn nicht, dann muss ich heiraten. Wer auch immer bereit ist, den Preis zu zahlen, den Vater verlangt.

Lillit sprach einmal davon, dass Männer und Frauen auf dem Festland gleich wären. Ich konnte nur den Kopf darüber schütteln.

Wie sollen die Mädchen und Frauen dort anders leben als hier? Wir sind nicht so schlau, nicht so stark, nicht so entscheidungsfähig wie die Männer.

Meine Mutter, die Vaters Geschäfte leitet? Unmöglich. Andauernd ist sie krank. Außer zu ihrem Kaffeekränzchen zu gehen, einzukaufen und Gäste willkommen zu heißen, ist sie zu nichts in der Lage. Wenn sie sich nicht diesen Dingen widmet, liegt sie im Bett und klagt über Migräne. Wieso sollte es bei irgendeiner Frau anders sein? Ich schnaube und zucke über meinen Laut zusammen.

Ich spitze die Ohren, ob Beth herbeieilt, um zu sehen, was ich treibe. Stille. Hastig beginne ich, an dem Keks zu knabbern. Er schmeckt fad, so allein. Meine Gedanken schweifen zu Rahel. Verabredungen sind schwer geworden. ›Eine junge Frau treibt sich nicht herum. Lesen, Klavier spielen oder malen sind die Vergnügungen einer Tochter aus gutem Hause‹. Mit fremder Stimme hallen die Worte durch meinen Kopf. Sticken wäre natürlich auch eine Möglichkeit. Zum Lesen fehlt mir die Lust und alles andere ist eher eine Strafe als eine Option.

Eine Glocke läutet und der Duft eines schweren, süßen Parfüms kündigt meine Mutter an.

»Eva, bist du zu Hause?« Ihre hohe Stimme durchschneidet die Stille wie ein Messer ein Brot. Ich seufze und frage mich, warum ich mich über meine Einsamkeit beklagt habe. Sie kommt mir mit einem Mal wie ein Segen vor. Ich bin versucht, ›Nein‹ zu rufen, und unterdrücke ein Grinsen. Mutter ist nicht für ihren Humor bekannt und sollte sie schlechte Laune haben, verdonnert sie mich womöglich noch dazu, das Gotteswerk zu lesen.

»Ja Mutter, bin ich.« Ich stehe auf und gehe ihr entgegen. Eine vollgepackte Tüte lässt mich wissen, dass sie ihrer Lieblingsaufgabe nachgegangen ist: das mit harter Arbeit verdiente Geld meines Vaters ausgeben. Direkt heute, am ersten Verkaufstag der Kleider für den Heiratsmarkt, ist Mutter los, um welche zu besorgen. An jenem Tag repräsentiere ich meine Familie und mich als mögliche Ehefrau. Je luxuriöser mein Kleid, umso mehr bieten die Herren für mich. Ein gutes Geschäft für meinen Vater: einen reichen Schwiegersohn bekommen und eine nutzlose Tochter loswerden.

›Das ist kein Akt der Liebe.‹ Diese Stimme in meinem Kopf war nicht fremd. Es war Lillits.

»Wie siehst du bloß wieder aus?«, keift meine Mutter entsetzt, als ich ihr im Flur entgegenkomme. »Du musst achtgeben auf dein Äußeres! Du willst doch gut aussehen, oder?«

Ich blicke zu Boden und lege die Hände zusammen. Es ist nicht das Entsetzen in ihrer Stimme, nein, es ist der verachtende Ausdruck, der mich überspült wie eine Welle. Ich unterdrücke den Drang, wegzulaufen, um mich ihren kritischen Blicken zu entziehen. Stattdessen sehe ich auf und lächle. Wortlos ergreife ich eine Tüte und gehe voran ins Damenzimmer. Das wird länger dauern. Meine Mutter hat immer etwas auszusetzen. Jetzt schon schimpft sie hinter mir weiter. Ich versuche, nicht hinzuhören. Etwas, das mir immer besser gelingt. In ein Ohr rein, zum anderen wieder raus.

»Und diese Bluse! Was soll das, Eva?«

Was ist falsch an ihr? Sie hat sie mir selbst gekauft. Und überhaupt: Meine Sachen sind grau – wie ihre. Geschnitten – wie ihre. Ich trage Schuhe – wie ihre! Ich fühle mich aus der Puste. Mein Herz hämmert. Ich gestehe, dass Mutter trotz grauer Kleidung schön und elegant aussieht. Ich dagegen bin wie eine graue Tapete. Unauffällig. Rau. Hässlich.

»Natürlich ist unser Stand und Vaters Verdienst nicht unerheblich dabei«, plappert sie.

Ich erahne mein Lieblingsthema und stelle die Taschen im Damenzimmer ab. Auch wenn ich erst 16 Jahre alt bin, will sie mich dieses Jahr verloben. Sie setzt alles dran, eine respektable Inselfrau aus mir zu machen. Eine gute Partie, damit ich einen annehmbaren Ehemann finde.

»Das Aussehen ist dennoch wichtig. Stell dir vor! Sollte ein Mann des inneren Ringes oder sogar ein Mann der Regierung auf dich aufmerksam werden! Dein Vater wäre unglaublich stolz auf dich.«

Mit dem Rücken zu ihr kann ich ein Augenrollen nicht unterdrücken. Meine Eltern stolz zu machen, gelingt mir in etwa so gut, wie das Sticken in der Schule. Der Gedanke erfüllt mich mit Schwere und ich lasse die Schultern hängen. Zum Glück ist sie mit ihren Tüten beschäftigt.

»Ich habe etwas ganz Wundervolles bekommen! Die Frauen haben sich darum gestritten.«

Entnervt wende ich mich um. Ihre Wangen sind gerötet vom Stolz – auf ihre Errungenschaft, nicht auf mich. Obwohl ich zugeben muss, dass ihre Aufregung etwas gedämpfter ist als sonst. In ihren Augen liegt eine gewisse Anspannung, die nicht nur von meinem Anblick stammt. Ich frage aber nicht nach. Egal, ob etwas schiefgelaufen ist, für mich bleibt die Qual die gleiche. Gelangweilt nicke ich und setzt mich. Es graut mir davor, was sie im Eifer des Gefechts gekauft hat. Ich bezweifle, dass sie es mitgebracht hat, weil es schön ist. Der Grund ist dafür einzig und allein gewesen, dass alle anderen es haben wollten. Auf die Idee, mich zum Einkaufen mitzunehmen, kommt Mutter nie. Das wäre ihr zu anstrengend. Außerdem könnte ich etwas anderes wollen.

Ich verschränke die Hände auf meinem Schoß, unterdrücke ein Wippen mit den Beinen und beobachte sie weiter. Mir fällt ein, dass ich den Keks hätte mehr genießen sollen. Wenn das Kleid zu eng sein sollte, heißt es für mich die nächsten Tage wieder: Radikaldiät.

Ein Piepen ertönt und Mutter hört auf, das sündhaft teure Kleid – wie sie mehrmals betont – aus der Tüte zu heben. Unsere DV-Uhren leuchten auf. Ich springe hoch, erschreckt durch die eindringliche, mechanische Stimme des Haussystems. Sie wiederholt monoton: »Eva muss zum Klavierunterricht! Eva muss zum Klavierunterricht!« Ein wenig wehmütig blicke ich auf das verpackte Kleid. Mutters Hin und Her zwischen Schimpfen und Schwärmen zu entkommen, ist auf einmal gar nicht mehr so dringend. Doch ehe ich Mutter bitten will, wegen dem Kleid zu Hause bleiben zu können, erscheint Beth in der Tür, um mich zu begleiten. Mutter lässt das Kleid wieder in die Tüte sinken und scheucht mich nach oben: »Schnell Eva, zieh dir etwas Ordentliches an. Die Bluse, die ich dir letzte Woche gekauft habe!«

Ich gehe stumm auf mein Zimmer, ohne sie darauf aufmerksam zu machen, dass ich diese bereits trage. Sie würde es doch nur abstreiten.

Der Weg zu meinem Klavierlehrer ist weit und ich genieße jeden Meter. Er führt eine Straße hinauf und oben angelangt muss ich warten, da Beth kaum hinterherkommt. Für einen kurzen Moment wünsche ich mir, sie würde umknicken. Kein Klavierunterricht. Ich spüre ein Lächeln auf meinem Gesicht. Gleich darauf schäme ich mich dafür. Doch der Gedanke an Herrn Kornelius lässt mich schaudern. Er ist ein alter Mann, dem Haare aus den Ohren wachsen, ein Meister seines Faches und bei der Regierung äußerst anerkannt. Übelkeit steigt in mir auf, sodass ich befürchte wie schon oft nach dem Klavierunterricht, Herpes zu bekommen. Das wäre sehr zum Verdruss meiner Mutter.

Ich starre auf die grauen, hohen Häuser, um mich auf etwas anderes zu konzentrieren. Doch der Mangel an Ausblick verbessert meine Stimmung nicht. Die Gebäude verbergen die Weite. Von oben betrachtet muss die Insel wie ein graues Gebirge aussehen. Selbst die meisten Pflanzen, die wir für Nahrung, Medizin und zur Herstellung von Stoffen und Materialien anbauen, wachsen in grauen Gewächshäusern. Ein paar sind sogar, wie die Variabilispflanze, grau. Die einzig grüne Stelle auf der Insel muss die Versorgungszone Südwest sein, wo sich die Obst- und Gemüseplantagen befinden.

Beth taucht schnaufend neben mir auf. Ich gebe ihr einen Moment, dann wandern wir bergab in den inneren Stadtring.

Vor dem Haus meines Klavierlehrers angekommen, straffe ich die Schultern und atme tief ein und aus. Beth klingelt und sofort werden wir von dem Besucher-Sensor gescannt. In meinem Nacken ist ein Chip eingepflanzt, der alle Daten enthält – wer ich bin, wo ich wohne, was ich mache. Nicht jedes Haus darf von Frauen und Kindern betreten werden. Ich unterdrücke ein Seufzen.

Vor ein paar Jahren hat mein Lehrer mich ausgelacht, als ich ihm eröffnet habe, dass ich bald im Orchester spielen möchte. Jeden Tag reisen können, auch aufs Festland – ein Traum. Dort sind unsere Musiker sehr berühmt. Herr Kornelius hat mich darüber aufgeklärt, dass Frauen das nicht erlaubt ist. Ich war verstört. Wozu müsse ich denn Klavier spielen lernen, habe ich ihn gefragt. »Es hat eine veredelnde Wirkung auf Mädchen.«

Bis heute denke ich über seine Worte nach. Auf mich scheint es leider nicht zu wirken. Ich habe nur gelernt, dass zu viele Fragen Strafen zur Folge haben.

Die Tür öffnet sich und ich wappne mich innerlich für das Kommende, suche in meinem Kopf nach einem Gedanken, an den ich mich klammern kann – finde aber keinen. Die Angst vor der nächsten Stunde ergreift Besitz von mir und ich laufe wie in Trance meinem Kindermädchen hinterher. Ein Portier führt uns zum Fahrstuhl. Oben an der Wohnungstür wartet ein Dienstmädchen. Ihre Knopfaugen mustern mich mit hochgezogenen Augenbrauen. Ich balanciere auf einem Bein und versuche wie eine Dame, meinen Schuh abzustreifen, ohne zu fallen oder beide Hände zu benutzen. Bei mir hat diese Aktion jedes Mal den Charakter eines Kreiseltanzes. Hüpfend, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, kämpfe ich mit dem linken Schuh. Er sitzt eng und ich ärgere mich darüber, vergessen zu haben, sie einzufetten, damit sie besser abgleiten. Die Blicke der Frauen machen es nicht einfacher. Ich höre mein Kindermädchen seufzen. Sie hat gut reden. Aufgrund ihres Alters darf sie sich setzen.

Endlich habe ich es geschafft und betrete mit klopfendem Herzen das Refugium des alten Mannes. Er erwartet mich mit zusammengelegten Händen. Hat er gebetet?

»Schön, schön, die kleine Eva ist wieder da«. Die näselnde Stimme treibt mir eisige Schauer über den Rücken. Sie verfolgt mich bis in meine Alpträume. Er reibt sich die Hände, als wenn er einen erfreulichen Kauf gemacht hätte. Ich schlucke. Beth verschwindet mit dem Dienstmädchen und ich bleibe allein mit dem Mann vor mir zurück. Meine Brust zieht sich zusammen und eine Gänsehaut überkommt mich. Mein Herz rutscht mir in den Rock, hört auf zu schlagen, versteckt sich. Ich möchte es ihm gleichtun. Mich verstecken. Kriege keine Luft. Mein Körper verkrampft und erzittert.

Herr Kornelius erhebt sich, starrt mich mit seinen trüben Augen an und tritt dicht an mich heran. Er taxiert mich, leckt sich die Lippen. Ich habe Mühe, das Zittern zu kontrollieren, möchte keine Schwäche vor ihm zeigen. Seine Augen bleiben an meinem Busen hängen und weiten sich. Scham steigt in mir auf, mein Kopf wird heiß und ich wünschte, der Erdboden würde sich unter mir auftun. Mein Atem geht stoßweise. Ich wage es nicht, mich zu rühren. Am Ende ragen meine Brüste nur deutlicher hervor. Ich weiß nicht, wie ich mich unscheinbar machen soll.

›Wieso forderst du den Mann so heraus?‹ Mutters schneidende Stimme tobt in meinen Gedanken. Ich habe ihr einmal vorgeschlagen, hässliche Kleider anzuziehen. Das wurde von ihr mit mehreren Ohrfeigen quittiert.

Mein Lehrer schreitet einmal um mich herum, studiert jede Rundung meines Körpers. Sein Atem riecht wie der Dünger auf den Feldern. Die knochigen, langen Finger zucken, als wollten sie am liebsten nach mir grabschen. Beim Anblick seiner gelben, gebogenen Nägel möchte ich mich übergeben. Ein Kitzeln im Nacken verrät mir, dass eine Schweißperle in meinen Blusensaum sickert.

»Guten Tag«, flüstere ich und senke den Kopf, als könne ich mich so seinen Blicken entziehen.

»Was denn, so schüchtern heute? Ist deine Blutung wieder vorbei, Kleines? Ja? Rein und sauber, so gefallen mir meine Mädchen.« Seine Stimme ist rau, gefolgt von einem schmierigen Glucksen. Die Gänsehaut klingt gar nicht mehr ab. Er legt eine Hand gefährlich tief auf meinen Rücken und schiebt mich zum Klavierhocker. Mit wackligen Knien setze ich mich. Ehe ich die Finger positionieren kann, höre ich seine näselnde Stimme an meinem Ohr: »Sei ein braves Mädchen und antworte mir. Du willst doch nicht, dass ich dein Kleid lüften muss.«

Ich gefriere zu einem Eiszapfen, weite die Augen, sodass es weh tut. Wie kann er nur ...? Selbst meine Mutter spricht nicht mit mir darüber. Beth hat mich mit knappen Worten aufgeklärt. ›Ein Mädchen spricht nicht darüber! Hast du verstanden?‹, schießen ihre Worte durch meinen Kopf. Aber ich kenne die Konsequenzen.

»Ja, mein Herr, das sind sie. Das schwöre ich ihnen!« Vor lauter Panik bricht meine Stimme.

»Gut so. Fein. Das ist brav.« Er tätschelt mir den Kopf. Ich unterdrücke ein Würgen.

»Es gibt nichts Abscheulicheres!«, zischt er. Seine Hand gleitet meinen Rücken hinunter. »Schön, dass du wieder da bist. Ich habe dich schon vermisst. Ich überlege schon seit längerem. Ich liebe junge, hübsche Frauen.« Aalglattes Gackern folgt seinen Worten.

Tränen schießen mir in die Augen. Mein Körper ist hart und steif. Wie eine Beute, die vor ihrem Räuber erschrickt, atme ich hektisch. Mir wird schwindelig.

»Und jetzt fang an zu spielen«, weist er mich forsch an.

Ich glaube, vergessen zu haben, wie man die Finger bewegt. Sie schweben zitternd über der Klaviatur.

»Gerader Rücken, Brust raus. Eine gute Haltung ist das A und O beim Klavier spielen. Fang mit der C-Dur-Tonleiter an!«

Ich spiele, als hinge mein Leben davon ab. Seine Hand wandert auf meine Schulter, die Finger knapp über dem Busen. Er tippt mit einem Fuß im Takt.

»Nein, nochmal«, schnurrt er vergnügt, als ich mich verspiele.

Ich blinzle die Tränen weg und spiele von vorn. Ich bereue es, meine Blutung bekommen zu haben? Sie sind ein Geschenk! Herr Kornelius möchte mich an diesen Tagen nicht sehen.

Er schnalzt mit der Zunge. »Du musst dich konzentrieren, liebe Eva. Noch mal.« Eine Ahnung steigt in mir auf und ich unterdrücke ein Schluchzen. Erneut versuche ich mich an der Tonleiter. Bereits beim fünften Ton treffe ich nicht die richtige Taste.

»Meine Eva, ich glaube, wir haben heute noch eine Menge vor uns.« Bei diesen Worten wandert seine Hand tief meinen Rücken hinunter.

Immer wieder muss ich von vorne anfangen, zu spielen. Ich kann nicht mehr. Habe das Gefühl, unter dem Druck zu zerbrechen. Doch die Stunde ist lange nicht zu Ende.

Herr Kornelius entfernt sich kurz und blättert in seinen Noten. Ich atme hastig ein und aus. »Eva, achte auf deine Haltung.«

Sofort setze ich mich wieder kerzengerade hin. Mein Klavierlehrer legt ein neues Notenblatt vor mir hin.

»Spiele das Sonett von letzter Woche. Ich möchte hören, was du gelernt hast.«

Ich schlucke. Es ist ein schweres Stück und er weiß genau, dass ich nicht einmal die erste Zeile fehlerlos spielen kann. Die Noten verschwimmen, dennoch lasse ich meine Finger auf der Klaviatur. Ich beiße mir auf die Unterlippe und klimpere besonders langsam. Die Tasten, die wie eine weißgraue Masse vor mir liegen, sind nicht mehr zu unterscheiden. Ein Rauschen in meinen Ohren macht es mir unmöglich, zu hören, ob ich die richtigen Töne treffe.

Die Hände von Herrn Kornelius legen sich fest auf meine Schultern. Er steht eng hinter mir, drückt sich an mich. Ich spüre, wie meine Brust sich zusammenzieht, und verspiele mich. Ein schiefer Ton schallt einsam durch den Raum. Meine Hände zittern, ohne dass ich sie daran hindern kann.

»Meine Geduld ist am Ende, Eva. Steh auf und lüfte dein Kleid.«

Auf dem Heimweg kann ich kaum laufen. Beth sagt kein Wort. Das muss sie auch nicht. Ihr Blick verrät alles.

Rahels Ratschlag kommt mir in den Sinn. ›Du musst einfach mehr zu Hause üben! Je weniger Fehler du machst, desto weniger Gründe hat Herr Kornelius, dich zu bestrafen.‹

Bestrafen. Durchstehen ist meine Devise gewesen! Maximal zwei Jahre noch, dann hat das ein Ende, sofern ein Mann mich heiratet, der Klavierspielen nicht relevant findet. Überlegt Herr Kornelius, mich zu heiraten? Ich weiß, dass er sich regelmäßig von seinen Frauen trennt und sich eine Neue sucht. Nie hält er es länger als zwei Jahre mit ein und derselben aus. Ich versuche, die wieder aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Mutter darf mich so nicht sehen. Ich stapfe weiter.

Würde mein Vater dem zustimmen?

»Du bist ja ganz blass, Kind. Es ist aber auch heiß,« schnauft Beth. Ihre Bewegungen sind mühsam. Kein Wunder bei unserer Kleidung. Ich ziehe am Kragen, der schneidend auf meine Kehle drückt. Er ist jetzt enger, genau wie die ganze Bluse. Kein Wind regt sich zwischen den Häusern und der Rock scheint die Hitze einzufangen.

Noch ein gutes Stück liegt vor uns. Wir laufen von Ost nach West. Dabei muss das Zentrum umlaufen werden. Unsere Stadt ist wie eine Spirale aufgebaut und Herr Kornelius wohnt im inneren Ring. Dort sitzt die Regierung. Im Wohnviertel sieht jedes Haus gleich aus. Sie sind hoch und schmal. Wir kommen am Heiligtum vorbei. Drum herum wohnen die Priester und Nonnen. Der Tempel ist der einzige Prunkbau neben dem Regierungsviertel. Mein Viertel liegt im Westen des mittleren Ringes. Neben Kaufmännern sind dort medizinische Fachkräfte und die Schutz- und Feuerwehr vertreten.

»Wo wart ihr?« Mutter taucht hinter Lea im Türrahmen auf. Ihre hysterische Stimme klingelt in meinen Ohren. Sie scheint getrunken zu haben. Ihre Wangen leuchten in einem verdächtigen Rot. Das tut sie öfter – etwas trinken – Wein oder sogar Schnaps. Ich sage nichts. Kritik kann sie nicht ertragen, lieber kritisiert sie mich. Ich mache einen Knicks: »Entschuldige Mutter, wir … «

Eine Ohrfeige unterbricht mich. Nahtlos fängt sie an, zu zetern, wie schwer sie es mit mir habe. »Ich habe vor Sorge Herrn Kornelius angerufen. Und er hat mir erzählt, wie schlecht und aufmüpfig du gewesen bist!« Obwohl sie lallt, ist ihre Entrüstung über mein angeblich furchtbares Verhalten ausgezeichnet zu hören.

