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Zwei wie Fisch und Igel

Romantische Komödie

von Delilah Quinn (Autor:in)
187 Seiten

Zusammenfassung

Eben noch im 7. Himmel, jetzt ohne Bräutigam, ohne beste Freundin und ohne Dach über dem Kopf. Da kommt ein unverhofftes Erbe ganz gelegen – aber sowas passiert nur in billigen Liebesromanen. Mags weiß das, denn sie ist Bibliothekarin und hat schon mehr davon gelesen, als sie zugeben will. Was nichts daran ändert, dass Mags allein in einem Motelzimmer sitzt, mit dem Brief eines Anwalts in der Hand, der sie in einer Erbangelegenheit sprechen möchte. Und 24 Stunden später findet sie sich in einem Ort ohne Vokale wieder, in einem kleinen Cottage mit der Aufgabe, um keinen Preis John Bigelow einen Fuß über dessen Schwelle setzen zu lassen. Kein Problem, denn der Mann ist ein unerträglicher Widerling, genau wie im Testament beschrieben. Nur leider sind die Einwohner von Llywyllyn wild entschlossen, Mags in ihre Gemeinschaft zu integrieren und zu neuem Glück zu verhelfen. Und das heißt John Bigelow...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Über das Buch

Eben noch im 7. Himmel, jetzt ohne Bräutigam, ohne beste Freundin und ohne Dach über dem Kopf. Da kommt ein unverhofftes Erbe ganz gelegen – aber sowas passiert nur in billigen Liebesromanen. Mags weiß das, denn sie ist Bibliothekarin und hat schon mehr davon gelesen, als sie zugeben will.

Was nichts daran ändert, dass Mags allein in einem Motelzimmer sitzt, mit dem Brief eines Anwalts in der Hand, der sie in einer Erbangelegenheit sprechen möchte. Und 24 Stunden später findet sie sich in einem Ort ohne Vokale wieder, in einem kleinen Cottage mit der Aufgabe, um keinen Preis John Bigelow einen Fuß über dessen Schwelle setzen zu lassen. Kein Problem, denn der Mann ist ein unerträglicher Widerling, genau wie im Testament beschrieben. Nur leider sind die Einwohner von Llywyllyn wild entschlossen, Mags in ihre Gemeinschaft zu integrieren und zu neuem Glück zu verhelfen. Und das heißt John Bigelow...


Schnaufende Igel

Heute ist der beste Tag meines Lebens! Das weiß ich einfach! Und er wird es für eine ganze Woche lang bleiben, denn in exakt einer Woche heirate ich den Mann meiner Träume: Peter Gilligan, ein Mann, der dem Prinzen auf dem weißen Ross so nah kommt, wie es ein erfolgreicher Antiquitätenhändler nur kann!
Und für die Hochzeit ist heute Generalprobe, also schon fast das richtige Ding. In klassischen Märchen kommt das Brautkleid aus einer Haselnuss, aber die moderne Zeit verlangt ihre Opfer. Deshalb kommt mein Traum aus Tüll und Spitze aus China. Aber Cherry – beste Freundin und Brautjungfer – hat geschworen, dass ihre Mutter so gut nähen kann, dass die eine oder andere Abweichung der Realität zur virtuellen Version kein Problem ist.

Und dann dieses unglaublich gute Gefühl, den Schlüssel in die Wohnungstür zu stecken und aufzuschließen! Noch ist es Peters Wohnung, in sieben Tagen unsere. Was wesentlich vernünftiger ist als umgekehrt. Denn ich teile mir mit Cherry eine größere Abstellkammer, in der drei einer zu viel sind – und dann würde Cherry auf der Straße stehen. Ich wäre schon eher umgezogen, doch Peter ist ein äußerst wohlerzogener Gentleman. Deshalb darf ich meine erste Nacht hier erst in sieben Tagen verbringen – als Mrs. Gilligan! Trotzdem fühle ich mich hier schon zu Hause und habe den Nachsendeauftrag bei der Post bereits gestellt.

Ein Blick auf den kleinen Schrank im Flur bestätigt, dass der funktioniert: zwei Briefe mit meinem Namen liegen da.

»Nicht das schon wieder!« stöhne ich. Den Absender erkenne ich mit einem Blick: das recycelte Papier, der Stempel des lokalen Briefzustelldienstes – das schreit förmlich Stadtverwaltung. Und ich weiß auch was drinsteht. Ganz sicher wirft mir die Verkehrsbehörde vor, bei Rot über die Ampel Hurst Ecke Hamilton gefahren zu sein. Dabei weiß die ganze Welt, dass der verdammte Blitzer schon in den letzten zwei Sekunden der Grünphase Bilder macht. Mindestens drei Bürgerinitiativen kämpfen gegen dieses Ding1 – und beeindruckten die Behörde damit nicht im Geringsten. Was heißt, dass es einen Widerspruch und einen Gerichtstermin geben wird – danach ist der Wisch erledigt. Wenigstens kennt Peter einen guten Anwalt, der das Ganze erledigt, ohne dass man selbst vor dem Richter erscheinen muss.

Egal – heute ist nicht der Tag für schlechte Laune. Den zweiten Brief schaue ich mir gar nicht erst an, der erste hat schon gereicht. Ich stopfe beide in meine Handtasche, hänge meine Jacke ordentlich an den Haken der Flurgarderobe, schiebe die Schuhe in das kleine Schuhregal darunter und stelle die Tasche darauf. Peter ist ein sehr ordentlicher Mensch. Ich bewundere das. Es ist einer der Punkte, den ich an ihm mag: Seine Wohnung ist die materialisierte Ordnung. Alles – vom Grundriss über die Einrichtung und die Accessoires – atmet Planung, Struktur und Zuverlässigkeit. Gut, es gibt den einen oder anderen Änderungsbedarf. Nicht ändern im Sinne von komplett umkrempeln – ich habe genug Beziehungsratgeber gelesen, um zu wissen, dass das unmöglich ist – sondern ändern im Sinne von: auflockern.

In Peters Wohnung hat alles seinen festen Platz. Nicht einmal ein aufgeschlagenes Buch liegt herum – das ist so eine Winzigkeit, an der wir arbeiten müssen. Für Peter sind Bücher nur dann von Interesse, wenn sie einen antiquarischen Wert haben. Nicht ungewöhnlich für einen Antiquitätenhändler. Für mich sind Bücher von Interesse, wenn sie existieren. Das ist nicht ungewöhnlich für eine Bibliothekarin. In Peters Wohnung ist kaum ein Buch zu finden, dabei hat er Platz für eine ganze Bibliothek! Ich neige nicht dazu, Arbeit mit nach Hause zu bringen, aber genug Raum wäre hier. Wir haben einen Kompromiss geschlossen: Er hat mir zum ersten Jahrestag einen eReader geschenkt. Gefüllt mit tausenden Büchern. Für ihn ist das irre romantisch. Und für mich irgendwie auch.

Mit einem gekonnten Schwung kicke ich die Tür zum Wohnzimmer auf. Und erinnere mich sofort daran, vorsichtiger zu sein. Ich habe Cherry den Zweitschlüssel zur Wohnung gegeben – eigentlich müsste sie schon da sein. Falls sie gerade hinter der Tür gestanden hätte, dann wäre es ... Gut, sie stand nicht da. Stattdessen sehe ich ihre Wäsche auf dem Boden verstreut liegen. Wenn Peter das sehen würde, bekäme er einen Anfall. Zum Glück hat er für heute Wohnungsverbot, er soll mich ja schließlich nicht vor der Trauung im Brautkleid sehen! Cherry hat es garantiert nicht mehr ausgehalten und mit der Anprobe schon ohne mich angefangen. Typisch Cherry, das nehme ich ihr nicht übel. Aber nach den Geräuschen, die aus dem Schlafzimmer kommen, hat sie in letzter Zeit etwas mehr zugelegt, als gut für sie ist. Oder für das Kleid. Wirklich: die Laute, die sie macht, wenn sie morgens in ihre Jeans steigt, klingen wie ein halbprofessionelles Wrestling-Match. Und was ich jetzt höre, klingt nicht viel besser. So, als ob sie da drin einen Haufen schnaufender Igel bändigen muss. Ein kleines Lächeln gleitet über mein Gesicht. Das ist die Strafe dafür, dass sie meine Creme brulée allein aufgefuttert hat!

»Das sind ja zwei ganz entzückende Igelschnäuzchen!« höre ich in dem Moment aus dem Schlafzimmer.

Hat sie da wirklich Igel drin? Und warum war das Peters Stimme?

Es ist erstaunlich, wie bekloppt man manchmal sein kann. Ich habe tatsächlich gedacht, Cherry hat ein paar verwaiste Igel gefunden, sie mitgebracht und mit Peter zusammen um die Tiere gekümmert.

Statt dessen stehe ich zwei geschlagene Minuten da und begreife nicht, was ich sehe. Nein, es hat nichts mit Igeln zu tun. Und die Igelschnauzen, um die sich Peter hingebungsvoll kümmert, gehören nicht zu einer schützenswerten Tierart. Sondern zu einer vom Aussterben bedrohten Schlampe!

