Lade Inhalt...

Tantenfieber

Ein humorvoller Roman

von Volker König (Autor:in)
187 Seiten

Zusammenfassung

Walter Semmler ist extrem kurzsichtig, ein lausiger Bankangestellter, über vierzig, Mutters Söhnchen und Jungfrau. Als sich die geheimnisvoll attraktive und junge Tante Goutiette bei ihm einnistet und so sein streng geordnetes Leben bedroht, steht für Semmler fest: Er muss sie loswerden! Bei dem Versuch stößt der verpeilte Eigenbrötler schnell an seine Grenzen. Kann ihm die nette Frau aus der Bibliothek helfen? Was haben die freundliche Nachbarin oder gar seine Mutter vor? Stimmt mit ihm selbst etwas nicht? Oder steckt hinter all der plötzlichen Unordnung in seinem Leben am Ende doch etwas ganz anderes?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Impressum

© Neuauflage Januar 2020 

© 2003 Volker König 

Kämmereihude 14, 45326 Essen 

www.vkoenighome.de 

Bildquelle: pixabay 

Coverdesign: Hanspeter Ludwig 

ISBN der Printversion: 9 783750 403598 

Zitat

Der Fuchs im Hühnerstall 

veranstaltet das gleiche Chaos, 

wie das Huhn im Fuchsbau. 

 

Thomas S. Lutter 

1.

Sechs Beine sind gut. Mit sechs Beinen kann man allerhand anfangen, vor allem dann, wenn an jedem ihrer Enden zwei nadelspitze Krallen sitzen, wenn keines von ihnen eigene Wege gehen will und man es sich in den Kopf gesetzt hat, eine Steilwand zu erklimmen. Der Käfer hatte sich genau das vorgenommen.

Stur kroch er an ihr höher, einem matten Schimmer entgegen. Dieser Schimmer und diese Wand waren zurzeit das Einzige, was ihn überhaupt interessierte. Nicht der aufkommende Wind, nicht der sich verdunkelnde Himmel, nur der Schimmer. Dort oben war bestimmt etwas ganz Tolles!

Der Käfer kantete sich durch einen lächerlichen Zaun. Zumindest sah das, was sein Gehirn aus Tausenden kleiner Bildchen zusammensetzte wie einer aus. Zäune sind egal, Schimmer ist toll. So einfach ist das bei Käfern.

Das Schimmern war jetzt unglaublich nah. Aber da war noch etwas im Wege. Sein rechter Vorderfuß rutschte darauf herum. Das war verteufelt glatt. So weit er langen konnte, war es so glatt, dass es jetzt einen Eintrag in einem Verzeichnis seines Oberschlundganglions erhielt. Und zwar in der Rubrik Wahrscheinlich niemals zu überwinden. 

2.

Das Puzzleteil war grün bis auf einen winzig gelben Tupfen am Rand einer seiner beiden Ausbuchtungen. Man konnte ihn eigentlich nur mit einer Lupe erkennen, oder wenn man sich das Puzzleteil wie Walter Semmler sehr dicht vor die Augen hielt. In diesem Abstand erkannte man dann auch eine feine, blaue Linie, die sich mitten durch ihn hindurch zog. Das war der Hinweis, den Walter Semmler benötigte, und er setzte sich seine schwere Brille zurück auf die Nase. Er drückte das Pappstückchen mit den zwei Aus- und Einbuchtungen mitten in einen großen Baum.

Der Baum war bis dahin seltsam unvollständig gewesen, aber mit diesem grünen Teil, seinem winzigen Tupfen und der feinen blauen Linie darauf geschah eine Verwandlung mit ihm, die ihn genau so perfekt machte, wie ihn Spitzweg gemalt hatte. Walter Semmler strich vorsichtig mit der flachen Hand über seine mit feinen Rillen durchzogene Oberfläche. Für heute Abend sollte es gut sein. Morgen würde er weitermachen. Er hob das Tablett  zusammen mit dem Puzzle darauf vom Couchtisch auf einen Beistelltisch neben seinem Sessel. Dann zog er sich sein Abendbrot vom Rand des Tisches heran: Käsebrote und Kamillentee, dazu eine Papierserviette. Den Tee verfeinerte er mit einem Löffel Honig. Filialleiter Reuter hatte ihm den heute geschenkt. Er drehte den elektrischen Heizlüfter, den er trotz milder Außentemperaturen aufgestellt hatte und der ihm warme Luft in die Hosenbeine blies, eine halbe Stufe höher und grub seine Füße tief in die Pantoffeln. Er drückte die Fernbedienung.

„... darum ist die Zunahme an Unordnung unausweichlich. Die Entropie als Maß für die Unordnung ...“

Semmler wechselte den Sender.