In meiner Brust ballt sich ein Klumpen zusammen, so massiv wie ein Stein. Meine Hände formen sich zu Fäusten und ich atme schwer. Mir liegen die passenden Worte auf der Zunge, doch ich halte den Mund. Sie glaubt mir ja doch nicht.

Ich habe ihr vor einiger Zeit erzählt, dass Herr Kornelius mich anfassen würde. Ihre Antwort war eine Reihe heftiger Schläge, dass ich Angst vor ihr bekam. Damals war mein Vater in mein Zimmer gekommen. Er sah mich an und meinte, dass ich keine Lügen erzählen dürfe. Herr Kornelius sei ein angesehener Mann bei der Regierung, verheiratet und nicht an Mädchen wie mir interessiert. Wenn er hören würde, dass ich mich wie eine Dirne benähme, gäbe es gewaltigen Ärger. »Benimmst du dich wie eine Dirne? Hat er einen Grund, sich zu beschweren?«, hat er mich mit unheilverkündender Stimme gefragt. Mir liefen stumm die Tränen hinunter und ich konnte nur den Kopf schütteln. »Gut«, hatte mein Vater gesagt und das Zimmer verlassen. Nie wieder habe ich darüber gesprochen.

Hat Vater Recht und ich bin schuld daran, dass Herr Kornelius mich so behandelt? Bin ich eine Dirne?

Auf dem Zimmer schlinge ich die Arme um ein Kissen. Ungeachtet meiner Frisur lasse ich mich aufs Bett fallen. Rahel würde das nie passieren. Sie ist unter den Lehrern und Eltern als vorbildlich, zurückhaltend und damenhaft bekannt. Ich reibe mir die Wange und konzentriere mich auf meine graue Höhle. Ein Bett und ein Schrank passen in dieses Zimmer. Mein Zimmer. Mein Reich. Ich kuschle mich in meine Babydecke und ihr beruhigender Duft strömt in meine Nase. Beth hat sie mir zu meiner Geburt genäht und mit gelbem Garn Sonnen darauf gestickt. Eigentlich ein Frevel auf der Insel. Dennoch hat Mutter sie mir gelassen. Ich will nicht über sie nachdenken und verbanne die Frage, wieso.

Auf meiner Daten-Tafel öffne ich willkürlich ein Buch.

Nach wenigen Sätzen dringt Lärm von unten zu mir herauf. Ich spitze die Ohren.

»Kaufmann Paradi! Herzlich willkommen zurück. Das Haus ist ohne Sie nicht dasselbe!« Leas Stimme ist glitschig wie die Seife, die sie zum Putzen benutzt.

Beth setzt hinterher: »Ach, Kaufmann Paradi, Sie sehen müde aus! Kommen Sie, die Köchin wird Ihnen gleich ihre geliebte Tasse Tee zubereiten.« Sie überwerfen sich damit, Vater zu begrüßen. Er war die letzten Tage geschäftlich auf dem Festland.

»Schon gut, die Damen«, wimmelt mein Vater sie ab und seine schweren Schritte hallen durch das Gebäude.

Ich hoffe, Mutter erzählt ihm nicht direkt von dem Telefonat mit Herrn Kornelius. Meist ist er nach einer Geschäftsreise bei bester Laune, weil seine Einnahmen gestiegen sind.

Ein Knall, als wenn jemand einen schweren Gegenstand abgestellt hätte, schreckt mich auf. Bestimmt sein Koffer. Vielleicht hat er mir sogar etwas mitgebracht? Ein klein wenig Hoffnung steigt in mir auf, auch wenn die Chancen gering sind, ein Geschenk zu bekommen. Die Regierung hat vor einem Jahr die Einfuhrregeln verschärft.

›Die Festländer sind nicht unsere Freunde, sondern Feinde, die das System unterwandern und vernichten wollen. Sie verbreiten Lügen und versuchen, die Inselbewohner auf ihre Seite zu ziehen‹. Ich kann die Grundsätze der Insel auswendig.

Ich streiche den Rock vor dem Spiegel am Kleiderschrank glatt und bändige meine Haare. Aaron, mein Bruder, hat mir erklärt, dass jeder Kaufmann, der eine Ausreisegenehmigung hat, bei der Einreise erklären muss, warum er welche Güter auf die Insel bringt. Sie müssen einen Nutzen haben. Geschenke für die Tochter zählen nicht dazu.

Ich lausche angestrengt an der Tür, möchte Vater ohne Mutter begrüßen. Ihre Stimme dringt nicht durch die Wohnung, dafür aber eine andere. Eine männliche. Aaron. Er muss ebenfalls nach Hause gekommen sein. Soll ich runtergehen, um sie zu begrüßen?

Eine Tür schlägt zu und ich weiß, dass die Männer im Herrenzimmer verschwunden sind.

»Lea! Richte das Esszimmer her!«, kreischt Mutter.

Die Chance ist vertan. Ich gehe zurück zu meinem Bett und warte darauf, dass ich zum Abendessen gerufen werde.

Ich starre auf meinen Teller, auf dem sich verloren ein wenig gedämpftes Gemüse trollt. Es weiß nichts mit dem vielen Platz anzufangen. Ich pikse mit der Gabel eine Erbse auf und stecke sie mir in den Mund. Wie in Zeitlupe kaue ich. Meine Zunge schiebt den Happen hin und her. Mutter meint, wenn man langsam isst, tritt das Sättigungsgefühl ein, bevor man zu viel gegessen hat.

Ich schiele auf die Teller von Aaron und Vater. Sie sind randvoll gefüllt mit Teigtaschen und gebackenem Gemüse. Saftige Käferbuletten vollenden das Gericht. Mein Magen zieht sich bei dem Anblick zusammen. Das ist ungerecht! Vater isst nicht einmal etwas von seinem Teller.

Stattdessen schimpft er in einem fort: »Ich kann euch nicht sagen, welchen Schund sie dort herstellen!« Mutter nickt eifrig, hängt wie gebannt an seinen Lippen, als ob wir das nicht jedes Mal hören würden. Mitgebracht hat er mir leider nichts. »Wie unzivilisierte Barbaren vegetieren die Festländer ohne Regeln und Verstand vor sich hin!«

Zustimmend verzieht meine Mutter ihr Gesicht zu einer abschätzigen Miene. Ihre Augenbrauen gehen zusammen, die Mundwinkel wandern nach oben und ihre Nase ist gerümpft. Es wirkt einstudiert. Vater steigert sich weiter hinein. Seine Stimme dröhnt von den kahlen Wänden und ich muss mich zusammenreißen, mir nicht die Ohren zuzuhalten.

Aaron scheint das Ganze nicht zu interessieren. Er isst, ohne ein Wort zu sagen oder sich von dem leckeren Essen ablenken zu lassen. Würde ich an seiner Stelle auch nicht. Mein Teller bietet zu wenig, worauf man die Aufmerksamkeit lenken kann. Meine Gabel findet ein Stück Karotte. Ich spüre Mutters Blick auf mir und stecke sie mir hastig in den Mund. Nicht, dass sie der Meinung ist, ich hätte genug gegessen, weil ich so langsam bin.

»Sie reißen mir die Waren regelrecht aus der Hand. Kennen ja auch kaum gute Materialien«, lenkt Vaters Stimme Mutters Aufmerksamkeit wieder weg von mir. Ich atme aus.

»Sie sind wie Kannibalen. Tragen immer noch die Häute und Pelze von Tieren. Sie haben sich nicht im Geringsten fortentwickelt!« Seine Worte triefen vor Abscheu. Mich erfüllt die Erzählung mit Ekel. Die Haut einer Kuh zu tragen. Welches Monster tut so etwas?

Vater handelt mit Kleidung, die aus der Variabilispflanze hergestellt wurde. Er ist einer der wenigen Kaufmänner, die Geschäftsverträge mit dem Textilfabrik-Inhaber pflegen. Als Einziger darf er die Ware auf dem Festland verkaufen.

Aus den Augenwinkeln behalte ich Mutter im Blick. Ihre Wangen sind gerötet. Ich bin mir nicht sicher, ob es vom Alkohol oder Stress ist. Ihrer Meinung nach sind die Geschäfte mit dem Festland eine Belastung. Sie hätte lieber nichts mit den Wildlingen zu tun.

Als das Abendessen zu Ende ist, klingelt es. Lea öffnet die Tür. Aaron entschuldigt sich und eilt in den Flur – Besuch für ihn.

Ich bedanke mich und stehe auf, um auf mein Zimmer zu verschwinden. Im Flur vor der Treppe kommen mir Aaron und seine Freunde entgegen. Die vier Jungs hängen fast ständig miteinander herum. Kaum trifft man einen von ihnen allein. Ich quetsche mich an die Wand, um sie vorbei zu lassen. Sie mustern mich mit einem Blick, den ich nicht zu deuten vermag. Aaron zwinkert mir zu, ich lächle verkrampft.

»Guten Abend, Eva.«

Ich schrecke zusammen. Chamuel, der beste Freund meines Bruders, schaut mich entschuldigend an und ich spüre, dass mein Gesicht heiß wird. Geht es noch peinlicher?

Etwas streift meine Schulter. Aaron steht wieder neben mir. Ich linse zu ihm. Er schaut erst mich an und fixiert dann seinen Freund. Ist das Skepsis oder Zorn? Ich besinne mich und haste mehr schlecht als recht die Treppe hoch. Aaron zischt etwas, doch das Rauschen in meinen Ohren übertönt alles um mich herum.

Ich flüchte ins Badezimmer und spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht. Im Spiegel starren mir graue Augen über knallroten Wangen entgegen. Wieso wühlt mich Chamuels Aufmerksamkeit so auf? Weil es mich daran erinnert, dass mir bald weitere Begegnungen mit dem männlichen Geschlecht bevorstehen? Die Freunde von meinem Bruder kommen nicht als Heiratsinteressenten in Frage. Dafür sind sie zu jung – gerade mal fünf Jahre älter als ich. Chamuels entschuldigendes Grinsen erscheint vor mir. Sofort schlägt mein Herz heftiger. Ein Kribbeln schießt in jeden Winkel meines Körpers. Plötzlich kommt mir die Vorstellung, dass mein Vater mir einen Ehemann aussucht, nicht mehr furchtbar vor.

Ich greife zur Zahnbürste, putze die Zähne und wäge dabei meine Chancen auf dem Heiratsmarkt ab. Unweigerlich wandern meine Gedanken zu Herrn Kornelius. Wenn mehrere Männer bereit sind, den gewünschten Preis zu zahlen, dürfen die Mädchen mitentscheiden, sofern die Väter es zulassen. Kommt nur ein Mann in Frage, dann gibt es keine Wahl.

Ich sehe mich im Spiegel an. Meine Züge sind ernst. Ich verziehe sie zu einer Grimasse. Wie soll ich mit diesem Aussehen einen guten Preis erzielen? Mein Gesicht ist übersät von Pickeln, eingerahmt von spröden, aschbraunen Haaren. Als wäre das nicht schlimm genug, wird alles lachhaft durch eine Nase betont, die mehr Ähnlichkeit mit einem Vogelschnabel hat, als mit dem Ideal einer Inselfrau.

Rahels Antlitz erscheint vor meinem inneren Auge. Sie ist eine wahre Schönheit. Die Traumfrau schlechthin. Schwarze Locken, ein reines, zartes Gesicht ohne Pickel mit Stupsnase und dazu eine weibliche Figur. Selbst Lillit ist schöner als ich. Nicht nur ihre Züge und ihr Körper, auch ihre Haare sind ein Traum. Sie sind rotbraun, lang, gewellt und reichen bis zum Po. Meine kleben wie eine Matte auf meinem Kopf. Dazu ein kindischer Pony, den Mutter so reizend findet. Wenn ich verheiratet bin, muss ich das Haar zusammengebunden unter einem Tuch tragen. Dann hat sich dieses leidige Thema wenigstens erledigt.

Im Bett wälze ich mich hin und her. Ich kann nicht einschlafen und beschließe, Lea um einen Mandelsaft zu bitten.

Oben auf den Treppenaufgang halte ich inne. Die Tür zum Herrenzimmer ist angelehnt. Aarons Freunde sind schon gegangen. Ich höre Vater mit meinem Bruder reden. Er hat wieder diesen Ton angeschlagen.

»Das ist nicht zu fassen!«

Auf Zehenspitzen gleite ich die Treppe hinunter, um besser hören zu können. Eine wahnwitzige Idee, doch meine Neugier besiegt meine Vernunft immer wieder. In zwei Schritten jage ich lautlos durch den Flur und husche in die Besenkammer. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Die Stube grenzt genau an das Herrenzimmer und ist ein idealer Lauschplatz. Besonders wenn Vater sich aufregt, kann man jedes Wort verstehen.

Erneut regt er sich über die Kontrollen auf: »Ich habe stundenlang am Tor warten müssen, weil sie jeden einzelnen Lastwagen kontrollieren wollten. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel dabei unbrauchbar wurde. Sie haben die Stoffe einfach auf den Boden geschmissen, als ob ich sonst was versteckt hätte.« Vater Stimme bebt vor Wut. »Seit einiger Zeit wird es immer schlimmer! Und leider steigen dadurch meine Verluste! Und daran sind nur die Rebellen schuld. Die Regierung müsste die Kontrollen nicht verschärfen, wenn die Menschen auf der Insel schlauer wären. Es gibt zu viele, die auf die Lügen vom Festland hereinfallen!« Den letzten Satz brüllt er.

Ich höre Aarons Murmeln. Er scheint ihn beruhigen zu wollen. Rebellen? Ein dickes Fragezeichen taucht in meinen Kopf auf. Leider redet Vater nie darüber, wer sie sind und was sie wollen. Was das Festland von uns will, versteh ich auch nicht.

»Beschimpft haben sie mich, die Weiber, gespuckt und meine Ware getreten.«

Ich halte den Atem an. Wieso, weshalb und warum? Ich dachte, das Festland liebt seine Waren?

»Die Kriminalität steigt und damit werden meine Umsätze weiter sinken, weil ich mehr Geld in den Wachschutz stecken muss. Einiges wurde mir gestohlen. Zum Glück nicht die wertvollsten Stücke.«

Ich höre, wie etwas in ein Glas gegossen wird. Stille. Regungslos verharre ich, damit ich nirgends anstoße. Das wäre fatal.

»Es ist gut, wie wir hier leben. Hier hat alles seine richtige Ordnung. Dort drüben geht alles den Bach runter. Das kann man sich nicht vorstellen. Eine Frau ist Präsidentin!«

Was? Ich kann förmlich hören, wie er den Kopf schüttelt. Wieder redet Aaron, doch ich kann ihn nicht verstehen. Er spricht zu leise. Dann werden Stühle verrückt. Schnell weg hier! Wie auf der Flucht eile ich die Treppen wieder hinauf.

Jetzt hilft Mandelsaft auch nicht mehr. Eine Frau ist Präsidentin. Ob ich das richtig verstanden habe? Unser System beruht auf dem Wissen, dass wir Frauen schwächer sind als die Männer. In allem. Kraft und Intelligenz. Das wurde wissenschaftlich nachgewiesen. Seit jeher war das männliche Geschlecht Jäger und Beschützer eines Dorfes. Deswegen hat die Regierung unseren Schutz in die Gesetzgebung aufgenommen. Die Männer sind verpflichtet, für uns zu sorgen und uns zu beschützen. Wir dagegen sollen uns, wie es schon zu Anbeginn der Zeiten war, um Heim und Kind kümmern. Das ist der Grund, warum auf der Insel Frieden und Wohlstand herrscht. Wir halten uns an die natürlichen Gesetzmäßigkeiten der Natur. Das Festland nicht. Da regieren Chaos und Krieg. Wie konnten sie eine Frau zur mächtigsten Person des Landes wählen? Wie kann eine Frau das geschafft haben? Das muss ich morgen Rahel erzählen.

Ich husche wie ein Schatten zurück auf mein Zimmer und schmeiße mich auf mein Bett. Mir brummt der Schädel vor lauter Fragen. Das ist nicht gut für meine Gesundheit. Der weibliche Körper kann politische und logische Worte nur schwer begreifen. Ich bin nicht für Männerthemen geeignet. Deswegen habe ich oft Kopfschmerzen. Mein Körper wehrt sich gegen dieses Denken. Mein neugieriges, hitziges Gemüt macht mich krank.

9 TAGE VOR DER DUNKELHEIT

Ich wache vor dem Klingeln der DV-Uhr auf. Habe ich überhaupt geschlafen? Es fühlt sich nicht so an. Meine Augen sind geschwollen und mein Kopf scheint auf das Doppelte angewachsen zu sein. Die Sache von gestern Abend hat einiges in mir aufgewirbelt. Mein Mund schmeckt bitter. Eine Frau ist Präsidentin. Das Gefühl, etwas Wichtiges, Großes erfahren zu haben, lässt meine Arme und Beine kribbeln. Meine Haut fühlt sich an wie nach einer eiskalten Dusche. Völlig neben der Spur greife ich in meinen Kleiderschrank und ziehe an, was meine Hände zuerst ergreifen. Grau in Grau. Was kann ich da schon falsch machen? Ich seufze. Mutter hätte viele Gegenargumente. Hoffentlich begegne ich ihr nicht.

Im Esszimmer erwarten mich eine Schale Haferflocken mit Wasser und mein Bruder. Er sitzt am Tisch, frühstückt und sieht nicht auf. Natürlich hat er, Mandelsaft zu den Flocken bekommen. Seine Augen huschen gleichmäßig über die DV-Tafel in der linken Hand. Ob er die Zeitung liest? Mit der rechten führt er mechanisch das Essen in den Mund. Auf der Insel wurde jegliches Papier verbannt. Zum Lesen und Schreiben haben Männer und sogar Frauen eine Datenverarbeitungsanlage erhalten. Sie sind von der Größe einer Miniatur-Tafel. Ganze Bücher befinden sich als Datei auf ihnen. Die Tafeln für die Männer können weitaus mehr. Die Zeitung beispielsweise bekommen nur sie zugeschickt. Ich gehe an Aaron vorbei und versuche, ein paar Schlagzeilen aufzuschnappen.

»Aaron, leg deine Daten-Tafel weg! Nachrichten haben am Essenstisch nichts zu suchen!«, ertönt die Stimme unserer Mutter, die in diesem Moment den Raum betritt. Mist.

Aaron legt seufzend die DV-Tafel weg und lächelt mich an. »Guten Morgen, Schwesterherz. Gut siehst du aus!«

Ich starre ihn an. Er ist gut erzogen, hat Manieren und ist höflich. Daher nehme ich sein Kompliment nicht ernst und gebe keine Antwort. Steif sinke ich auf meinen Platz. Ich habe gehofft, weitere Informationen über das nächtliche Gespräch zu ergattern. So viel zu meinen Vorhaben, nicht mehr über Politik nachzudenken.

Mutter hasst es, wenn die Männer am Tisch lesen. Ihrer Meinung nach hat Politik einen fatalen Einfluss auf mich – ohne, dass ich auch nur ein Wort davon lese. Allein die Anwesenheit der Daten-Tafeln, fürchtet sie, führe mich direkt ins Verderben. Ich wüsste nicht, wie mich die Ergebnisse der diesjährigen Ernte, die Erträge der Variabilispflanze oder die Einfuhrkosten vom Festland negativ beeinflussen sollten. Aber in Anbetracht dessen, was ich gestern erfahren habe, hat sie vielleicht Recht. Ich lächle und setze mich an den Tisch. Wenigsten bin ich Mutters kritischen Blicken entgangen.

»Was steht bei dir an?«, fragt mein Bruder ungeachtet dessen, dass ich nicht zum Sprechen aufgelegt bin.

»Das Übliche.« Ich versuche erst gar nicht, den gelangweilten Ton zu unterdrücken.

»Achte auf deine Haltung, Eva. Sitz gerade. Sprich nicht mit vollem Mund und antworte im ganzen Satz.«

Ich schlucke meinen Haferbrei herunter. »Ja, Mutter«, sage ich und schaue sie provokativ an. Sie funkelt mich erbost an. Ihre Lippen sind ein dünner Strich. Jetzt heißt es aufpassen. Ich wende mich wieder zu meinem Bruder und sehe seinen mitleidigen Blick.

Seit ich meine Blutung habe, ist Mutter unerträglich geworden. Keine Minute vergeht, die sie nicht damit verbringt, an mir herum zu mäkeln und mich zu kritisieren. Und nun steht auch noch das größte Ereignis des Jahres bevor. Der Heiratsmarkt. Mit eiligen Schritten wuselt sie wieder hinaus.

»Wir müssen bald eine andere Lösung finden, Eva.« Wovon redet er. Wegen Mutter? »Der zweite Teil meiner Ausbildung beginnt und dafür werden wir in den inneren Ring ziehen. Dann kann ich dich nicht mehr zur Schule begleiten.« Aaron ist gemeinsam mit seinen Freunden auf die Regierungshochschule gewechselt.

Ich schlucke den Bissen herunter. »Ich kann auch alleine zur Schule gehen, Aaron. Das geht schon in Ordnung.« Ich schiebe einen weiteren Löffel hinterher, um meinem Mund etwas zu tun zu geben. Meine Hand krampft sich um das graue Material und ich habe Mühe, sie zu lockern. Schmeckten die Haferflocken vor kurzem noch nach nichts, haben sie jetzt einen schalen Beigeschmack bekommen.

»Das wird nicht gehen Eva, aber ich überlege mir etwas.« Aaron steht auf und packt seine Tasche.