»Was verdammt noch mal ...« stammle ich, als die beiden mich endlich bemerken. Peter springt aus dem Bett, als hätte er auf einer 200.000 Volt Stromleitung gelegen. Und Cherry versucht sich zu verstecken, was nicht leicht ist, da Peter sich die Decke geschnappt und um die Hüfte gewickelt hat. Und dann sagt er den blödesten Satz, den Männer in so einer Situation sagen können:
»Es ist nicht wonach es aussieht!«
»Mags, es tut mir leid!« kiekst Cherry.
»Es wird dir richtig leidtun, wenn du in einer Minute noch da bist!« Cherry quiekt nochmal wie eine verschreckte Feldmaus und rennt aus dem Schlafzimmer. Keine zehn Sekunden später höre ich die Haustür klappen.
»Hör zu Mags, lass uns drüber reden! Es sieht jetzt wirklich ein wenig kompliziert aus, aber ...«
»Aber was? Denn weißt du, wie es aussieht? Als ob der Mann, mit dem ich in wenigen Tagen den Bund fürs Leben schließen will, mich mit meiner besten Freundin betrügt!«
»Es war mehr so spontan ...«
»Denkst du im Ernst, das macht es besser?«
»Es war ein Ausrutscher!«
»Auf einer Bananenschale? Mit einem unglücklichen Landeort? Und sind dabei deine Klamotten an einem Nagel hängengeblieben?«
»Mags, hör zu und sei vernünftig!« Genau der falsche Satz. Jetzt vernünftig sein? Das weckt die Löwin in mir.
»Nein Peter, du hörst zu! Falls du glaubst, dass ich einen verlogenen Bastard heirate, der hinter meinem Rücken alles flachlegt, was nicht bei drei auf den Bäumen ist, dann hast du dich geschnitten! Du bist raus! Ich will dich nie wieder sehen! Die Hochzeit kannst du dir vergessen! Verschwinde aus meinem Leben!«
»Aber Hase ...«
»Nichts da mit Hase! Pack deine Sachen und geh!« Peter räuspert sich.
»Mags, ich wollte dir nur noch eins sagen.«
»Das es aus ist? Darauf kannst du Gift nehmen! Mit dir will ich nichts mehr zu tun haben!«
»Nein. Ich will nur sagen, dass das meine Wohnung ist. Und du gehst. Ich glaube, das ist am besten so.« Es ist sein Grinsen. Das überhebliche, selbstsichere, arrogante Grinsen auf seinem Gesicht. Dieses Grinsen muss verschwinden.
Ich schnappe mir das Erstbeste, was mir in die Hände kommt, und ziehe es ihm über den Schädel. Ich bin schon im Wohnzimmer, als ich höre, wie er auf die Dielen knallt, aber das ist mir egal. Ich schnappe meine Tasche, Jacke und Schuhe und verlasse diese Wohnung. Endgültig.


1 und gegeneinander

Scherbenhaufen

Warum ist das Leben so ungerecht? Ich meine, ich bin nicht der Ex-Verlobte, der die Ex-Beste-Freundin flachgelegt hat und trotzdem bin ich es, die in einem versifften Motelzimmer sitzt!

Peter abzuservieren war das einzig Richtige, keine Frage, und ich kann nicht zurück in meine alte Bleibe. Denn dort sitzt Cherry, die dort nicht nur sitzt, sondern auch im Mietvertrag steht. Noch erniedrigender, als sie beim Sex mit meinem Ex-Verlobten zu erwischen, wäre es, ihr jeden Tag in der Küche, im Flur, im Bad und auf der Treppe zu begegnen, ohne sie rausschmeißen zu können.

Deshalb tue ich gerade das einzige, was mir übrig bleibt: Ich sitze auf dem Bett, von dem ich hoffe, dass es frisch bezogen wurde, und grüble. Das ist leider keine dauerhafte Lösung. Um genau zu sein, ist es nur die Lösung für heute Nacht. Mehr lässt meine Kreditkarte nicht zu. Okay, für eine Flasche Wein hat es auch noch gereicht. Die leistet mir bei meinen Grübeleien Gesellschaft, hilft mir aber sonst auch nicht weiter. Zur Sicherheit durchwühle ich nochmal meine Handtasche - vielleicht versteckt sich ja da drin ein Schein, der mir zu einem weiteren Tag Obdach verhilft.

Statt dessen finde ich den Blitzerbescheid der Stadtverwaltung und den zweiten Brief. Der kommt definitiv nicht von der Stadtverwaltung. Das Papier ist viel zu gut, ich würde fast sagen: handgeschöpft. Auf dem Umschlag prangt neben einem altehrwürdiges Wappen der Name eines Anwalts in goldenen Buchstaben. Der Name sagt mir absolut nichts, genauso wenig wie das Wappen. Was kann ein Anwalt von mir wollen? In flachen Liebesromanen würde der Brief die Ankündigung einer Erbschaft enthalten, die mir ein unbeschwertes Leben bis zum Tod ermöglicht. Gerne verknüpft mit einer bescheuerten Bedingung, wie zum Beispiel, dass ich innerhalb der nächsten drei Monate heiraten muss. Mit solchen Geschichten kenne ich mich aus. Das kommt davon, wenn man seine Ausbildung in einer kleinen Stadtbibliothek macht, deren Chef noch nichts von einem modernen Frauenbild gehört hat und junge Auszubildende in die Abteilung Belletristik und Unterhaltungsliteratur steckt. Statt Sachbücher, die das eigentliche Wunschgebiet besagter Azubine waren.

Ich muss zugeben, das bei Krimis und Liebesromanen wesentlich mehr los war als in den wissenschaftlichen Abteilungen. Und ich gebe zu, dass eine oder andere Buch während meiner Arbeitszeit gelesen zu haben. Vielleicht mehr als nur ein paar. Aber ich bin auch nicht wegen der Bezahlung Bibliothekarin geworden!

Unter der Opferung eines Fingernagels halte ich ein paar Sekunden später den Brief in den Händen. Das Ding ist tatsächlich handgeschrieben und der Schrift nach zu urteilen, hat der Schreiber sein Handwerk in einem mittelalterlichen Kloster gelernt, als er Bibelabschriften erstellt und handkoloriert hat. Sogar für mich dauert es ein paar Augenblicke, bis ich mich an den Stil gewöhnt habe.

Sehr geehrte Miss Magarete Pots!

Nur fürs Protokoll: Niemand, absolut niemand nennt mich Magarete. Mittlerweile nicht einmal meine Eltern, die den Namen in einem Zustand geistiger Umnachtung aus einer Mottenkiste ausgegraben haben müssen. Offiziell behaupten sie, mich nach meiner Ur-Ur-Ur-Ur-Großmutter benannt zu haben, aber warum sie den Namen einer Frau nehmen mussten, die schon tot war, bevor dieses Jahrhundert begann, erklärt das nicht.

Es tut mir aufrichtig leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihre hochverehrte Tante Josephine Amalia Magarete Pots am zweiten dieses Monats verstorben ist. Vor ihrem Ableben hat mich Mrs. Pots mit der Aufgabe beehrt, ihre irdischen Güter zu verwalten und an ihre Erben zu verteilen.

Ich musste Husten. Wahrscheinlich hat der Staub, der auf dieser Ausdrucksweise liegt, meine Atemwege gereizt. Josephine Amalia Magarete Pots? Der Typ musste sich geirrt haben. Vielleicht lag es am gleichen Nachnamen, aber ich hatte garantiert keine Tante, die so hieß. Seltsam nur, dass sie auch meinen Vornamen hat. Hatte. Unter vielen anderen. Die Sache mit den Verstorbenen ist mir noch nie so ganz leicht gefallen. Josephi ...? Ich schnappe mir mein Telefon und wähle die Nummer meiner Mutter. Sie geht ran, bevor es zum ersten Mal geklingelt hat.
»Hallo mein Liebling, wie geht es dir? Wir haben uns schon Sorgen gemacht, da war so ein seltsamer Anruf von Peter.« Meine Mutter beherrscht die hohe Kunst des Redens-ohne-zu-atmen. Die einzige Möglichkeit, sie zu stoppen, ist ihr einen metaphorischen Knüppel zwischen die Beine zu werfen.
»Mom, wie heißt Tante Fi mit vollen Namen?« Nach der Stille, die sofort herrscht, war das kein Knüppel, sondern ein Baumstamm.
»Du willst diese Person doch nicht etwa zur Hochzeit einladen?« Mom klingt, als würde ich versuchen, Hitler, Stalin und Putin mit an ihren Tisch zu setzten.
»Ganz sicher nicht. Sie ist tot.«
»Gott sei Dank! Ich hatte schon das Schlimmste befürchtet.« Wow. Das klingt hart. Mom ist die liebste Person auf der Welt, aber wenn sogar sie sich zu solchen Aussagen hinreißen lässt ...
»Nein, ich bin mir ganz sicher, dass Tante Fi nicht kommt. Ich will nur wissen, wie sie richtig heißt.«
»Ganz genau weiß ich das auch nicht mehr. Irgendwas Altertümliches. Josephine Emily oder so.«
»Josephine Amalia Magarete?«
»Das kann hinkommen.«
»Bin ich nach ihr benannt?«
»Ganz sicher nicht. Etwas anderes: Wir haben einen eigenartigen Anruf von Peter bekommen. Etwas wegen einer abgesagte Hochzeit?«
»Sorry, Mom, ich muss auflegen. Ich melde mich später wieder.« Der Tag war hart genug. Ich will ihn jetzt nicht nochmal durchkauen. Und Peter scheint das Wichtigste begriffen zu haben: Das es keine Hochzeit geben wird.

Also ist Tante Fi tatsächlich die richtige Person. Sie muss sowas wie das schwarze Schaf der Familie gewesen sein. Zumindest wurde ihr Name nie erwähnt. Und wenn doch, fiel die Temperatur gleich um zehn Grad und tödliche Blicke schossen durch den Raum.
»Von dieser Person wird in meinem Haus nicht mehr gesprochen!« hatte Granny gesagt. Dabei habe ich sie gar nicht gefragt, sondern Mom. Das war, bevor Granny die Hörgeräte brauchte. Aber nach dem zu urteilen, wie über Tante Fi in meiner Familie nicht gesprochen wird, ist sie entweder eine Mörderin, oder hat allen weiblichen Verwandten die Männer ausgespannt.

Zwecks Eröffnung des Testamentes bitte ich Sie, sich bei mir zum nächstmöglichen Zeitpunkt zu melden. Senden Sie mir dazu am besten ein Telegramm oder sprechen Sie persönlich vor. Die Adresse können Sie dem Brief entnehmen.

Telegramm? Aus welchem Jahrhundert stammt dieser Typ? Kann man heute überhaupt noch Telegramme versenden?

Sieht aus, als wüsste ich, womit ich morgen meine Zeit verbringe.

Mehr tot als lebendig

Nachdem ich am nächsten Morgen aus dem Motel ausgecheckt habe – für die nächste Nacht kann ich mir höchstens ein Gemeinschaftszimmer in einem Hostel leisten, falls die Erbschaft nicht der Knaller wird – versuche ich die Adresse des Anwalts zu erreichen. Ein Taxi entfällt aus den bekannten Finanzproblemen, aber ein Busticket gibt das Budget noch her. Leider liegt die Adresse des Anwalts in einer Gegend, in der die Menschen nicht auf Busfahrten stehen. Ich nähere mich dem Ziel mit den Öffentlichen so weit, wie es dem Beförderungsmittel des gemeinen Volkes möglich ist; danach bin ich zu Fuß unterwegs. Und falle damit auf wie ein bunter Hund. Die einzig anerkannte Fortbewegungsart in diesem Viertel ist alles vom Mercedes aufwärts und davon die SUV-Variante. Smart-Fahrer genießen hier die gleiche (Nicht-)Anerkennung wie Skater anderswo und wer etwas drunter fährt, etwa Audi, VW oder – Gott bewahre! – Fiat, der gehört zum Personal oder zur Putzkolonne. Wer zu Fuß geht, dem wird die Polizei wegen Herumstreunens auf den Hals gehetzt. Ich weiß das. Wenigstens war die Streife so nett, mich an meiner Zieladresse abzusetzen. Wenn ich selbst den Notruf wähle, dürfte auch meine Rückfahrt gesichert sein.

