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Varn

von Volker König (Autor:in)
78 Seiten

Zusammenfassung

Der Avatar VARN betritt eine virtuelle Welt. Sein menschenscheuer Schöpfer vermag bald nicht mehr zu unterscheiden, ob er sich in der realen oder der virtuellen Welt befindet. Als er sich in Alida verliebt, scheint er einen Halt gefunden zu haben. Doch eine Tragödie bahnt sich an.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Impressum

© Neuauflage September 2019 

© 2012 Volker König 

Kämmereihude 14, 45326 Essen 

www.vkoenighome.de 

Bildquelle: pixabay 

ISBN der Printversion: 9 783749 483839 

Zitat

Meinst Du nicht, 

er werde ganz verwirrt sein und glauben, 

was er damals gesehen, sei doch wirklicher, 

als was ihm jetzt gezeigt werde? 

 

Platon 

1.

Wenn er aus dem kristallblauen Himmel stürzte, brauchte ich nicht um sein Leben zu bangen. Er ertrank nicht in Seen oder in dem das Land umgebende Meer. Er brauchte nicht zu rasten, erschöpfte nie, brauchte darum nicht zu schlafen, brauchte auch nicht zu essen, zu trinken, zu sitzen. Er fror auch nicht oder zerfloss in Schweiß.

Tatsächlich war ich es, der ihn handeln, war ich es, der ihn reagieren ließ in jener Welt. Ich war der Gott, er das Geschöpf, an meiner statt in jene Sphäre aufgestiegen, um dort Wunder zu tun. Mein Gesandter, mein Sohn. Eines Menschen Sohn, jungfräulich geboren.

Sein Name sollte kernig klingen wie der jenes harten Platoon-Helden Barnes, eines abgeklärten Kriegers, eines Verteidigers der Freiheit, eines Bewältigers von Gefahren, eines lebenden, eines getarnten, eines grausamen und bösen Mannes. Doch böse Helden haben gute Namen. Mein Sohn sollte einen solchen tragen. Denn auch er wäre ein Held, auch er würde ein Krieger sein, der seine Mission verfolgt. Aber ich wollte ein V zu Beginn seines Namens, auf gar keinen Fall ein W, denn W sieht aus wie zwei Hängetitten. V hingegen ist straff. V ist ein Richtig-Haken, ein Zeichen setzender Pfahl, aber auch Symbol des Beckens, des Lebens, der Vereinigung, des Neuanfangs. Und ich wollte seinen Namen noch verkürzen, denn von seiner Verkürzung versprach ich mir, Neugier zu wecken. Ich nannte ihn daher für jeden in jener Welt sichtbar Varn.

In meinem Sohn steckte etwas von mir. Nicht wie in einem leiblichen Sohn, dem ich mein Erbgut mitgeben würde, sondern wie in einem Kunstwerk, einem geistigen Sohn also, dessen Erscheinung ich nach meinem Gusto wählen konnte.

Denn Varn war ein künstliches Wesen, ein Avatar, von mir erschaffen, nicht aus Fleisch und Blut und mit Krankheiten und Kraftlosigkeit, sondern aus winzigen Lichtpunkten zusammengesetzt, ein Lichtwesen.

Ich hätte ihn bildhübsch aussehen lassen können, schöner als ich selbst es bin. Er hätte meiner eigenen Makel ledig sein können, aber ich machte ihn groß und hässlich, mit Metzgerarmen und monströs fettem Bauch, dazu einem fransig herabhängenden grau-weißen Haarkranz, einer dicken, schwarzen Hornbrille vor einem einfältigen Gesicht mit großen Augen und Unterbiss, mit Brontosaurus-Beinen auf der Wiese stehend.

Er klingt wie ein Planet in einem Science-Fiction-Fantasy-Film, und schon darum hätte ich Mitleid mit ihm haben können angesichts der Bildschönen um ihn herum, der Prinzessinnen und Zauberer, der fantastischen, magischen, mystisch entrückten Feen in fliegenden Gewändern und mit wallenden Haaren, mit blitzenden, glitzernden, funkelnden Lichtern drumherum, die von der Welt vor meinem Fenster so weit entfernt schienen, dass sie die Angst und Ungewissheit hier anscheinend nicht zu kümmern brauchte.