Mutter eilt mit Lea im Schlepptau herein. Das Dienstmädchen räumt die Teller von meinem Bruder weg. Für mich hat sie nur ein Stirnrunzeln übrig. Lea ist etwa so alt wie meine Mutter und arbeitet für uns, seit ich ein Kleinkind war. Warm geworden sind wir nie. Die Jahre haben nichts von ihrer Strenge genommen. Ihr Blick ist finster und ihre Haltung steif. Sie tut, was Mutter sagt. Wenn ich dadurch leiden sollte, ist es ihr nur recht.

»Komm Eva, wir müssen los.« Aaron reicht mir meine Tasche und wir gehen gemeinsam aus der Wohnung.

Mutter folgt uns. Sie hat einen wichtigen Termin, wie sie uns verkündet. Ja, sicher. Beim Friseur oder so. Ihre Schuhe klackern auf dem Boden – spitze Trippelschritte, die mich bis aufs Äußerste reizen. Sie kann in ihrem engen Rock kaum einen Fuß vor den anderen setzen. Ich presse die Lippen aufeinander.

Im Fahrstuhl herrscht Stille. Der süßliche Duft von Mutters Parfüm füllt die Kabine. Ich versuche, ihren Blicken auszuweichen. Aarons auch. Ihn anzusehen, würde mich zum Lachen bringen. Das ist seine Spezialität. Ich betrachte das Lämpchen, das von einer Zahl zur nächsten hüpft. Lachen ist nicht damenhaft und gäbe Ärger – und das ist Mutters Spezialität: keifen und mit mir schimpfen.

Draußen erwartet uns Sonnenschein. Es ist Sommer auf Selvia. Die Insel heizt sich für den bevorstehenden Winter auf. Ich schwitze in meiner langen Kleidung. Tief atme ich ein und verabschiede mich von Mutter. Sie setzt ein Lächeln auf. Die Frau ist die Repräsentantin des Hauses und sie weiß, wie die Wirkung nach außen ist. Da mein Vater ein Kaufmann mit Verbindungen zum Festland ist, gehen Leute oft bei uns ein und aus. Die Fassade darf nicht bröckeln, denn er steht unter ständiger Beobachtung – und damit auch seine Familie. Doch seine Arbeit ermöglicht uns ein Leben in Wohlstand. Ein einziger Fehltritt unsererseits wäre das Ende. Mutter küsst mich auf beide Wangen, winkt meinem Bruder zu und steigt in eine Limousine, die auf sie wartet.

Stumm folge ich meinem Bruder. Halte mich dabei im Schatten der Häuserwände auf. Mehr Autos als sonst fahren an uns vorbei. Wir begegnen vielen Menschen. Aufregung liegt in der Luft. Selvia wartet. Die Vorbereitungen für den Heiratsmarkt laufen. Ein Markt, auf dem Männer ihre zukünftigen Ehefrauen aussuchen. Ein Tag, der mein Leben verändern kann.

Seit gestern gibt es die Kleider zu kaufen. Ob Mutter deswegen zum Friseur geht? Der Markt hat in diesen Tagen Hochkonjunktur. Viele bedeutende Frauen werden vor Ort sein. Dem Kaufrausch verfallen, werden sie sich darin messen, wer reicher, wer schöner, wer besser ist. Vergessen sind die Momente der Langeweile. Der Zurückhaltung. Der Demut. Jede Mutter ist auf der Suche. Das Ziel? Das bunteste, das hübscheste, das auffälligste Kleid zu bekommen. Für sich und für ihre Tochter.

Zu gern will ich Aaron mit Fragen löchern. Würde er mein Geheimnis wahren? Das Pochen in meinem Kopf wird stärker. Ich traue mich nicht. Seit ich erblüht bin, distanziert mein Bruder sich von mir. Den für heute geplanten Marktbesuch mit Rahel hat er mir auch verboten. »In deinem Alter geht man nicht mehr aus, Eva!« Er hat es forsch gesagt. So kenne ich seine Stimme gar nicht.

Ich vermisse die Zeiten, in denen wir für einander da waren. Früher, wenn er nach Hause kam, hat sich Mutter zurückgezogen, mich aus ihren Fängen gelassen. Aaron war bei mir. Mit mir. Nachts, wenn ich Alpträume hatte, am Tag, wenn die Langeweile mich zu ersticken drohte. Wir sind gemeinsam durch die Straßen gezogen, haben gespielt. Als Mutter entschied, eine Dame, eine Inselfrau aus mir zu machen, war all das vorbei. Aaron fand andere Freunde. Er ging immer länger zur Schule. Vater wurde in unsere Erziehung mit einbezogen. Ausreißer wurden hart bestraft. Auch Aaron, denn er hat oft versucht, mich zu decken. Ob er kapiert hat, dass eine Beziehung zu mir nur Leid für ihn bedeutet?

»Eva, alles in Ordnung?« Ich zucke zusammen. Mein Blick gleitet von Aaron zu meinen Händen. Die Nagelhaut am linken Daumen blutet. Ich schüttle den Kopf und Aaron zuckt mit den Schultern.

Reiß dich zusammen! Die Feen sind verschwunden. Es gibt auch keine Zwerge, die nach Edelsteinen suchen oder Trolle, die Aaron bekämpfen muss. Werd erwachsen! Das ist Vergangenheit. Wie mein Märchenbuch, das Mutter verkauft hat. Das einzige gedruckte Buch, das wir je besessen haben. Eine Rarität. Sie hat bestimmt viel Geld dafür bekommen. Meine erfundenen Geschichten hat sie ebenfalls von der Tafel gelöscht. Mit zehn Jahren war meine Kindheit vorbei.

An der Kreuzung zum Markt warten wir auf Aarons Freunde. Lachend begrüßen sich die Jungen untereinander, als wären sie noch Kinder. Dass sie bald auf die Regierungsschule wechseln, kann man ihnen nicht ansehen. Der Gedanke daran, Aaron bald verabschieden zu müssen, sticht mir ins Herz. Ein kurzes Nicken in meine Richtung und wir gehen weiter. Jungs in ihrem Alter haben sich von Mädchen fernzuhalten. Besser gesagt anders herum. Das bewahrt die weibliche Tugend. Diese wird einen entscheidenden Teil des Kaufpreises ausmachen.

Ich folge den Jungs und schaue dabei auf meine Füße. An einer Ampel bleiben wir stehen und ich finde mich neben Chamuel wieder. Ich fühle mich unwohl in seiner Nähe. Vielleicht ist es wegen Ariel, seiner Schwester, die oft geprügelt wird? Ihr Vater ist äußerst jähzornig. Dass Chamuel nach ihm kommt, kann ich mir nicht vorstellen. Aaron wäre nicht mit ihm befreundet. Zu mir ist er zuvorkommend. Nie herablassend. Dann ist es eher wegen seiner Augen – glaube ich – und bemerke zu spät, dass ich ihn anstarre. Er lächelt und ich spüre, wie mein Gesicht heiß wird. Ich taumle und falle fast über die Bordsteinkante. ›Wie eine Strandkrabbe!‹. Das würde meine Mutter jetzt sagen und schimpfen. Einen Jungen anzuschauen. ›Was bist du, eine Dirne?‹ Ich schüttle den Kopf und senke den Blick wieder auf den Boden.

Am Mädchenschultor bemerken wir einen Stau.

»Worauf starren die denn so?«, frage ich Aaron. Ich würde gern sehen, was los ist, doch er hält mich zurück.

»Misch dich nicht ein, Eva.« Seine Finger legen sich um meinen Arm und er starrt mich warnend an. Für einen Moment bin ich wie gelähmt. Immer öfter lässt er seinen Status als Mann heraushängen. Das hat er früher nicht gemacht.

»Ich will wissen, was los ist!«

Mit unveränderter Miene fixiert er mich: »Wir warten, bis der Andrang sich aufgelöst hat!«

Ich wende mich zu dem Aufruhr und strecke meinen Hals. Ob Lillit etwas angestellt hat?

»Guten Morgen.«

Ich fahre herum, den Arm weiterhin in Aarons beißendem Griff. Da steht sie. Die Verdächtige. Als würde sie zu uns gehören. Mir klappt der Mund auf. Die Hand meines Bruders zieht sich zusammen. Sofort schließe ich ihn wieder. Aarons Miene zeigt keine Regung. Er sieht kühl zu meiner ehemaligen besten Freundin. Ein Ziehen durchfährt mich. Seit Wochen reden wir kein Wort miteinander. Der Schmerz wandert meine Brust hinauf und treibt mir die Hitze ins Gesicht. Ich blicke zu Aarons Hand und reiße mich los. Seine Augen weiten sich, ich strecke ihm die Zunge raus. Lillit beobachtet unsere stumme Konversation mit hochgezogenen Augenbrauen. Ich habe den Eindruck, dass sich ein Grinsen in ihren Zügen anbahnt, doch ich ignoriere es und eile zum Tumult. Mit einem Gefühl von Stolz und Unbehagen stürze ich mich in die Menge und pralle gegen eine zierliche Person mit schwarzen Locken.

»Irgendjemand hat das Schultor verschandelt.« Rahels Stimme bebt vor Erregung.

»Was? Was ist los?« Mein Gehirn verarbeitet ihre Worte nur langsam.

Schultor. Verschandelt.

Meine Augen weiten sich. Ich sehe sie an und ihre Augen sind gefüllt mit Tränen. Beide versuchen wir, einen Blick auf den Schaden zu erhaschen. Auf Beschädigungen und Beschmutzungen von Gebäuden und anderen Dingen steht auf der Insel eine schwere Strafe. Das Mindeste ist eine Freiheitsstrafe, das Schlimmste – die Verbannung in die schwarze Zone.

Mühsam drängen sich ein paar Aufseherinnen von außen durch die Menge. Zwei von ihnen tragen ein Tuch bei sich. Sie schieben sich an uns vorbei nach vorne. Dadurch können wir einen Blick auf den Tatort werfen. ›Frauen erhebt euch!‹, steht in dicker, weißer Schrift auf dem Tor. Daneben eine Hand mit gekreuztem Zeige- und Mittelfinger.

Rahel zieht die Luft scharf ein und murmelt: »Das darf nicht wahr sein!«

Ich höre das Getuschel der anderen Mitschülerinnen und grinse – zu meiner eigenen Überraschung. Sie regen sich über den Text auf und beschimpfen die Frauen, die das geschrieben haben als Sünderinnen und Dirnen.

»Es wäre angebrachter gewesen, ›Frauen setzt euch‹ zu schreiben«, bemerke ich kichernd. »Immerhin stehen wir schon sehr häufig: Beim Morgenapell, beim Sonntagsgebet, bei der Begrüßung jedes Lehrers, wenn ein Mann den Raum betritt.« Ich lache.

Rahel schaut mich aus den Augenwinkeln an. Ihre Mundwinkel verziehen sich zu einem erschütterten Ausdruck, als würde sie mich nicht kennen.

»War doch nur ein Witz.« Ich hebe beschwichtigend die Hände. Ihre Miene verändert sich nicht. Meine Augen wandern zu Boden und ich lasse beschämt die Schultern hängen. Wieso kann ich nicht einmal meinen Mund halten?!

Ich gehe zurück, um mich von meinem Bruder zu verabschieden. Die Aufseherinnen mühen sich ab, das Banner abzuhängen. Lillit ist verschwunden und seine Freunde stehen etwas abseits von ihm. Er funkelt mich erzürnt an, doch zu meiner Überraschung drückt Aaron mich und küsst mich auf die Wange.

»Pass auf dich auf!«, flüstert er mir ins Ohr.

Verdutzt vergesse ich, zu antworten. Ob sein baldiger Auszug damit zu tun hat? Mir schnürt es die Kehle zu und Verwirrung macht sich in mir breit.

Die Jungs verschwinden in der Masse der ankommenden Schülerinnen.

Ihre Schule liegt auf der anderen Seite der Nord-Süd-Straße. So nah und doch so fern. Während unsere ein langweiliger, eckiger Bau umgeben von einem massiven, unter Strom gesetzten Zaun ist, wirkt die Schule der Jungen wie aus einem Märchen – einem Märchen aus der Zukunft. Sechs Türme – alle verbunden mit unzähligen Brücken – und ein ungewohnt hoher Verbrauch an Glasscheiben lassen die Schule im Sonnenlicht glitzern und funkeln. Die Turmdächer verlaufen in einer Spirale spitz nach oben und sollen einen sagenhaften Ausblick über die Stadt Selvia bieten. Das hat Aaron mir zumindest erzählt. Meine Schule ist eher länglich als hoch und die Aussicht deprimierend.

Die Menge bewegt sich, das Tor scheint frei und offen zu sein. Traurig und beunruhigt verharre ich vor dem Sensor, damit der mich identifizieren kann. Ein mechanischer, chromblitzender Arm mit einer kleinen Lampe fährt zuckend über unsere Köpfe hinweg und surrt unablässig. Ein blaues Licht blitzt auf und ich gehe wie blind durch das Tor. Meine Hände zittern. Ich denke an Rahels Blick. Ich denke an die Präsidentin vom Festland. Ich denke an meinen Bruder, der bald ausziehen wird. Mein Magen fühlt sich an wie ein zusammengedrückter Klumpen und mir ist übel.

In der ersten Stunde habe ich die Gelegenheit, für meine vorlauten Worte Buße zu tun. Religion. Der Priester hält wie immer einen monotonen Monolog und ich nutze die Zeit, meine Gedanken zu sammeln. Rahel sitzt steif neben mir – sauer wegen des schlechten Witzes. Bei Kritik an der Insel versteht sie keinen Spaß.

»Wie war gestern deine Klavierstunde, Eva?«, fragt sie mich, nachdem es geklingelt hat.

»Alles gut, ich bin schon viel besser geworden.«

Rahel lächelt steif und nickt. Die Sache mit Herrn Kornelius behalte ich für mich. Vor allem seine Überlegung, mich zu heiraten.

Wir erreichen den nächsten Klassenraum und setzen uns. Haushaltsführung. Schwerpunkt in diesem Schuljahr: Vorbereitung auf ein Leben als Ehefrau. Das Thema heute: Wie umsorgt man seinen Mann, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt?

Die Übelkeit breitet sich meine Kehle hinauf aus. Wieso musste Rahel mich an den Unterricht erinnern? Mir wird die Brust eng. Will er mich wirklich heiraten? Ich denke an meine Mutter und es graut mir davor, eines Tages wie sie zu enden.

Im Literaturunterricht verteilt Frau Aquila die Aufsätze von letzter Woche. Sie bleibt bei mir stehen und sucht meinen auf ihrer Daten-Tafel.

»Ah, hier ist er ja.« Meine leuchtet auf, als sie ihre DV-Uhr in die Nähe hält. »Eine schöne Ausdrucksweise, Eva. Gut gemacht!«

Der Aufsatz mit ihren Bemerkungen erscheint auf dem Bildschirm.

»Danke, Frau Aquila. Das kommt bestimmt vom vielen Lesen und Schreiben«, antworte ich höflich und überfliege das Dokument.

»Was schreibst du denn, Eva?«, will sie wissen und schaut mich neugierig an.

Ich sehe auf. Warum habe ich geredet?! »Aufsätze ... Briefe, Reden für die Wohltätigkeitsveranstaltungen meiner Mutter ... «, stammle ich, »Nichts Besonderes!« Schon wieder fühlen sich meine Wangen heiß an. Wieso kann ich nicht so unscheinbar wie alle anderen sein?

Rahel dreht sich auf ihrem Platz langsam zu mir. »Du hast eine Brieffreundschaft!? Mit einem Mann?« Das letzte Wort presst sie hysterisch kreischend hervor.

»Was? Wie? – Nein! Mit der Tochter eines Geschäftskollegen meines Vaters. Meine Eltern kontrollieren jeden Brief. Voll öde! Da kann man nicht wirklich spannende Sachen schreiben.«

Wie wenig Rahel und ich uns kennen, obwohl sie meine vermeintlich beste Freundin ist.

Nach den Geschehnissen mit Lillit kam sie auf mich zu. Ich war einsam und empfand Rahel als mutig und aufmunternd. Es hat mir geholfen, meine Eltern waren begeistert. Sie kommt aus einer angesehenen Arztfamilie. Ich senke die Augen auf den Aufsatz. Um nichts in der Welt würde Rahel ihr Ansehen gefährden. Ich spüre ihren Blick auf mir ruhen. Ich brauchte nicht hinzusehen, um zu wissen, dass ihr der Vorwurf ins Gesicht geschrieben steht.

»Ich muss mit dir reden.« Das gestern Gehörte bereitet mir immer noch Kopfschmerzen.

Rahels Hand ruht auf dem Türknauf zum Pausenhof. Die Sonne scheint, die meisten Schülerinnen sind draußen. Ich mache keine Anstalten, ihr zu folgen. Sie hält inne und sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Meinen Witz scheint sie nicht verdaut zu haben.

»Geht das nicht draußen?« Sie klingt gelangweilt, desinteressiert. Ich schüttle kaum merklich den Kopf.

Im Essenssaal ist es trist. Die Lichter leuchten kalt auf uns herab.

»Was gibt es denn?« Widerwillig lässt sich Rahel auf einen Stuhl an einem Zweiertisch plumpsen. Ihre Augen schweifen misstrauisch hin und her. Ich zögere. Was ist denn mit ihr los? Gestern noch hat sie mir grinsend Süßigkeiten geschenkt und heute?

Ihre Miene ändert sich zu einem sorgenvollen Ausdruck: »He, ist alles in Ordnung? Hat dein Vater etwa noch keine Anfragen von Männern für dich bekommen?«

Ich starre sie an. »Äh, nein, darum geht es nicht«, druckse ich herum. Wie soll ich bloß anfangen? Ich überlege und rattere alles herunter, was ich gestern erfahren habe. Meine Stimme stolpert an manchen Stellen, weil ich Rahel keine Chance geben will, dazwischen zu sprechen. Als ich den Mund schließe, blicke ich sie mit angehaltenem Atem an. Meine Füße vollführen einen Tanz unter dem Tisch. Die Hände ruhen verkrampft vor meinem Teller.

Rahel schneidet gelassen ein Stück von ihrem Ameisenpuffer ab, taucht es in das Karotten-Weizen-Püree und kaut bedächtig. Ich sehe ihre Kiefermuskulatur langsam, geradezu rhythmisch arbeiten. Ihre grazilen Bewegungen sind perfekt, doch jetzt zerren sie an meinen Nerven. Endlich sieht sie mich an und scheint wenig beeindruckt. Mit einer Serviette tupft sie ihren Mund ab und seufzt. Ich komme mir wie ein kleines Kind vor, das darauf wartet, von seiner Mutter ein Bonbon zu bekommen.

»Na ja, wir wissen doch, dass die Festländer spinnen«, sagt sie freudlos.

Ich starre sie an, gehe jedes ihrer Worte in meinen Gedanken durch. Warte.

Sie schneidet ihren Puffer, ehe sie weiterredet: »Ich konnte letztens einen Blick in die Zeitung meines Vaters werfen. Die haben eine total hohe Arbeitslosigkeit dort drüben. Von der Kriminalität will ich gar nicht anfangen ... Aber das weißt du ja alles selber.« Sie kaut langsam und schluckt.

Mein eigenes Essen lasse ich unberührt.

»Drogen, Mord ... Keine Frau ist dort sicher. Wir könnten nicht einmal alleine über den Markt gehen. Die würden uns sonst was antun.« Rahel schüttelt ihren Kopf. »Und ungebildet sind die. Viele können nicht lesen und schreiben. Wenn die also den Wahlzettel in der Hand haben und einfach irgendwo ein Kreuz setzen, dann passiert genau das.« Sie spuckt das letzte Wort aus wie Gift. Ein weiterer Bissen verschwindet in ihrem Mund.

Ich starre auf mein Mittagessen. Alle Aufregung in mir ist verflogen. Lähmende Erkenntnis breitet sich in meinen Gedanken aus. Mein Kopf verabschiedet sich. Ihre Antworten sind logisch und vernünftig. Beklemmung zieht meine Schultern herunter. Ich fahre mit einem Finger über den Rand meines Tellers.

»Welche Frau stellt sich denn zur Wahl für die Präsidentschaft?«, frage ich kleinlaut.

Meine Freundin schnaubt und fährt mit einer Hand an ihren Mund. So etwas Undamenhaftes von ihr! Sie muss wirklich erzürnt sein!

Sie zischt kopfschüttelnd: »Na, eine Frau wie Lillit! Aber glaubst du, dass Lillit in der Lage wäre, unsere Insel zu regieren?« Ehe sie einen weiteren Happen aufspießt, atmet sie tief ein und aus.

»Nein ... Natürlich nicht.« Ich nehme mein Besteck in die Hand.

Lillit ist schlau, aber ein ganzes Land regieren? Unvorstellbar. Mir leuchtet nicht ein, warum sie unser System kritisiert.

Ich sehe mich um. Eine Aufseherin schaut grimmig zu mir. Sie achtet darauf, dass ich alles aufesse. Und das ist richtig. So geht es uns gut. Wir sind fein angezogen, haben jeden Tag etwas zu essen. Will ich wie die Festländer Minute für Minute in Angst leben, Hunger haben, nur weil ich darauf bestehe, mir den Mann selber auszusuchen?

Rahel legt plötzlich ihre Gabel weg und drückt meine Hand, die eben den Puffer zerteilen wollte. »Ich bin froh, eine Inselfrau zu sein. Froh, mir nicht meinen hübschen Kopf zerbrechen zu müssen, wie Vater. Er ist immer gestresst. Wir dürfen das Leben genießen, Eva. Was soll daran falsch sein?«

Tausend Antworten schießen mir durch den Kopf. Doch keine davon ist richtig, weil ich nicht richtig bin. Ich bin diejenige, die falsch ist. Ich bin nicht wie Rahel, so sehr ich es auch sein möchte. Ich kann es nur versuchen. Sie ist nicht traurig, weil ihre Brüder nichts mit ihr zu tun haben wollen. Sie geht gerne zum Klavierunterricht und muss nie ihr Kleid lüften. Ihre Mutter ist stolz auf sie und braucht keinen Schnaps, um sich ihre Tochter schön zu trinken. Ich zwinge mir ein Lächeln aufs Gesicht.