 

Dabei gibt es keinen Grund für mich, hier Minderwertigkeitskomplexe zu entwickeln: Mein Uni-Abschluss ist wahrscheinlich um Klassen besser als der der meisten Anwohner hier. Und wenigstens habe ich einen, im Gegensatz zu den zugehörigen Frauen. Dafür habe ich keine Silikonbrüste und keine Lacoste-Handtasche. Verdammt, ich habe nicht mal einen Verlobten! Und ganz wider Willen fühle ich mich klein, unbedeutend und am Ende.

Da hilft es nichts, dass die Adresse, die ich finde, sich als ein kleineres Schloss entpuppt. Ich raffe mein letztes bisschen Selbstbewusstsein zusammen und klingle am Vordereingang und nicht an der kleinen Tür für das Personal.

 

Es dauert ein paar Minuten. Acht um genau zu sein. Die Tür öffnet sich immer noch nicht, dafür beschleichen mich erste Selbstzweifel. Gibt es hier eine Kamera? Wurde ich nicht für würdig befunden, mir die Tür zu öffnen? Ob die mich für eine Bettlerin halten? Vielleicht haben die da drin gleich die Polizei gerufen, aber ich habe einen Termin – oder so ähnlich – und einen Brief, mit dem ich das beweisen kann. Sobald hier eine Streife auftaucht, werde ich den Beamten schon deutlich machen, dass man eine Mags Pots nicht so behandeln kann! Ich werde ihnen sagen, dass diese feinen Herrschaften sich wohl einbilden, dass sie mit mir umspringen können, wie sie wollen. Aber da sind sie an die Falsche geraten! Nicht mit mir! Ich werde den Beamten befehlen, gegen die Tür zu wummern und die sofortige Öffnung im Namen des Gesetzes zu verlangen!

Aber das kann ich gleich selbst tun. Ignorieren lasse ich mich nicht! Erfüllt von gerechtem Zorn hebe ich die Faust und will damit notfalls die Tür zerschmettern, da schwingt diese leise auf und ein altes, fragiles Männchen erscheint im Türrahmen.

Der Greis schnappt nach Luft, als er meine Faust sieht. Ich lasse sie blitzschnell sinken, um keinen falschen Eindruck zu erwecken. Gleichzeitig mit der Faust gehen meine Selbstsicherheit und meine Eloquenz in den Keller. Ich sehe nur den alten Mann, dem eine falsche Geste einen finalen Herzkasper bescheren kann. Ich hoffe, es ist nicht meine. Also eine meiner Gesten, die ihm den Rest gibt.

Der Herzkasper fällt aus. Statt dessen legt dieser Mann ein Benehmen an den Tag, von dem ich zuletzt in Stolz und Vorurteil gelesen habe.
»Mit wem habe ich die Ehre?« Ich widerstehe dem Drang, mich umzudrehen und zu schauen, wer da Ehre versprüht. Er meint mich, sagt eine kleine, hilfreiche Stimme in meinem Kopf. Ich muss zugeben, ich bin beeindruckt – so hat mich bisher niemand angesprochen. Ich strecke ihm meine Hand hin.
»Mags Pots. Ich habe einen Brief bekommen von einem Anwalt, aber die Adresse muss falsch sein. Ich dachte, hier ist sein Büro oder so.«
»Sie sind also die Nichte von Madame Pots. Sehr erfreut.« Er ergreift meine Hand und schüttelt sie dreimal wie einen Pumpschwengel. Dann bittet er mich herein, führt mich in ein Büro – welches, um das zu bemerken, größer ist als jede Wohnung, die ich mir in meinem Leben leisten konnte – bietet mir einen Platz an und verschwindet dann, um einen Tee zu machen. So lange wie er wegbleibt, ist die Küche wohl am anderen Ende des Hauses. Und er hat keine Sekretärin, die er rumscheucht. Dafür ist der Sessel, in dem ich Platz nehme, angenehm weich und warm, viel besser als das Bett, in dem ich die Nacht verbracht habe. Ich muss gegen meine Müdigkeit ankämpfen.

Anscheinend habe ich den Kampf verloren. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist, aber auf dem kleinen Tisch vor mir dampft der Tee in der Tasse, daneben liegt etwas Gebäck und der alte Mann tippt mir auf die Schulter.
»Verzeihen Sie mir, ich befürchte, ich habe mich nicht vorgestellt. Mein Name ist Jacob Ignatius Immelsheim. Ich war und bin in gewisser Weise immer noch, der Anwalt ihrer verstorbenen Tante.«
»Echt? Wie alt sind Sie?« Mit einem Ruck richtet sich Ignatius auf1.
»Ich sehe keinen Zusammenhang zwischen meiner Aufgabe und meinem Alter.« Und da sagt man, nur Frauen seien eitel.
»Entschuldigung, das war indiskret.«
»Korrekt.« Ohne auf meine Frage weiter einzugehen, zieht er ein dickes Bündel Papier aus dem Regal hinter seinem Schreibtisch und setzt sich auf das Sofa mir gegenüber. Ich überbrücke die Zeit mit der Tasse Tee und dem Gebäck. Von beidem ist nichts mehr da, als er sich endlich wieder an mich wendet.
»Wie ich Ihnen bereits mitgeteilt habe, ist Ihre Tante Josephine Amalia Magarete Pots von uns gegangen. Vor ihrem Ableben hat sie mich mit der Durchführung ihres letzten Willens betraut. Da das Testament allein Sie betrifft, werde ich auf einen offiziellen Termin zur Testamentseröffnung verzichten und Ihnen den Inhalt der Papiere gleich vorlesen.«
»Sagen Sie bloß, ich erbe ein Haus!« Möglicherweise ist Geduld nicht meine Stärke. Wenn ich jemals eine Definition des Wortes indigniert benötige, dann ist es der Blick, den der Anwalt mir zuwarf.
»Ein Cottage, ja. Aber ich würde Ihnen gern den letzten Willen ihrer Tante eröffnen. Habe ich Ihnen übrigens bereits mein Beileid zum Ausdruck gebracht?«
»Nicht mit so wenigen Worten. Ist irgendeine lächerliche Bedingung an das Erbe geknüpft? Dass ich bis zum nächsten Monatsersten heiraten muss? Heiraten ist nämlich gerade ein ganz schlechtes Thema. Mein Verlobter hat mich auf die Straße gesetzt, nachdem ich ihn verlassen habe.« Ich halte es für möglich, dass der liebe Ignatius aus einer Zeit stammt, als Frauen noch nicht ohne Erlaubnis reden durften. Er ist erstarrt und der Mund steht offen. Ich denke wieder an den Herzkasper und halte meine Klappe.
»Bei einem Erbe dieses Umfangs sind natürlich bestimmte Bedingungen einzuhalten. Aber keine davon betrifft ihren ehelichen Status. Falls Sie erlauben, würde ich das Testament nun verlesen.« Er räuspert sich, rückt seine Brille zurecht und beginnt.

Liebe Magarete!

Ich weiß, du kennst mich kaum. Es gab einige unangenehme Dinge in der Vergangenheit zwischen dem Rest der Familie und mir, für die du nichts kannst. Aber die mich daran gehindert haben, meiner Aufgabe als Patentante und Namenspatronin wirklich gerecht zu werden. Da du das einzige Mitglied der Familie Pots bist, das Vernunft und Güte an den Tag legt, vererbe ich dir mein Cottage. Es ist klein, aber sehr gemütlich. Ich habe mein ganzes Leben darin verbracht. Es ist mir wirklich ans Herz gewachsen und ich hoffe, dass du dich genauso wohl darin fühlst, wie ich. Und dass du das Haus genauso pfleglich behandelst, wie ich das getan habe.
Und das bedeutet auch, dass du es nie im Leben an John Bigelow verkaufen darfst. Er ist ein aufgeblasener, rechthaberischer, unerträglicher, arroganter Schnösel und dein neuer Nachbar. Falls er auch nur einen Schritt über die Schwelle des Cottages setzt, wird das Erbe rückgängig gemacht und das Haus dem nächsten Abrissunternehmen kostenlos übereignet. Mein lieber Jacob Ignatius wird peinlichst genau auf die Erfüllung dieser Bedingung achten. Jede freundschaftliche Verbindung zu John Bigelow wird mit allen juristischen Mitteln geahndet. Und das ist kein Scherz. Jacob wird bestätigen, dass ich im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte bin und was alles sonst noch dazu gehört.
Das ist so ziemlich alles. Keine Ahnung, was sonst noch in einen letzten Willen gehört. Nur eins noch: du scheinst eine ganz vernünftige junge Frau zu sein. Tut mir leid, dass wir uns zu meinen Lebzeiten nicht besser kennengelernt haben.

Deine Tante Fi

PS: Das Auto kannst du auch haben. Ich glaube, es fährt noch.

Als Ignatius fertig ist, sitze ich mit offenem Mund da. Bin ich wirklich in einem billigen Liebesroman gelandet? Sowas passiert doch nur im Märchen, oder? Bevor ich dem Anwalt die Frage stellen kann, beantwortet er sie schon.
»Ich kann bestätigen, dass ihre Tante zum Zeitpunkt der Niederschrift im vollen Besitz ihrer geistigen Kräfte war. Alle von ihr verfügten Bedingungen sind völlig legal und juristisch ohne Probleme durchzusetzen. Zur korrekten Durchführung des Vorgangs bleibt mir nur die Frage zu stellen: Nehmen Sie das Erbe an?« Ein Haus? Für mich? Als Alternative zur Brücke? Na rate mal! Laut sage ich:
»Ja!«
»Dann werde ich die notwendigen Schritte einleiten und Ihnen die Dokumente zukommen lassen. Es ist übrigens eine Bedingung, dass über die genauen Details des Testaments und des Briefes, den ich gerade verlesen habe, absolutes Stillschweigen bewahrt werden muss.« Mir vollkommen egal. Ich nicke.
»Könnte ich den Schlüssel gleich haben?«
»Es besteht kein Anlass zur Eile, junge Frau! Ich mag etwas älter aussehen, aber mit meinem Ableben ist in nächster Zeit nicht zu rechnen!«
»Dafür bin ich im Moment genau genommen obdachlos.«
»In diesem Fall kann ich wohl dem geregelten Ablauf vorweg greifen.« Bei diesen Worten zieht er zwischen den Papieren einen Schlüssel hervor, der im siebzehnten Jahrhundert auf dem Amboss einer Dorfschmiede aus einem Stück gediegenen Eisenerzes gehämmert wurde. Wenn das Schloss genauso alt ist wie der Schlüssel und das Haus genauso alt wie das Schloss, dann handelt es sich wohl nicht um ein kleines Häuschen in der Vorstadt.
»Wo genau liegt das Cottage?«
»In Llywyllyn.« Er muss das geübt haben, denn er hat keinen Atemzug mit der Antwort gezögert.
»Wohl in der vokalfreien Zone, oder?«
»In Wales, wenn ich richtig unterrichtet bin.«

Na ja, das ist besser als unter einer Brücke.


