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Der Angriff des Löwen

von Petra Breuer (Autor:in)
140 Seiten
Reihe: Abenteuer in München, Band 1

Zusammenfassung

Im Jahr 1158 belauscht Anna heimlich Heinrich den Löwen, wie er mit seinen Mannen über eine »neue Brücke« spricht. Kurz zuvor wurde der Ort Föhring niedergebrannt. Benedictus, ein behinderter Junge, der knapp den Flammen entkam, wird ihr neuer Freund. Beide erleben den Bau der ersten Brücke des aufstrebenden »apud Munichen« aus ihrem Versteck heraus hautnah. In der Gegenwart erkundet Anna mit ihrem Opa die historischen Orte im heutigen München, beispielsweise den Alten Peter und die Ludwigsbrücke. Sie erfährt viel über den gewinnbringenden Salzhandel und die Lebensumstände der damaligen Zeit.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1. Neugierde

Anna gab das Arbeitsblatt ab und setzte sich wieder an ihren
Platz. Soeben hatten sie eine Probe im Fach Rechnen geschrie­ben. Die Textaufgaben fand Anna recht schwierig und ­­des­we­­gen war sie ein bisschen sauer, dass ihre Banknachbarin Nina sie nicht hatte abschreiben lassen. Diese Streberin. Die Schulglocke läutete und endlich war kleine Pause. Anna ging
mit allen Klassenkameraden in den Pausenhof. Auf der Treppe
hörte sie ihre Mitschüler über die Rechenergebnisse diskutieren.

»Was hast du bei Punkt fünf als Gesamtstrecke heraus­bekommen?«

»Was war das Ergebnis mit den unterschiedlichen Ge­wich­ten?«

Anna biss in ihren Apfel. Vielleicht hatte sie heute etwas Glück gehabt und die Ergebnisse richtig erraten. Eine Einser­schülerin war sie sicherlich nicht und Lernen empfand sie als reine Zeitverschwendung. Trotzdem versuchte Anna wenigstens im Unterricht aufzupassen. Das gelang nicht immer, denn ab und zu wanderten ihre Gedanken einfach ganz von alleine ab. Es klingelte zur fünften Stunde und die Schüler kehrten in die Klassenzimmer zurück.

Das nächste Fach war Heimat- und Sachkunde. Heute begannen sie mit einem neuen Thema. Anna war gespannt, was es sein würde.

»Vielleicht wieder so ein einschläfernder Stoff wie Müll und Kläranlagen oder, noch schrecklicher, der Magnetismus‹«, überlegte sie.

Doch Anna wurde hellhörig, als Frau Birnbaum der Klasse das Thema »Stadtgeschichte Münchens« mit dem damit
verbundenen Klassenausflug und einem Gang ins Figuren­theater präsentierte.

»Wow, das scheint wohl ein paar interessante Unterrichts­stunden zu geben. Nicht das Sortieren von Müll und das Auseinanderhalten von Klärbecken, sondern mal ein wirklich nützliches Thema«, freute sich Anna.

Die Lehrerin erklärte der Klasse, dass sie demnächst zur Gründungsgeschichte Münchens ein lustiges Theaterstück im bayerischen Dialekt mit dem Titel »Am Anfang war die Isar« ansehen würden. Der krönende Abschluss des Themas wäre eine Stadtführung im Herzen Münchens. Freiwillige Schüler dürften anschließend auch ein Referat über den gesamten Lehrstoff halten. Für die Vorbereitung dazu waren insgesamt vier Wochen Zeit eingeplant.

Anna überlegte: Die Pfingstferien standen vor der Türe und sie wollte in der ersten Woche in ein Zeltlager fahren. Also blieben nur die zweite Ferienwoche und danach noch 14 Tage für die Ausarbeitung. Hm, ... und übrigens, hatte sie denn eigentlich Lust auf ein Referat, um ihre Note aufzubessern?

»Anna, du?« Frau Birnbaum sah sie fragend an.

Anna schreckte aus ihren Gedanken auf. Da sie keinen blassen Schimmer hatte, was die Lehrerin von ihr wollte, nickte sie einfach. Es ging ein Raunen durch die Klasse und Anna wurde es ganz heiß.

»Oh, Schreck«, dachte sie. »Wozu habe ich denn jetzt genickt?«

Die Antwort kam prompt von Frau Birnbaum: »Lobenswert, dass du dich freiwillig bereit erklärst, ein Referat über die Gründungsgeschichte Münchens samt den damaligen Lebensbedingungen zu halten. Das ist wirklich sehr viel Stoff, der auf dich wartet, und ich werde dir für die Mühe auch eine doppelte Benotung geben.«

Anna wurde es ganz mulmig zumute und in ihrem Kopf drehte sich alles. Sie saß in der Patsche. Zum Glück ertönte die Schulglocke und beendete die Unterrichtsstunde.

Anna kam mit leichtem Bauchweh zu Hause an, denn das Referat lastete schwer auf ihr. Sie pickte mit der Gabel gedankenverloren im Mittagessen herum.

»Anna, in welchem Traumland bist du denn gerade?«, hörte sie ihre Mutter fragen.

Sie setzte sich aufrecht hin und überlegte, wie sie aus dieser verzwickten Lage wieder herauskam. Da hatte sie einen kleinen Hoffnungsschimmer.