Varn sollte nicht seines Äußeren wegen geliebt werden, er sollte das groteske Gegenteil aller anderen sein. Er sollte auffallen. Denn als mein Sohn verwies er auf mich. War er doch nicht grundlos dort. Er hatte eine Aufgabe. Er sollte mich groß machen, sollte über mich berichten, sollte meine Herrlichkeit preisen, sollte meine Botschaft verbreiten und dafür sorgen, dass die Menschen an mich glaubten. Dazu war mir jedes Mittel recht, und ich hatte ihm dafür ein Buch an die Hand gegeben. Ja, ein Buch, das ich selbst verfasst hatte, das etwas über mich und meine Sicht der Welt sagte, über den zurückgezogenen Schreiber, den Denker, den Ausdenker, seinen Schöpfer.

So trug er also den Namen, den ich für ihn wollte, sah genau so aus, wie ich es wollte, sagte, was ich wollte, tat, was ich wollte und hatte dabei doch kein Gefühl, das zu verletzen war. Ich, als sein Schöpfer, habe dagegen Gefühle, und sie haben mich zu einem Lügner gemacht. Einem Lügner und Mörder.

Niemals wäre ich dazu geworden, hätten nicht die Umstände mich getrieben. Dabei wäre es ein Leichtes gewesen, diese Umstände zu umgehen, indem ich Varn gar nicht erst jene Welt hätte betreten lassen. Wenn ich Beobachter geblieben wäre und mich nicht durch Eitelkeit, Selbstbezogenheit und Gier hätte übermannen lassen, wenn nicht die Leidenschaft die Oberhand über mich gewonnen hätte, dann wäre ich niemals in diesen verhängnisvollen Strudel geraten.

Hätte ich mir doch nie die Frist eines vollen Jahres gesetzt. Hätte ich doch bereits nach wenigen Monaten dem Zauber jener Welt den Rücken gekehrt! Selbst noch nach einem halben Jahr wäre ich ohne Schaden aus der Sache herausgekommen. Doch wie ein Süchtiger viele gute Vorsätze hat, die er insgeheim nicht einzulösen gedenkt oder es tatsächlich auch nicht zu Wege bringt, sie einzulösen, so war ich mit Varn Nacht für Nacht in jene seltsame Welt zurückgekehrt.

Denn dort ist alles hell und freundlich, und die Möglichkeiten erscheinen unbegrenzt. Nicht wie in der Welt vor meinem Fenster, die an Eintönigkeit und Schuld erstickt, die es täglich riskiert, ihren Bewohnern den Glauben an sie zu nehmen, die keine Mühe scheut, ihre Bewohner mit Hinterlist in die Irre zu leiten. Zeugen nicht die Toten, die den Weg allen Lebens säumen, davon? Selbst mir, dem Zurückgezogenen, bleiben sie nicht verborgen, liegen mir gar im Weg wie einst der Mann aus dem Nachbarhaus, der offenbar keinen anderen Rat mehr wusste, als sich aus einem der oberen Stockwerke kopfüber auf den Gehweg zu stürzen. Seine Beweggründe werden mir unbekannt bleiben. Er hätte unheilbar krank gewesen sein können am Leib, obwohl auch die Seelen der Menschen befallen werden können von Krankheiten, die ihnen jeden Ausweg verbauen. Selbst die Liebe, die doch eigentlich das Leben erträglicher machen soll, kann gerade das Gegenteil bewirken, wenn sie unerwidert bleibt. Wie viel musste sich in jenem Menschen angesammelt haben, um auf diese Weise sein Leben zu beenden? Sein Sprung mag aus der Ferne ähnlich ausgesehen haben wie der jener Menschen, die an einem Septembertag aus zwei Hochhäusern in New York gesprungen waren, kurz bevor der monströse Doppelphallus in sich zusammenfiel und dadurch jenes mächtige Land entmannte. Jene hatten wahnsinnig vor Angst geglaubt, sich retten zu können, dieser aber wollte sich töten, der Feigling. Wenn er es nicht drauf angelegt hätte, dann hätte er den Fall überleben können, so die Sanitäter, denn er war noch nicht einmal aus so großer Höhe gesprungen. Jetzt konnte er nicht mehr von seinen Qualen erzählen. Jetzt lag er unter einer Plane, und lediglich das stille Blut drumherum erzählte alles. Seine bildhübsche, junge Frau, die mir sogar einmal ein Lächeln geschenkt hatte, stand mit bleichem Gesicht und leeren Augen abseits hinter dem breiten Kreuz eines Polizisten, als sie ihn verluden.