»Du hast recht, Rahel.«

Unsere DV-Uhren leuchten auf und retten mich vor anderweitigen Worten. Nicht ein weiteres würde ich ertragen. Ich fühle mich wie eine leblose Hülle. Leer und ausgebrannt.

Träge verrinnen die Sekunden meines Lebens. Ich zähle die Momente, in denen sich der graue Nebel in meinem Kopf lichtet. Die letzte Stunde für heute steht an. ›Gesellschaftskunde‹ oder auch ›Werbung für die Regierung‹, wie ich es heimlich nenne. Dieses Fach unterrichtet einer der wenigen, männlichen Lehrer, Herr Abraham.

Ich mache eine Liste auf meiner Daten-Tafel. Ein Quer-Strich, wenn er das Wort ›Frieden‹ benutzt. Ein Kreuz, wenn er das Wort ›Gerechtigkeit‹ nennt. Ein Punkt für das Wort ›Wohlstand‹. Meine Liste ist übersät von den kleinen Zeichen. Sie verhindern, dass ich einschlafe.

Der Lehrer unterbricht seinen Monolog und befiehlt uns, einen Text mit dem Titel ›Der Mann und seine Frau‹ auf der Datentafel zu lesen und abzuschreiben. In Schönschrift. Ein kollektives Stöhnen ertönt laut genug, um den Lehrer ein ›Ruhe!‹ in voller Lautstärke zu entlocken. Augenblicklich ist nur noch das dumpfe Schaben von unseren Stiften auf den Tafeln zu hören.

Der Mann und seine Frau

Die Frau ist von Natur aus nicht für Veränderungen gemacht. Dieses körperlich und seelisch schwache Geschlecht ist dazu geboren, dem Mann zu dienen. Hier trifft die lebensspendende Kraft auf ihren Beschützer und Versorger. Stärke und Vernunft sorgen dafür, dass die Frau in ihrer bewahrenden und empfangenden Existenz aufgehen kann. Sittsamkeit und Fleiß sind weibliche Tugenden, die jede Inselfrau auszeichnet. Dem gegenüber steht das kühne, zielstrebige und rationale Geschlecht. Während die Frau das Stete und Häusliche verkörpert, sorgt der Mann für Fortschritt. Es liegt in der Natur des Mannes, eine Dominanz gegenüber der Frau zu haben. Sein Intellekt und Urteilsvermögen sorgen dafür, dass die Frau sich auf ihn verlassen kann und ihre Ergebenheit den richtigen Nährboden findet, ihr Wankelmut und Flatterhaftigkeit aber Grenzen gesetzt bekommen.

Die Frau ist bemüht zu lernen, aber ihr Gehirn ist nicht in der Lage, höhere intellektuelle Aufgaben zu bewältigen.

Der Text erinnert mich an einen Streit zwischen Ariel und ihrem Vater mitten auf der Straße. Die Öffentlichkeit war ein Skandal. Seine Schläge weniger. Die Worte, die er ihr entgegen gespuckt hat, haben sich in meinen Kopf gebrannt: »Ihr Mädchen und Frauen seid eine unangenehme Notwendigkeit der Natur. Eure einzige Aufgabe ist es, den Nachwuchs zu gebären. Ihr werdet nie das Gleiche wert sein wie wir Männer!«

Ich schüttle den Kopf, um die Erinnerung von mir abzustreifen. Meine Gedanken gehen wieder auf die falsche Reise. Eine lästige Angewohnheit von ihnen. Die Folge sind Kopfschmerzen. Etwas, worauf ich heute gerne verzichten kann, weil mir noch ein heikles Gespräch mit meiner Mutter bevorsteht. Ich spüre ein Ziehen in meinem Gesicht, weil ich die Zähne zu fest aufeinanderpresse. Mühsam lockere ich die Kiefer. Die Datentafel summt auf und ich löse die verkrampften Finger vom Stift. Mit geballter Konzentration darauf, schön zu schreiben, verbanne ich jeden Gedanken an Ariel oder meine Mutter.

Die Stunde endet mit dem erlösenden Signal auf unseren DV-Uhren. Still erheben wir uns. Ich schüttle mein Handgelenk und schiebe den Stift in die Datentafel-Schlaufe. Es ist keiner mit Tinte wie früher, sondern einer, der auf dem Bildschirm schreibt.

»Bleibt es bei unserem Marktbesuch heute Nachmittag?«, fragt Rahel, als wir durch das Schultor treten.

Sie lächelt. Was hat ihr Gemüt besänftigt?

Ich seufze. »Aaron will nicht, dass ich gehe.« Ich presse die Lippen zusammen. »Ich hoffe, Mutter umstimmen zu können. Ich rufe dich an, in Ordnung?« Ich drücke sie und gehe zu Beth.

Aaron ist nicht zu Hause. Mutter sitzt im Damenzimmer und liest lächelnd auf ihrer Tafel. Die Gelegenheit, zu fragen.

»Mutter, Rahel und ich wollten heute über den Markt schlendern«, sage ich und versuche, dabei nicht drängend zu klingen, »ganz wie die feinen Damen.« Rahels Worte. Das passende Kichern kommt mir nicht über die Lippen. Mutter reagiert nicht, sondern liest unbeirrt weiter. Ungeduldig wechsle ich von einem Fuß auf den anderen. Bis sie endlich aufblickt und mich fragend anschaut.

»Du wolltest darüber nachdenken«, versuche ich es erneut.

»Du darfst gehen, Eva.« Ich schaue sie gefühlt minutenlang ungläubig an.

»Ist noch etwas?«, fragt sie mich und runzelt die Stirn.

Ich sollte aufhören, sie nur stumm wie ein Fisch anzuglotzen.

»Nein«, stammle ich, »Danke Mutter. Vielen Dank!« Ein breites Grinsen stiehlt sich in mein Gesicht und ich verschwinde, ehe Mutter es sich anders überlegt.

Oben in meinem Zimmer rufe ich Rahel an. Sie erzählt sofort, was sie für die Babysocken, die sie gerade strickt, braucht. Ich bekomme eine Gänsehaut. Ein Baby … Verantwortung. Ein Knoten bildet sich in meinem Hals.

»Rahel, ich muss mich zurechtmachen.«

»Ja! Ich auch! In einer Stunde dann?« Ihre Stimme überschlägt sich vor Aufregung.

»Genau. Bis dann.« Ich lege auf, bevor sie antworten kann.

Es klopft. Ohne abzuwarten, kommt Tirza herein. Lea scheint endlich nach Hause gegangen zu sein und das jüngere Dienstmädchen hat ihre Schicht angetreten. Sie hält ein nagelneues Kleid in Händen. Grauer Stoff mit schwarzen Stickereien und dezenten weißen Perlen wallt sich in ihren Armen. Mir dämmert es, wieso Mutter mich gehen lässt. Widerwillig ziehe ich mich um. Ursprünglich wollte ich damit nur Rahel abwürgen.

Auf dem Weg durch die Haustür mit Beth im Schlepptau ruft meine Mutter mit trällernder Stimme: »Immer schön lächeln, Eva!«

Mutter will, dass ich die ersten Herren auf mich aufmerksam mache. Das fördert den Wettbewerb zwischen ihnen und lässt die Preise steigen.

Auch Rahel ist in Begleitung ihres Kindermädchens, Tabea. Alleine, ohne Anstandsdame auf den Markt zu gehen, wäre nicht damenhaft. Doch Beth entschuldigt sich am Rand des Marktplatzes. Ihr sei warm und die Füße täten ihr weh. Sie setzt sich auf eine Bank in den Schatten und Rahels Kindermädchen leistet ihr Gesellschaft. Eine Sekunde tauschen Rahel und ich einen Blick, zucken kaum merklich mit den Schultern und schlendern weiter. Wir sind froh, alleine über den Platz bummeln zu können.

Der Markt ist gut besucht. Ein Tick zu gut für meinen Geschmack. Was am bevorstehenden Heiratsmarkt liegt. Die Menschen drängen sich um die Stände und es ist schwierig, unbehelligt zwischen ihnen hindurch zu schlüpfen. Mir wird heiß und ich spüre erste Schweißtropfen auf meiner Stirn.

Die Tische, auf denen die Ware angeboten wird, werden von Zelten aus robustem Stoff geschützt. Saum, Perlen und Muscheln wechseln sich mit den unterschiedlichsten Lebensmitteln ab. Gewürze – heimische und welche vom Festland – finden sich neben Meeresfrüchten oder Obstsorten, die ich nicht kenne. Dazwischen eine Menge Menschen. Verschiedenste Gerüche, von scharf bis süß, vermischen sich in der Sommerluft und lassen mich niesen. Rahel zieht missbilligend eine Augenbraue hoch. Eine Entschuldigung murmelnd versuche ich, die nächste Attacke zu unterdrücken.

Die Stimmen der Marktbesucher und das Schreien der Verkäufer liefern sich einen Wettkampf. Ich kann nicht sagen, wer gewinnt. Alle sind sie auf der Suche, in diesen Tagen besonders nach Kleidern und Stoffen in allen erdenklichen Farben.

Mutter ist zum Glück heute Vormittag auf dem Markt gewesen. Das wird ihre tägliche Routine sein, bis sie das perfekte Kleid für sich und vor allem für mich gefunden hat.

Weitere Modegeschäfte, Friseure und Schneidereien finden sich in den Häusern, die den Marktplatz umgeben. Nur hier haben sich Gebäude früherer Zeiten gehalten. Überall sonst wurden sie ersetzt. Genau das macht diesen Ort, trotz seiner grauen Präsenz, schön: Die abwechslungsreiche Architektur und die Auslagen der Händler bieten etwas zu bestaunen. Ein Vorgeschmack auf das Spektakel in einer Woche. Bunte Fahnen werden am Sonntag den Platz schmücken, Musik wird erklingen und die köstlichsten Gerüche über der Menge hängen. Der Heiratsmarkt ist nicht nur ein Markt für die älteren Mädchen und Männer, sondern ein Fest für die ganze Familie. Ich bin immer gern hingegangen. Dieses Jahr würde ich lieber zu Hause bleiben.

Eine sanfte Brise kommt auf und ich genieße die kurze Erfrischung. Rahel sonnt sich unter den Blicken der Männer. Sie stolziert mit mir Arm in Arm und wedelt sich mit ihrem Fächer Luft zu. Dabei lässt sie wie zufällig immer wieder ein Lächeln durchblitzen oder verweilt ein wenig länger auf den Gesichtern der Herren, die mutiger werden und vorab einige Blicke riskieren. Ich wäre am liebsten unsichtbar. Die meiste Aufmerksamkeit gilt ihr, auch wenn sie höflich behauptet, dass sie genauso mich betreffen. Ich weiß es besser. Gegen sie habe ich keine Chance. Mich hat die Verwandlung in eine Frau mit fettigen Haaren, Pickeln und Speck an den falschen Stellen aus der Bahn geworfen. Die Diät von Mutter hat bewirkt, dass meine Oberweite nicht wirklich gewachsen ist, und die gebogene Nase noch riesiger in meinem hageren Gesicht wirkt. Dafür sind mein Po und meine Beine umso dicker. Lange Füße, für die es kaum schöne Schuhe gibt, vollenden mein Erscheinungsbild. Rahel dagegen wird mit jedem Tag hübscher, weiblicher. Wie eine Frucht, die man gern pflückt. Ich vergammle, bevor ich reif geworden bin.

Wir gönnen uns einige Leckereien und Rahel kauft sich einen hellgrauen Stoff und dunkles Garn. Daraus möchte sie sich ein Haartuch nähen.

»Ich zeige dir, wie ich das mache. Ist ganz leicht, wenn man den Dreh raushat, Eva«, sagt sie zu mir und lächelt mich an. Dabei wirken ihre Gesichtszüge wie eingefroren. Ich zwinge mich, zu nicken. Auch wenn sie eine ausgelassene Fröhlichkeit an den Tag legt, spüre ich ihre angespannte Haltung mir gegenüber. Immer wieder erwische ich sie, wie sie mich beobachtet. Beim sehnsuchtsvollen Lippenlecken an den Süßgkeitenständen oder beim Bestaunen von Schmuckstücken. Sie nimmt mir meinen Scherz von heute Morgen noch übel.

Ich gehe in mich und versuche, mich mit der Rolle der zukünftigen Ehefrau abzufinden, und schaue aufmerksam die Stände ab. Ich will es ihr recht machen. Doch ich ringe mich nicht dazu durch, mein wertvolles Taschengeld für Stoff oder Kleidung auszugeben. Am nächsten Stand für getrocknete Früchte kann ich nicht widerstehen.

Wir spazieren auf das Marktzentrum zu, wo die Lucretia-Statue steht. Eine weiße Frau, die von Kopf bis Fuß verhüllt ist. Ihre Hände halten ein Messer und einen Spiegel. Lockige Haare wallen unter den Tüchern hervor und reichen ihr bis zu den Füßen. Gewaltig prangt sie vor uns auf einem Sockel, der von mehreren Treppen umgeben ist. Es liegen frische Blumen auf den Stufen. Zur Verschönerung eines Raumes oder Ortes sind Pflanzen verpönt, aber nicht hier. Jemand hat geheiratet und es ist Brauch, vor jeder Trauung Blumen vor die Statue zu legen, um Lucretia zu ehren, die lieber starb, als unehrenhaft weiterzuleben. Sie wurde von einem Cousin ihres Ehemannes vergewaltigt. Sie fühlte sich entehrt und wollte ihrem Mann nicht zumuten, mit einer ehrlosen Frau zusammenzuleben.

Wann immer ich vor ihr stehe, klumpt sich mein Magen zusammen. Ihr wird Gewalt angetan und sie ist schuldig.

Ich setze mich neben Rahel auf den Sockel. Eine Tüte voll Datteln versüßt mir unsere Pause. Sie sind saftig und klebrig. Meine Freundin hält ihr Gesicht in die Sonne. Nur kurz. Keine von uns will vor dem Heiratsmarkt Farbe bekommen. Je weißer unsere Haut, umso höher der Preis.

Plätze im Schatten werden frei und wir rutschen auf die andere Seite des Sockels. Hier haben wir einen Blick auf ein Holzhaus, das unter Denkmalschutz steht. Es besteht aus massiven Baumstämmen, die übereinander gereiht sind. Die anderen Häuser, die den Marktplatz umgeben, bestehen aus Stein. Ich stellte mir vor, in einem Haus mit dem Geruch von Bäumen zu leben. Unwillkürlich verziehen sich meine Mundwinkel zu einem Lächeln.

»Es stimmt tatsächlich«, unterbricht Rahel meine Gedanken. Ich schaue zu ihr. Fragend.

»Die neue Mode fällt dieses Jahr sehr spärlich aus.«

Mir ist nicht aufgefallen, dass weniger Kleidung verkauft wurde.

»Die Stände mit der Garderobe für den Heiratsmarkt waren wirklich ärmlich bestückt. Und die Geschäfte dort«, sie zeigt auf die Läden in den Häusern uns gegenüber, »haben auch darüber geklagt, dass sie keine neue Ware geliefert bekommen und die Kleider vom letzten Jahr verkaufen müssen.« Ihre Mundwinkel sind missmutig nach unten verzogen.

Sie glaubt wohl, dass eine geringe Auswahl die Chancen auf das perfekte Kleid senkt. Ich zucke mit den Schultern. Mir ist das egal. Meine Chancen auf ein Kleid, das mir gefällt, steigen, wenn Mutter keine große Auswahl hat.

»Vielleicht haben sie dieses Jahr zu spät mit dem Nähen begonnen und die neuen Kleider werden Montag geliefert.« Etwas Besseres fällt mir nicht ein.

Rahel antwortet nicht. Ich sehe von meiner Tüte zu ihr. Sie ist aufgestanden und versucht, über den Köpfen einer aufkommenden Menschenmenge einen Blick auf etwas zu erhaschen. Es ist ungewöhnlich unruhig. Wahrscheinlich wegen eines Hauptdarstellers des Theaters oder eines berühmten Musikers. Es interessiert mich nicht. Ich bin froh, dem Thema Mode zu entkommen, und greife in meine Datteltüte.

Ihr spitzer Schrei zerreißt mir beinahe das Trommelfell. Rahel keucht und hält sich die linke Hand erschrocken vor dem Mund. Ihre rechte Hand wedelt in der Luft herum. Ich brauche einen Moment, bis ich verstehe, dass sie mir etwas zeigen will. Irritiert erhebe ich mich und schaue, wohin ihr Finger deutet.

In einer Reihe kommen Frauen mit Masken über den Markt marschiert. Den linken Arm erhoben, überkreuzen sie ihre Zeige- und Mittelfinger zu einem Symbol. Sie starren durch kleine Öffnungen in den Masken nach vorne. Drängen sich durch die Menge. Wie eine Mahnung, eine Drohung. Mein Herz hämmert in meiner Brust und ich bekomme eine Gänsehaut. Die Marktbesucher um uns herum bleiben stehen und starren auf die Frauen, die direkt auf uns zukommen. Rahel und ich drängen an die Statue, als ob die Berührung mit den Maskierten wehtun könnte.

Sie laufen an uns vorbei und ich höre ihren Gesang. Er ist leise. Monoton. Ein stetiger Takt: »Lügen. Ungerecht. Wehrt euch. Steht auf. Schreit.«

Plötzlich fühlt sich die Luft an, als würde sie explodieren. Männer brüllen, Frauen kreischen. Die Schutzwehr kommt in voller Montur auf den Marktplatz gehechtet und versucht, die Maskierten zusammenzutreiben. Diese lösen sich auf, verteilen sich. Ich sehe, wie drei von ihnen das Holzhaus emporklettern. Sie hangeln sich über abstehende Balken bis aufs Dach.

Jemand schubst mich und ich falle gegen Rahel. Sie hält sich an meiner Hand fest. Ihre Augen sind geweitet und ihr ganzer Körper zittert. Ich wende den Kopf von links nach rechts. Die Schutzwehr hat ein heilloses Durcheinander verursacht. Männer und Frauen hasten hin und her, versuchen, dem Platz zu entfliehen.

Ich ziehe meine Freundin die Treppenstufen hinauf. Der Sockel reicht mir bis knapp über die Schultern. Ich kralle mich in den Stein, der dank vieler Jahre durch Wind und Wetter aufgerieben wurde. Mit den Händen ziehe ich mich hoch und schaffe es, meine Beine über den Rist zu heben. Dann stehe ich oben, keuchend, die Füße auf Lucretias. Meine Hände und Knie sind aufgeschürft. Ich spüre den Schmerz nicht. Mein Blick gleitet nach unten. Ich helfe Rahel, die es alleine nicht schafft.

Hier oben sind wir sicher, pressen uns an Lucretias Beine. Sehen zu, wie die Menschen zusammengetrieben werden. Einige fallen, es wird über sie hinweg getrampelt. Keiner nimmt Rücksicht. Männer lassen ihre Familien zurück. Ich höre Rahels hektischen Atem. Ihr Gesicht ist verzerrt.

Die Schutzwehr sucht weiter nach den maskierten Frauen. Durchkämmt die Markthäuser, drängt unschuldige Besucher zusammen. Waren krachen zu Boden. Stände, die nicht feststehen, stürzen um. Panik regiert. Die Schutzwehr ist nicht in der Lage, Ordnung in das Chaos zu bringen.

Mein Herzschlag beruhigt sich. Ich schüttle den Kopf. Was für ein Armutszeugnis. Meine Freundin klammert sich ununterbrochen an mir fest. Ihr Blick zuckt immer wieder hektisch nach unten. Ich streichle ihr tröstend den Rücken, fühle mich selbst vollkommen sicher. Wir müssen nur abwarten, bis alles vorbei ist. Dann können wir nach Hause.

Ich lehne mich an den kalten Stein der Statue, hole meine Datteln heraus und beobachte, wie der Markt zu einem Schauplatz des Krieges wird. Herein und heraus kommt man nur durch wenige, enge Gassen. Es gibt eine einzige Zufahrtsstraße, welche die Schutzwehr mit ihren Fahrzeugen versperrt hat. Die Menschen blockieren sich gegenseitig bei dem Versuch, durch die engen Straßen zu kommen. Ich hoffe, Beth und Tabea haben es rechtzeitig geschafft.

Rahel schaut mit geweiteten Augen auf ihre Hände. Ich habe nicht bemerkt, dass sie angefangen hat, zu beten. Die überkreuzten Finger sind verkrampft, die Arme beben und ihre Lippen wispern unablässig Worte.

Ungerührt sehe ich auf und erstarre – sehe ihn. Seine rotblonden Haare stechen in der Masse hervor. Was macht er hier? Sucht er jemanden? Seine Schwester? Gesehen habe ich Ariel nicht. Ich unterdrücke den Impuls, ihn zu rufen, und sehe an mir hinab. Mein Kleid ist zerrissen und meine Hände sind schmutzig. Er darf mich nicht sehen. Ich beobachte, wie er vor der Statue auf und ab läuft. Vielleicht ist Aaron bei ihm?