»Mama, sag mal, haben wir ein Buch über die Gründungs­geschichte Münchens im Regal stehen?«

»Seit wann begeisterst du dich denn für Geschichte?« Ihre Mutter blickte sie erstaunt an und überlegte dann: »Nun ja, wir haben einen Stadtführer über München. Den hat Onkel Martin hier mal vor ein paar Jahren vergessen, und dann habe ich noch ein Kochbuch über Bayerische und Münchner Küche. Das hilft dir wohl kaum, oder?«

Anna schüttelte verzweifelt den Kopf und überlegte, ob sie ihrer Mutter von dem Referat mit der doppelten Benotung erzählen sollte, beschloss aber, lieber nichts zu erwähnen. Wenn es wirklich die Note Fünf oder Sechs werden sollte, dann würde sie es sowieso nie erfahren, da Referate nicht unterschrieben werden mussten. Anna triumphierte innerlich. Das war die Lösung! Einfach nichts sagen und heimlich Informationen über München suchen. Sie beschloss, am Nachmittag in die Bücherei zu gehen. Dort gab es bestimmt ein passendes Buch oder vielleicht sogar eine interessante DVD.

Anna stand vor dem Regal mit Büchern zum Thema Heimat­geschichte und staunte, wie viel Lesestoff es über München gab. Sie strich mit dem Finger die Buchrücken entlang und war etwas ratlos, wo sie denn mit der Suche nach einem geeigneten Buch anfangen sollte. Manche Titel sagten ihr überhaupt nichts und viele Bücher kamen erst gar nicht infrage.

»Was soll ich denn jetzt machen?«, überlegte sie leicht entmutigt. »Mit dem Buch Trachten aus Bayern kann ich nichts anfangen und ein ›Streifzug durch Münchens Museen‹ ist ebenso eine Themaverfehlung. Ich brauche ein spannendes Buch über München und informativ sollte es auch sein.«

Anna ging die Reihe der Bücher wieder rückwärts, fand aber auch im zweiten Anlauf nichts Passendes für ihr Referat.

»So ein Mist«, dachte sie sich. »Alle Regale sind vollgestopft mit verstaubter Lektüre über alles Mögliche, aber ein an­ständiges Buch über München ist nirgends zu finden.«

Mit hängenden Schultern schlich sie Richtung Ausgang. Da hörte sie die Stimme von Frau Turner, der Leiterin der Bücherei.

»Anna, geht es dir nicht gut? Du bist ja ganz blass. Möchtest du ein Glas Wasser trinken? So kenne ich dich doch gar nicht.«

Anna blieb stehen und Frau Turner kam auf sie zu.

»Wie kann ich dir denn helfen?«, fragte sie freundlich.

Anna war ein Bücherwurm und kam nahezu einmal in der
Woche in die Bücherei, um sich kiloweise mit Lesestoff einzu­­decken, daher kannte Frau Turner sie bereits von klein auf.

»Ach, hallo, Frau Turner«, brachte Anna gedrückt hervor. »Ich suche ein Buch, ein ganz spezielles Buch.«

»Ja, gerne, raus mit der Sprache«, forderte Frau Turner
sie freundlich auf, ihr doch genauere Informationen zu geben.

Doch Anna blieb stumm. Stumm vor Wut auf sich und das selbst eingebrockte Referat.

»Ach, ich verstehe«, lächelte die Leiterin der Bücherei verständnisvoll. »Du möchtest gerne ein Buch, in dem etwas über Bienchen und Blümchen erklärt wird?«

Anna lief feuerrot an. Sie sah Frau Turner durch zusammengekniffene Augen an und brummte dann: »Nein, ich suche etwas über Türmchen und Törchen.«

Frau Turner wirkte leicht irritiert und brachte nur ein »Mmh, so, so« hervor. Das war dann aber auch schon alles, was ihr auf Annas Antwort einfiel.

Anna war die Situation peinlich, und so fing sie in einem etwas freundlicheren Ton von vorne an: »Ich suche ein spannendes Buch zur Gründungsgeschichte Münchens, das auch weitere Informationen über die damalige Zeit enthält und für mein Alter passend ist.«

»Tja, da fällt mir spontan nichts ein. Aber ... warte mal, ich glaube, ich finde eventuell doch eine Lösung. Komm mal mit mir in die Katakomben. Ich habe da ein Sammelsurium an aussortierten Büchern und vielleicht ...«

Frau Turner sah Anna verschmitzt an, drehte sich auf dem Absatz um die eigene Achse und marschierte in energischem Schritt auf einen abgelegenen Raum zu, um dort durch eine Seitentüre zu verschwinden. Anna hatte alle Mühe, mit ihr Schritt zu halten.

»Katakomben, was meint sie denn damit?«, ging es Anna durch den Kopf. »Das sind doch unterirdische Gewölbe, in denen früher die Toten bestattet wurden.«

Sie holte tief Luft und im Schweinsgalopp ging es eine Wendeltreppe abwärts. Anna wurde von einem leicht modrigen Geruch empfangen und nach der ersten Kurve
war es plötzlich stockfinster. Sie blieb abrupt stehen und tastete sich mit den Händen nach vorne. Frau Turners klappernde Schritte waren gut zu hören, hielten aber dann inne.

»Wo ist er denn nur?«, war die Stimme der Bibliotheks­leiterin zu hören.

Mit einem Mal ging das Licht an der Decke an und Anna sah erleichtert wieder die Stufen.

»So, jetzt habe ich den Schalter gefunden«, drang es an
ihr Ohr.

»Vielleicht verbirgt sich ja hinter der Türe am Ende der Treppe wirklich ein Paradies in Sachen München für mich«, überlegte Anna.

Hoffnung und Freude stiegen in ihr auf, und so folgte sie Frau Turner in den geöffneten Raum.

»Igitt, hier riecht es ja wie fünf Jahre nicht gelüftet«, dachte Anna und zog sich ihr Halstuch vor die Nase.