Ein Paradies, ein riesiger Garten Eden, der mit Verheißungen lockt, findet sich jedoch dort. Doch um jene Welt aus Rollen, aus Masken, jenes bunte Treiben, jenen Karneval zu erobern, musste Varn Kenntnisse erwerben.

Wie ein Kind lernte er gehen, laufen, ja fliegen, mit dem Kopf voraus, wie ich es in meinen Träumen tat. Er lernte Gegenstände zu berühren, er lernte, sie zu verschieben, er lernte, neue zu erschaffen. Ich staunte, und es umfing mich eine Leichtigkeit, wie sie mir in meinem Leben aus Fleisch und Blut, dem Leben vor meinem Fenster, versagt blieb.

2.

Nachdem er jene Welt aus der Tiefe meines Rechners heraus betreten, sich aus dem Labyrinth der Dateien und Verzeichnisse, der Passwörter, Codes und Programme gelöst und generiert hatte, wenn er ins Wechselspiel mit dem Programm jener Welt getreten war und sich so eingefügt hatte, dann sprang Varn auf der Suche nach Gleichgesinnten, nach Zuhörern, nach Jüngern umher.

In jener herrlichen Welt ist das ohne weiteres möglich, denn selbst größte Entfernungen sind per Teleport (tp) zu überwinden. Ich war froh, dass ich eine Karte nutzen konnte, um mich zurechtzufinden, denn hätte ich sie nicht gehabt, hätte ich bei der Größe jener Welt schnell die Orientierung verloren.

Ort für Ort wird aus einem schier unerschöpflichen Magazin geladen und auf meinen Bildschirm geschossen, wo er zerplatzt zu Himmel um Himmel, Berg um Berg, Ebene um Ebene, alles bezaubernd schön, der Tageszeit entsprechend sogar in unterschiedlich farbiges Licht getaucht oder in hellem Mondlicht versinkend.

Ich konnte gar nicht genug bekommen von den herausgeschossenen, den zerplatzten Landschaften. Wenn schließlich doch alles appetitlich hergerichtet war und Varn  darin erschien, ließ ich ihn in den Himmel steigen und seine Reise fliegend fortsetzen auf den Horizont zu. Der verschob sich im Näherkommen, einer Fata Morgana gleich. Immer neue Flächen klecksten an seinen vorherigen Rand. So wurde mir, je weiter Varn flog, beständig Neues offenbart.

Von Gier getrieben saugte ich all die Pracht in mich ein. Dass es sich lediglich um Bilder aus meinem Rechner handelte, schmälerte meine Lust keineswegs. Doch wenn Varn leicht wie eine Feder durch die Himmel schwebte und die Landschaften, die Häuser und Avatare unter sich herziehen sah, dann stieß er manchmal sogar an Grenzen.

Transparente, riesige Flächen schirmten den Zutritt Unbefugter ab. Diese Flächen waren Varn zwar durch feine rote Schrift kenntlich gemacht, aber in der Regel übersah er diese Schrift und mit ihr die Grenzen und flog dagegen. Hilflos sich krümmend und verwirrt sich um sich selbst drehend, wirkte er so verdutzt wie ich selbst es dann war. Wer wollte Varn hier ausschließen, und warum? Oder sollte hier etwas eingeschlossen sein? Am Ende ein ganzes Volk?

Damals dachte ich, dass Varn sich in irgendeiner Form den Unmut anderer zugezogen oder sich sogar strafbar gemacht haben musste, um ausgeschlossen zu werden. War etwa über seinen Schöpfer etwas bekannt geworden, was dort nicht bekannt sein konnte und durfte? Wusste man dort, wer die Deckenplatten im Souterrain zerschlagen, wer in die Fußgängerzone gepisst, wer wahllos Außenspiegel abgetreten und wer die Ente im Park mit der Bierflasche erschlagen, ihr den Hals umgedreht und aufgefressen hatte, zubereitet von einer asiatischen Hure? Davon konnte dort niemand wissen. Dennoch wurde Varn die Passage verwehrt. Ich lenkte ihn in andere Richtungen, hoffte durch eine größere Flughöhe doch noch über das Hindernis hinwegzusetzen, versuchte am Ende sogar, per tp in diese Bereiche zu gelangen. Doch all das blieb erfolglos, und so war Varn gezwungen, sie zu umfliegen.