Wettervorhersage. Zeitweilig Regen bei 21 Grad. Nun ja. Morgen würde er einen Schirm zur Bank mitnehmen müssen.

Eine Musiksendung begann. Semmler säbelte mit Messer und Gabel Stücke vom Käsebrot ab, stieß die Brot-Käse-Masse mit der Zunge von der linken in die rechte Mundhälfte und wieder zurück und spülte jeweils mit einem Schluck Kamillentee hinunter. Die Klänge der Sendung schallten durch sein Wohnzimmer. Er genoss den Anblick der Musikanten, wie sie in ihren Dirndln und blütenweißen Hemden vor einer Bauernhauskulisse standen, wie sie mit glasklaren Stimmen von der Schönheit der Welt sangen, ließ sich vom weichen Klang einer Trompete verzaubern und lachte über die kecken Witze der Moderatorin, bis der Tee seinen Tribut forderte. Er tupfte sich die Lippen mit der Papierserviette und stand auf.

Kalt glänzte ihm das weiße Porzellan entgegen. Kalt und sauber, dachte Semmler, während er die Toilettenbrille anhob und dabei den frischen Duft eines Toilettensteines einatmete.

Unausweichliche Unordnung! Sogar ein Wort hatte man dem gegeben: Entropie. Obwohl nur zufällig vorhin aufgeschnappt, geisterte es jetzt durch seinen Kopf.

Er betätigte die Spülung, verfolgte das blau gefärbte Spülwasser, wie es sich mit dem gelben Urin vermischte und dann, jetzt grünlich, im dunklen Loch vor dem Porzellanplateau verschwand. Dann wendete er sich dem Waschbecken zu. Die Hände in den lauwarmen Strahl haltend, konnte er es sich nicht verkneifen, einen intensiven Blick auf seine Zähne im Spiegel zu werfen. Für sein Alter sah das alles noch gut aus.

Er drehte den Wasserhahn zu und trocknete sich die Hände an einem Frotteetuch, das er anschließend sorgfältig über den Halter legte. Dann strich er eine Strähne seines leicht schütteren Haares zurück.

Jetzt war es an der Zeit, eine saure Gurke zu essen. Er machte daher einen Abstecher in die Küche. Im Kühlschrank stand das Gurkenglas an seinem Platz zwischen einer zur Hälfte ausgedrückten Tube Tomatenmark und einem Klotz Käse.

Semmler ergriff eine tiefe Befriedigung. In diesem Kühlschrank, in seiner ganzen Wohnung, ja überhaupt in seinem ganzen Leben war keinerlei Anzeichen von Unordnung oder gar eine unausweichliche Zunahme von ihr zu entdecken. Und das musste auch so sein, denn nur so war sichergestellt, dass er sich auch ohne seine Brille zurechtfinden konnte. Blind sozusagen. Denn das war er dann im Prinzip.

Weitsichtige könnten auch ohne Augengläser selbst in der Wildnis überleben, weil sie eine herannahende Gefahr kommen sehen und so Zeit genug haben, um zu flüchten oder gar Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Wenn Weitsichtige ihre Sehhilfe in der Wildnis aber dabei haben, dann sind sie unschlagbar, denn dann könnten sie sich dort sogar mit ihrer Hilfe ein Feuer anzünden. Kurzsichtige jedoch, und vor allem extrem Kurzsichtige wie Semmler, stehen ohne ihre Brille wie in einem dicken Nebel, aus dem sich viel zu spät eine herannahende Gefahr herausschält. Doch selbst fern der Wildnis, wo es keine angreifenden Bären und keine plötzlich im Wege stehenden Bäume gibt, selbst in der eigenen Behausung, ist ein extrem Kurzsichtiger wie Semmler nur überlebensfähig, wenn er seine Umgebung genau kennt. Er muss ein genaues Bild von ihr in sich tragen und ist ohne ein gutes Gedächtnis aufgeschmissen. Veränderungen sind möglichst zu vermeiden oder rückgängig zu machen. Am einfachsten und sinnvollsten ist es, wenn alles an seinem Platz blieb, und sei es nur ein Gurkenglas.

Knackend gab der Verschluss nach. Eng aneinander gepresst steckten die Gurken darin. Semmler zog an einer. Sie war fest in die anderen verkeilt, und Semmler wunderte sich wieder einmal, wie sie alle dort hineingelangt waren. Nach einiger Mühe gab eine von ihnen nach, und Semmler steckte sie in den Mund, stellte das Glas zurück an seinen Platz, zog den Gummistöpsel aus dem Ausguss und reinigte seine Finger. Bevor er sich der Tür zuwenden und die Küche verlassen wollte, wischte er auf Verdacht mit der rechten Hand über den Tisch. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er einige wenige, wohl winzige Krümel am Handballen spürte, die er sich in die linke Hand fegte, um sie dann ins Spülbecken zu werfen. Er zog den Stöpsel erneut und spritzte die Krümel in die Tiefen der Kanalisation. Während er den Stöpsel zurück drückte, dachte er an Spinnen und anderes Getier, dem der Zugang in seine Welt jetzt wieder versperrte war. Er hasste derartiges Getier, denn es tauchte immer plötzlich auf.