Die Hüterin der Bücher blieb vor einem großen Pappkarton, der einmal »Bananen aus Costa Rica« beherbergt hatte, stehen und nahm den eng sitzenden Deckel ab.

Buechereikeller

»Da müsste es sein«, grummelte sie vor sich hin, schüttelte dann jedoch bedauernd den Kopf. »Ich hätte schwören können, dass hier Bücher zum Thema München eingeordnet sind, aber ...«

Sie blickte suchend über die aufgetürmten Kisten und Kartons und prüfte immer wieder deren Inhalt, in der Hoffnung, doch noch das passende Buch für Anna zu finden. Diese sah ihr anfangs fieberhaft dabei zu und hoffte auf einen Volltreffer. Doch nach einiger Zeit schwand bei Anna die Zuversicht. Leicht geknickt sah sie sich im Keller der Bücherei um, während Frau Turner Pappschachteln mit schwungvoll beschrifteten Etiketten wie: »Nudeln aus Bella Italia« oder »Haferkekse aus Schweden« öffnete und kopfschüttelnd wieder schloss. Als Nächstes waren die Boxen mit »Olivenöl in Kanistern« und »Saftorangen aus Sizilien« an der Reihe. Langsam verlor Anna die Hoffnung, doch noch ein passendes Buch für ihr Referat zu bekommen, denn Frau Turner hob einen Deckel nach dem anderen ab, um dann immer wieder traurig den Kopf zu schütteln. Plötzlich kam eine Mitarbeiterin der Bücherei ganz aufgeregt in den Raum geeilt.

»Hier, gerade neu angeliefert!«, rief sie und hielt triumphierend ein Buch in die Höhe. »Ich habe vorhin gehört, dass Anna ein Buch über München sucht. Dieses hier haben wir letzte Woche bestellt und soeben wurde es vom Paketdienst geliefert. Es ist der erste Band einer ganz neuen Buchreihe zur Gründung Münchens und es kann sogar in der Schule gelesen werden. Bingo! Anna, ich glaube, wir haben das große Los gezogen!«

Frau Turner überflog das Inhaltsverzeichnis und durch­blätterte prüfend das Buch. Daraufhin glitt ein Lächeln über ihr Gesicht und sie drückte die neue Lektüre der vollkommen überraschten Anna in die Hand.

»Wirf gleich einmal zu Hause einen Blick hinein! Du wirst sehen, es lohnt sich. Du kannst es dir gerne für drei Wochen ausleihen.«

Anna sah voller Erwartung auf das Buch in ihren Händen. Sie war überrascht und hocherfreut, als sie den Titel las.

2. Der Überfall

Der restliche Nachmittag zog sich für Anna zäh wie Kau­gummi. Wann endlich konnte sie heimlich und in Ruhe in ihrem Buch über die Gründung Münchens zu lesen beginnen? Ständig kam ihre Mutter ins Zimmer, hatte irgendwelche Fragen bezüglich ihrer Essenswünsche für das Abendbrot oder legte die gebügelte Wäsche in den Schrank. Anna wollte auf keinen Fall, dass Mama das ausgeliehene Buch sah und somit auch noch hinter ihr Geheimnis des doppelt benoteten Referates kam. So beschloss Anna, den Schatz im Regal hinter den Tierbüchern zu verstecken und immer nachts heimlich zu lesen. Das war ihrer Meinung nach das Sicherste, um unentdeckt zu bleiben.

Bewaffnet mit einer Leselampe ging Anna abends zeitig ins Bett und hörte ihre Mutter erstaunt fragen: »Dass du um diese Uhrzeit freiwillig in dein Bett gehst Anna, das ist ja wirklich neu. Bist du krank? Das würde jetzt gerade noch fehlen, so knapp vor den Ferien. Kaum auszudenken, ich müsste mir dann Urlaub nehmen.«

Anna rollte genervt die Augen und wartete, bis sie von der Mama noch einen Gutenachtkuss bekam. Sie ließ das Temperaturfühlen über sich ergehen, und als die Türe dann endlich geschlossen wurde, griff sie unter ihr Kopfkissen, holte das bereitgelegte Buch hervor und schlug den Einband auf. Anna begann die ersten Worte zu lesen und ihr Staunen wurde immer größer.

Es war noch früh im Jahr 1158 und die immer kräftiger werdende Sonne griff gierig nach den letzten Schneeresten. Das Schmelzwasser des Gebirges ließ den Fluss mit seinen Wasserarmen und Rinnsalen zu einem reißenden Strom anwachsen. Er grub sich seinen Weg durch das Land und bildete ein breites Flussbett ganz nahe einer Siedlung, die »apud Munichen« hieß. Das Holzkirchlein und die bescheidenen Häuser der einfachen Leute lagen auf einer Hochebene, geschützt vor den immer wiederkehrenden Hochwassern des wilden Gebirgsflusses, den sie Isar nannten. In den nahen Wäldern kamen bald die Rehkitze und Hirschkälber auf die Welt. Andere Tiere erwachten aus ihrem Winterschlaf und Frühlingsblumen spitzten bereits neugierig aus der Erde. Die Siedler freuten sich auf die kommenden, wärmer werdenden Monate. Garantierte ihnen doch ein sonniges Jahr ohne Hochwasser und Hagelschlag eine gute Ernte und somit ein sicheres Überleben. Die Männer des kleinen Ortes arbeiteten gerade in ihren Werkstätten, wie der Schusterei, den Schmieden, Tischlereien oder Mühlen. Ihre Frauen erledigten die Hausarbeit, schleppten Brunnenwasser herbei, bereiteten Brotteig zu oder schlichteten Holz in der Wohnstube neben der offenen Feuerstelle, um weiterhin eine warme Mahlzeit zubereiten zu können. Einige Kinder fütterten die Nutztiere, wie Hühner, Gänse, Schweine und Ochsen, oder halfen den Eltern bei den sonstigen Arbeiten. Nur ein kleines Mädchen war nicht in der Siedlung, denn sie war bereits früh morgens zum Reisigsammeln in die Kälte hinausgegangen. Und dieses
Mädel namens Anna kauerte gerade angstvoll und schutz­suchend hinter einem Busch, um nicht entdeckt zu werden.