Später stieß er zufällig auf einen kleinen Mann, der ihn in sein Haus einlud. Um dieses Haus betreten zu können, deaktivierte der kleine Mann für Varn eben solch eine Grenze. Im Haus dann öffnete er eine mächtige Bodenklappe und bat Varn in seinen düsteren, leeren Keller. Der kleine Mann entschuldigte sich für die Leere und versicherte, dass hier bald viel mehr los sei, wenn er erst die Bälle und das Inventar installiert habe. Worauf das alles denn hinauslaufe, ließ ich durch Varn fragen. Wenn alles fertig sei, wäre es ein Sexkeller, einer für Sado-Masochisten, gab der kleine Mann geradezu schüchtern zur Antwort. Varn wisse ja jetzt um diesen Ort, und er könne jederzeit vorbeischauen, um sich vom Fortschritt der Arbeiten zu überzeugen. Er dürfe auch anderen davon berichten, die sich dann auf Varn berufen sollten. Mit ihm als Bürgen würde er die Barriere deaktivieren.

Wie viel Perverses steckte wohl noch hinter der Fassade dieses unsicheren Männchens? Oder hinter der aller anderen? Noch etwas später stolperte Varn ganz zufällig in eine Art Verlies und konnte sich dort ein Bild davon machen, wie diese besondere Art von Bällen zu verstehen war, mit denen der kleine Mann Erwartungen zu wecken hoffte. Schon die Gegenstände und Bilder, die in jenem Verlies an den Wänden hingen, ließen keinen Zweifel aufkommen, wozu sie taugten. Die Bälle, oder vielmehr die darin versteckten Programme, ließen Varn auf dem Boden nämlich Bewegungen vollführen, die ganz eindeutig der Kopulation dienen sollten. Varn hatte damals keine Partnerin, und so hatte das alles lächerlich ausgesehen. Sicher, mit einer Partnerin hätte das sehr echt wirken können, dabei war es Pixelsex.

Die Kenntnis des Schlüsselmeisters öffnet also versiegelte Bereiche. Über die Ränder jener Welt jedoch ist kein Fortkommen möglich, zumindest gibt es keine weitere Welt, die zu besuchen wäre. Das Festland wirkt wie eine gewaltige Scheibe, die vom großen Ozean umschlossen ist. Dieser Ozean ist nicht zu überqueren, wohl aber endlos zu überfliegen. Manchmal wächst neues Land, neues Leben aus dem Wasser genau so, wie alles im Leben vor meinem Fenster ihm entstiegen ist. Beinahe täglich erheben sich neue Inseln an den bisherigen Rändern des Festlandes aus dem Ozean, die sich schon bald darauf mit der Landmasse verbunden haben. Ein Ende dieses Prozesses, ein Ende dieser parthenogenetischen Knospung, ist nicht abzusehen. Ich stelle mir vor, wie es in dreißig Jahren dort aussehen wird.

Die kleinen, grünen Punkte. Vereinzelt tauchten sie unvermittelt auf einer detaillierteren Karte auf. Wenn ich Varn dann in die Nähe dieser vereinzelten Punkte schickte, war dort aber nichts Bemerkenswertes zu finden. Doch welch ein Schreck hatte mich durchfahren, als ich Varn zum ersten Mal eine Ansammlung solch kleiner, grüner Punkte ansteuern ließ. Eine ganze Herde anderer Avatare hatte sich in einiger Entfernung von Varn dort versammelt. Über den Köpfen der Zusammengerotteten schwebten die schwarzen Schilder ihrer Namen, den Bewegungen der einzelnen Avatare folgend, umeinander tanzend, in ihrer Gesamtheit aus der Ferne wie eine schwarze Wolke wirkend, unheilvoll wabernd. Einen einzelnen Punkt, einen einzelnen Avatar in einer überwältigenden Landschaft zu finden, bedurfte offenbar einiger Übung in der Navigation. Später gelang mir dies natürlich.

Es mag seltsam klingen, aber es entspricht nicht meinem Wesen, Unbekannte anzusprechen. Lediglich wenn ich einen guten Grund habe, der mich zwingt, es zu tun, fällt es mir leicht.