1 Ich habe ein furchtbares Namensgedächtnis. Aber Ignatius – das bleibt haften, auch wenn der Rest sofort aus meinem Gedächtnis verschwindet.

Am Ende der Welt

Ignatius hat mir außerdem das Geld für die Fahrkarte nach Llywyllyn ausgelegt. Mit dem Hinweis, dass zum Erbe kein Bargeld gehört und dass ich mir mit der Rückzahlung Zeit lassen kann. Außerdem hat er mir den Rat gegeben, nach Möglichkeit schnell den erwähnten Mangel an Bargeld zu beheben, denn auf mich würde etwas zukommen, was Erbschaftssteuer heißt und nicht in Naturalien bezahlt werden darf.

Llywyllyn ist laut der Aussage des Anwalts eine Ortschaft zwischen Stadt und Dorf. Das heißt, es war früher mal eine Stadt, nach der jetzigen Bevölkerungszahl müsste es aber als Dorf eingeordnet werden. Was in Llywyllyn nur jemand laut sagt, der einen ausgeprägten Todeswunsch hat.

Es gibt alles, was es in einer Stadt geben muss: einen Bäcker, einen Shop, die Post, eine Polizeistation, ein Gericht – wenn auch nur an zwei Tagen pro Woche – und einen Bahnhof, der noch in Betrieb ist. Wenn auch nur als Bedarfshaltestelle. Dieser ganze Luxus ändert nichts daran, dass die Menschen eine eher dörfliche Mentalität haben. Dank meiner Verwandtschaft mit Tante Fi dürfte ich aber keine Probleme damit haben, akzeptiert zu werden, meint Ignatius. Und diesen Umstand – so lautete sein Rat – sollte ich nutzen. Ansonsten würden ich und meine Nachkommen die nächsten zwei- bis dreihundert Jahre als Neuzugezogene gelten.

Nicht dass ich plane, die nächsten zwei- bis dreihundert Jahre in Llywyllyn zu verbringen. Fünf oder sechs Monate vielleicht, bis ich wieder auf die Beine gekommen bin, beziehungsweise bis ich einen Käufer für das Cottage gefunden habe.

Wunder Nummer Zwei des Tages bestand darin, dass Llywyllyn tatsächlich mit einem Zug zu erreichen ist. Und einem Bus. Gut, man schafft es nicht ganz an einem Tag, aber das Ende der Welt liegt eben nicht gleich um die Ecke. Es ist dunkel, als ich aussteige, und von Taxis hat man in diesem Ort auch noch nichts gehört. Dank Smartphone und GPS finde ich das Haus trotz der mangelnden Straßenbeleuchtung. In London hätte ich vielleicht Bedenken gehabt, nachts allein durch dunkle Gassen zu laufen, aber hier ist erstens kein Mensch und zweitens bin ich durch die Grübelei auf der Zugfahrt so angepisst, dass ich mir fast einen Taschendieb wünsche, an dem ich Dampf ablassen kann.

Vom Haus ist auch nicht zu viel zu sehen – es liegt abseits der Straße und außerhalb des Lichtkegels der Straßenlaterne. Mit der Taschenlampe finde ich das Schlüsselloch, schließe auf und stolpere über die Türschwelle. Ich bin todmüde und das einzige, was ich noch will, ist ins Bett und schlafen. Obwohl: Ich hätte mich erkundigen sollen, wie genau Tante Fi gestorben ist. Und vor allem wo. Also Couch statt Bett – das will ich mir doch erst bei Tageslicht ansehen. Kunstlicht ist Fehlanzeige. Bestimmt hat der Sparfuchs von Anwalt aus Kostengründen sofort den Stromvertrag gekündigt. Was soll's, das hat bis morgen Zeit. Die Couch ist nicht das Highlight der Rückenergonomie - aber ich bin noch jung. Eine Nacht da drauf wird mich nicht umbringen. Oder dauerhafte Schäden hinterlassen. Ich habe nicht vor zu meckern. Ich habe vor, mindestens bis morgen Mittag zu schlafen.

Ich erwache vier Stunden später.

Nein, das ist falsch! Ich erwache nicht, ich werde aus dem Schlaf gerissen. Zuerst kann ich das Geräusch nicht einordnen: Es klingt wie ein Posaunenchor1, eine explodierende Wasserleitung, ein bremsender Güterzug und das alles auf einmal. Es ist so schnell weg, dass ich nicht einordnen kann, wo es herkommt. Ein Erdbeben? Brennt es irgendwo? Ein Luftangriff? Haben die hier noch nicht mitbekommen, dass der Krieg zu Ende ist? Sind das die Sirenen, muss ich irgendwohin fliehen? Mein Herz rast wie ein ängstliches Karnickel. Mein Unterbewusstsein bekommt die Uhrzeit mit: 4:35. Morgens. Das ist weit von Mittag entfernt. Ich habe gefühlt zwei Minuten geschlafen, also was ist das?

Mein Herz beruhigt sich gerade wieder, als zum zweiten Mal der Lärm die Stille zerreißt. Und irgendwo ganz hinten in meinen Erinnerungen erkennt mein Unterbewusstsein ein Muster: Es heißt Kikeriki.

Ich bin in der Hölle gelandet.


1 Mit unglaublich schlecht gestimmten Posaunen.

Eine neuer Morgen, ein neuer Tag, ein neues Leben

Einschlafen kann ich nicht mehr. Ich bin zwar so müde, dass mir die Augen im Stehen zufallen – aber sobald sie das tun, kräht dieses Mistvieh wieder. Und dann scheint die Sonne durch das Fenster genau in mein Gesicht. Wo ist Smog, wenn man ihn mal wirklich braucht? Ach richtig. Ich bin ja auf dem Land.

Seufzend schwinge ich meine Füße vom Sofa. Mmh. Ein Holzfußboden ist doch nicht ganz schlecht. In Peters Wohnung war der Boden gefliest, in meiner lag Plastikbodenbelag. In Peters Wohnung habe ich kalte Füße bekommen, in meiner klebten sie manchmal – aber nur, wenn Cherry mit dem Putzen dran war. Das hier ist definitiv besser. Es ist echtes Holz, sogar mit Astlöchern. Langsam schaue ich mich um und sehe, was ich gestern Abend alles verpasst habe.

Tante Fi hatte es wohl mit Gemütlichkeit. Und den 70ern. Jedenfalls sieht es so aus, als wäre ihre Innenraumgestaltung in diesem Jahrzehnt stehengeblieben. Genau betrachtet, hat die Tapete das gleiche Muster wie das Sofa, auf dem ich geschlafen, und die Decke, unter der ich mich verkrochen habe. Das ist nicht schlecht, wenn man auf altbackene Gemütlichkeit steht, aber ich bin eine junge Frau auf dem Höhepunkt ihrer Lebenskraft und voller Tatendrang. Nur gerade nicht gerichtet auf tapezieren, sondern auf frühstücken. In einem meiner seltenen Anfälle von Weitsicht habe ich mir gestern Abend auf dem Bahnhof noch ein Sandwich mitgenommen, von dem ich hoffe, dass es keinem meiner nicht so seltenen Anfälle von Heißhunger heute Nacht zum Opfer gefallen ist. Die ich laut Cherrys Behauptung öfter habe, obwohl ich mich nicht daran erinnern kann. Aber was soll ich so einem Flittchen schon glauben? Bestimmt hat sie selbst den Kühlschrank geplündert und es dann mir in die Schuhe geschoben.

Das Sandwich ist noch da. Und Kaffee finde ich in der Küche, zusammen mit einem Wasserkocher, für den sich mittlerweile das eine oder andere Heimatmuseum interessieren dürfte. Ein paar Minuten später sitze ich mit dem dampfenden Becher in der einen Hand und dem Brot in der anderen kauend am Tisch und schaue aus dem Fenster.

Und sehe eine Gestalt, die durch den Garten streicht.

So unwahrscheinlich es klingt: Die Situation überfordert mich. Was soll ich tun? Ich habe noch nie einen Einbrecher entdeckt, der durch meinen Garten schleicht. Ich hatte noch nie einen Garten. Ich bin in London geboren, aufgewachsen und wollte da nie weg. Mich mit Kriminellen herumzuschlagen, die durch meinen Garten streunen, gehörte nie zu meinem Lebensplan. Soll ich die Polizei rufen? Bis die da ist, ist der Verdächtige weg. Ich schaue wieder nach draußen. Korrektur: Die Verdächtige. Es ist eine Frau. Und sie ist bewaffnet. Definitiv. Sie hält einen Stock in der Hand, der an einem Ende so ein Metalldingens hat. Mit dem sie über den Boden streicht. Klaut man so Möhren? Falls ja, ist sie furchtbar schlecht darin, denn es bleiben nur Blätter in den Zinken hängen. Die sie zu einem Haufen zusammenschiebt.

Das sieht jetzt nicht wirklich nach Einbrecher aus.

Ist das überhaupt mein Garten? Oder ist das nur eine Nachbarin, die auf ihrer Wiese Ordnung schafft? Vielleicht sollte ich nachfragen. Was kann schon passieren? Schließlich geht es auf dem Land viel friedlicher zu als in der Stadt, wenn man den Erzählungen glauben darf. Andererseits: Ist es auf dem Land einfach nur leichter, die Opfer verschwinden zu lassen? Zum Beispiel, es im Garten zu verbuddeln? In der Stadt hat ja keiner einen Garten.

Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen, schnappe einen Schrubber - und scheitere an den Schuhen. Meiner etwas überstürzten Abreise habe ich zu verdanken, dass ich in den letzten zwei Tagen nur hochhackige Schuhe getragen habe. Nicht Mörderischer-Vamp-in-High-Heels-hochhackig, sondern Bibliothekarinnen-hochhackig, trotzdem ungeeignet für einen nicht asphaltierten Gartenweg. Vor der Hintertür steht ein Paar Gummistiefel, die während ihrer ganzen Existenz nichts anderes als den Garten gesehen haben. Sieht aus, als bin ich drauf und dran, eine Meile in Tante Fis Schuhen laufen. Sie wird ja nicht in diesen Schuhen gestorben sein. Und zusammen mit dem Bademantel, den ich mir überwerfe, sieht es nicht ganz so schlimm aus.

Ich reiße die Tür auf und trete nach draußen. Merke: Morgenluft auf dem Land ist kälter und feuchter als in der Stadt. Aber davon lasse ich mich nicht abhalten. Ich stiefle auf die Frau zu und stelle fest: Der Garten gehört definitiv zum Haus. Zu meinem Haus. Also ist es mein Garten und diese Frau hat kein Recht, hier zu sein. Ich räuspere mich. Und werde ignoriert.
»Hallo?« rufe ich. Keine Reaktion. Taub stellen. Das kenne ich. »Hallo!« wiederhole ich lauter. Immer noch keine Reaktion. Ich spiele mit dem Gedanken, dieser Person mit dem Schrubber eins über den Schädel zu ziehen und die Frage: Wer sind Sie? durch die Polizei beantworten zu lassen. In dem Moment dreht sich die Frau um.

Der Schrei, der den Morgen zerreißt, kann mit dem infernalischen Gekreisch des Hahns heute Morgen mühelos mithalten. Mir fällt der Schrubber aus der Hand und ich mache einen Schritt zurück. Dabei bleibe ich an irgendwas hängen und sitze gleich darauf auf meinem Allerwertesten.
»Mein Gott, haben Sie mich erschreckt!« brüllt mich die Frau an. Ha! Wer sitzt denn auf den vier Buchstaben? »Müssen sie sich so anschleichen?« Dabei bin ich gar nicht geschlichen. Die Frau muss schwerhörig sein. Dabei sieht sie ziemlich jung aus, vielleicht sogar jünger als ich.
»Ich habe mich nicht angeschlichen«, verteidige ich mich. Die Frau runzelt die Stirn, als würde sie mich nicht verstehen. Dann zieht sie die Stöpsel aus den Ohren. Für einen Moment höre ich sogar aus zwei Meter Entfernung Rap aus den Lautsprechern plärren, bevor sie die Musik stoppt und mir die Hand hinhält.
»Entschuldigung, das war der falsche Start. Sie müssen Mags sein, Fi hat mir schon viel über sie erzählt.« Ich bin baff. Wer ist die Frau, der Tante Fi so viel – und vor allem was? – über mich erzählt hat, während ich nicht einmal was über Tante Fi weiß? »Kommen Sie, ich helfe Ihnen hoch.« Immer noch verdattert greife ich nach der dargebotenen Hand und lasse mich hochziehen. »Ich bin Amy. Fi hat mich gebeten, mich um ihren Garten zu kümmern, solange niemand im Haus wohnt.«
»Ja. Und ich bin Mags«, stottere ich. »Aber das wissen Sie ja schon.«
»Wann sind Sie angekommen? Hätte ich gewusst, dass Sie da sind, hätte ich geklingelt.«
»Heute Nacht. Ich denke nicht, dass mich jemand gesehen hat, als ich gekommen bin.« Das bringt die junge Frau zum Lachen.
»Man merkt, dass Sie aus London kommen! Es hat garantiert jemand mitbekommen, dass jemand Neues in Llywyllyn ist. Ich war nur noch nicht im Little Corner, sonst hätte ich davon gehört. Aber wenn die Kartoffeln nicht ordentlich gehäufelt werden, dann wird die Ernte dieses Jahr mickrig.« Ich schaue an Amy vorbei auf den Fleck braune Erde, den sie bearbeitet hat. Tiefe Furchen ziehen sich mit geometrischer Exaktheit durch das Feld. Keine Spur von Kartoffeln. Die wachsen doch in ein oder zweieinhalb Kilo schweren Trauben, werden abgepflückt, in Netze verpackt und direkt an Mark&Spencers geliefert, oder? Was auch immer: Von dieser Frau scheint keine Gefahr auszugehen. Das sagt mir mein Bauchgefühl. Das gleiche Bauchgefühl, das mir versichert hat, dass Peter der Mann fürs Leben ist. Trotzdem: Sie lächelt und sieht nett aus.
»Ich hab gerade Kaffee gekocht«, höre ich mich sagen. »Wollen Sie nicht mit reinkommen? Und außerdem können wir uns duzen.« Amy lächelt noch breiter.
»Aber gerne doch! Da kann ich dir gleich das Wichtigste über Llywyllyn erzählen.«

Ich werde nie wieder eine Zeitung brauchen. So viel ist sicher. Und totale Überwachung? Schon längst Realität, zumindest wenn im Örtchen die McNamara-Schwestern wohnen. Es ist unmöglich, sich die ganzen Details zu merken, die Amy mir auftischt. Irgendwann zieht mein Hirn die Notbremse und schaltet auf Durchzug. Statt dessen betrachte ich Amy genauer. Sie ist jung, energiegeladen, hat schwarze, krause Haare in einer Masse, die jede Frau vor Neid erblassen lässt und eine Hautfarbe, die das reinste Kontrastprogramm zum Standard-Engländer darstellt. Ich vermute den Ursprung in Kenia oder Zaire, weil das die einzigen zwei Länder sind, die mir im Augenblick zu Afrika einfallen. Ich betrachte Amy etwas länger, möglicherweise starre ich sie dabei etwas merkwürdig an. Jedenfalls wird sie plötzlich still und ergreift meine Hand.
»Wie rücksichtslos von mir. Tut mir leid.«
»Was?« frage ich. Ihre Dauerbeschallung hält mich gerade davon ab, in Selbstmitleid zu zerfließen.
»Na ich rede und rede und rede und du hat gerade erst Tante Fi verloren. Sie war so eine wunderbare Frau.« Das wird von einem wirklich ernstgemeinten Seufzer aus tiefster Seele begleitet. Ich weiß, das ist wieder ein Klischee, aber besser kann ich es echt nicht beschreiben. »Du musst sie sehr vermissen.« Ich räuspere mich verlegen.
»Die Wahrheit ist, ich habe erst vor zwei Tagen erfahren, dass Tante Fi noch lebt. Oder lebte.« Darauf fällt Amy nichts ein. Ich zucke mit den Schultern und fange an zu reden, bevor sie es wieder tut. »Ich wusste, dass es da eine Tante gab. Ein schwarzes Schaf in der Familie, von der nie geredet wurde. Und wenn man gefragt hat, hieß es Klappe halten. Ich vermute, ich wurde nach ihr benannt, aber was wirklich passiert ist, weiß ich nicht.«
»Das ist krass«, sagt Amy.
»Hat sie dir mal was davon erzählt?« Amy schüttelt den Kopf.
»Ich hab nicht mal gewusst, dass sie keinen Kontakt zur Familie hat. Sie hat immer von euch geredet. Ab und zu jedenfalls«
»Wie war sie? Wenn ich sie schon nicht zu Lebzeiten kennengelernt habe, dann vielleicht jetzt.« Amy denkt eine Weile nach.
»Fi war die beeindruckendste Frau, die ich je kennengelernt habe. Mein Mann, Morgan, kam hier aus Llywyllyn. Wir haben uns in der Akademie kennengelernt, er wollte Landschaftsarchitekt werden, ich Innenarchitektin. Meine Eltern sind vor meiner Geburt aus Mosambique nach England gekommen, weil sie wollten, dass ihre Kinder sich jeden Traum erfüllen können. Und dann traf ich Morgan und Morgan war mein Traum.« So versonnen, wie sie lächelt, muss Morgan die Essenz dessen sein, was in allen Liebesschnulzen beschrieben wurde.
»Klingt perfekt.«
»Morgan war es. Aber nicht der Rest der Welt.«
»Lass mich raten: Eine Stadt voller Bleichgesichter im tiefsten Landgebiet – sie haben dich nicht mit offenen Armen empfangen.«
»Wie du sprichst, könntest du Diplomatin werden. Stimmt. Wir sind hierhergezogen, wir bekamen eine Tochter. Und Morgan bekam Krebs. Einen von der schlimmen Sorte. Er hat nicht mal Hennas ersten Geburtstag erlebt. Und seinen Sohn hat er nie kennengelernt.« Amy wird für einen Augenblick still. Und auch ich sage nichts, hauptsächlich, weil ich damit beschäftigt bin, nicht loszuheulen. Gegen Amys Geschichte kommen mir meine Probleme so unbedeutend vor. »Die Zeit danach war hart. Und ohne Fi hätte – ich weiß nicht, was ich gemacht hätte. Ich habe mich im Haus verkrochen und bin nicht mehr vor die Tür gegangen. Dann stand eines Tages Fi vor der Tür, hat mich geschnappt und durch die ganze Stadt geschleift.« Amy denkt einen kurzen Moment nach. »Ich glaube, das kam jetzt falsch rüber. Sie hat mich zu all ihren Freundinnen mitgenommen, in jedem Laden vorgestellt und dafür gesorgt, dass die Menschen hier mich kennenlernen. Und hinter meine Hautfarbe sehen. Wo Fi war, hatte Selbstmitleid keinen Platz mehr.«
»Und seitdem?«
»Seitdem kann ich mir keinen besseren Platz auf der Welt vorstellen.« Llywyllyn ein Wunderland? Entweder das oder es gibt hier einen guten Dealer. Ich höre fast nicht ihre Frage. »Was ist deine Geschichte?«
»Was?« frage ich perplex.
»Warum bist du hier? Fi hat erzählt, du wohnst in London, hast studiert, einen tollen Job, einen tollen Verlobten. Llywyllyn kann da nur schwer mithalten.« Ich atme tief durch. Kurz und schmerzlos, denke ich. Schließlich hat sie mir ihre Geschichte ja auch erzählt und je eher man drüber redet, desto schneller kommt man drüber weg.
»Den tollen Mann, den ich übrigens in fünf Tagen heiraten wollte, habe ich vorgestern mit meiner ehemals besten Freundin im Bett erwischt. Ich brauch Abstand.« Amy zieht die Augenbrauen hoch.
»Mehr Abstand als hier geht kaum.«
»Darauf spekuliere ich.« Amy schweigt einen Moment, wofür ich ihr dankbar bin. Es ist gut, den größten Brocken von der Seele zu haben, aber über Peter reden will ich nicht. Dafür steht Amy auf, geht zum Kühlschrank und schaut rein.
»Der braucht einen Refill«, stellt sie fest. »Warst du schon einkaufen?« Das stand noch nicht mal auf meiner Tagesplanung.
»Nein, noch nicht.«
»Dann komm mit. Ich stell dich Helen vor. Sie ist Fremden gegenüber etwas eigenartig und ich will sicher gehen, dass du hier nicht verhungerst.«