»ANNA?«

Anna wiederholte nochmals den letzten Satz, denn was sie gerade gelesen hatte, war kaum zu glauben. Doch auch beim zweiten Mal durchlesen stand da immer noch derselbe Name, nämlich: ANNA!

»Das Mädchen heißt ja wie ich, das glaub ich jetzt nicht!«, rief sie begeistert aus und las voller Eifer in ihrer neuen Lektüre weiter.

Anna musste sich verstecken, denn sie hörte aus nächster Nähe ein grollendes Donnern, verursacht von vielen Pferdehufen. Die Reiter kamen sehr schnell angeritten und waren bereits zu erkennen. Sie trugen lange Kettenhemden und reich verzierte Topfhelme mit Sehschlitzen. Die tief stehende Wintersonne blendete Anna, und so sah sie erst recht spät, dass alle große Schilde und lange Schwerter bei sich trugen. Ihre Angst wuchs, denn sie wusste bereits, dass nur Ritter ein Schwert tragen durften und somit Kämpfer waren.

»Warum reiten so viele bewaffnete Männer so früh morgens des Weges? Woher kommen sie denn überhaupt angeritten? Wollen sie unser Dorf überfallen und plündern?«

Anna überlegte ängstlich, was das Erscheinen der Reiter zu bedeuten hatte. Auch Bogenschützen konnte sie nun unter ihnen erkennen. Sie kauerte sich noch tiefer in ihr Versteck hinein. Niemand konnte sie dort entdecken und die Sicht auf die bewaffnete Reitergruppe war ungestört. Äste piksten schmerzvoll in ihre Wange, den Hals und den Oberarm und der noch leicht gefrorene Boden war unangenehm kalt an den nackten Füßen. Annas Aufregung war jedoch so groß, dass sie diese leichten Schmerzen kaum bemerkte. Plötzlich hielten die Reiter direkt vor ihr auf einer Wiese an. Die Pferde schnaubten, wieherten und tänzelten nervös. Einige Tiere begannen sofort zu grasen. Sie schienen wohl schon länger unterwegs zu sein. Ein Mann wendete sein Pferd und blickte nun zu den Reitern in die Runde. Das schien der Anführer zu sein. Sein Gewand war sehr schön. Über seinem Kettenhemd trug er einen Waffenrock mit Reitschlitzen. Auf seinem Schild und dem herrlich blau leuchtenden Schulterumhang erkannte Anna einen Löwen in einem Wappen.

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»Dieser Mann musste wohl eine hohe und wichtige Persönlichkeit mit großem Gefolge sein und der Löwe könnte das Wappen eines Adeligen darstellen«, vermutete sie.

Alle Männer wandten sich ihm aufmerksam zu, als er zu sprechen begann. Anna konnte ein paar Wortfetzen verstehen. Der Mann sprach von einer neuen Brücke und über den Salzhandel. Sie strengte sich sehr an, noch weitere Worte zu erhaschen, aber ein Pferd wieherte laut, und so sah sie nur, wie der Anführer in Richtung Fluss nach unten zeigte.

Anna war leicht verwirrt und ihre Neugierde wurde immer größer: »Klar, dort unten floss die Isar, aber es existiert bestimmt keine Brücke«, überlegte sie.

Zu ihrer Enttäuschung reihten sich nun die Männer hinter dem Pferd des prächtigen Mannes ein und ritten hinter ihm her in Richtung Isar, wohin er soeben gezeigt hatte. Auch Anna erhob sich nach einer Weile aus ihrem Versteck, klemmte das große Reisigbündel unter den Arm und lief geduckt den Reitern hinterher. Kurz bevor es steil nach unten in das Flussbett der Isar ging, kauerte sie sich hinter einen Erdwall, ihren Aussichtspunkt. Die Sonne wärmte Annas Körper etwas auf und es gefiel ihr, die Augenzeugin einer ganz rätselhaften Situation zu sein. Sie sah neugierig den Reitern hinterher. An der Spitze der Gruppe erkannte sie den außergewöhnlich schön gekleideten Mann mit seinem blauen Umhang und dem Löwen-Wappen. Gemächlich ritten alle talwärts bis an das Ufer der Isar. Dort stiegen sie ab, sprachen miteinander, deuteten nach links und rechts, liefen hin und her und stiegen schließlich wieder auf die wartenden Pferde auf. Sie entfernten sich in Richtung der Alpen. Anna verlor sie aus dem Blick.

»Sicherlich werden Mama und Papa große Augen machen, wenn ich das erzähle«, dachte sie nicht ganz ohne Stolz.

Schnell lief Anna nach Hause, denn sie musste noch die Stube mit dem Reisigbesen ausfegen, Haselnüsse knacken und die Hühner und Enten füttern.