Doch auch ihn kann ich nirgends entdecken und starre wieder zu Chamuel. Er hält sich die DV-Uhr vor das Gesicht. Mit wem er wohl telefoniert? Mit der anderen Hand fährt er durch sein Haar, sodass es zu allen Seiten absteht. Im Gegensatz zu meinem Bruder ist er nicht auf sein Äußeres bedacht, zieht häufig wie heute Jeans und Hemd an. Ich mag das. Ich weiß von Schwärmereien, die auf der Mädchentoilette stattfinden, dass ihn viele gutaussehend finden.

Mein Kiefer spannt sich. Jeder kennt die Realität. In ihr stehen wir nicht an der Seite eines jungen, gutaussehenden Mannes, sondern an der eines Herren mit Bart und dickem Bauch. Auch mein Vater trägt einen großen, langen Schnurrbart. Er zwirbelt ihn, wenn er seine Reden am Esstisch schwingt, sodass mir schlecht wird. Ich finde dieses Gestrüpp im Gesicht widerlich.

Chamuel senkt sein Handgelenk und stolpert suchend weiter. Sein Blick streift die Statue und ihm klappt der Mund auf. Er sieht direkt in mein Gesicht, erstarrt, als könne er es nicht glauben. Ich höre ein Rauschen und Hitze wandert meinen Hals hinauf. Wieso habe ich ihn auch so angestarrt? Erleichterung breitet sich auf seinem Gesicht aus und er hebt den Arm.

Hat er mich gesucht? Mein Herz macht einen Hüpfer und ich wische meine Hände am Rock ab. Sie sind ganz verschwitzt. Wie ich im Gesicht aussehe, will ich gar nicht wissen.

Chamuel eilt zur Statue und beginnt, sie hochzuklettern. Freude und Entsetzen packen mich. Ich sehe zu Rahel. Sie sieht aus wie ein Engel in Not, die Lieblichkeit in Person.

Er braucht nicht lange und ist Sekunden später bei uns, ohne sich schmutzig zu machen, wie mir auffällt.

»Geht es euch gut? Eva? Bist du verletzt?«

Sehe ich so schlimm aus? Ich schüttle den Kopf: »Alles gut. Wir haben uns rechtzeitig in Sicherheit gebracht.«

Rahel fängt lautstark an, zu weinen. Sie wankt gefährlich und Chamuel packt sie am Arm. Er taumelt auf dem schmalen Sims, hält sich aber.

»Es war furchtbar. Ich hatte solche Angst«, schluchzt meine Freundin. Sie krallt ihre Hände in sein Hemd und wimmert kläglich. Ein Stich durchzuckt mich, fährt mitten in mein Herz.

Er drückt sie etwas zurück. Seine Gesichtszüge verzerren sich zu einer hilflosen Grimasse, der Blick huscht zu mir.

Ich spüre meine steinerne Miene. Wut wallt in mir auf. Am liebsten würde ich Rahel vom Sims schubsen. Was ist los mit mir?

»Ähm«, räuspert er sich. »Jetzt ist ja alles gut. Also, Garda, könntest du mich loslassen, dann hole ich Unterstützung.« Er versucht erneut, Abstand zu gewinnen, und drückt sie gegen Lucretia.

»Rahel, sie heißt Rahel«, werfe ich ein – irgendwie zickig und irgendwie erleichtert.

»Entschuldigung. Rahel.« Chamuels Gesicht läuft rot an. Die Farbe schluckt einige seiner Sommersprossen. Ist er etwa verunsichert?

Er schiebt die Frau in Nöten endgültig von sich, doch sie hört nicht auf, zu weinen. Vielleicht sollte ich ihr einfach meine Datteltüte in den Mund stopfen! Es ist doch überhaupt nichts passiert.

Chamuel klickt seine DV-Uhr an und telefoniert.

»Aaron, kommt. Er hat auf der anderen Seite des Marktes nach dir gesucht«, teilt Chamuel mir mit und telefoniert erneut. Hat Aaron seine Freunde auf mich angesetzt? Die Wut in meinem Bauch verfliegt. Ich sehe zu Rahel. Sie kommt keiner suchen.

»Hast du jemanden, den ich anrufen kann, Rahel?«, fragt Chamuel. Ob er meine Gedanken lesen kann?

Sie schüttelt den Kopf. Ihr Vater ist gewiss bei der Arbeit und ihre Brüder sind zu klein. Fünf Jahre jüngere Zwillinge, um die ich sie nicht beneide. Eine Ausnahme auf der Insel. Jede Familie muss zwei Kinder haben, einen Jungen und ein Mädchen. Die Reihenfolge ist egal. Damit sichergestellt werden kann, dass die zweite Schwangerschaft das gewünschte Geschlecht hervorbringt, wird künstlich nachgeholfen. Männliche Zwillinge sind erlaubt. Ist ein Sohn als zweites Kind nicht lebenstauglich, dürfen die Eltern einen Antrag auf eine dritte Geburt stellen.

Rahel schluchzt immer noch. Ihr Getue zerrt an meinen Nerven. Das stetige Wimmern kratzt wie ein Stein über meine bröckelnde Selbstbeherrschung. Obwohl der Marktplatz sich allmählich leert und die Schutzwehr offenbar ihre Aufgabe erledigt, beruhigt sie sich nicht.

Chamuel schaut mich an und dann auf den Boden. »Ich denke, wir können wieder runter. Ich zuerst und dann ihr. in Ordnung?«

Ich nicke. Er springt und landet geschmeidig auf den Füßen. Dann stellt er sich auf den Sockel und streckt seine Arme in die Höhe.

»Rahel, komm! Chamuel fängt dich auf.« Ich helfe ihr, sich rückwärts hinuntergleiten zu lassen. Sie wimmert, als hinge sie an einem Abgrund. Chamuel umgreift ihre Taille und hebt sie herunter. Rahel schmeißt sich zu ihm herum und sucht Halt. Ich beiße mir auf die Zunge, durchschaue ihr Spiel. So ungeschickt kann selbst sie nicht sein.

Chamuel zieht unbeholfen den Kopf zurück, blinzelt und versucht, sie wegzuschieben. Schluchzend und wankend bringt Rahel Abstand zwischen ihn und sich – etwas zu langsam für meinen Geschmack. Ich wende mich ab und atme durch. Mein Herz schlägt mir heftig bis zum Hals und meine Hände sind zu Fäusten geballt. Was ärgert mich bloß an Rahels Verhalten? Ich kenne sie doch, hilfsbedürftig und wehleidig.

Ein- und ausatmen, Eva!

Einen Hauch zu energisch werfe ich meine Tasche herunter. Ich verfehle ihren Kopf nur um Haaresbreite. Chamuel blinzelt mich verdutzt an, aber ich fahre eilig herum. Mit den Füßen stemme ich mich gegen den Sockel und kralle mich an den Rist. Ich stoße mich ab, lasse los und falle direkt gegen Chamuel. Kräftige Arme halten mich fest. Ich spüre sein Herz an meinem Rücken klopfen. Ein Geruch nach frischer Minze dringt mir in die Nase. Hastig stoße ich mich von ihm weg. Taumelnd versuche ich, das Gleichgewicht zu halten, und drehe mich zu ihm um. Kurz blicke ich in seine Augen, er schaut hastig weg und fährt sich mit der Hand durch seine Haare. Mir wird erneut ganz warm.

»Hast du dir wehgetan?«, fragt er. Ich sehe an ihm vorbei. Glaubt er, ich bin so eine Memme wie Rahel? Ich schüttle steif den Kopf und versuche zu ignorieren, dass sein Gesicht die Farbe seiner Haare angenommen hat.

Ein spitzes Jammern. Ich unterdrücke nur mühsam ein Stöhnen. Sie ist wie ein Kind, das Aufmerksamkeit sucht.

Hände packen mich und ich werde an eine harte Brust gedrückt.

»Mensch, Eva! Geht es dir gut?« Mein Bruder schiebt mich von sich und mustert mich von oben bis unten. Er sieht meinen zerrissenen Rock und runzelt die Stirn.

»Mir geht es gut, Aaron!«

Er drückt mich erneut und küsst mich auf meinen Scheitel.

»Beth muss hier irgendwo sein«, erinnere ich mich mit Schrecken an die Kindermädchen.

Er lässt mich nicht los. »Ihnen geht es gut. Sie waren es, die mich angerufen haben.«

Die Worte dringen nur langsam in meinen Kopf. Über seine Schulter hinweg sehe ich Rahel, wie sie verloren neben Chamuel steht. Er scheint die Nähe zu ihr nicht zu suchen.

Nathan und Jacob stürmen auf uns zu. Aaron klatscht alle ab und bedankt sich für ihre Hilfe. »Ab nach Hause. Auf diesen Schreck könnte ich was zu essen gebrauchen.«

Erst jetzt bemerkt er meine Freundin: »Kommt dich jemand abholen?«

»Nein«, schluchzt sie. Rahels Verzweiflung prallt an Aaron ab. Er hat sich nie für sie interessiert.

»Ich kann sie fahren.« Nathans tiefe Stimme lenkt Rahels Aufmerksamkeit auf sich. Als Arzt-Sohn kennt er ihre Familie.

Aaron nickt. Sie macht einen Knicks und schaut verdächtig lange zu Chamuel. Tränen kullern über ihre fleckigen Wangen:

»Danke! Danke, dass du mich gerettet hast!«

Sein Kopfschütteln irritiert mich. Die meisten reagieren anders auf Rahel. Aaron und Jacob lachen. Mein Gehirn fühlt sich verknotet an – ich bin k.o., eindeutig.

»Bist du mit dem Auto da, Aaron? Ausnahmsweise hätte ich nichts dagegen.« Hoffnungsvoll schaue ich auf. Meine Glieder erinnern sich allmählich, dass sie rauen Stein hinaufgeklettert sind. Mir brennen Knie und Hände.

Er lacht erneut. »Ich nicht, aber Chamuel. Fährst du uns nach Hause?«

»Ja klar. Wir sind ja sowieso heute Abend bei dir. Oder ist dein Vater zu Hause?«

»Nein, wir haben das Herrenzimmer für uns.«

Aaron nimmt mich bei der Hand. Gemeinsam verlassen wir als Letzte den Marktplatz. Jacob albert herum. Er scheint Chamuel auszulachen. Ich grinse. Was Jacob so lustig findet? Eine Sekunde erlaube ich es mir, diesen Anblick aufzusaugen. Chamuels hochroten Kopf erlebt man nicht alle Tage.

»Wieso bist du auf den Markt gegangen, obwohl ich es dir verboten habe, Eva?«, bringt Aaron meine Gedanken auf die lästigen Dinge des Tages.

»Mutter hat es erlaubt. Wegen des Heiratsmarktes. Ich sollte mich sehen lassen. Konnte doch keiner ahnen, dass so was passiert.« Was auch immer das zu bedeuten hatte.

Aaron schüttelt den Kopf, sagt nichts und drückt meine Hand fester.

Chamuel hat ein Auto vom Festland, das erkenne ich sofort. Es ist braun-beige mit roten Streifen und schnittig gebaut – nicht grau und kastenartig, wie alle anderen Fahrzeuge der Insel. Er muss eine Menge Geld für den Wagen bezahlt haben. Wie hat er überhaupt eine Genehmigung dafür bekommen? Vater würde ausrasten, wenn Aaron solch ein Auto in Erwägung ziehen würde.

»Es sieht toll aus!«

Jacob schnaubt und ich verfluche mich, das laut gesagt zu haben.

»Halt den Mund, Jacob«, warnt ihn Aaron sofort.

Sein Freund hält sich die Hand vor dem Mund, Chamuel nickt nur und boxt Jacob in den Oberarm. Ich verstehe nur Bahnhof, steige mit Aaron hinten ein und lehne mich an ihn. Mit einem leisen Brummen fahren wir los. Chamuel macht etwas Musik an. Ich lächle und schließe die Augen. Der ganze Tag kommt mir auf einmal nur halb so schlimm vor, trotz des Vorfalls.

»Habt ihr die Frauen auch gesehen?« Ich muss einfach fragen, auch wenn ich den Moment dadurch zerstöre. Es wird still im Auto. Selbst Jacob hört auf, aufgeregt zu plappern, und wirft Aaron einen zögerlichen Blick über die Schulter zu.

»Nein«, antwortet mein Bruder bedächtig. »Nein, ich habe nur die Schutzwehr von ihnen sprechen hören. Haben sie dir was getan?«

»Nein. Sind nur über den Markt gegangen und dann kam auch schon die Schutzwehr. Ich wüsste nur zu gern, was die wollten. Und heute Morgen der Schriftzug am Tor ...«

Ich blicke fragend zu Aaron. Er hat die Lippen aufeinandergepresst.

»Wer weiß schon, was in deren Köpfen vor sich geht«, meint er und macht eine wegwerfende Handbewegung. Ein künstliches Grinsen huscht über seine Züge.

»Vielleicht sind das die Frauen aus dem Lager?«, wirft Jacob ein. »Die sollen verrückt sein.«

Aaron schaut ihn lange und emotionslos an. Sein Freund zuckt mit den Schultern.

»Aus dem Lager?«, murmle ich.

»Mach dir keinen Kopf, Eva. Du musst nur auf dich aufpassen.«

Ich ziehe die Augenbrauen zusammen. Die Jungs verschweigen mir etwas. Das ist nicht ungewöhnlich. Aber was Jacob eingeworfen hat – das ist ungewöhnlich.

Es klingelt.

Das wird wohl Nathan sein. Sie wollen ihre Zusage für die Regierungsschule feiern. Sie stampfen durchs Haus, sodass ich sie bis in mein Zimmer höre. Gelangweilt liege ich auf meinem Bett und starre zur Decke hinauf. Ich sollte ihnen empfehlen, Fabrikarbeiter oder Maschinenbauer zu werden. Würde besser passen.

Meine DV-Uhr piept. Mutter. Ich stehe auf. Sie ist völlig aufgelöst wegen des Aufruhrs auf dem Marktplatz. Obwohl ich nur Ruhe haben will, hat sie mich in der letzten Stunde mindestens sieben Mal hinunter bestellt.

Ich reiße verärgert meine Tür auf und stürme hinaus – mitten hinein in zwei Arme. Verdutzt blicke ich auf eine Brust. Das Hemd kommt mir bekannt vor. Hastig stoße ich Chamuel weg, als ob ich mich verbrannt hätte, und stammle eine Entschuldigung. Dabei hat er mich fast umgerannt. Ich sehe auf. Mein Kopf muss in Flammen stehen.

Er lächelt und sieht mir fest in die Augen. »Habe ich dir weh getan?« Er. Mir. Zum zweiten Mal heute.

»Ähm, nein.« Mich schwindelt es. Meine Stimme ist kaum ein Flüstern. Ich packe das Geländer und warte, dass er geht. Mit einer Verbeugung gibt er mir zu verstehen, dass ich vorgehen soll. Kleiner Scherzkeks. Die Treppe vor ihm runterzugehen, ist die reinste Tortur. Bei jeder Stufe spüre ich seinen Blick in meinem Rücken. Wie durch ein Wunder gelange ich nach unten, ohne zu fallen oder auf den Rock zu treten. Ich sehe, dass die Jungs sich im Herrenzimmer versammelt haben und blicke verlegen zu Chamuel.

»Hübscher Rock, Eva! Obwohl der zerrissene mir auch gut gefallen hat.«

Ich starre ihn an. Ein leises Lachen dringt aus seiner Kehle. Mir wird heiß und kalt zugleich. Seine Augen strahlen etwas Ehrliches aus. Ihre Wärme sickert in mich hinein und füllt meine Brust aus. Er schlendert ins Herrenzimmer und kurz bevor er die Tür schließt, zwinkert er mir zu.

Stille.

Etliche Sekunden vergehen, ehe ich mich aus meiner Starre löse. Was ist da grad passiert?

Verwirrt gehe ich zu Mutter ins Damenzimmer. Sie sitzt auf der Couch und sieht mit strengem Ausdruck zu mir.

»Aaron hat Besuch, du darfst auf deinem Zimmer essen.«

»Ja, Mutter.« Mit seinen Freunden von ihm zusammen essen zu müssen, wäre das schlimmere Übel.

Ich gehe in die Küche, um mir Abendbrot zu holen. Ich nehme einen Teller aus dem Regal und höre Schritte hinter mir. Mein Bruder stolziert herein und bleibt schlagartig stehen. Seine Augenbrauen wandern nach oben und sein Mund steht offen. Ich grinse.

»Was machst du denn hier unten. Ich dachte, du wärst in deinem Zimmer?« Sein vorwurfsvoller Ton schlägt mir ins Gesicht.

Was ist sein Problem? Mir vergeht das Lächeln.

»Ich muss mein Essen holen, Aaron. Wenn ich darf?«

»Sicher.« Er schaut beschämt zu Boden. »Stört dich doch nicht, allein zu essen, oder? Wir Jungs wollten unter uns bleiben.«

Mit zittrigen Fingern lege ich mir zwei Scheiben Brot auf meinen Teller. Der Tag heute. Der Zusammenprall mit Chamuel. Mein Bruder, der mich loswerden will. Wut steigt in mir auf. Als ob ich mich aufdrängen wollte. Was denkt er nur?

Ich blicke ihn kühl an. »Natürlich nicht.« Ich erschrecke mich vor meiner eigenen Stimme. Sie klang abschätzig.

Ich verlasse so elegant wie möglich den Raum und stoße mich am Türrahmen. Vor Schmerzen lasse ich den Teller los und das Essen fällt zu Boden. Eva, du bist so dumm! So, so dumm! Ich bücke mich, fixiere angestrengt das Brot, um nicht loszuschreien, aber eine andere Hand ist schneller.

»Lass es einfach sein!«, zische ich zornig. Mein Kopf schnellt in die Höhe. Ich hole Luft, um ihn anzuschreien, doch die Worte bleiben mir im Hals stecken. Es ist Chamuel, der mir hilft. Mir klappt der Mund auf und mein Körper erstarrt. Routiniert pumpt mein Herz das Blut in meinen Kopf. Er ist einfach überall!

»Ist schon gut, Eva. Dein Bruder hat Angst, dass wir uns vor dir nicht benehmen.« Dieses Grinsen raubt mir den Verstand.

Ich blicke schnell zu Boden und klappe meinen Mund zu. Du bist schon hässlich genug, Eva!

Beim Aufsammeln der Radieschen berühren sich unsere Hände und ich zucke zusammen. Habe ich einen Stromschlag bekommen? Chamuel blinzelt mich an. Die Zeit scheint stillzustehen. Ich betrachte seine Augen, blicke in dieses tiefe, leuchtende Grün. Ich sehe nicht weg. Er ist es, der den Blickkontakt unterbricht. Ich rühre mich nicht, hocke einfach so da. Was hat dieser Chamuel bloß, dass er es schafft, mich immer wieder in peinliche Situationen zu bringen?

Ein Räuspern ruft mir in Erinnerung, dass wir nicht allein sind. Eilig sammle ich den Rest auf meinen Teller und fliehe auf mein Zimmer.

Die Jungs haben eine Menge Spaß. Ich höre sie lachen und reden. Schlafen kann ich bei diesem Lärmpegel nicht. Warum müssen sie ausgerechnet bei uns feiern? Es gibt Männerklubs in der Stadt, in denen sie sich normalerweise treffen. Gut, dass Vater nicht da ist. Der hätte Aaron etwas erzählt. Mein Vater ist nie ausgelassen. Immer hat er sich unter Kontrolle. Ob er in seinen jungen Jahren anders war? Kaum vorzustellen.

Schläfrig kreisen meine Gedanken um die maskierten Frauen, um die Zukunft und manchmal auch um zwei grüne, dicht bewimperte Augen. Chamuel. Ich seufze. Es wäre besser, er würde aus meinem Kopf verschwinden.

Unbewusst legt sich meine Hand zwischen meine Beine. Die verbotene Zone. Ich zögere, denn ich weiß, dass diese Gefühle Sünde sind und dass ich mich dort nicht anfassen soll. Es ist widerwärtig, schmutzig und unrein.

Ich schmiege die Hand sanft in den Schoß. Wenn der Druck in meinem Kopf zu groß wird, verschafft mir dieses Streicheln jedoch wahre Linderung. Es ist zu schön, das Kribbeln, ausgelöst durch eine kleine Berührung. Ich stelle mir vor, dass es seine Hand ist. Eine Welle des Hochgefühls überrollt mich und fast hätte ich gestöhnt. Wer blickt mich aus seinen tiefgrünen Augen an?

Chamuel.

Ich lasse den Laut über meine Lippen kommen – aus Verzweiflung.

8 TAGE VOR DER DUNKELHEIT

Ich starre die Decke an. Eine graue Fläche starrt zurück.

Meine Datentafel liegt auf meinem Bauch. Ich habe die Geschichte über Prinzessin Marga gelesen. Eine Inselprinzessin. Sie lebte ein Leben wie im Märchen. Zu schön, um wahr zu sein.

Das hier ist auch schön. Liegen bleiben. Eine Geschichte lesen. Warmen Mandelsaft trinken. Man soll die kleinen Dinge des Lebens genießen. Ich sehe auf die Uhr. Tirza müsste das Frühstück schon bereitgestellt haben. Sonntags gibt es eine Art Büffet, da Marie frei hat und die Dienstmädchen zum Gottesdienst gehen müssen. Die Arbeit wird trotzdem erledigt. Mutter würde nie auf Annehmlichkeiten, wie frisches Frühstück und eine saubere Küche verzichten. Tirza ist so alt wie ich und arbeitet bei uns, seitdem sie 14 war. Sie ist nicht verheiratet und wird sich dieses Jahr ebenfalls auf dem Heiratsmarkt vorstellen müssen. Ich wünsche ihr einen Mann, der genug verdient, dass sie nicht mehr arbeiten muss. Ich drehe mich auf die rechte Seite. Vermissen würde ich sie schon.