Wenn ich daran denke, wie viel ich später mit Alida geredet habe, so mag meine Abneigung noch schwerer verständlich sein. Nächtelang haben wir geredet. Bei ihr wurde ich regelrecht gesprächig, wurde zur Plaudertasche wie früher, als ich noch viel geredet hatte, dass ich jeden übertönt hatte. Als ich mir schließlich selbst auf die Nerven fiel, verstummte ich und hörte mit einem Mal alle anderen und den Unsinn, den sie von sich gaben. Seitdem liebe ich die Stille und halte mich vom allgegenwärtigen Geschwätz fern. Ich selbst rede nur noch, wenn ich mir gut überlegt habe, ob etwas zu sagen ist.

Aus der Welt vor meinem Fenster erreicht mich daher oft tagelang kein gesprochenes Wort. Ich bedauere das nicht. Die Verkäuferin im Markt um die Ecke beispielsweise - ich könnte aber jeden Beliebigen meines Viertels aufführen - sieht nur den stummen Mann, der ich geworden bin, hat sie doch noch nie ein Wort von mir vernommen und muss sich erschrocken haben, als ich einmal eines an sie richtete, weil sie das Wechselgeld zu meinen Gunsten herausgegeben hatte. Ohne Umschweif begann sie ein Gespräch. Offenbar wollte sie die einmal entzündete Flamme nicht so bald verlöschen lassen, schon allein, um sich vor anderen rühmen zu können, den Stummen gehört zu haben. Und so quälte sie mich mit nichtigen Bemerkungen, ob ich immer so ehrlich sei, das sei ja ganz selten, dass sie jeden Abend Rechenschaft über den Kassenbestand ablegen müsse, dass das Wetter ja wieder besser geworden sei, bis hin zu meiner Einschätzung darüber, was bei einem Wassereinbruch im Keller zu tun sei. Es hatte Tags zuvor nämlich einen sintflutartigen Wolkenbruch gegeben, dessen Folgen ihr den Schlaf geraubt hatten. Ich antwortete so knapp und oberflächlich wie möglich, um das Ganze schnell beenden zu können. Sie, der anscheinend mein Unwille, in eine Konversation mit ihr zu treten, nicht auffiel – wahrscheinlich fällt ihr ohnehin kaum irgendetwas ein oder auf – versuchte dagegen weiter in mich zu dringen, zögerte alles, was mit der Kassenschublade, ihrem Inhalt und dem Wechselvorgang als Solchem zu tun hatte, unnötig hinaus und versetzte mich dadurch in Unruhe. Als sie dann doch endlich von mir abließ, und das nicht, weil ich mich ihr gegenüber befriedigend geäußert hatte, sondern weil ihr zum einen nicht mehr einfiel, und zum anderen die Kundenschlange länger und länger wurde, war ich völlig entnervt.

Dem Himmel sei gedankt, dass es in der Natur der Götter liegt, sich nicht direkt äußern zu müssen, sondern jemanden bestimmen zu können, der es für sie tut. Mit Varn als meinem Boten in jener Welt, blieb ich in dieser Tradition. Er würde sich an meiner statt äußern. Doch obwohl ich lange mit Varn in jener Welt herumgeirrt war, nachdem er zahllose entlegene Orte, Orte von unglaublicher Schönheit und Ruhe und beruhigend unbelebt und leer genauso wie lärmende Tanzsäle und überfüllte Marktplätze betreten hatte, hatte ich Varn bisher niemanden ansprechen lassen, hatte ihn sondengleich in jene Welt eingeführt, hatte durch ihn lediglich beobachtet, war auf Abstand geblieben und darum auch noch nicht aufgefallen.

Damit musste nun Schluss sein. Varn musste auf all die anderen Avatare zugehen. Vielleicht würde ich ihn am Ende auch direkt unter die schwarze Wolke schieben. Er würde dann alles sagen, was zu sagen war, und er würde Zuneigung oder Ablehnung erfahren.

3.

In gewisser Hinsicht ist jene andere Welt ehrlicher als die vor meinem Fenster, denn sie ist offensichtlich ein Produkt des Geistes. In der Welt vor meinem Fenster hingegen bezweifelt kaum jemand, ob das, was uns umgibt, wirklich so vorhanden ist. Es gibt halt nur einen Platon!