3. Rhabarberblätter

Anna erwachte am nächsten Morgen kurz nach dem ersten Hahnenschrei. Vor der Stubentüre waren aufgeregte Stimmen zu hören. Leider verstand sie diesmal nicht eine einzige Silbe und ihre Neugierde wuchs ins Unendliche. Sie fragte ihre Mutter, ob sie denn wüsste, was die Frauen vor der Türe so aufgeregt ratschten. Ihre Mama nickte und erzählte, dass sie selbst bereits vor dem ersten Sonnenlicht am Brunnen zum Wasserholen war und ein paar wenige Wortfetzen von den vorbeiziehenden Holzfällern aufgeschnappt hatte. Diese waren gerade auf dem Weg in den nahen Wald und einer war auf­geregter als der andere.

»Ich habe sie von Reitern und einer Brücke sprechen hören«, erklärte die Mutter. »Die Waldarbeiter waren ängstlich und tuschelten von einem gewaltsamen Überfall.«

Anna hielt die Luft an und ihre Aufmerksamkeit wuchs rasant an. Sie war gespannt wie ein Flitzebogen und hoffte darauf, von ihrer Mama mehr zu erfahren. Aber leider war das alles, was sie ihr berichten konnte. Nur diese drei Worte, und die bekam Anna nun gar nicht mehr aus dem Kopf: Reiter – Brücke – Überfall. Sie war froh, ihr gestriges Erlebnis beim Reisigsammeln doch niemandem erzählt zu haben. Als der Rest der Familie von der Arbeit eintraf, sprach keiner dieses Thema an, und so beschloss Anna, ihr Geheimnis tatsächlich vorerst für sich zu behalten.

»Reiter – Brücke – Überfall. Was bedeutet Überfall?«, zermürbte sich Anna den Kopf.

Die Reiter hatte sie mit eigenen Augen gesehen. Das Wort »Brücke« war deutlich vom Anführer der Gruppe zu hören gewesen ... aber ... »Überfall«? Der prächtige Mann hatte gestern lange mit seinem Gefolge gesprochen und Richtung Isar gedeutet. Konnte es sein, dass sie einen Überfall planten oder vielleicht sogar bereits durchgeführt hatten? Eine Gänsehaut machte sich auf ihren Armen bemerkbar und Anna bekam Angst.

»Wer wird oder war bereits überfallen worden?«, grübelte sie, während sie ihre langen Haare zu einem dicken Zopf flocht.

Anna beschloss, zum Holzkirchlein Sankt Peter am Bergerl zu gehen. Dort war bestimmt mehr in Erfahrung zu bringen. Von der Anhöhe aus hatte man einen freien Blick in Richtung Isar und der großen Sandbank inmitten des Flusses.

»Wer weiß, vielleicht sind die Männer von gestern auch wieder zu sehen«, dachte sie und stopfte sich noch schnell ein paar Löffel Hafergrütze in den Mund. Sie schnappte sich den Milchkrug für den Pfarrer, den sie ihm jeden Morgen bringen musste, und schlüpfte aus der Stube in die wärmende Sonne des beginnenden Tages.

Rasch lief Anna das Petersbergl hinauf zur Kirche. Dort standen ein paar Frauen zusammen und tuschelten aufgeregt. Anna brachte dem Pfarrer den Milchkrug in seine Stube und näherte sich dann neugierig der kleinen Gruppe, indem sie anfing, Gänseblümchen zu sammeln. Dabei kam sie ohne Mühe immer näher an die Frauen heran. Niemand schenkte ihr Beachtung und Anna sammelte fleißig Blümchen. Sie kroch langsam weiter, bis sie schließlich in Hörweite war, und spitzte ihre Ohren. Diese waren mittlerweile fast so groß wie Rhabarberblätter – es kam ihr jedenfalls so vor. Dass Ohren, so groß wie Rhabarberblätter, aber ein unschätzbarer Vorteil sein konnten, das stellte Anna nun hocherfreut fest. Tatsächlich sprachen die Damen der Siedlung über genau die Geschichte, von der sie sich doch so sehr erhofft hatte, mehr zu erfahren. Das Weib des Hufschmieds war besonders gesprächig und versetzte die anderen ins Staunen. Anna konnte hören, wie sie von schnellen Reitern sprach. Ihre Schilderungen wurden von Ausrufen wie »Nein!« und »Das glaub ich nicht!« unterbrochen. Genau in diesem Moment kam die Gattin des Schäfflers, des Fassmachers, hinzu und zu Annas Glück begann die Erzählung noch einmal von vorne. Sie verschaffte sich einen Platz knapp zu Füßen der kleinen Gruppe und pflückte weiter völlig unbeachtet ein Gänseblümchen nach dem anderen. Ihre Ohren wuchsen bereits wieder auf die Größe eines Rhabarberblattes an. Die Gemahlin des Hufschmieds erzählte, dass sie zu früher Morgenstunde bereits folgende Geschichte von einem Mann gehört habe, der isarabwärts aus der Siedlung Föhring angelaufen kam. Schreckensbleich, vollkommen verstört und immer noch am ganzen Leibe schlotternd, hatte er ihr erzählt, was sich in der nächtlichen Dunkelheit zugetragen hatte:

Brennendes_Foehring

»Eine Gruppe berittener Männer hat die hölzerne Brücke zu Föhring sowie den Ort überfallen und in Brand gesteckt.«

»Überfall!«, da war es wieder, das rätselhafte Wort. Anna dachte angestrengt nach, was sie über das Nachbardorf wusste:

Föhring befand sich eine gute Stunde Fußmarsch isarabwärts von »apud Munichen« entfernt. Eine wichtige Handelsbrücke und eine Anlegestelle für Flöße, eine sogenannte Floßlände, befanden sich vor der Siedlung an der Isar. Tagein, tagaus wurde Salz von den Orten Reichenhall und Hallein mit voll beladenen Salzfuhrwerken über die hölzerne Brücke transportiert. Die Salzhändler wollten weiter nach Augsburg auf den Markt und mussten für die Überfahrt einen Silbertaler Brückenzoll bezahlen.