Raus aus den Federn und Sonntagskleid angezogen! Es ist so hässlich, wie der Gottesdienst langweilig ist. Altmodisch geschnitten, ohne Stickereien und mit Rüschen an den Ärmeln, am Saum und Kragen sowie einer Knopfleiste vom Hals bis zu den Füßen. Es hängt wie ein Kartoffelsack an mir und sieht furchtbar aus. Furchtbar zu meiner Haarfarbe, furchtbar an meinem Körper.

Bis zu meinem 14. Lebensjahr musste ich eine Schuluniform tragen, unansehnlicher und klobiger als mein Sonntagskleid. Doch zum Glück wird es den Mädchen, die weiter die Schule besuchen, gestattet, sich ab dem 14. Lebensjahr wie eine Dame der Insel zu kleiden. Das können sich nur die Bürgerinnen der inneren Ringe leisten. Und für diese Familien ist die Außenwirkung zu wichtig, als dass sie durch hässliche Schulkleidung zunichtegemacht werden darf.

Am Frühstückstisch sitzt die ganze Familie und isst. Ich bin zu spät. Zum Glück ist Vater in seine Datentafel vertieft und reagiert nicht auf mein Kommen. Würde es ihm auffallen, wenn ich nicht mehr wäre?

Mutter schaut mir mit zusammengezogenen Augenbrauen entgegen. Ich sehe die Kritik in ihren Augen, ehe sie ihre zusammengepressten Lippen voneinander löst und ein Wort sagt. Ihre Hände spannen sich um ihre Teetasse. Obwohl sie eine ähnliche Bekleidung trägt wie ich, weiß ich, dass ihr mein Anblick missfällt. Ihr Kleid macht sie elegant und schlicht. Die perfekte Inselfrau. Selbst ihr Haartuch wirkt mehr wie ein Schmuckstück als eine Notwendigkeit. Ich weiß nicht, wie sie das macht. Sie begrüßt mich nicht, sondern ruft das Dienstmädchen. Ich ignoriere es und setze mich neben Aaron. Er lächelt mir zu und ich murmle ein »Guten Morgen.«

Mein Bruder reicht mir den Brotkorb und ich greife nach einem mit Sesam bestreuten Brötchen.

»Für dich heute nicht. In dem Kleid sieht dein Bauch zu dick aus«, blafft Mutter und schlägt mir auf die Finger. Ich verziehe mein Gesicht. Übertrieben puste ich mir die Hand. Sie rollt mit den Augen. »Stell dich nicht so an!«, keift sie und schiebt den Brotkorb außer Reichweite.

Tirza kommt herein und bringt mir eine Pampelmuse, die in zwei Hälften geschnitten ist, und einen Löffel dazu. Ich schaue ungläubig zu meiner Mutter und dann auf meinen Bauch. Wie kann ich in diesem Sack dick aussehen? Zum Glück habe ich mir vorhin den Mandelsaft bringen lassen. Ich schlucke den Ärger herunter und ignoriere die mitleidigen Blicke meines Bruders. Die helfen mir auch nicht. Mit einem gekonnten Lächeln steche ich den Löffel in die Pampelmuse.

»Reizend Mutter, wie du immer um mein Wohlergehen besorgt bist«, sage ich und schiebe mir eine Ladung Fruchtfleisch in den Mund. Ich verziehe keine Miene. Zu meinem Glück hat Tirza Zucker über die Hälften gestreut, was die Säure mildert.

Meine Mutter öffnet den Mund, um etwas zu sagen, aber ein Blick meines Vaters lässt sie verstummen. Sofort widmet sie sich ihrer eigenen Pampelmuse.

Vater hasst Diskussionen und Streitigkeiten beim Frühstück, besonders am Sonntag, dem heiligen Tag. Er rührt desinteressiert an den Tischaktivitäten in seinem Tee und schaut auf die DV-Uhr. Die Arbeit ruht bei ihm nie, auch nicht am Sonntag. Genüsslich Essen ist für ihn ein Frevel. Zeit ist Geld. Und Geld kann man nie genug haben. Zeit dagegen ist begrenzt.

»Hast du schon mit Eva und deiner Mutter gesprochen?«, fragt Vater an Aaron gewandt. Der schüttelt den Kopf und schaut von seinem Frühstück auf. Käfer-Omelett mit frischen Tomaten. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen.

»Seit gestern Abend besteht eine Ausgangssperre für Mädchen und Frauen. Eure Sicherheit ist wegen der Rebellion gefährdet.« Die Frauen mit den Masken blitzen in meiner Erinnerung auf und ich schlucke. »Vater und ich haben daher besprochen, dass du und Mutter einen Fahrer bekommen.« Er macht eine bedächtige Pause.

Ich sehe auf.

»Außerdem dürft ihr nicht mehr allein unterwegs sein«, redet er und schafft es dabei nicht, mir in die Augen zu schauen. Mein Blick dagegen durchbohrt ihn. Ein Gefühl, als wenn die Säure der Pampelmuse sich ihren Weg zurück bahnt, kommt in mir hoch.

»Das gehört sich für ein Mädchen in deinem Alter sowieso nicht mehr«, schiebt mein Vater beiläufig dazwischen.

»Ich bin nie allein unterwegs«, maule ich und halte den Löffel wie zum Schlag erhoben.

Was ich gerne würde – jemanden schlagen. Vorzugsweise Aaron.

»Beth begleitet mich immer«, rede ich weiter und kann nicht verhindern, dass ich piepsig klinge.

»Beth ist zu alt für diese Strecken«, wischt Vater den Einwand augenrollend beiseite. Der genervte Unterton in seiner Stimme ist eine Warnung, es nicht zu weit zu treiben.

»Sobald ich einen Fahrer gefunden habe, wirst du zur Schule und zu deinen Nachmittagsterminen gefahren, Eva. Genau wie du, Mutter. Ihr müsst euch nur absprechen.«

Sobald ich einen Fahrer gefunden habe? Aaron redet, als hätte er das Sagen in dieser Familie!

Meine Mutter strahlt. Ein von ihr lang gehegter Wunsch geht in Erfüllung und sie drückt Vater vor Freude einen Kuss auf die Wange. Dieser wendet sein Gesicht ab. Er hasst Gefühlsduseleien.

Das stört Mutter nicht. Was ihre Freundinnen denken werden, wenn sie mit ihrem eigenen Chauffeur vorgefahren kommt, dass allein interessiert sie. Lange habe ich sie nicht so glücklich gesehen. Ihre Augen sind sogar ein wenig feucht. Ich könnte auch weinen, aber nicht aus Freude. Meine geringen Freiheiten werden mir genommen und dass nur wegen dieser doofen Rebellion.

»Das dient deiner Sicherheit«, spricht mein Bruder weiter. Er hat mich beobachtet.

Ich stehe auf und gehe ins Bad. Ich hasse ihn dafür, dass er wegziehen muss. Ich hasse die Frauen, die es mit ihren Aktionen schaffen, dass wir uns einschränken müssen. Ich hasse mein Leben.

Meine DV-Uhr piept. Ich kann mich nicht ewig im Bad verstecken. Im Flur wartet Aaron auf mich. Tränen brennen in meinen Augen. Ich würde ihm gern ins Gesicht schlagen. Wie kann er mir das antun?

»Es tut mir leid, Eva. Ich weiß, dass dir das nicht gefällt. Aber ich bitte dich darum. Ich kann nicht mehr auf dich aufpassen, wenn ich weg bin.«

Jetzt kann ich es nicht mehr aufhalten. Ich fange an zu heulen und fühle mich dabei miesmuschelelend. Er reicht mir ein Taschentuch und ich schnäuze kräftig rein. Er grinst – zurecht. Ich klinge nicht wie eine Dame, eher nach einem Walross. Provokant reiche ich es ihm zurück. Er steckt es, ohne mit der Wimper zu zucken, ein und nimmt mich in den Arm.

Das ist zu viel. Auch wenn ich ihn gerade noch gehasst habe. Ich kann nicht anders und drücke mich an seine Schulter. Sein Hemd zerknittert. Das kann doch nicht richtig sein! Seitdem er auf die Regierungsschule gewechselt ist, trägt er Anzüge wie Vater. Ich kann ihn mir in der Regierung nicht vorstellen. Er ist selten ernst. Eher witzig, immer gut gelaunt und wird mir fehlen.

Vater war enttäuscht, dass Aaron nicht in seine Fußstapfen treten möchte. Aber den Sohn in der Regierung zu wissen, ist natürlich mehr wert. Ich weiß, dass er davon ausgeht, dass sein Schwiegersohn das Geschäft übernehmen wird. Eine große Fusion.

Ich winde mich aus Aarons Umarmung.

»Wir müssen los«, sage ich mit belegter Stimme. Er nickt und geht voran, gibt mir Zeit, mich zu fassen.

Der Tempel des Einzigen und Wahren empfängt uns im strahlenden Sonnenlicht. Seine weiße Fassade blendet mich. Es ist das einzige Gebäude auf der Insel, das nicht grau ist. Mit Türmen und hohen Fenstern spiegelt es in meinen Augen nicht die Macht Gottes, sondern den Reichtum der Priester wider. Im Inneren ist es trotz der Fenster dunkel. Sie sind zum Großteil mit roten Vorhängen bedeckt. Was für eine Verschwendung von Glas und Licht. Der Gestank von Weihrauch kämpft mit der frischen Luft, welche tapfer durch den offenen Tempeleingang hineinweht.

Harte Bänke aus Stein werden mich für die nächsten zwei Stunden daran erinnern, warum ich nicht gerne zum Gottesdienst gehe. Nach spätestens einer halben Stunde wird mir alles wehtun. Vielleicht kann ich deswegen so wenig mit Religion anfangen? Ich verbinde damit nur Qualen und Langeweile. Hoffentlich muss ich nicht zur Beichte. Ich bemerke Mutters Blick. Sie schaut mich seltsam an, sodass ich befürchte, dass sie gerade genau diesen Gedanken hatte.

Der Gottesdienst fängt an und wir dürfen uns setzen. Ein Priester im prunkvollen Gewand betont die Sünde der Frau und dass wir uns davon befreien sollen, damit wir nach dem Tod ins Himmelreich gelangen.

Weiter rechts von uns hört Lillit der Predigt mit starrer Miene zu, ohne sich hinzusetzen. Stehen ist nicht verboten, sogar bevorzugt. Dass wir sitzen, ist ein Entgegenkommen der Priester an uns. Dennoch glaube ich nicht, dass Lillit steht, weil sie dem Einzigen und Wahren ihren Respekt entgegenbringen will. Sie steht, wie es die Rebellinnen fordern. ›Frauen steht auf!‹

Ich spüre, wie mir ein Schauer den Rücken hinunterläuft. Aus irgendeinem Grund ängstigt mich ihr Verhalten heute. Ihre Eltern sind nicht zu sehen. Stattdessen sitzt das Kindermädchen neben ihr. Mit steifem Rücken und starrem Blick versucht sie, das Verhalten ihres Schützlings nicht zu beachten. Genauso alt wie Beth kann sie kaum etwas ausrichten. Wo Lillits Eltern wohl heute sind? Ist ihre Mutter wieder krank und ihr Vater auf Arbeit? Er überprüft die Verwaltungsbeamten in den Versorgungszonen und ist daher oft tagelang unterwegs. Genauso wie mein Vater. Ich unterdrücke ein Gähnen. Als könne sie es riechen, zischt Mutter mir zu, dass ich mich benehmen soll. Ihr Ellenbogen trifft mich empfindlich in meine Seite. Ich verziehe das Gesicht, gebe aber kein Laut von mir. Damenhaft zu sein, fällt mir immer wieder schwer.

Der Gottesdienst geht zu dem Teil über, welcher die Männer betrifft. Der Priester lobt ihr Engagement, ihre Dienste auf den einzigen und wahren Gott aufzurichten.

»Besonders in Zeiten wie diesen ist es unsere Pflicht, glaubensstark zu sein. Uns nicht beirren zu lassen auf unserem Weg«, redet der Priester.

Ein diskreter Hinweis auf die Vorkommnisse der letzten Woche. Das Problem mit den Rebellen scheint sich auszuweiten. Hier und da waren Häuserwände beschmutzt. Ich habe mir nichts dabei gedacht. Oftmals habe ich die Schriftzüge erst entdeckt, während sie entfernt wurden, aber in letzter Zeit häufen sie sich. Das ist unübersehbar, denn sonst sind die Rebellen nicht in Erscheinung getreten. Dass sie ihre Spuren an öffentlichen Gebäuden hinterlassen und mutig genug sind, sich zu zeigen, ist eine Wendung, die ich nie erwartet hätte.

Wohin soll das führen? Was bedeutet das für uns Frauen? Was bedeutet das für mich?

Die Schlange vor den Beichtstühlen ist so lang, dass Mutter davon absieht, mich hinzuschicken. Ich atme erleichtert aus. Da bin ich nochmal davongekommen.

Auf der Rückfahrt blicke ich stur auf die Straße. Meine Eltern sprechen über den morgigen Besuch. Vater hat Geschäftskollegen eingeladen.

Mutter dreht sich zu mir um. »Du wirst dein neues Stück auf dem Klavier vorspielen, Eva.«

Sie wartet keine Antwort ab, sondern bespricht die Menüplanung mit Vater: »Vielleicht können wir das Käfercurry servieren. Mit einer Brennnesselsuppe als Vorspeise?« Vater nickt nur. Ihm ist es gleich, aber als Familienoberhaupt muss er solche Sachen absegnen.

Ich überlege, eine Magen-Darm-Grippe vorzutäuschen. Oder einen Migräne-Anfall. Doch wenn wichtiger Besuch ansteht, würde Mutter mich niemals freistellen. Eher pumpt sie mich mit Medikamenten voll.

Weil sich Vater auf kein Gespräch einlässt, wendet sie sich wieder mir zu: »Welches Kleid ziehst du morgen an, Eva?«

Ich schaue zu Aaron, der mit Kopfhörern im Ohr etwas auf seiner Datentafel liest. Er hat es gut.

»Ich dachte an das graue Muschelkleid?«, fährt sie fort und wartet wieder nicht meine Antwort ab, »Das sollte dir hoffentlich noch passen. Wenn nicht, vielleicht das mit den dezenten weißgrauen Perlen. Das hattest du noch nie an.« Mutter redet weiter und ich stelle auf Durchzug. Sie will ohnehin nichts von mir hören.

Ich muss bei jedem Anlass ein neues Kleid tragen, obwohl sie alle gleich aussehen. Grau. Nur im Schnitt unterscheiden sie sich. Einer ist raffinierter, der andere ausgefallener. Was lassen sich die Frauen nicht alles einfallen, um aus dem Schatten zu treten. Dennoch bleiben sie grau.

Zu Hause steht das Mittagessen bereits auf dem Tisch. Suppe. Für den Sonntag kocht Marie vor. Mein Bruder und ich setzen uns, Mutter und Vater lassen auf sich warten. Ich schöpfe mir eine Kelle Suppe auf den Teller und löffle sie hastig hinunter. Natürlich verbrenne ich mir die Zunge. Aaron schaut mich verwundert an. Ehe er mich fragen kann, kommt meine Mutter in den Raum und setzt sich zu uns.

»Warum ist dein Teller schmutzig, Eva?«, fragt sie pikiert. Vater rettet mich vor einer Antwort, indem er zu uns an den Tisch kommt. Mutter schaut mich nur warnend an und ruft das Dienstmädchen. Tirza eilt herbei und serviert uns die Suppe auf unsere Teller.

»Bei Eva nur eine Kelle«, spricht Mutter das aus, was ich befürchtet habe. Aus dem Augenwinkel sehe ich Aaron grinsen. Meines unterdrücke ich. Sie würde misstrauisch werden, da sie weiß, wie oft Aaron mich deckt. Ganz im Gegensatz zu Vater. Verraten hat sie ihm das nie.

Ich stehe vor dem Spiegel und probiere Kleider an. Eins ist hässlicher als das andere. Das Damenzimmer hat sich in ein Ankleidezimmer verwandelt. Fünf Stück in allen möglichen Farben liegen ausgebreitet auf dem Sofa. Dazu unzählige Stoffe, die Mutter mir ständig an die Seite hält, als ob sie Ahnung von Mode und Nähen hätte. Hat sie nicht. Ich sehe auf das fünfte Kleid. Ungewöhnlich wenig Auswahl für Mutters Verhältnisse.

Ein großer Spiegel versperrt mir die Sicht durch das Fenster. Eine graue Häuserwand ist zwar eine miserable Aussicht, aber immer noch besser als mein Spiegelbild.

Ich ziehe ein blaues Kleid mit gelben Blumen an. Es passt und ich lächle mir erleichtert zu.

»Drehe dich bitte, Eva. Und achte auf deinen Gang. Du bist doch keine Seegurke.« Mutters hysterische Stimme kratzt an meinen Nerven und ich unterdrücke ein Seufzen. Man sollte meinen, diese Kleiderprobe für den Heiratsmarkt mache ihr Spaß. Stattdessen wirkt sie gestresst und gereizt. Wegen der geringen Ausbeute an Kleidern?

Es ist angenehm, ein Kleid zu tragen, das nicht einengt, meinen Bauch kaschiert und meinen Busen hervorhebt. Ich drehe mich vor dem Spiegel in der Hoffnung, Mutter zu überzeugen. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtet sie, wie ich im Damenzimmer auf und ab gehe. Ich schreite gestelzt auf unseren Bildschirm zu, auf dem Mutter und ich die wöchentlichen Berichte des Präsidenten schauen. Ein verzerrtes Spiegelbild glotzt mich aus seiner schwarzen Front an und ich unterdrücke ein Grinsen. Ich sehe aus wie ein Einsiedler, der sich in einer zu großen Muschel versteckt. Mutter verzieht ihr Gesicht, als ob sie in eine saure Pampelmuse gebissen hätte und ich weiß, dass ihr das Kleid nicht gefällt.

»Das kannst du gleich wieder ausziehen. Es ist viel zu schlicht. Das spiegelt in keiner Weise den geschäftlichen Erfolg deines Vaters wider. In Zeiten wie diesen muss man besonders auf sein Aussehen achten«, sagt sie und seufzt. Beth öffnet mir den Reißverschluss am Rücken. »Es gibt einfach keine Kleidung mehr zu kaufen. Das ist alles aus der vorherigen Saison. Manches davon sogar aus zweiter Hand. Wenn das jemand erkennt.« Ihrem Gesichtsausdruck nach wäre diese Möglichkeit ihr Untergang. Sie wedelt mit den Händen und stakst zurück zum Sofa. »Nun mach schon, zieh nochmal dieses Kleid an!« Sie hält mir das rosa Kleid hin. Ich zucke mit den Schultern und steige umständlich aus dem blauen.

»Was für Zeiten meinst du denn, Mutter? Laufen Vaters Geschäfte nicht gut?«

»Vielleicht eine Kette aus weißen Perlen dazu, was denkst du Beth?«, spricht sie zum Kindermädchen.

»Warum gibt es keine neuen Kleider für den Heirats…?«

»Sehr gute Wahl.« Beth holt die Kette aus meinem Schmuckfach.

Ich schüttle den Kopf. Also der Alptraum in Rosa. Das Oberteil ist bestickt mit rosa Blumen. Puffärmel und ein gebauschter Überrock runden das Bild ab. Der Kleidersaum ist mit vielen bunten Steinen geschmückt, die wohl weitere Blüten darstellen sollen. Ich sehe aus wie ein Bonbon. Ergeben lächle ich, um dieser Tortur zu entrinnen. Mutter nickt meine Garderobe ab und entlässt mich aus ihren Fängen.

Die Sache geht mir dennoch nicht aus dem Kopf. Der Heiratsmarkt ist wichtig. Das Aussehen auch. Ich weiß, dass Mutter gerne übertreibt. Trotz alledem: Keine neue Ware ist kein gutes Zeichen. Letztes Jahr hatte Mutter zehn am ersten Tag gekauft. Fünf Kleider an zwei Tagen ist wenig, vor allem, wenn die meisten davon aus dem Vorjahr sind oder sogar aus zweiter Hand.

Ich gehe auf mein Zimmer und rufe Rahel mit der DV-Uhr an. Sie lacht über meine Erzählungen von der Kleideranprobe.

»Ich wünschte, meine Mutter wäre so exzentrisch. Sie ist da eher pragmatisch und nimmt die Sache einfach nicht ernst genug. Redet immer davon, dass ich von Natur aus wunderschön sei und kein Kleid brauche, um das zu unterstreichen. Sie hat tatsächlich gesagt, ich würde sogar in einem Kartoffelsack einen Mann finden.«

Ich höre ihr verzweifeltes Lachen am Telefon und wünschte, meine Mutter würde das zu mir sagen.

»Wir können ja tauschen«, schlage ich halb lachend, halb ernst vor.

Ein Kichern. »Keine schlechte Idee, Eva. Das wäre wirklich witzig«. Rahel scheint diesen Gedanken unterhaltend zu finden. Aber ich weiß, sie wäre die perfekte Tochter für meine Mutter.

»Mutter hat von schwierigen Tagen gesprochen, vielleicht liegt es daran, dass nur so wenig Kleider zu Auswahl stehen?«, erzähle ich.

Rahel hört sofort auf zu lachen und für einen kurzen Moment glaube ich, sie hat aufgelegt. Ich schlucke und weiß, dass ich das lieber nicht hätte sagen sollen.