Aus dem, was über unsere Sinne in unser Hirn dringt, entwickeln wir Modelle. Es verhält sich sogar so, dass diejenigen, die anscheinend gescheitere Modelle zu Wege bringen, sich über diejenigen setzen, die in ihren Augen anscheinend plumpere nutzen. Alle, die sich Modelle machen, ganz gleich ob plumpe oder ausgefeilte, sind aber davon überzeugt, einen freien Willen zu haben, der sie über sich selbst bestimmen lässt, dass sie also vernünftige Entscheidungen treffen, anstatt unaufhörlich durch Hormone und genetische Veranlagung und Erziehung zu ihren Handlungen und Schlussfolgerungen getrieben zu sein. Sie vergessen, dass unser Kopf die Umwelt zusammensetzt und sich dabei Mittel bedient, die schon in den Köpfen unserer Vorfahren steckten.

Als ich später Alida gegenüber beispielsweise von der Liebe als Humbug sprach, dass die ebenfalls nur auf Hormone zurückzuführen sei und auf gar keinen Fall etwas mit Schicksal zu tun habe, dass Menschen im Grunde biologische Maschinen seien, die auf Grund komplizierter chemischer Wechselwirkungen funktionierten, lachte sie und meinte, dass das ja sehr langweilig klinge, wenn man die Dinge so sehe. Genau darum wolle sie mich vom Besseren überzeugen und würde keinesfalls frühzeitig aufstecken. Sie war sich sicher, dass es sich bei mir lohnen würde.

Ja, Alida, die an die Liebe glaubte wie Kinder an den Weihnachtsmann.

In jener Welt ist offensichtlich alles Illusion, ist alles manifestierte Vorstellung, und Varn war eine ihrer Manifestationen. In jener Welt ist alles erdacht, ist alles von einem Rechnersystem erschaffen, das wiederum auf seine Programme und damit seine Programmierer hört. Alles, was in jener Welt reine Fiktion ist, scheint in der Welt vor meinem Fenster zumindest in irgendeiner Form greifbar, wenn auch nur in einem für uns möglicherweise unbegreiflichen Sinn. So denken wir jedenfalls. Dabei ist es denkbar, dass sich jene Welt und die vor meinem Fenster ähneln!

Da Varn und seine Welt reine Illusion war, so waren es Varns Bewegungen erst recht. Auf meinem Bildschirm existierte Varn nicht als Wesen, das greifbar wäre. Ebenso wenig konnte er sich fortbewegen. Es leuchteten lediglich die Pixel neben ihm auf, die dort bereits vorhanden, aber noch nicht aktiviert oder noch nicht mit der Information, die Varn ausmachte, aktiviert waren, und es verlöschten andere, deaktivierten sich andere mit der Information über Varn und fielen auf die Information über die Umgebung zurück. So wurde eine Bewegung auf Grund der Geschwindigkeit, mit der dies alles vonstatten ging, vorgegaukelt. Tatsächlich aber rückte die Fläche, die Varn in seiner Umgebung einnahm, lediglich um ein winziges Stück zu einer Seite hin. Dafür wird Energie benötigt, die dort aus dem weltweiten Netz der Kraftwerke zur Verfügung gestellt wird. Und nur, weil unser Auge dieses Verrücken der Fläche und das darauf folgende wahrnimmt, und weil unser Gehirn diese schnelle Abfolge von einzelnen Bildern aus dem Auge nicht aufzulösen imstande ist, konstruiert es daraus eine Bewegung. So verhält es sich in jener Welt und in jeder anderen, die auf einem Bildschirm erzeugt wird. Die Bewegungen, ja der gesamte Bildaufbau, ist gequantelt. In der Welt vor meinem Fenster könnte es sich ebenso verhalten. Das Universum könnte einem riesigen Bildschirm gleich und aus mehr als nur zwei Raumdimensionen bestehend, jegliche Struktur darin je nach der Richtung des Energieflusses, in dem ebenfalls die Information zu einer Manifestation steckt, bilden. Materie ist Energie, und so könnte das Heben meines Armes, um mich beispielsweise am Kopf zu kratzen, in Wirklichkeit die Anregung der Teilchen in unmittelbarer Umgebung der Oberseite des ruhenden Armes bedeuten, die daraufhin Armteilchen werden, wohingegen die Teilchen der vormaligen Unterseite des Armes ihre Arminformation verlieren und so Teilchen der Umgebung werden. Am Ende bewegen wir uns alle gar nicht körperlich fort, sondern eine Anregungswelle beladen mit der Information, die uns ausmacht, pflanzt sich fort durch ein im Prinzip allmächtiges Medium, eines, das jede Form annehmen kann. Das, woraus dieses allmächtige Medium besteht, erfährt eine Wandlung zu einer Struktur, die abhängt von der Information und der Energie des gesamten Systems, des Universums oder Gottes, wenn man denn dran glauben will. So würden wir permanent neu erzeugt und vergingen im selben Moment wieder an anderer Stelle. Dies alles geschieht in einem größeren, übergeordneteren Maßstab als unsere Körper ohnehin in ihren Einzelteilen einem ständigen Werden und Vergehen, einem fließenden Gleichgewicht, unterworfen sind. Die das alles antreibende Energie ist in diesem allmächtigen System enthalten. Hatte ich nicht von so genannten virtuellen Teilchen gelesen, die quasi aus dem Nichts entstehen und spontan wieder ins Nichts verschwinden?