Da sprach die Gattin des Hufschmieds weiter:

»Berittene Männer sind kurz vor Sonnenaufgang über den Ort Föhring hergefallen. Mit brennenden Fackeln haben sie alles in Brand gesteckt. Das Mauthäuschen an der Brücke, die Brücke selbst und viele Behausungen brannten lichterloh. Die lodernden Flammen verschlangen alles Brennbare und verbreiteten in der Dunkelheit ein gespenstisches Licht. Die Wachen, die in dieser Frühlingsnacht Dienst hatten, wurden bei einer unerlaubten Feier überrascht. Sie hatten bereits mehrere Fässer Wein ausgetrunken und entsprechend weit war ihr Singen zu hören. Dies machten sich die Angreifer zunutze, denn sie umzingelten die Wachstube, versperrten die Fenster und Türen und ließen keinen mehr ins Freie. So waren die Wachen samt ihren geleerten Weinfässern überrumpelt und eingesperrt worden.«

Anna war tief erschrocken über die Geschichte, die sie gerade hörte. Aufmerksam lauschte sie der Schilderung der Hufschmiedin weiter.

»An der Brücke standen aufgrund des Trinkgelages nur zwei Aufpasser, als der Angriff völlig unerwartet aus der Dunkelheit heraus begann. Der aufgeschreckte Brückenwart flüchtete in die nahe Uferböschung und rollte sich abwärts in den Fluss hinein. Die Bewohner, die allesamt noch schliefen, sprangen vollkommen überrumpelt von ihren Nachtlagern auf. Frauen und Kinder flüchteten in den hinteren Teil der Siedlung. Hektisch liefen die Männer mit ihren Holzeimern zum Brunnen, um Löschwasser zu schöpfen. Alle riefen und brüllten durcheinander, die Kinder weinten angstvoll und die Tiere wieherten, blökten oder gackerten panisch. Die lodernden Flammen erleuchteten den Nachthimmel taghell und fraßen gierig und schmatzend das trockene Holz der Häuser auf. Funken tanzten wild durch die Dunkelheit. Das stürmische Bimmeln der Feuerglocke war in diesem Durcheinander kaum zu hören. Doch die Siedler konnten gegen die hungrigen Flammen wenig ausrichten. Die Brücke und das dortige Zollhäuschen lagen nach kurzer Zeit in Schutt und Asche. Herumliegende Bretter und Balken glühten und glimmten und es roch nach verkohltem Holz. Die Angreifer waren nach ihrer Tat im wilden Galopp isaraufwärts geritten. Es war nur noch eine Staubwolke von ihnen zu sehen. Erst jetzt sahen die Überlebenden das ganze Ausmaß des Überfalls und versorgten die Verletzten – ihre Nachbarn und Freunde. Aus den Büschen krochen Verwundete hervor und der Brückenwart schleppte sich tropfnass vom Flussufer hoch zu den anderen. Die Sonne ging am Horizont auf und in weiter Ferne sahen die überfallenen Föhringer die Bergkette der Alpen. Aus dieser Richtung kamen seit vielen Jahren täglich viele Salztransporte, um die Brücke zu überqueren. Doch nun war der Flussübergang zerstört und niemand konnte zukünftig die Isar an dieser Stelle überqueren und den fälligen Zoll am Häuschen bezahlen. Bisher hatten die Salzhändler viel Geld in den Ort gebracht, denn die Mehrzahl der Reisenden übernachtete in den Unterkünften oder stillte ihren Hunger und Durst in den Wirtschaften und Weinschänken. Niemand hatte jemals mit einem bewaffneten Überfall gerechnet. Dazu war es bisher zu friedlich gewesen im schönen Föhring.«

Die Hufschmiedin beendete ihre lange und sehr ausführliche Schilderung.

»So war das also gewesen«, dachte Anna traurig.

Jetzt konnte sie sich das Wort »Überfall« erklären. Die armen Leute aus Föhring.

»Gibt es die Siedlung überhaupt noch?«, überlegte sie entsetzt und ihre Gedanken wanderten erneut an diesen Ort, der nie mehr so sein würde, wie er einmal war:

Anna hatte immer so großen Spaß, wenn die ganze Familie mit dem Ochsenkarren nach Föhring fuhr. Dreimal im Jahr wurde regelmäßig auf dem großen Platz inmitten der Siedlung ein Markt abgehalten und Anna durfte bereits ein paar Mal mit ihren Eltern mitfahren. Sie liebte die herrlichen Düfte der angebotenen Speisen, die bunten Farben, den Rummel und das Gedränge der Bauern und Händler.

»Krautköpfe, Krautköpfe«, lockten die Rufe aus der einen
Ecke und wurden lauthals vom gegenüberliegenden Ver­kaufs­stand
überschrien: »Feiner Bienenhonig, cremig und süß. Kommt᾿s probieren, ihr Leut!«

Besonders hatten es ihr aber die fahrenden Leute angetan. Sie jonglierten mit Bällen und Ringen und führten so manches gewagte Kunststück vor. Anna durfte immer bei ihnen verweilen, während der Rest der Familie dem eigent­lichen Besuch des Marktes, dem Einkauf von Vorräten, nachgegangen war. Anna kehrte in Gedanken wieder zurück zu dem Wort »Überfall« und sie überlegte: »Die Reiter mussten also direkt von isarabwärts aus Föhring gekommen sein, als ich gestern frühmorgens im Busch saß und sie belauschte und beobachtete. Die Pferde waren hungrig und müde, so als ob sie eine längere Wegstrecke hinter sich gebracht hätten.«