»Davon weiß ich nichts. Ich denke, dass sie übertrieben hat. Du erzählst oft, wie hysterisch und dramatisch deine Mutter ist.« Ihre Stimme hat einen Ton angenommen, der mich davor warnt, weiter auf diesem Thema herumzuhacken. »Vielleicht konnte sie wegen der vielen Kleider nicht bei ihrem Lieblingsjuwelier einkaufen gehen.« Ihr Lachen klingt gezwungen, beinahe verächtlich.

Ich lache aus Höflichkeit und um der Situation die Ernsthaftigkeit zu nehmen, mit. Glaubt sie das wirklich? Und glaube ich das? Nein. Ich denke an die Frauen mit den Masken und bin mir sicher, da steckt mehr dahinter. Was ich davon halten soll, weiß ich nicht. Was das für Auswirkungen hat, kann ich nicht einmal erahnen. Welche Folgen auf mich warten, kann ich nur befürchten. Es sind keine Guten. Ich hoffe, dass diese Rebellion bald zu Ende ist. Was auch immer ich für Schwierigkeiten mit Mutter und dem Heiratsmarkt habe, Lillits Forderungen können es nur schlimmer machen. Die Männer werden sich das nicht gefallen lassen. Dass wir Frauen nicht mehr allein auf die Straße dürfen, ist nur der Anfang.

»Du hast Recht. Meine Mutter dramatisiert immer alles«, lenke ich ein. Ich führe unser Gespräch auf weniger gefährliches Terrain und erzähle ihr, welches Kleid in die engere Wahl kommt. »Es ist eine Mischung aus rosa Zuckerwatte und bunten Bonbons.«

»Mein Kleid ist ein Traum in Rot. Doch ich will weitere anprobieren. Wir sitzen wegen der Mode vom letzten Jahr alle im selben Boot«, erklärt sie nüchtern.

Ich weiß, dass sie das wurmt, denn sie weiß, dass sie schön ist. Und auf dem Heiratsmarkt will sie die Schönste sein. Es gefällt ihr nicht, ein Kleid zu tragen, welches ihre Nachbarin im letzten Jahr anhatte. Das wird morgen in der Schule erneut Thema sein. Wir beenden das Telefonat und ich bin mit meinen Gedanken wieder allein.

Ich gehe ins Damenzimmer. Ich brauche den Blick nach draußen. Ein bisschen Freiheit schnuppern, wenn sie mir schon verwehrt ist. Vor der Ausgangssperre waren Marktbesuche die Lichtblicke meines grauen Alltags. Außer dem Kulturzentrum und dem Tempel gibt es keine Orte, die man in Selvia zu seinem Vergnügen besuchen kann. Nun wird mir auch das genommen. Ich seufze und ziehe damit die Aufmerksamkeit meiner Mutter auf mich. Sie schaut von ihrer Datentafel auf und zieht eine Augenbraue hoch. Nun gut, einfach nur aus dem Fenster starren, wird sie mir wohl nicht durchgehen lassen. Ich überlege, was ich stattdessen machen könnte. Meine Stickarbeit ausbessern? Unter ihrer Beobachtung auf keinen Fall. Also baue ich die Staffelei auf. Da ich in Handarbeiten nicht talentiert bin, aber halbwegs passabel ein paar Striche zustande bringe, hat sie mir vor einigen Jahren eine Staffelei geschenkt. Ein Zugeständnis ihrerseits. Aber es ist wie mit allem: Sobald ich etwas tun muss, macht es keinen Spaß mehr.

Die Staffelei ist wie eine DV-Tafel, nur in groß. Ich habe statt Bleistiften und Pinseln einen Stift in der Hand, der auf der Oberfläche ähnliche Effekte erzeugt. Vergleichswerte habe ich nicht. Das Zeichenprogramm ist gut, manchmal zu gut. Es reagiert genau auf das, was ich zeichne. Unsaubere Striche oder gelangweiltes Kritzeln lassen sich mit dem Programm nicht vertuschen. Ich versuche mich an einem Stillleben von unserer Obstschale, die im Damenzimmer steht. Unter den wachsamen Blicken meiner Mutter beginne ich, einen Pfirsich zu zeichnen. Er gleicht eher einer Karikatur und ihr Ausdruck wird finster. Ich sammle mich und fange neu an. Zum Glück wird ihr das kritische Starren bald zu anstrengend und sie verlässt das Damenzimmer. Ich atme erleichtert aus.

Zum Abendbrot sind mein Bruder und mein Vater nicht da. Die Aussicht, mit Mutter allein am Esstisch zu sitzen, ist nicht gerade erhebend. Besonders mit der Qualität meiner Arbeit als Gesprächsthema. Ich überlege, Kopfschmerzen vorzugeben, um dem Abendessen fernbleiben zu können. Mir ist jedoch der Gedanke zuwider, wie meine Mutter zu sein, und mein Magen knurrt. Ich gehe runter und setze mich ins Esszimmer. Mutter ist beschäftigt und ich genieße die Ruhe vor dem Sturm.

Mein Blick fällt auf den Platz neben mir. Aaron hat seine Datentafel liegen gelassen. Ich horche, ob jemand kommt, und ziehe den Stuhl näher zu mir. Die Tafel ist nicht per Passwort geschützt. Ich hatte schon öfter die Gelegenheit, das festzustellen. Ein Fehler, den ich auszunutzen weiß. Ich öffne die Zeitung und ziehe zischend die Luft ein. ›Die Rebellion schreitet voran‹ steht in großen Lettern da. Die Rebellion. Ich lese aufgeregt weiter: ›… Frauen verweigern ihren Dienst in der Gesellschaft und versammeln sich zu größer werdenden Gruppen. Die Rebellen sind eine Fehlentwicklung der Natur und müssen unbedingt eliminiert werden, ehe die innere Sicherheit der Insel gefährdet wird. Sie beschmutzen Häuser und greifen wehrlose Menschen, Frauen wie Männer, an. … Die Anzahl der Toten ist auf 20 gestiegen. Und das allein in der Hauptstadt. Auch der Hauptdarsteller des Theaterensembles ist Opfer der Rebellion geworden. …‹. Mein Herz setzt einen Schlag aus. Ob er getötet wurde? ›Die Fehlleitung des Gasnetzes im Finanzzentrum ist auf einen Sabotageakt zurückzuführen‹. Ein weiterer Artikel lautet: ›Streik in der Textilfabrik. Die Rebel…‹

Schritte lassen mich abrupt den Kopf heben und ich stoße mir die Hand an der Tischkante. Ich unterdrücke ein Schmerzenslaut und schiebe den Stuhl hastig unter den Tisch. Vorsichtig werfe ich einen Blick auf meine Finger. Gerötet pochen sie um die Wette. Ich halte die Hand im Schoß unter der Platte, damit Mutter sie nicht sieht. Sie kommt ins Zimmer, grüßt mich knapp und ruft herrisch das Dienstmädchen. Man könnte meinen, sie hätte stundenlang auf das Essen gewartet.

Meine Gedanken rasen. Ich versuche, mir die Verwirrung nicht anmerken zu lassen. Die Rebellion. Sie schreitet voran. Die Dinge, die in den letzten Tagen davon zu spüren waren, sind nur der Anfang.

Ich richte meine Aufmerksamkeit auf Mutter. Sie schaut mich fragend an. Ich blinzle. Dann dämmert es mir. Ich versuche es mit einem Nicken. Ihre perfekt gezupften Augenbrauen ziehen sich zusammen. Falsche Antwort. Mist. Ich schaue sie an und warte ab. Jedes falsche Wort macht es nur schlimmer.

»Hast du mir etwa nicht zugehört? Wie soll aus dir eine akzeptable und angesehene Frau der Gesellschaft werden? Hör auf zu träumen, du bist kein Kind mehr!« Meine Mutter hat eine hohe Stimme, die klar und hell ist. Wenn sie anfängt zu zetern, bekommt sie einen schrillen Klang, der mir schmerzhaft in die Ohren schneidet. Ich widerstehe, mein Gesicht zu verziehen, und nicke, um sie nicht noch mehr zu reizen. Das Dienstmädchen unterbricht ihre Schimpftirade und serviert unser Essen. Die nächsten Minuten verbringen wir stumm.

Meine Gedanken gleiten wieder zum Zeitungsartikel. Was bedeutet eliminieren? Ich schlage es später nach. Dass ich es schaffe, die Tafel noch einmal in die Finger zu kriegen, scheint mir nicht wahrscheinlich. Tirza hat sie beim Aufräumen übersehen. Das ist schon ein Ding der Unmöglichkeit. Ein zweites Mal wird ihr das nicht passieren.

»Sprich bei deiner nächsten Klavierstunde Herrn Kornelius auf sein Konzert an und bitte ihn um Karten. Ich brauche neun, drei für uns, vier für die Gajus-Familie und zwei für die Lots.«

Oh nein! Die Gajus-Tochter. Langweilig und nervig. Die reinste Vorzeigedame. Wie viele Wettbewerbe hat sie noch mal gewonnen? Unzählige. Sie ist beinahe jedes Jahr Inselmädchen des Jahres. Das kann ja ein Abend werden. Hoffentlich verkauft Herr Kornelius mir keine Karten unter der Hand. Aber Mutter wird darauf bestehen. Zur Not fragt sie ihn persönlich. Und dann könnte er sein Heiratsinteresse bekunden.

In meinem Zimmer scrolle ich durch das Lexikon auf meiner DV-Uhr. Ich weiß, dass die Bewegungen der Inselbewohner im Datennetz überprüft werden. Dadurch deckt die Regierung potenzielle Bedrohungen rechtzeitig auf. Ich schlage wild durcheinander Wörter nach, damit ich keine Aufmerksamkeit auf mich lenke.

›Eliminieren‹ ist nicht im Lexikon der Frauen aufgeführt. Ich seufze. Schlechte Nachrichten haben starke Auswirkungen auf unser Befinden. Wir sind emotional und können nicht rational denken. Habe ich deswegen die verqueren Gedanken? Krank durch Wissen. Der Streik fällt mir ein. Das bedeutet, die Arbeit niederzulegen. Soviel weiß ich. Hat Mutter aus diesem Grund keine aktuelle Mode bekommen? Ich verstehe nicht, warum die Textilfabrikanten streiken sollten. Wenn Mutter davon wüsste, würde sie in Panik verfallen, hysterisch werden und am Ende des Tages vollgestopft mit Medikamenten auf der Couch liegen – nicht, ohne ihre Laune vorher an mir ausgelassen zu haben. Gut, dass sie keine Zeitung liest.

So öde der Tag war, der Abend hatte es in sich. Eine bleierne Schwere legt sich über mich. Zähne putzen ist heute nur in Kurzfassung drin. Mein Bett empfängt mich mit offenen Armen und ich schlafe trotz Kopfschmerzen sofort ein.

7 TAGE VOR DER DUNKELHEIT

Mit Erinnerungen an einen wirren Traum wache ich auf. Ich bin gerannt und gerannt. Hinter mir eine Horde Frauen, die die ganze Zeit schrien: »Steh auf! Steh auf! Steh auf!«

Von irgendwoher ruft mich Beth. Ich öffne die Augen und begreife, dass sie mich weckt. Mein Kopf dröhnt und ich denke an Mutter und ihre Hysterie. Ob ich einmal, wie sie ende? Die eine Hälfte der Woche mit Migräne ans Bett gefesselt und die andere im Kampf mit Angstattacken und Depressionen. Ich wünschte, ich wäre ein Mann.

Demotiviert stampfe ich die Treppe hinunter. Hoffentlich bin ich heute allein beim Frühstück. Mir ist nicht nach Gesellschaft.

Im Esszimmer angekommen unterdrücke ich ein genervtes Stöhnen. Mutter löffelt eine Pampelmuse aus. Ich zwinge mich zu einem Lächeln und setze mich zu ihr und Aaron. Lea bringt mir mein Frühstück. Natürlich eine Pampelmuse. Ohne Zucker. Die Säure der Frucht frisst sich durch meinen Hals.

Vater kommt herein. Seine sonst tadellos sitzende Krawatte hängt heute schief. Er schnappt sich ein trockenes Stück Toast, ohne sich hinzusetzen. Mutter hält ihn auf und rückt die Krawatte zurecht. Er ist gestresst, aber sein gehetzter Blick wird für einen winzigen Moment weich. Für Sekunden ruhen seine grauen Augen auf seiner Frau. Ich verstehe, dass meine Mutter diesem Mann verfallen ist, damals auf dem Heiratsmarkt – trotz seiner Herkunft aus dem äußeren Ring. Er sieht gut aus, wie Aaron. Beide tragen sie ihr dunkles, fast schwarzes Haar glatt nach hinten gekämmt. Bei Vater kräuseln sie sich an diesem Tag im Nacken, was der Frisur seine Strenge nimmt. Ungewöhnlich für ihn.

»Was hast du in der ersten Stunde?«, fragt Aaron auf dem Weg zur Tür.

»Religion«, murmle ich und ziehe mir die Schuhe an. Mir fällt ein, dass wir heute Handarbeiten haben. Meine Laune fährt talabwärts. Die Rose habe ich nicht hinbekommen. Mutter wird entsetzt sein über das Haartuch, obwohl sie auch nicht besonders gut sticken kann. Ich weiß, dass Beth ihre Arbeit ausbessert, damit sie bei ihren Kaffeekränzchen angeben kann.

Aaron fährt mich mit dem Auto. Er meint, es wäre besser. Ich sitze neben ihn und lausche der Musik. Meine Füße wippen im Takt, bis ich an den kommenden Sonntag denke. Mein Körper verkrampft. Der Heiratsmarkt. Auf ihm wird ebenfalls Musik gespielt. Und ich werde tanzen. Aber nicht aus freien Stücken. Ich schaue aus dem Fenster. Ich bin nicht die Einzige, die gefahren wird. Wesentlich mehr Autos sind heute unterwegs und alle fahren sie in dieselbe Richtung. Zur Schule der Mädchen. Die Ausgangssperre wird zur harten Realität.

Lillit wird von zwei Aufseherinnen am Tor empfangen. Eine davon ist Frau Ismael. Ich kenne sie aus der Grundstufe. Lang wie eine Bohnenranke überragt sie meine Mitschülerin um einiges. Ihre Kollegin ist dagegen eher in die Breite gewachsen. Lillit redet mit ihnen. Ich stehe zu weit weg, um das Gespräch zu verstehen. Die Hände unterstreichen energisch jedes Wort, das ihren Mund verlässt. Ihr Gesichtsausdruck zeigt deutlich, was sie von dieser Begrüßung hält, und ihr Körper ist angespannt, als ob sie ihnen gleich an die Gurgel möchte. Fasziniert starre ich sie an, ohne zu wissen, worauf ich warte. Dass Lillit die Frauen schlägt? Dass die Aufseherinnen sie in Ruhe lassen? Am Ende zuckt sie nur mit den Schultern und betritt flankiert von den beiden die Schule. Wird sie zum Direktor geführt? Oder bewacht? Ist es wegen der Rebellion, dass sie jetzt hart durchgreifen?

Eine Hand auf meiner Schulter reißt mich aus den Gedanken. Ich drehe mich erschrocken um.

»Willst du nicht reingehen, Eva?« Mein Bruder schaut mich an. Ich sehe die Verwirrung in seinen Augen. Immer wieder lässt er den Blick über die Menge um uns herumschweifen. Ich habe gar nicht gemerkt, dass er ausgestiegen ist. Wieso ist er noch hier? Hat er Angst, dass ich weglaufe?

»Ja, sicher. Keine Angst, Aaron. Ich werde dieses kleine Stück bis zur Schule ganz sicher ohne dich schaffen.« Ich kann nicht verhindern, dass mein Ton einen schnippischen Klang bekommt. Ich bin immer noch sauer auf ihn.

Er schaut mich an, seufzt und streicht seine Haare nach hinten. Was keinen Unterschied macht, sie saßen auch vorher perfekt. Mein Gewissen meldet sich als Kloß in meinem Hals. Ich sollte dankbar sein, dass mein Bruder sich so verantwortungsvoll um mich kümmert. Auf mich aufpasst. Wie es die Männer der Insel eben tun sollen. Das ist seine Aufgabe. Und meine ist es, zu folgen. Was kann daran schon schwer sein?

Ich straffe die Schultern, zwinge ein Lächeln auf mein Gesicht und verabschiede mich: »Auf Wiedersehen, Aaron. Danke fürs Fahren.«

»Auf Wiedersehen, Eva. Hab einen schönen Tag und pass auf dich auf.« Er gibt mir einen Kuss auf die Stirn und steigt wieder ins Auto. Ich schaue ihn hinterher. Unfähig die Situation zu begreifen – oder begreifen zu wollen.

Ein unangenehmer Wind weht durch die Gasse, die vom Tor zum Schulhof führt. Er zerrt an meiner Kleidung und peitscht mir die Haare ins Gesicht. Ich habe Mühe, sie zu bändigen. Mein Zopf hat sich halb aufgelöst. Genervt beschleunige ich die Schritte, um dem Wind zu entkommen.

Ein Surren lässt mich herumfahren. Das Schultor öffnet sich. Ariel schlüpft hindurch. Ein lila Schatten ziert ihre linke Wange. Ich erstarre. Sie hebt den Blick und verzieht das Gesicht, als sie merkt, dass ich sie angaffe. Ich zucke zusammen und wende mich ab. Es ist nicht das erste Mal, dass Ariel mit blauen Flecken in die Schule kommt. Dennoch fühle ich mich ertappt und meine Brust zieht sich zusammen. An manchen Tagen bedauere ich Vaters Passivität. Heute nicht.

Mein Blick gleitet an ihr vorbei. Ich bin mit ihr eine der letzten. Chamuel steht draußen an seinen Wagen gelehnt und sieht zu uns rüber. Er winkt mir zu, lächelt verschmitzt, irgendwie schüchtern. Ohne mein Zutun hat sich mein Arm ebenfalls gehoben und ich winke zurück. Ein breites Lächeln erscheint auf seinem Gesicht. Meine Wangen brennen. Abrupt dreht er sich um, umrundet sein Auto, steigt ein und fährt los.

Was habe ich getan? Mein Gesicht muss einer Gruselfratze gleichen – mit aufgerissenen Augen, offenem Mund und Haaren, die mir ins Gesicht hängen. Erstarrt in der Bewegung blicke ich mich zögernd um, bis ich es schaffe, die Herrschaft über meinen Arm zurückzugewinnen. Ariel wechselt den Blick zwischen mir und dem Schultor. Wieso winke ich Chamuel? Ich sollte den Kontakt zu ihm meiden! Mutter würde das nicht wollen. Eine gute Inselfrau legt solch ein Verhalten nicht an den Tag. Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen, aber Ariel dreht sich um und verschwindet Richtung Schulhof. Die Schülermenge verschluckt sie. Ich schlucke auch.

Rahel stolziert in die Klasse wie für den Wettbewerb ›Inselmädchen des Jahres‹, den sie nie gewonnen hat. Sehr zu ihrem Verdruss. Funkelnder Schmuck ziert ihren Hals und ihre Handgelenke. Es ist nicht erlaubt, sich hervorzutun. Die Aufseherinnen lassen sie gewähren. Wahrscheinlich wegen des bevorstehenden Heiratsmarktes. Das würden sie nicht bei jedem machen. Aber ihre Vorfreude ist wohl das richtige Verhalten. Meine Angst nicht.

Der Markt wird ähnlich wie ein Wettbewerb gesehen. Zumindest unter den Mädchen der inneren Ringe, welche den mittleren Stadtring einschließen. Wer bekommt den reichsten und wichtigsten Mann ab? Wer wird die Schönste sein? Wer wird sich blamieren? Die unteren Klassen freuen sich auf alles andere. Auf die Karussells, die Spielstände, die vielen Konzerte und auf die Theateraufführungen. Jeder freut sich auf das Ereignis des Jahres. Der Heiratsmarkt ist das Gesprächsthema Nummer 1 unter den Schülerinnen. Welches Kleid, welche Frisur? Wer kommt in Frage? Welche Tänzer, Sänger und Schauspieler werden vor Ort sein?

In der Frühstückspause hängen die Mädchen begeistert an Rahels Lippen. Sie himmeln sie regelrecht an. Ihr Verhalten, wie sie um sie herumsitzen, sie anstarren und ›ach‹ und ›och‹ ausrufen, widert mich an. Ich gebe mein Bestes, um meine Verachtung zu unterdrücken, bewundere die Schmuckstücke und erkundige mich interessiert. In Wirklichkeit juckt es mich nicht die Bohne.

»Und hat er auch gut gerochen?«, frage ich sie und muss unwillkürlich an Minze denken. Rahels Antwort höre ich gar nicht richtig. Meine Füße scharren unter dem Tisch. Ich fühle mich wie ein Fisch, der inmitten eines Haischwarms ausharren muss. Neben Lillit bin ich wohl das einzige Mädchen, das keine Lust auf das Spektakel am Sonntag hat.

Ariel betritt den Aufenthaltsraum. Ihr langes, rotes Haar fällt wie ein Vorhang vor ihr Gesicht. Weil der Raum voll ist, mache ich ihr auf unserer Bank einen Platz frei. Zu meinem Erstaunen setzt sie sich. Da sie keine Anstalten macht, was zu sagen, wende ich mich wieder Rahel zu. Sie beschwert sich untypisch hysterisch über das Fehlen einer neuen Kleiderkollektion und klingt dabei wie meine Mutter: »Im Hinblick auf den Heiratsmarkt ist es eine Katastrophe!«

Die anderen Mädchen steigen drauf ein. Eine ist die Tochter eines Textilfabrikanten: »Es liegt an den Näherinnen!«

Wie einstudiert fahren alle mit der Hand zum Mund und ziehen die Luft scharf ein.