Helens Little Corner ist knappe zweihundert Meter von meiner Haustür entfernt, aber ohne Amy hätte ich den Laden nie gefunden. Das hier ist keine Stadt, das ist ein Labyrinth. Wahrscheinlich sollten Angreifer in die Straßen gelockt werden, nur um dann eine Weile abzuwarten. Anschließend wurden die Kadaver der verhungerten Angreifer an die Schweine verfüttert. Straßennamen sind auch völlig überbewertet. Auf meine Frage zuckt Amy nur mit den Schultern.
»Du hat eh bald raus, wer wo wohnt, da brauchst du keine Straßennamen.« Praktisch ist auch, dass Amy ehrenamtlich im Heimatmuseum arbeitet – zu dessen Besuch sie mich herzlich einlädt – und alles über die Stadt weiß. Welches Haus wann von welcher Familie erbaut wurde, zum Beispiel. In den meisten Fällen sind es die gleichen Namen, die immer noch an den Häusern stehen. Wer hier einmal wohnt, kommt wohl nicht mehr weg.

Und obwohl Little Corner nur zweihundert Meter weit weg ist, brauchen wir über eine halbe Stunde bis wir da sind. Was daran liegt, dass uns die halbe Einwohnerschaft über den Weg läuft. Mich beschleicht das Gefühl, dass hinter der nächsten Ecke eine Schlange steht, und dass sobald der eine den kurzen Smalltalk mit Amy beendet hat, der Nächste aufrückt.

Die Gespräche laufen immer gleich ab: Ein zufällig vorbei laufender Llywyllynianer sieht Amy, lächelt und begrüßt sie überschwänglich, als wäre sie von einer Mondexpedition oder der Rettung der Welt zurückgekehrt. Dann fragt er, wie es ihr geht und dreht sich vor ihrer Antwort zu mir um. Der Ausdruck, mit dem ich gemustert werde, lässt vermuten, dass ich für ein Alien gehalten werde, welches Amy von besagter Mondexpedition mitgebracht hat.
»Und wen haben wir denn da?« lautet die anschließende Frage. Früher fragten die Stadtwächter im gleichen Tonfall: Freund oder Feind? Amys Antwort ist immer dieselbe:
»Das ist Mags. Mags Pots.« Bis dahin werde ich betrachtet wie ein potenzieller Feind, bei dem noch entschieden werden muss, ob er im Straßenlabyrinth ausgesetzt und dem Hungertod überlassen wird. »Fis Nichte.« Kaum ergänzt Amy diese zwei Worte, ändert sich die Einstellung schlagartig. Ich werde begrüßt, als wäre ich William, Kate und die drei Kinder in einer Person.
»Fis Nichte! Großartige Frau! Mein Beileid, aber schön, dass jetzt wieder jemand in Fis Cottage wohnt.« Amy ruft mir dann den Namen der Person zu, die mir gerade mit einem enthusiastischen Händeschütteln den Arm rausreißt. Den Namen vergesse ich sofort, manchmal, weil ich ein miserables Namensgedächtnis habe, manchmal, weil mein Gehirn wegen einer energischen Umarmung zu wenig Sauerstoff bekommt. Meistens, weil der Gegenüber lautstark eine Anekdote über Tante Fi erzählt.

Ich vermute mittlerweile, dass Tante Fi ein Deckname ist. Nach dem, was die Leute erzählen, handelt es sich um Mutter Theresa.

»Und? Wie findest du die Leute?« fragt Amy mich, nachdem der Strom eben jener Leute abgeebbt ist.
»Nett. Ich meine, ich bin überwältigt.«
»Bisschen viel auf einmal?« fragt Amy. »Keine Angst, du gewöhnst dich dran.«
»Nein. Ich meine ... es war viel auf einmal. Aber so, wie die Leute hier von Tante Fi reden – das verstehe ich nicht. Als wäre sie eine Heilige und nicht das schwarze Schaf der Familie.«
»Vielleicht war sie das einzige weiße Schaf in einer schwarzen Herde?« Gleich darauf hebt sie die Hände. »Ich meine das nicht persönlich!« Ich winke ab.
»Ich hätte sie ja selbst mal besuchen ein Bild machen können.« Amy lächelt.
»Sie war ein großartiger Mensch. Komm, wir sorgen erstmal dafür, dass ihre Nichte nicht verhungert.«

Als ich Little Corner eine Stunde später verlasse, habe ich genug Lebensmittel für eine mehrmonatige Belagerung bekommen und das Gefühl, einem erstklassigen Verhörspezialisten begegnet zu sein. Helen ist eine nette Frau. Und irgendwie bekommt sie es hin, dass man ihr Sachen erzählt, über die man eigentlich gar nicht reden wollte. Helen weiß jetzt alles über Peter – was den Vorteil hat, dass ich es nicht jedem einzeln erzählen muss – und sie hat mich mit einem Übermaß an Mitgefühl überschwemmt, das ehrlich gesagt richtig guttut.

»Ich glaube, bei Helen hast du einen Stein im Brett«, sagt Amy. Sie hilft mir, die Einkäufe nach Hause zu tragen; allein hätte ich das nie geschafft.
»Sie ist eine nette Frau.«
»Eine tolle Freundin, aber ein furchtbarer Feind«, erwidert Amy und lacht.
»Feind? Hat sie Feinde?«
»Wenn man es sich mit ihr verscherzt, sollte man besser gleich aus Llywyllyn wegziehen.«
»Dann sollte ich aufpassen.«
»Bleib wie du bist, dann ist alles in Ordnung.« Nach den Worten stehen wir schon vor meiner Haustür. Der Rückweg ging erstaunlich schnell; vermutlich hat Amy einen Weg genommen, der direkt zum Cottage führt und bei dem uns weniger Zufallsbegegnungen über den Weg laufen. Sie verabschiedet sich am kleinen Gartentor – und sagt, wenn Henna nicht etwas elterliche Aufsicht abbekommt, würden Chaos und Zerstörung in ihr Heim einziehen. Sie lächelt dabei und ich wünsche ihr einen schönen Abend.

In London hätte so viel Zuneigung ohne Gegenleistung einen Anruf bei der Polizei nach sich gezogen. Hier bin ich froh, eine neue Freundin gefunden zu haben. Ich muss schnellstens Kochen und Backen lernen, um sie mal einladen zu können.

Zu Hause werde ich erwartet.

Der Gast hat sich direkt vor der Haustür positioniert, sieht äußerst distinguiert aus, wohlgenährt, selbstbewusst und äußerst zufrieden. Etwas lädiert, ein großes Stück seines rechten Ohres und ein Auge fehlen – was ihm einen wildromantischen, verwegenen Look gibt. Er rückt kein Stück zur Seite, als ich näherkomme. Im Gegenteil, er ignoriert mich völlig. Ich muss umständlich über ihn langen, die Tür aufschließen und sie aufdrücken. Der hochedle Herr würdigt diese Anstrengung keines Blickes, aber als die Tür offen ist, erhebt er sich und marschiert zielstrebig in die Küche. Bei einem Mann würde ich das nicht durchgehen lassen. Aber den Kater scheint das nicht im Geringsten zu stören.

Was du kannst, kann ich schon lange, denke ich und ignoriere ihn so wie er mich. Ich schleppe die Einkäufe rein, wuchte sie auf den Tisch und sortiere alles in die Schränke. Auf dem Boden der dritten Einkaufstasche entdecke ich eine Dose Katzenfutter, die Helen da reingetan haben muss. Ich drehe mich um. Der Kater sitzt mit dem Rücken zu mir vor einer geschlossenen Schranktür, die er anstarrt, als will er sie durch seine geistigen Kräfte öffnen. Oder warten, bis der zuständige Mensch endlich begreift, was seine Aufgabe ist. Im Schrank ist eine Decke und ein Napf, auf dem handgeschrieben Sir Winston steht.
»Du bist also Sir Winston.«
»Meow.«
»Du willst sicher Futter.« Das Tier schaut mich an, als wäre ich ein besonders beschränktes Exemplar der Gattung Mensch. Nach einer kurzen Suche finde ich einen Dosenöffner, kippe den Inhalt in den Napf und serviere es dem Kater, der den Vorgang ungerührt zur Kenntnis nimmt und ohne ein Zeichen jeglicher Anerkennung anfängt zu fressen. »Sieht aus, als würde ich dich adoptieren müssen.« Der Katerkopf schnellt zu mir herum und schaut mich strafend an. »Verzeihung, sieht aus, als ob du mich adoptierst.« Der Kopf verschwindet wieder im Futternapf. Na dann wäre das ja geklärt.

Einen Vorteil hat ein Kater im Haus: Im Bett ist es jetzt schön warm. Okay, ich bin keine Freundin davon, Tiere im Bett schlafen zu lassen. Aber bisher hatte ich noch nie ein Haustier und zweitens ließ Sir Winston sich nicht davon überzeugen, auf der im Flur ausgebreiteten Decke zu nächtigen. Daher habe ich ihm gestattet, diese Nacht zur Eingewöhnung ausnahmsweise mit im Bett zu schlafen. Und irgendwann bin ich zu müde, um etwas dagegen zu unternehmen, dass er unter die Bettdecke kriecht. Und außerdem ist es schön warm, aber das habe ich schon gesagt.

Ich schlafe tief und fest wie ein Stein. Eine neue Stadt kennenzulernen – und all ihre Bewohner auf einmal – ist ganz schön anstrengend und ich träume einige ziemlich verrückte Sachen. Aber der Schlaf ist wunderbar, erholsam. Und endet um 4:35 Uhr morgens.