So gesehen behaupte ich, dass sich die Welt vor meinem Fenster lediglich durch die Anzahl der Dimensionen von jener Welt unterscheidet. Und alles Ähnliche will zusammenwachsen. Nur darum fließen die Flüsse zum Meer, nur darum formieren sich Vogelschwärme, nur darum werden Vereine gegründet, nur darum erkennen sich Frau und Mann.

Die Ähnlichkeit beider Welten war mir zunächst verborgen geblieben, und so fühlte ich mich, wie man sagt, überrumpelt, als ich später plötzlich auf sie stieß. Dabei hätte ich schon viel früher darauf kommen müssen, dass es diese Ähnlichkeit gibt und dass sich folglich auch jene Welt auf die vor meinem Fenster auswirken musste und umgekehrt. Ja, sogar die drohende Verschmelzung beider Welten, ihre Verschränkung ineinander – alles Ähnliche will zusammenwachsen – hätte ich vorhersehen können. Denn wusste ich nicht um die Bestrebungen, ein Outernet zu etablieren, also jedem Mobiltelefonbesitzer die Möglichkeit zu geben, mittels der eingebauten Kamera auf seine Umgebung zu zielen, um dann das hinter dem Telefon verborgene Internet diese Außenwelt erkennen lassen zu können? Selbst Gesichter völlig fremder Menschen sollen so mit im Internet gespeicherten Bildern verglichen werden. So soll sich dem Benutzer die Welt vor meinem Fenster als riesige Schaltfläche, als riesiger Desktop darbieten, dem er Informationen entnehmen kann, die ihm aber auch unaufhörlich zugetragen werden. Unaufhörlich erreichen ihn Angebote darüber, was er in seiner näheren Umgebung vorfinden kann, denn das Netz weiß um seine Bedürfnisse, weil er durch sein bloßes Suchen im Netz permanent das System mit Wissenswertem über sich selbst füttert. Das Netz will dem Benutzer nur Gutes tun und stöbert, ausgehend vom momentanen Standort des Benutzers, nach seinen Begierden. Wenn der Benutzer beispielsweise Erdbeeren mag und darum irgendwann im Netz nach einem Angebot für Erdbeeren gesucht hatte, dann wird ihm fortan unaufhörlich mitgeteilt, wo Erdbeeren in seiner nächsten Umgebung, ja weltweit gerade günstig zu kaufen sind. Ganz wund wird er im Hirn wegen der ständigen Erdbeerflut, die ihm den Verstand fortspült. All seine Neigungen, seine Interessen, seine Begierden werden so über einen langen Zeitraum im Internet völlig unpersönlich zusammengetragen, und fortwährend aktualisiert. Es ergibt sich ein konkretes Bild dieses Benutzers. Wenn man es drauf anlegte, könnte man sein Alter Ego im Netz finden, das zwar keinen Körper, aber doch sämtliche Information über ihn und seine Erdbeerneigung zur Verfügung stellen kann. So sind Benutzer und Netz miteinander verschränkt. Einen konkreten Hinweis auf meine Verschränkung mit jener Welt würde mir später mein Bankkonto geben.