Rahel hat besonders wenig für die Menschen in den Versorgungszonen übrig: »Das glaube ich sofort. Unzivilisiert und abscheulich wie sie sind. Sie halten sich nicht an Gesetze und faul sind sie außerdem. Es wird Zeit, dass die Regierung wirksamer durchgreift. Man sieht ja, wohin das führt, wenn man sie nicht tüchtig kontrolliert!« Bei jedem Wort über die Bewohner der Zonen tippt sie mit dem Zeigefinger auf den Tisch, dass ihre Knöchel weiß werden. Ihre Stimme hat einen herrischen Klang angenommen. Ich ermahne mich selbst, kein Wort zu sagen und nur zu nicken. Niemand benutzt das Wort Streik.

»Ja, die Näherinnen arbeiten einfach nicht gut und schnell genug. Vielleicht sollte man ihnen das Gehalt kürzen.« Rhode schäumt vor Aufregung.

Ich würde am liebsten hineinrufen, dass sie gar nicht arbeiten. Davon abgesehen haben wir Ausgangssperre. Unsere Mütter könnten gar nicht zum Markt. Aber alle glauben, dass diese bald aufgehoben wird.

Ich stehe auf, ehe ich mich vergesse. Die Mädchen gehen mir auf die Nerven.

Ziellos streife ich durch das Schulgebäude. Mich nicht zu bewegen, macht mich verrückt. Sorgt dafür, dass ich aus der Balance komme. Ich bin in jeglicher Hinsicht eine Ausnahme. Ob mit meinen Genen etwas nicht stimmt?

Mit dem Laufen ist es vorbei. Missmutig schaue ich aus dem Fenster, wo der Regen auf dem Hof eine riesige Pfützenlandschaft entstehen lässt. Es ist warm und ich spüre die Versuchung, meine Schuhe auszuziehen und hinauszurennen. Mich im Schauer zu duschen, in die Pfützen zu springen, dass der Matsch in alle Richtungen spritzt. Wie früher, da bin ich Beth regelmäßig entwischt.

Meine DV-Uhr klingelt zur nächsten Stunde. Auch wenn ich den Schultag heute ätzend finde, möchte ich nicht, dass er zu Ende geht. Am Abend erwartet mich Schlimmeres. Ein Abendessen mit Vaters Kollegen. Mit einem Klavierspiel. Von mir.

Das Mittagessen mit den Mädchen verläuft nicht viel besser. Rahel und ich sind wieder von einer Horde umgeben. Mutter hat mich für das Diätessen angemeldet. Die Fastensuppe schmeckt nach nichts und zum Nachtisch gibt es Gurke. Meine schlechte Laune verbrüdert sich mit einer leisen Wut. Unaufhörlich klopfe ich mit den Fingern einen unsteten Takt auf die Tischplatte. Die anderen schauen mich genervt an.

Ich ignoriere es und blicke über die Menge hinweg. Ich habe sie nicht an den Tisch gebeten. Mich interessieren ihre Probleme wegen fehlender Kleiderauswahl und mangelnder Intelligenz nicht. Mein Herz rast. Ich schaue aus dem Fenster. Die Sonne hat sich den Himmel zurückerobert und ich beschließe, frische Luft zu schnappen. Lillit, die scheinbar ziellos Bahnen auf dem matschigen Hof dreht, ist das kleinere Übel. Rede ich halt nicht mit ihr, aber dieses Gekicher ertrage ich nicht mehr.

Die Sonne hat es nicht geschafft, die Pfützen vollends verschwinden zu lassen. Ein wahres Schlammparadies erwartet mich. Ich blicke auf meine weißen Schuhe und seufze. Dicht an der Gebäudewand balanciere ich auf einem schmalen Streifen trockenen Betons, um mich nicht zu beschmutzen. Mutter ist wegen des Geschäftstreffens enorm gestresst. Sie würde mir bei der kleinsten Kleinigkeit eine deftige Strafe verpassen. Mehrere Kapitel des Gotteswerkes abschreiben oder stundenlang meinen Gang üben, bis ich mich in ihren Augen wie eine Dame bewege. Mit einem Stein auf dem Kopf, damit ich aufrecht laufe.

Ich schaffe es, eine Bank zu erreichen, ohne in eine Pfütze zu treten. Stolz lasse ich mich auf sie fallen. – Tief durchatmen, Eva. Die Ruhe genießen. Die Stille.

Ariel erscheint auf dem Hof, vertieft in ihre Datentafel. Da ich mit meinen wirren Gedanken nicht allein sein will und die einzige Alternative Lillit ist, rufe ich ihren Namen. Sie sieht auf und kommt zu mir.

»Was liest du?«, frage ich.

»Erikas Geschenk«, antwortet sie und setzt sich zu mir.

»Oh, wie toll! Das habe ich schon mehrmals gelesen. Wie findest du es?« Ich bemühe mich, freundlich zu klingen.

Ariel ist eine Schönheit, die selbst Rahel Konkurrenz gemacht hätte, wäre nicht dieser hektische Ausdruck in ihren Augen – grün wie die von Chamuel. Ich frage mich, ob es eine gute Entscheidung war, mit ihr zu reden. Sie ist die Tochter des Zeitungsinhabers und damit ein Mädchen tadellosen Standes. Aber meine Eltern sprechen nie über sie. Ob ich mich mit ihr unterhalten und den Umgang pflegen soll, damit eine Bindung zu ihrer Familie aufgebaut wird? Oder soll ich sie besser links liegen lassen, weil sie gestört und das schwarze Schaf ist? Jetzt ist es wohl zu spät. Sie ist wie ein blinder Fleck der Familie Zachäus, niemand redet über sie und ihre Mutter. Niemand möchte sich mit ihrem Vater, den Zeitungsinhaber von Selvia, anlegen. Aber jeder weiß, wie sehr ihr Vater über sie und seine Frau schimpft. Er hat für unser Geschlecht nur Verachtung übrig.

Ariel öffnet den Mund und ich entscheide, dass sie im Vergleich zu Lillit und den kichernden Mädchen eine willkommene Abwechslung ist. ›vielleicht auch, um etwas über Chamuel zu hören?‹, flüstert eine fiese Stimme in mir – was natürlich komplett albern ist. Ich interessiere mich kein Stück für Chamuel und er kommt gar nicht als Ehemann infrage! Die Männer suchen sich eine Frau, wenn sie ihre Ausbildung abgeschlossen und schon einige Jahre gearbeitet haben. Sie benötigen ein finanzielles Polster, um sich die Ehe leisten zu können. Mädchen aus den inneren Ringen haben gewisse Ansprüche. Das bedeutet, dass die meisten Männer, die auf Brautsuche sind, mindestens 10 Jahre älter sind. Wie sagt man so schön, sie sind wie Wein. Je älter, desto besser. Frauen nicht. Bei uns entstehen Falten, die Schwerkraft siegt und wir werden unattraktiver. Viele Männer suchen daher in späteren Ehejahren die schwarze Zone auf. Dort leben Frauen, die verdorben sind und sich durch ihre Lust und Sünde anbieten. Sie haben nicht den Weg Gottes gewählt, sondern den der Schande, um ihre verbotenen Gelüste auszuleben. Warum es in Ordnung ist, wenn Männer diese Frauen aufsuchen, ist mir ein Rätsel. Beth meint, es sei besser, Männer würden ihre Frauen nicht mit ›solchen Dingen‹ belästigen und lieber Dirnen besuchen. Mit ›solchen Dingen‹ meint sie alles Sündige. All das, was Frauen nur erleiden. Ich kann nicht daran denken, ohne rot zu werden. Die Erinnerung an meine Hand zwischen den Beinen kommt in mir hoch.

Die Gespräche unter dem Dienstpersonal sind manchmal besser als jedes Buch. Auf dem oberen Treppenabsatz ist ihr Getuschel am besten zu hören. Sie stehen in der Küche und fühlen sich sicher genug, diese Unterhaltung zu führen. Wenn sie wüssten.

Ariel spricht leise, aber deutlich: »Es ist ganz gut.« Ihre Hände halten die Tafel so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortreten. Sie blickt mir in die Augen und ich fühle mich durchleuchtet. Von ihr geht eine Stärke aus, die ich nicht erwartet habe. Sie sitzt mit geradem Rücken vor mir – aufrecht, selbstbewusst – und scheint dem Frieden zwischen uns nicht zu trauen. Ich habe sie falsch eingeschätzt. Sie ist kein verängstigtes Mädchen. Mit gestrafften Schultern blicke ich zum Himmel, der blau durch eine schmale Lücke zwischen dem Schulgebäude und den Nachbarhäusern zu sehen ist. Hier auf dem Hof ist oft Schatten. Im Hochsommer eine Erleichterung, wenn wir in unserer Kleidung schwitzen. Lillit läuft an uns vorbei, mit dem Fuß eine Spur auf den matschigen Betonboden ziehend. Sie scheint in Gedanken vertieft. Schaut nicht einmal auf.

Das Klingelzeichen ertönt und ich verabschiede mich von Ariel. Wir haben zwar gemeinsam Unterricht, aber ich will mein Glück nicht überstrapazieren, solange ich nicht weiß, ob es in Ordnung ist, mit ihr befreundet zu sein.

Der Zeichenunterricht bei Frau Elia ist oben im Gebäude. Eines der Mädchen-Fächer, die ich gern ertrage, weil hier Farben zum Einsatz kommen. In der letzten Stunde sind wir die Farbenlehre durchgegangen. Rot ist die Liebe, Blau die Treue, Gelb der Neid und Weiß die Unschuld. Grün die Hoffnung. Ich verziehe das Gesicht. Zwei grüne Augen lenken mich ab und führen meine Gedanken auf verbotenes Terrain. Ich schüttle den Kopf, um sie loszuwerden, und konzentriere mich auf die Suche nach einem guten Platz. Meine Beine steuern zwei freie Stühle am Fenster an. Was für ein Glück! Ich sehe Rahel hereinkommen und winke ihr zu. Angeregt plaudert sie mit Sarah, schreitet vorbei und würdigt mich keines Blickes. Hat sie mich denn nicht gesehen? In der ersten Reihe lassen die beiden sich an einen Tisch sinken. Einen Moment starre ich ihre Hinterköpfe mit den hübschen Locken an. Was soll das? Ich presse die Lippen aufeinander, plumpse auf meinen Stuhl und sehe aus dem Fenster. Was soll’s! Was ist schon dabei, wenn sie mal nicht bei mir sitzt?

So weit oben ist der Himmel größer und die Sonnenstrahlen schaffen es ins Klassenzimmer. Geblendet schaue ich nach unten. Die Spuren, die Lillit mit ihren Schuhen gezogen hat, sind gut zu erkennen. Ich versuche, ein Muster auszumachen. Aber so sehr ich meine Augen auch anstrenge, es setzt sich kein Bild zusammen. Es war wohl Lillits reine Langeweile.

Frau Elia erklärt verschiedene Techniken der Porträtzeichnung. Dann sollen wir unsere Banknachbarin zeichnen.

Na toll … Ich drehe mich nach hinten, um zu sehen, ob jemand allein sitzt. Lillit und Ariel.

Lillit ist schneller und spricht Ariel an, die stumm nickt. Ich beiße die Zähne zusammen.

»Eva, du kannst gerne mich malen«, ertönt Frau Elias Stimme in meinem Nacken. Ich wende mich um und schlucke.

»Das ist sehr freundlich«, bringe ich heraus.

Sie setzt sich mir gegenüber mit dem Blick zum Fenster. Es ist geöffnet und lässt die Geräusche der Stadt hinein. Eine Hintergrundmelodie. Ich hole die Datentafel aus der Tasche und öffne das Zeichenprogramm. Das ist kein Vergleich mit meiner Staffelei zu Hause, aber es erfüllt seine Zwecke. Bald habe ich mich in die Aufgabe vertieft und vergesse die seltsamen Zeichen auf dem Hof und den Umstand, dass meine beste Freundin sich nicht zu mir gesetzt hat.

Frau Elia ist es, die mich aus der Konzentration reißt. Sie steht mit steifen Bewegungen und irritierter Miene auf und sieht aus dem Fenster. Mein Blick folgt ihr. Was hat sie aufgeschreckt? Ich vernehme Stimmen von draußen und schaue hinaus. Einige Aufseherinnen verwischen mit Harke und Spaten die Spuren von Lillit.

Unsere DV-Uhren ertönen, geben das Zeichen zum Morgenappell. Was hat das zu bedeuten?

Wir werden auf dem Hof erwartet. Genervt laufe ich mit meinen Mitschülerinnen aus dem Klassenzimmer hunderte Stufen hinab. Weshalb dieser ganze Aufstand? Ich sehe mich um. Die Traube um Rahel tuschelt aufgeregt. Lillit schlendert gemütlich vor mir her. Ariel sieht sich fragend um. Sie scheint gar nichts kapiert zu haben.

Draußen erwartet uns der Direktor. Wir stellen uns in Reihen auf und erwarten still, was kommen mag.

»Alle Mädchen, die in der letzten Pause auf dem Hof waren, treten nach vorne.« Trotz der Verzerrung durch die DV-Uhren ist sein Zorn kaum überhörbar.

Ach du liebe Alge, werde ich verdächtigt, etwas Unrechtmäßiges getan zu haben? Mit pochendem Herz trete ich aus der Reihe und komme nach vorne.

Zehn andere Mädchen auch – unter ihnen Ariel. Lillit sehe ich nicht. Soll ich was sagen? Ich beschließe, abzuwarten.

»Wer von Ihnen hat hier draußen die Venusfigur gezeichnet?« Der Direktor ist ein Mann der klaren Worte. Er schwafelt nicht herum, kommt direkt zum Punkt.

Venusfigur. Was meint er damit? Etwa die Zeichnung von Lillit? Ich entscheide mich, den Mund zu halten. Jedes Wort zu viel könnte nach hinten losgehen. Was ist, wenn ich Lillit beschuldige und sie die Schuld von sich weist und auf mich schiebt? Außer Ariel, die nichts sagt und auf den Boden schaut, habe ich keine Zeugen.

Ich sehe Rahels entsetzten Blick. Allein, dass ich hier vorne stehe, macht mich für sie zu einer Täterin. Zu einer, die sich nicht an die Regeln, an das System hält. Zu einer Rebellin.

Seit wann ist es verboten, seine Pause auf dem Hof zu verbringen? Wahrscheinlich ab morgen. Meine eigene Stimme verhöhnt mich in meinem Kopf. Der Direktor entlässt die anderen in den Unterricht. Wir zehn, die vorne stehen, müssen mitkommen. Er möchte mit jeder von uns persönlich sprechen.

Mit den anderen Mädchen warte ich im Flur vor dem Rektorenzimmer. Das Erdgeschoss ist von mehreren Lampen beleuchtet, die ein kaltes Licht abstrahlen. Diese ewig grauen Wände. Sie ziehen meine Glieder zu Boden, reißen an meinem Gemüt. Für eine Sekunde schließe ich die Augen. Ich denke an die Farbenlehre aus dem Kunstunterricht. Wieso kein Blau? Kein Grün? Wieso Grau?

Farben kosten, sagt die Regierung. An Rohstoffen und Energie. Grau ist günstig und am leichtesten herzustellen. Irgendjemand hat mir erzählt, dass die Wände im Regierungszentrum gelb gestrichen sind. Die dürfen sich das leisten.

Ich bin versucht, mich hinzusetzen. Doch das gehört sich nicht für ein Mädchen. Es gibt etwas Gutes an der Situation. Keine Handarbeiten. Keine Note für meine Stickarbeit. Ein Aufschub, den ich dankbar annehme. 20 Minuten vergehen. Ich habe das Gefühl, mit jeder weiteren werden meine Füße und Beine dicker. Sie schmerzen und möchten nachgeben. Ich zupfe ungeduldig an meinem Rock. Er hat schon einen hässlichen Knick. Vielleicht wäre Frau Hanniel die angenehmere Qual gewesen. Ich lasse den Blick schweifen. Den anderen geht es nicht besser. Sie alle zappeln hin und her, damit ihre Glieder nicht einschlafen. Niemand sagt ein Wort. Jedes einzelne könnte falsch ausgelegt werden und dafür sorgen, schuldig zu gelten. Bis auf mich und Ariel weiß keiner, wer die Venusfigur gemalt hat. Ich wüsste gern, was das ist – eine Venusfigur – und warum sie verboten ist. Das muss sie sein, sonst würde der Direktor keinen Aufstand machen.

Die Tür geht auf und ein Mädchen aus der dritten Klasse kommt heraus, völlig verweint. Das Nächste geht hinein und die Tür schließt sich wieder.

Ariel blickt mit starrer Miene an die gegenüberliegende Wand. Ihre Hände sind zu Fäusten geballt. Wird sie zu Hause Ärger von Chamuel oder ihrem Vater bekommen? Ab einem gewissen Alter übernehmen Brüder ebenfalls Verantwortung für ihre Schwester. Sie haben dafür Sorge zu tragen, dass ihr nichts geschieht und ihre Tugend bewahrt wird. Und natürlich, dass sie sich an die Regeln hält, gehorsam ist. Wie diese Erziehung aussieht, scheint jede Familie anders zu handhaben.

Ich unterdrücke ein Gähnen. Wenn das bei jedem Mädchen so lange dauert, komme ich nicht pünktlich ans Tor. Ich hoffe, die Sekretärin denkt daran, zu Hause Bescheid zu geben. Leider war ich bei der Aufstellung im Flur nicht die Schnellste. Ariel ist vor mir und bald dran. Ich blicke auf die Uhr. Schulschluss. Wer holt mich eigentlich ab? Beth oder Aaron?

Ich biege meinen Rücken durch und stöhne leise. Ein Mädchen, Rebekka, glaube ich, tauscht einen Blick mit mir. Wir schauen uns mitleidig an und lächeln.

Schnelle Schritte kündigen jemanden vom Schuleingang an. Ich blicke auf und sehe Aaron auf uns zukommen. Er sieht die Mädchen suchend ab, bis er mich findet und erleichtert lächelt.

»Eva, was ist passiert? Warum musst du zum Direktor?« Sein Blick wechselt zwischen der Tür des Schulleiters und mir.

»Jemand hat in der Pause eine Venusfigur in den Sand gemalt.«

Aaron bekommt seine berühmte Falte über der Nase, wenn er gestresst ist.

»Zufälligerweise war ich zu dieser Zeit draußen. Jetzt will der Direktor uns alle verhören«, erkläre ich ihm und zeige auf die Mädchen, insbesondere Ariel.

Er wirkt verärgert. Ob es wegen der Anhörung vor dem Direktor oder der Venusfigur ist, kann ich nicht sagen.

Die Tür geht auf und das Mädchen kommt ebenfalls verweint heraus. Mein Bruder tippt auf seine DV-Uhr und stellt sich zu mir.

»Das kann echt nicht wahr sein«, murmelt er. Er blickt zu Ariel. »Dein Bruder kommt gleich, Ariel.«

Sie schaut auf, lächelt und nickt. »Danke, Aaron.«

Mein Blick wandert zu Aaron, zu Ariel und wieder zu Aaron. Was ist denn hier los?

»Am besten lässt du uns vor. Dann kannst du mit ihm gemeinsam rein.«

Bekomme ich was nicht mit?

»Das wäre gut.« Ariel sieht Aaron weiter an. Ihre Mundwinkel zucken, als wollte sie nicht noch breiter lächeln. Aaron geht zu ihr. Er legt seinen Arm um sie und flüstert ihr was ins Ohr. Ich spüre, wie mir die Kinnlade herunterfällt. Ariel nickt aufmerksam.

Ihr Repertoire an Worten und Gesten ist echt minimalistisch. Wieder diese zynische Stimme in meinem Kopf.

Ich knirsche mit den Zähnen. Seit wann hat mein Bruder Geheimnisse mit Ariel? Wieso sind die beiden sich so vertraut? Ich kenne Chamuel, aber niemals – niemals! – würde ich so intim mit ihm sprechen. Ich weiß, was sich gehört! Kein Wunder, dass sie verprügelt wird! Sie hat keinerlei Anstand!

Wie vom Blitz getroffen zucke ich zusammen. Mein Gewissen entlädt sich über mir. Es tut mir leid. Ariel kommt zu mir, lächelt zaghaft. Mir ist nicht zum Lächeln zumute. Was will sie von mir?

Die Tür des Direktors öffnet sich wieder. Das ging schnell. Dafür ist das Mädchen am Boden zerstört, schluchzt heftig und zittert am ganzen Körper. Besorgt blicke ich ihr nach.

»Eva, kommst du?«, ruft mein Bruder und hält mir die Tür auf.

Ah ja, klar, wir haben die Plätze getauscht. Mit einem flauen Gefühl im Magen gehe ich an ihm vorbei ins Direktorenzimmer.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752135114
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Februar)
Schlagworte
Rebellion Gleichberechtigung Politik Freundschaft Spannung Liebe Feminismus Pubertät Frauen Gewalt Science Fiction Krimi Thriller

Autor

  • Franziska Szmania (Autor:in)

Franziska Szmania entführt ihre Leser und Leserinnen in düstere Zukunftswelten. Ihre Geschichten handeln von Mädchen, die aus ihrem Alltag gerissen werden. Sie müssen nicht nur ums Überleben kämpfen, sondern auch eine Reise zu sich selbst antreten. Als Autorin spielt sie gerne mit den Schattenseiten des Lebens und einer Welt, in der nichts sicher ist und alles möglich sein könnte. Aber in der jeder Dunkelheit findet sie auch Licht und Hoffnung.
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Titel: EVA