Ich stehe senkrecht im Bett, als ein grässliches Geräusch – von dem ich im Moment noch glaube, dass es der Evakuierungsalarm einer im Selbstzerstörungsmodus befindlichen Raumstation ist – die Stille durchsägt. Aber ich bin nicht auf einer Raumstation um den Planeten Earth II, sondern in einem dunklen Zimmer. Bevor die Panik auf volle Leistung geht, fällt mir ein, dass das mein Zimmer ist. In meinem Haus. Das ich geerbt habe. Von Tante Fi. Mein Puls sinkt langsam unter 200.

Das Geräusch hält an. Trompetenchor, eine explodierende Wasserleitung, ein bremsender Güterzug, Esel in Lebensgefahr, alles wie gestern. Der verdammte Hahn! Sir Winston nimmt die Sache gelassen, er liegt immer noch da und schaut mich prüfend an. So lädiert, wie er ist, würde es mich nicht wundern, wenn er taub ist. Da ist es kein Wunder, dass er still liegenbleibt. Aber sein einäugiger Blick prüft mich wie ein Röntgenapparat.
»Dieses Vieh muss sterben!« sage ich ihm. Sir Winston schließt sein Auge und schläft weiter.

Mir gelingt das erst eine Stunde später. Und diese Episode endet kurz nach sechs, als es an die Tür wummert.
»Sorry Winston«, murmle ich, ziehe die Decke vom Bett und wickle mich darin ein. Dann tapse ich nach unten, wo mein sehr früher Besucher weiter gegen die Tür klopft. Es ist Amy.
»Rise and shine, meine Liebe! Was machst du um die Zeit noch im Bett?«
»Schlafen?« frage ich und folge Amy, die sich an mir vorbei gedrängt hat und Richtung Küche unterwegs ist. Als ich dort ankomme, hat sie die Kaffeemaschine schon angestellt.
»Ich arbeite nachher in der Schulküche. Deshalb dachte ich mir, ich komme gleich früh vorbei und zeige dir, was im Garten zu erledigen ist. Du musst das zweite Kartoffelfeld noch anhäufeln, sonst fällt die Ernte mickrig aus und auf die Gurken und Tomaten im Gewächshaus musst du auch ein Auge haben.«
»Kommen die nicht aus dem Supermarkt?«
»Nicht, wenn du jemals wieder Helen unter die Augen treten willst. Außerdem war der Garten Fis Herzensangelegenheit.«
»Ich bin nicht so der Gartentyp.«
»Du hast Fis Haus, du hast Fis Garten und ich bin sicher, du kannst Fis Job gebrauchen.«
»Welchen Job?« Natürlich kann ich einen Job gebrauchen. Nicht zuletzt, falls sich das Finanzamt wegen der Erbschaftssteuer meldet. Auf der Suche nach ein paar Keksen zum Kaffee hat Amy ihren Kopf in den Schrank gesteckt.
»Sie hat eine Initiative für gesundes Schulessen ins Leben gerufen. Die Kinder hier bekommen nur Sachen, die in Llywyllyn oder in der Nähe angebaut wurden. Fi hat den Hauptteil des Gemüses angebaut, die anderen Familien steuern den Rest bei. Und ich koche abwechselnd mit ein paar anderen Müttern.«
»Klingt nach unbezahltem Ehrenamt. Und ich kann meine Rechnungen nicht mit Möhren bezahlen.«
»Die Schulbehörde stellt ein Budget zur Verfügung. Davon werden alle Ausgaben bezahlt und was übrig bleibt, unter den Ehrenamtlern aufgeteilt. Ist nicht viel, aber Fi ist damit über die Runden gekommen. Und dir würde es helfen, wieder auf die Beine zu kommen. Ah, da sind noch welche!« ruft sie triumphierend und knallt die Tür zu.

Als Amy die Schranktür schließt, blickt sie direkt in das Auge von Sir Winston und ich schwöre – afrikanische Herkunft hin oder her – sie wird blass.
»Was macht der hier?« fragt sie erschüttert.
»Sir Winston? Er wohnt hier, nehme ich an. Jedenfalls kennt er sich hier aus und hat seinen eigenen Napf. Hast du Angst vor ihm? Oder eine Allergie? Soll ich ihn vor die Tür setzen?« Amy schüttelt den Kopf.
»Nein, alles in Ordnung. Ich war nur etwas erschrocken. Seit Fis Tod hat ihn niemand mehr gesehen.«
»Wahrscheinlich war er geschockt und hat sich irgendwo verkrochen.«
»Ja. In der Hölle.« Das sind ungewohnte Töne. Ich ziehe die Augenbrauen nach oben.
»Dieses Tier ist das verschlagenste, hinterhältigste und bösartigste Wesen, das auf diesem Planeten rumläuft.« Sir Winston schaut mich mit einem Ausdruck an, der deutlich zeigt, wie sehr in diese Worte verletzen.
»Ich finde ihn ganz niedlich. Bisschen lädiert, aber mit viel Persönlichkeit.«
»Seltsam, Fi hat genau das Gleiche über ihn gesagt. Das einzige Mal, dass sie sich in einem Lebewesen getäuscht hat.«
»Jetzt übertreibst du aber.« Wobei mir bei fiesen Lebewesen gleich etwas anderes einfällt. »Sag mal Amy, hörst du morgens auch manchmal diesen Hahn?«
»Natürlich! Besser als jeder Wecker. Bei seinem ersten Schrei stehe ich auf.« 4:35? Das wird mir nie passieren.
»Kann man den nicht umstellen? So auf halb Neun?«
»Eher nicht. Warum sollte man?«
»Weil ich gern lange schlafe. Vielleicht sollte ich mal mit dem Besitzer reden.«
»Ich denke nicht, dass das was bringt. Er ist Johns ganzer Stolz. Der Hahn hat endlos Preise gewonnen. Auf Züchterausstellungen und so.«
»John? Wie in John Bigelow?«
»Yepp, genau der.«
Der Erzfeind. Der um keinen Preis der Welt einen Fuß in dieses Haus setzen darf. Ich kann mir leicht vorstellen, warum. Tante Fi muss eine Seele von Mensch gewesen sein, wenn sie dieses Vieh jahrelang gleichmütig ertragen hat, ohne Tier oder Besitzer umzubringen. Klar, dass sie John Bigelow so sehr hasste, dass er nicht einmal nach ihrem Tod einen Schritt in ihr Haus setzen darf.
Mein Gedanken werden durch Amy unterbrochen; sie zerrt mich in die Kälte, gibt mir ein Gerät in die Hand, welches sogar einen speziellen Namen hat – ich und Namen, alles klar? – und zeigt mir, wie ich damit Furchen in die Erde ziehe. Nach sieben Minuten bringt mein Rücken mich um, aber Amy zeigt kein Anzeichen von Gnade. Sie singt lauthals auf der anderen Seite des Gartens, wo sie Erde umgräbt. Zwei Stunden später kommt sie zu mir und stellt sich neben mich. Sie wirkt immer noch frisch.
»Sieht gut aus!« sagt sie. Damit muss Amy das Feld meinen und nicht mich. Ich sehe bestimmt nicht gut aus. Ich fühle mich auch nicht gut. Mir tun mehr Muskeln weh, als ich im Körper habe. Meine Hände bestehen nur noch aus rohem Fleisch und da, wo kein rohes Fleisch ist, sind Blasen. Die selbst auch Blasen haben. Auf ihr Lob kann ich nichts erwidern, sondern nur leise wimmern. Amy ignoriert das. Statt dessen schaut sie rüber auf die andere Seite des Gartens, auf ein riesiges Herrenhaus. Ich kann mir gut vorstellen, dass dort früher mal der Gutsherr residiert hat, dem die ganzen Gehöfte hier gehörten.
»Wer wohnt da?«
»John«, murmelt Amy. »Der arme Kerl.« Ich schaue sicherheitshalber nochmal zum Herrenhaus.
»Nach arm sieht das nicht aus.« Aber das hat Amy wahrscheinlich nicht gehört.
»So, ich muss in die Küche. Wir machen morgen weiter.« Mein Stöhnen bekommt sie jetzt doch mit und ich glaube, etwas Mitgefühl glimmt in ihren Augen auf. So viel, wie ein Landmensch eben für eine Stadtmaus zeigen kann, die das erste Mal im Leben mit richtiger Erde in Berührung gekommen ist. »Leg dir eine Wärmflasche auf den Rücken und halte deine Hände in kaltes Wasser, dann lässt es nach.« Dann bekomme ich ein ermutigendes Lächelns geschenkt. »Keine Angst, du gewöhnst dich schnell dran.«

Ich will mich nicht dran gewöhnen. An das Landleben, meine ich. Also nicht das Landleben direkt, aber den Teil mit der Landarbeit. Ich habe meinen Kopf, meine Nase und meine Finger mein Leben lang in Bücher gesteckt und nicht in Erde. Und ich gedenke nicht, das zu ändern, bloß weil ich auf eine betrügerische Niete von Mann reingefallen bin.
Seitdem Amy sich verabschiedet hat, um ihren Verpflichtungen nachzugehen, leistet mir eine Flasche Rotwein Gesellschaft. Vielleicht ist es auch die zweite. Tante Fi hat einen kleinen, aber sehr exquisiten Vorrat in einer kleinen Nische, die unter dem Küchenboden ist. Zu klein, um sie als Keller zu bezeichnen, sogar zu klein für mich, um darin zu stehen, aber gut gefüllt.

Gerade jetzt sitze ich da, schaue mich um und frage mich, was ich vom Leben eigentlich will. Klar, die Leute hier sind nett, ganz besonders Amy. Aber ich habe das Gefühl, ich rutsche hier in ein fremdes Leben rein. Wenn ich so weiter mache, dann lebe ich Fis Leben. Und nicht meins. Sie hat es hier wie viele Jahre ausgehalten? Aber ich will es nicht nur aushalten, ich will mein eigenes Leben leben! Und mich daran erfreuen! Das sagt eine Frau, die vor ein paar Tagen noch dachte, um diese Zeit verheiratet zu sein, in einer schicken Wohnung zu wohnen und auf Kinder und Familie zuzusteuern. Nein! Es lohnt sich definitiv nicht, sein eigenes Leben von einem anderen Menschen abhängig zu machen. Nicht von Peter und nicht von Tante Fi! Ab jetzt gehe ich meinen eigenen Weg!

Ich sollte eine Liste machen. Punkt 1: Leben ändern! Aber wie? Vielleicht sollte ich anfangen – wenn ich schon nicht in Fis Leben reinrutschen will – die Umgebung so zu ändern, wie es mir gefällt. Fis Einrichtung war heimelig, nett und bieder. Ich will bunt! Und aufregend! Und Farbe! Ja, Farbe! Okay, handwerkliches Geschick ist nicht meine Stärke, aber Farbe an die Wand zu bekommen sollte kein Problem sein, oder? Blümchentapete passt nicht zur neuen, selbstbestimmten, flippigen Mags!