Ihr fiel nochmals der prächtige Anführer ein und sie war entsetzt: »Dieser herrlich anzusehende Mann war also ein schrecklicher Bösewicht?«

Anna fröstelte es am ganzen Körper. Sie saß immer noch im grünen Gras und pflückte gedankenverloren Gänseblümchen. Immer mal wieder eins, sie wollte ja nicht auffallen. Da wurde sie plötzlich aus ihren Gedanken gerissen, denn der Pfarrer kam aus der Holzkirche Sankt Peter auf die Gruppe Frauen zugelaufen, verscheuchte alle und empfahl ihnen, lieber ihrer Arbeit im Stall und in der Kuchl nachzugehen, als hier den Tag bereits mit Getratsche zu beginnen. Die Frauen murrten ärgerlich, denn selten bekamen sie so eine spannende Geschichte zu hören. Ihr Leben war geprägt von schwerer Arbeit. Zögerlich löste sich die kleine Ansammlung auf. Die Hufschmiedin ging zu ihrem Mann in die Schmiede, um frisches Wasser zu bringen. Die Frau des Holzfällers packte die schmutzige Wäsche unter den Arm und verschwand Richtung Kaltenbach, um dort zu waschen. Das Weib des Fischers trug einen Eimer mit Forellen in die Stube hinein, um sie auszunehmen und einzusalzen. Eine andere holte den vorbereiteten Brotteig, um am Brotbackofen zu backen, und die Gemahlin des Wagners hob ein umgefallenes Wagenrad auf, bevor sie hinter dem Haus verschwand, um die Hühner zu füttern. Anna saß im Gras und konnte die vielen Stängel der Gänseblümchen kaum zwischen ihren Händen halten. Hatte sie wirklich so viele gesammelt? Nun ja, die Geschichte der Hufschmiedin war sehr spannend gewesen und die Wiese bereits voller erster Gänseblümchen.

»Die werde ich Mama bringen, ich habe ihr schon lange keine Überraschung mehr gemacht«, dachte sie und lief das Petersbergl hinab, zurück zu ihrer Behausung. In der Wohnstube suchte sie einen Holzbecher, füllte diesen mit Brunnenwasser aus einem Krug und stellte die Blumen auf den Holztisch. Es war Zeit, Toni und ihre kleine Rasselbande zu suchen.

4. Benedictus mit dem Schuh

Anna schnappte sich den vollen Holzeimer und lief hinaus in die Gasse.

»Toni, Toni«, rief sie.

Aber weit und breit war Toni nicht zu sehen.

»Toni!«, schrie sie erneut.

Und da – endlich. Anna hörte als Antwort ein lautes Grunzen. Toni kam mit ihren Ferkeln um die Ecke gesaust. Eine quiekende Meute steuerte in rasantem Tempo auf sie zu und umringte ihre Beine erwartungsvoll. Anna liebte es, die Schweine zu füttern. Sie wollte noch ein wenig mit den Ferkeln spielen und gab ihnen nicht gleich die gesamten Küchenabfälle, die ihre Mutter im Holzeimer gesammelt hatte.

Da bemerkte Anna einen Schatten. Irgendjemand stand hinter dem Holzstapel am Schuppeneck und hatte sie wohl beobachtet. Warum kam denn dieser neugierige »Jemand« nicht zu ihr? Die Ferkel stießen Anna gierig mit den Rüsseln an die Wade und wollten ein paar Leckereien haben, doch Anna war irritiert und spähte immer wieder neugierig in Richtung des Schattens. Nun bewegte sich dieser rätselhafte »Jemand« leicht rückwärts – wahrscheinlich aus Angst vor einer Entdeckung. Anna stellte den Eimer vorsichtig auf den Boden und näherte sich auf Zehenspitzen dem Schatten, der daraufhin ruckartig verschwand.

»Da läuft doch eine Person vor mir weg«, dachte Anna und griff blitzschnell mit der linken Hand hinter den Holzstapel. Doch ihre Finger langten ins Leere. Ihr Herz pochte wild und nach einem tiefen Luftzug schritt sie mutig um die Ecke. Nichts war zu sehen.

»Ich bin doch nicht blind«, dachte sie und schlich leise an der Rückwand ihrer Behausung entlang, bis sie an das nächste Hauseck gelangte. Anna blieb stehen und presste sich gegen die Holzbretter. Sie schloss die Augen und holte tief Luft, denn jetzt überkam sie eine schreckliche Angst. Wer war das und warum wurde sie beobachtet? Weswegen flüchtete der Unbekannte vor ihr? War das ein Dieb oder einer der Reiter dieses Bösewichtes, der sie jetzt fangen wollte, weil sie die Männer belauscht hatte? Anna fasste allen Mut zusammen und lugte vorsichtig um die Ecke. Sie sah gerade noch, wie etwas Kleines auf allen Vieren hinter dem Weidenbusch verschwand. Da die Blätter noch nicht ganz entfaltet waren, konnte sie gut die Umrisse eines Menschen erkennen.

»Wer bist du und warum läufst du vor mir weg?«, rief sie aufgeregt in Richtung dieses »Jemands«.

Sie bekam keine Antwort. Ihr Herz pochte wild, ihre Knie wurden wachsweich und der Atem ging stoßweise. Anna fasste noch einmal all ihren Mut zusammen und fragte erneut: »Du, sag was, sonst komme ich und schlag dir ein Holzscheit über den Kopf.«

Nichts – kein Mucks war zu hören, doch die Gestalt bewegte sich nun krabbelnd rückwärts und – plumps – fiel polternd auf den Boden.