Nun, jene Welt unterschied sich insofern, als dass ich dort auch einen Körper hatte. Ich war nicht nur mittels eines Mediums wie einem Telefon mit einer anderen Welt verbunden, sondern ich steckte mit Varn mitten darin. Ich konnte sogar, wie ich es später tat, einen Markt wie den an meiner Ecke besuchen. Ich streifte darin später umher, beobachtete die Avatare, wie sie zielstrebig auf das Obst, die Milchtüten, das Brot, die Kühltheken zusteuerten mit ihren so effizienten Bewegungen. Andere wiederum standen unschlüssig und nachdenklich mit hängenden Schultern vor den Auslagen, als wären sie eingeschlafen, gerade so, wie es mein Varn tat. Wenn er auf einer der Bänke saß – dort ist ja immer wunderbares Wetter, und man kann schön sitzen – und nicht in ein Gespräch verwickelt war oder sich nach allen Seiten umsah, dann nickte er für gewöhnlich schon nach wenigen Minuten ein. Sein Kopf sank auf seine Brust, und sein Körper schien sich vollständig zu entspannen.

In einem der Gänge stieß ich auf eine Frau, die der Frau von der Kasse in meinem Markt an der Ecke durchaus glich. Gerade wollte sie einige Konservendosen in ein hochgelegenes Regal sortieren und musste sich dabei übermäßig strecken. Sie ist eine recht kleine Frau, dachte ich bei mir. Wie die Frau im Markt an der Ecke, und ich fragte mich, warum sie dies Problem nicht einfach schwebend löste. Bestimmt ist sie ein Neuling, und so wollte ich gerade das Wort an sie richten, wollte sie ebenso unbefangen duzen wie jeden in jener Welt, als sich ihr Gesicht zu einem Stirnrunzeln verzog. Weiß der Himmel warum. Aber es gebot mir Einhalt. Avatare verziehen ihr Gesicht nicht in dieser Weise. Unsere Gesichter werden von sechsundzwanzig Muskeln bewegt, die für gewöhnlich zwar nicht gleichwertig für unsere Mimik eingesetzt werden, aber doch alle daran beteiligt sein können. Kein Avatar hat solch viele Möglichkeiten, sein Gesicht zu bewegen, und so behilft man sich dort mit Gestik, um der inneren Bewegung Ausdruck zu verleihen.

In dem Moment, da sie ihre Stirn runzelte, wechselte die Illusion in die Wirklichkeit des Marktes gerade so, wie der Traum des Mittagsschlafes dem Erwachen weicht. Diese Frau war kein Avatar, sondern es war tatsächlich die Frau aus dem Markt an der Ecke, wie auch der Markt selbst nicht in jener Welt, sondern in der Welt vor meinem Fenster stand. Ich musste verrückt gewesen sein, denn nur so konnte ich mir meinen Irrtum erklären. Das künstliche Licht im Markt sowie die Anordnung des Inventars mag seinen Teil zu dieser Illusion beigetragen haben. Diese Frau rechnete keinesfalls damit, von Varn, von mir, angesprochen zu werden. Ich war nicht Varn, der in jener Welt inzwischen permanent andere ansprach. Hätte ich sie angesprochen und dabei sogar geduzt, so hätte sie sich bestimmt gewundert. Ich hingegen war über meine Erfahrung so erschrocken, dass ich erstarrte. Hatte ich diese Frau nicht gerade auf die Möglichkeit des Schwebens aufmerksam machen wollen, als sei sie ein Neuling in jener Welt? Hatte ich ihr nicht sogar ein paar Tipps zu den beliebtesten Orten in jener Welt geben wollen? Mir schauderte bei dem Gedanken, zu welchem Tun mein Kopf mich beinahe verleitet hatte.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739493756
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (April)
Schlagworte
Second Life Immersion Amour fou Avatar virtuelle Welt Liebesroman Liebe Dystopie Utopie Science Fiction

Autor

  • Volker König (Autor:in)

Volker König wurde 1965 in Dortmund geboren und wuchs in Herdecke auf. Nach seinem Biologiestudium begann er zu schreiben. Bisher erschienen sind der Roman "Tantenfieber", der Erzählband "Dicke Enden", die Novelle "Die Farbe des Kraken", die Erzählung "VARN", der SF-Roman "In Zukunft Chillingham" und der Kriminalroman "Früh am Morden".
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Titel: Varn