Ich zucke zusammen, weil ich plötzlich das deutliche Gefühl habe, dass mich jemand beobachtet. Durch die Fenster? Neugierigen Stadtbewohnern ist alles zuzutrauen. Durch die Fenster sehe ich niemanden. Die sind zu hoch und ich bin zu niedrig, weil ich vorhin beim Hinsetzen das Sofa verfehlt habe und keinen Sinn darin sehe, mich hochzuwuchten, wenn der Läufer davor breit und weich genug ist. Trotzdem bleibt das Gefühl, als ob noch jemand da ist. Als ich das gelbe Auge entdecke, das mich unverwandt anstarrt, bin ich näher als je zu vor in meinem Leben an einem Herzinfarkt. Sir Winston! Kein Wunder, das Amy Angst vor dem kleinen Kerl hat, wenn der immer so unvermutet auftaucht.
»Na du kleiner Schmusekater, willst du herkommen?« Ich bin sicher, das Winston mich versteht. Er kommt ein paar Schritte auf mich zu und setzt sich knapp außerhalb meiner Reichweite hin.
»Komm näher, dann streichle ich dich!« Keine Chance. Hält er mich für eine betrunkene Versagerin?
»Ich bin keine Versagerin!« teile ich ihm mit. Er nimmt es ungerührt zur Kenntnis. In dem Moment zerreißt wieder dieses grässliche Geräusch die Stille. Der Erzfeind! Genauer: Der Hahn des Erzfeindes! Ich zucke nochmal zusammen, als ich etwas an meinem Knie spüre. Sir Winston reibt seinen Kopf an mir. Ich kraule ihn zwischen den Ohren.
»Wäre es nicht wunderbar, wenn dieser Gockel stirbt? Ich meine, die leben doch nicht so lange, oder?« Sir Winston schaut mich an, als verstünde er jedes Wort, das ich sage, und meine Gedanken driften wieder ab.

Wo war ich? Ach ja: Radikale Umgestaltung! Mit Farbe. Farbe heißt Baumarkt und Baumarkt heißt Autofahren. Aber Autofahren passt nicht zur momentan betrunkenen Mags. Und Morgen ist nüchtern betrachtet der erste Tag vom Rest meines neuen Lebens!

Zwei Flaschen Wein toppen jedes Schlafmittel – ich erwache frisch und ausgeruht am nächsten Morgen. Vielleicht etwas verspannt, denn für eine Übernachtung ist der Fußboden wirklich nicht geeignet, aber wenigstens bin ich nicht vom Hahn aufgewacht. Dafür starrt mich Sir Winston an, als hätte ich ein Kapitalverbrechen begangen. Als er sieht, dass ich wach bin, dreht er sich um und geht voran in die Küche, wo er sich vor seinem leeren Futternapf positioniert. Wie konnte ich auch nur meine Pflichten derart versäumen?

Nachdem ich ihn und mich versorgt habe – ihn mit Katzenfutter, mich mit Müsli und einem Kaffee – erinnere ich mich an meinen Renovierungsplan. Ich muss also zum nächsten Baumarkt. Google meint, dass Llywyllyn da eine Fehlanzeige ist, der nächste ist im Nachbarort. Das wirft zwei Fragen auf: Wie komme ich hin? Und wie komme ich mit den ganzen Sachen wieder zurück? Ich könnte es online bestellen, aber die Lieferung würde frühestens morgen kommen – doch mein neues Leben fängt heute an! Außerdem würde online einen Internetanschluss voraussetzen und so weit bin ich noch nicht. Oder dieser Ort. Moment! Stand in Tante Fis Brief nicht etwas von einem Auto?

In London bin ich selten Auto gefahren – das machen nur potenzielle Selbstmörder. In der Stadt kann man jeden Ort per Bus oder mit der Tube erreichen. Natürlich habe ich als selbständige, emanzipierte Frau einen Führerschein und so lange ist die Fahrprüfung nun auch wieder nicht her. Auch wenn ich seitdem nicht mehr gefahren bin. Ich werde ihn benutzen! Das ganze Unternehmen dürfte auch keine Gefahr darstellen, solange sich keine weiteren Verkehrsteilnehmer auf der Straße herumtreiben – damit ist in Llywyllyn sowieso nicht zu rechnen. Ich muss nur noch das Auto finden, denn bisher habe ich keins gesehen.

Es könnte daran liegen, dass ich bisher nicht gründlich danach gesucht habe. In den kleinen Schuppen neben dem Cottage habe ich nur kurz zusammen mit Amy einen Blick geworfen, aber Amy hatte sofort das gefunden, was sie gesucht hatte, und mir den Harken in die Hand gedrückt. Jetzt schiebe ich die Tür auf und sehe unter einem Haufen von Gartengeräten eine Decke, die etwas autoförmiges überdeckt. Na prima! Mit Schwung und Elan räume ich auf – was bedeutet, dass ich den ganzen Schrott von der einen Ecke des Schuppens in die andere staple – und ziehe die Decke weg.

Was ich sehe, raubt mir den Atem. Ich habe keine Ahnung von Autos, aber das hier ist ein Juwel. Ein Cabrio, vielleicht aus den fünfziger Jahren, rubinrot und immer noch funkelnd! Es wäre ein Sakrileg, dieses Technikwunder auch nur zu berühren – aber Vorsatz ist Vorsatz! Die alte Mags Pots hätte nach Ausreden gesucht, die neue Mags Pots ist entschlossen, ihren Plan in die Tat umzusetzen, selbst wenn es bedeutet, mit diesem Juwel zum nächsten Baumarkt zu fahren und Farbeimer auf dem Rücksitz zu stapeln! Egal! Was sein muss, muss sein!

Der Schlüssel steckt und das Cabrio schnurrt gleich beim ersten Versuch los wie ein Kätzchen. Mit diesem Gefährt werde ich mich in null Komma nichts zu einer echten Femme Fatal entwickeln. Das gefällt mir!

Vier Stunden später bin ich mit allem, was ich für eine Grundrenovierung benötige, wieder zurück. Ich habe mich von einem äußerst kompetenten Mitarbeiter beraten lassen. Und vielleicht auch zwei oder drei Sachen mehr gekauft, als ich ursprünglich geplant hatte. Denn möglicherweise war er nicht nur kompetent, sondern auch gutaussehend. Ich bin zwar nicht auf der Suche nach einem neuen Mann, aber flirttechnisch in der Übung zu bleiben, kann ja nicht schaden. Ich wünschte aber, er hätte mich so angesehen, wie er das Cabrio angesehen hat, als er es beim Raustragen meiner Einkäufe entdeckt hat. Wirklich, das war Begehren in Reinstform. Er hat alle Sachen auf dem Parkplatz abgestellt, ist zurück in den Markt gerannt und hatte Decken und Folien geholt, mit denen er das Auto ausgepolstert hat, bevor er die Waren darin verstaute.
Und mich hat er angesehen, wie eine psychopathische Irre.
»Sie sollten so einen Wagen nicht für Einkaufsfahrten benutzen. Das gehört sich nicht!« waren seine letzten Worte. Na in den Laden gehe ich garantiert nicht nochmal.

Es ist schon früher Nachmittag, als ich die Renovierungsutensilien ins Wohnzimmer gewuchtet und den Wagen wieder liebevoll verpackt habe. Ja, ich habe die Decke wieder drübergelegt und Nein: Das heilige Blechle hat nicht einen einzigen Kratzer abbekommen. Und ehrlich gesagt, ich kann verstehen, das ein paar Typen einen richtigen Fetisch in Bezug auf Autos haben. Die Idee mit dem Zweitwagen ist vielleicht doch nicht so schlecht. Steht als Erstes auf meiner Wunschliste, sobald ich den zur Erfüllung notwendigen Lottogewinn habe.

Aber jetzt gibt es wichtigeres: Startpunkt der Renovierung ist das Wohnzimmer. Sonnenblumengelb – das ist die Farbe, die zur neuen Mags passt. Und das ist die Farbe, die dieses Zimmer bekommt, historisches Flair hin oder her. Ich habe Unmengen von Abdeckfolie gekauft, was wohl unglaublich wichtig ist, wenn man den Fußboden nicht gleich mit abschleifen und neu lasieren will. Da ich weder weiß, wie ich das Holz abschleifen soll, noch was lasieren ist, wird dieser Teil auf später verschoben; außerdem wäre das Resultat nicht Sonnenblumengelb. Und ich habe genug Abdeckfolie, um nicht nur den Boden, sondern auch die Möbel abzudecken. Genial, nicht? Ja, habe ich mir auch gedacht. So spare ich mir das ganze Ein- und Ausräumen. Jetzt heißt es nur noch Stöpsel in die Ohren Lautstärke hoch und Playlist auf Zufallswiedergabe stellen. Mit Musik geht alles leichter. Titel Eins: Starship - Nothing 's gonna stop us now!

Wenn das kein Zeichen ist!

Schwung und Elan halten zwei Wände lang an. Schon wirkt der Raum viel freundlicher, energiegeladener und er vibriert vor Lebenskraft! Die kosmischen Wellen durchströmen mich und helfen mir, Wand drei fertigzubekommen. Ich hätte die Fenster besser abkleben sollen, aber das ist nichts, was ich nicht morgen mit Wasser, Seife und Farblöser wieder weg kriege. Mit einem kleinen Motivationstänzchen zu I will survive bereite ich mich auf die letzte Wand vor und klatsche aus einer besonders gelungenen Pirouette heraus mit Schwung einen Streifen Farbe quer über die letzte Wand.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752109528
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (August)
Schlagworte
Chick Lit Romance RomCom Romantik Romantische Komödie romantic comedy Liebeskomödie Humor

Autor

  • Delilah Quinn (Autor:in)

Und wer ist Delilah Quinn? Sachbearbeiterin bei Tag - Herrscherin des Chaos bei Nacht! Nein - das bezieht sich jetzt nicht auf meinen Klamottenschrank, sondern auf Mann und Kind. Da sind Bücher eine willkommene Pause vom Alltag - für mich, wenn ich sie schreibe und für meine lieben Leser, die es ein wenig verrückt und chaotisch mögen. Viel Spaß beim Lesen!
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Titel: Zwei wie Fisch und Igel