»Aua«, hörte Anna ein Wimmern und war total überrascht: »Das ist doch die Stimme eines Knaben.«

Mutig stapfte sie in Richtung »Aua«.

Der Junge wollte fliehen und versuchte sich rasch aufzu­rappeln, doch Anna war schneller und packte ihn fest am Arm.

»Warum versteckst du dich vor mir und erschreckst mich so stark?«, rief sie zornig.

Dabei schüttelte sie den verstörten Knaben. Plötzlich ließ sie ihn entsetzt los und fragte stotternd: »Wie, ... wie schaust du denn aus? Du bist ja überall schwarz und stinkst nach Rauch.«

Der Junge wischte mit dem Handrücken über seine geröteten Augen und zuckte mit den Schultern: »Feuer, alles kaputt.«

»Was, ... was ist kaputt?« Anna sah ihn fragend an.

»Alles«, bekam sie zur Antwort.

»Aha, alles ... und ... was ist alles?«

Da plötzlich gingen Anna wieder die drei rätselhaften Worte durch den Kopf: Reiter – Brücke – Überfall. Blitzschnell schoss ihr eine Frage durch den Kopf und die folgenden Worte überschlugen sich fast: »Sag, Knabe, kommst du aus Föhring?«

Der rußgeschwärzte Junge nickte zögerlich und blickte sie aus ängstlichen Augen an.

»Was, ... was hast du gesehen?«, rief sie aufgeregt.

Anna war klar, dass sie hier einen Augenzeugen vor sich hatte. Jemand, der den Überfall sicherlich genau schildern konnte, doch der Junge blieb stumm.

»Sag was, oder kannst du nur die Worte ›Aua‹, ›Feuer‹ und ›alles kaputt‹ sagen?«, rief sie fassungslos und schüttelte ihr Gegenüber, um die Frage zu verstärken.

»Aua«, jammerte er nun erneut und deutete mit dem Finger auf seine Füße.

Anna sah nach unten und erschrak, denn der Junge hatte große rote Wunden und Blasen, die teilweise geschwärzt und aufgeplatzt waren. Zudem trug er nur einen Schuh. Am linken Bein zog sich von der großen Zehe bis fast zum Knie ein breiter blutverkrusteter Schnitt, der an den Rändern schwarz eingefärbt war. Sein knielanges Überhemd hatte ein paar Brandlöcher und viele rußgeschwärzte Stellen.

Anna_Ben

»Oh, das muss ja schrecklich wehtun«, rief Anna entsetzt.

»Aua«, bekam sie zur Antwort.

»Komm mal mit. Ich werde dir die Wunden mit Brunnen­wasser auswaschen. Das macht meine Mama auch immer, wenn ich eine Verletzung habe.«

Beide wankten um Annas Behausung herum zur Eingangs­türe. Beherzt stütze sie den Verletzten beim Gehen.

»Warum schwankt denn der Junge so komisch hin und her?«, überlegte Anna und lugte nochmals nach unten zu seinen Füßen.

»Oh, du Ärmster, du hast ja eine Behinderung! Du hinkst und ziehst dein linkes Bein nach«, rief sie mitleidig und hatte alle Mühe, den Jungen nun festzuhalten.

Er war erschrocken über den plötzlichen Ausruf und wollte weglaufen. Doch Anna hielt ihn eisern fest.

»Du bleibst hier bei mir«, bestimmte sie in festem Befehlston und bugsierte ihn in die Stube.

»Setz dich dort auf den Hocker, ich hole Wasser. Ich will dir helfen.«

Sanft drückte sie den Jungen auf die Sitzfläche. Angsterfüllt blickte er Anna an. Seine schwarzen Locken hingen ihm tief ins Gesicht und über die Schultern. Mit seiner Stupsnase und den grünen Augen sah er fast wie ein Mädchen aus. Das Auswaschen der Wunde war nicht einfach, denn Anna hatte keine Übung in dieser Tätigkeit. Immer wieder hörte sie den Jungen »aua, aua« wimmern.

»Wie heißt du eigentlich?«, fragte sie ihn nach einiger Zeit, denn sie war neugierig und wollte mehr über den Überfall erfahren.

»Benedictus«, bekam sie zur Antwort. »Ich bin Benedictus.«

Anna wusste, dass Behinderte, die verächtlich von der Bevölkerung »Krüppel« genannt wurden, meistens verstoßen wurden, kein festes Zuhause hatten und von milden Gaben lebten. Sie sah ihn mitleidig an und fragte dann vorsichtig: »Hast du denn eine Mama und einen Papa?«

Benedictus schüttelte verneinend seinen Kopf. Anna schnür­­te es leicht die Kehle zu.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739400327
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Oktober)
Schlagworte
Gründung Münchens Salzhandel Abenteuergeschichte Heinrich der Löwe Mittelalter Stadtgeschichte Münchens Roman Abenteuer Kinderbuch Jugendbuch Humor

Autor

  • Petra Breuer (Autor:in)

Petra Breuer ist als Autorin und Verlegerin tätig. Sie schreibt Schulbücher, Sachbücher, Bildwörterbücher und Kinderbücher mit einem Schwerpunkt auf Wissensvermittlung – u.a. zu historischen Themen. Zudem unterstützt sie Volkshochschulen aus München und dem Umland sowie diverse Museen als freie Dozentin und Kursleiterin. Ein Schulklassenprogramm rundet das Programm ab. Weitere Informationen zur Person, den Werken und aktuellen Aktivitäten finden Sie im Netz.
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Titel: Der Angriff des Löwen