Unwillkürlich blickte er aus dem Fenster über der Spüle. Da draußen lauerten sie alle. Krabbelnd und fliegend, mit emsiger Triebhaftigkeit, unter jedem Stein, jedem Blatt, nur darauf aus, ihn zu bedrängen. Da draußen war Unordnung oder, wie er vorhin gelernt hatte, erhöhte Entropie. Hier drinnen war Ordnung, und die würde er verteidigen, so lange er lebte.

Die Dämmerung setzte ein, und darum mussten die Rollläden geschlossen werden. Eine sehr befriedigende Angelegenheit. Lamelle um Lamelle würde aus dem schmalen Spalt oben vor dem Fenster sinken. Die kleinen Löcher zwischen den Lamellen gäben noch für einige Momente den Blick auf die dämmerige Umgebung frei, bis selbst dieses zerstückelte Muster der Außenwelt mit dem Zusammensacken der Lamellen verschwände. Zuvor musste aber noch ein auf Kipp stehendes Wohnzimmerfenster geschlossen werden. Gerade wollte er sich daran machen, als das Telefon klingelte.

Semmlers Eingeweide verkrampften sich. Wer konnte das sein? Außer seiner Mutter hatte eigentlich nur noch Filialleiter Reuter seine Nummer. Und diese beiden würden ihn nicht um diese Zeit erreichen wollen. Semmler näherte sich klopfenden Herzens dem Wahlscheibenapparat im Flur. Ob etwas mit seiner Mutter passiert war? Einerseits wollte er mit etwas derartig Entsetzlichem gar nicht konfrontiert werden, andererseits wäre es vielleicht gut, wenn er darum wüsste. Zaghaft hob Semmler den Hörer an sein Ohr.

„Hallo?“

Semmler hörte zwei, drei tiefe Atemzüge. Dann wurde aufgelegt. Semmler starrte auf den sanft tutenden Hörer. Vielleicht hat sich jemand nur verwählt, beruhigte er sich und legte den Hörer auf.

Er wendete sich den Rollläden zu. Die Zeit, die ihn der Telefonanruf gekostet hatte, galt es aufzuholen. Es war ein Rennen gegen die Dunkelheit. Noch war es draußen etwas heller als hier drinnen, und so würde das Getier nicht angelockt. Aber in wenigen Augenblicken würde selbst eine kleine Lampe zu einer Attraktion für die da draußen. Er eilte dem letzten Wohnzimmerfenster entgegen. Das stand noch immer auf Kipp! Er hatte es doch vor der Rollladenprozedur schließen wollen. Erst die Fenster zu, dann die Läden runter. So war er immer vorgegangen, das hatte sich bewährt. Was hatte ihn heute davon abweichen lassen? Dieser verfluchte Anruf! Noch bevor Semmler das Fenster schließen konnte, verschaffte sich ein Tier der Nacht nervös flatternd Zugang zu seiner Wohnung. Semmler ließ die Rolllade entgegen seiner Gewohnheit herunter rasseln. Für laute Rollladengeräusche war die Zeit bestimmt überschritten.

Semmler starrte auf die Uhr wie auf ein giftiges Tier. 22:08 Uhr! Er ging zurück zur Toilette. Von dort konnte er einen unauffälligen Blick auf die Nachbarschaft werfen, um zu sehen, ob jemand auf sein Treiben aufmerksam geworden war. Er machte kein Licht, sondern kletterte im Dunkeln auf den geschlossenen Klodeckel, um dann das kleine Fenster zu öffnen. Ein saugendes Geräusch bezeugte die Qualität der Dichtung. Sie musste vor allem bei diesem Fenster sehr gut sein, denn das Toilettenfenster hatte keine Rolllade.

Semmler spähte nach draußen. Feiner Regen wurde herein geweht und besprühte seine Brillengläser. Die kleine Straße lag ruhig da, und selbst die Fenster von Frau Leibisch von gegenüber waren dunkel. Semmler war erleichtert, warf aber noch einen Blick an der Hauswand entlang zu den anderen Fenstern seiner Wohnung. Das Licht der Straßenlaterne brach sich in nach unten gerichteten Stacheln an der Unterkante der Fenster. Dieser Zaun würde sowohl Katze, Marder als auch Wiesel abhalten. Wenn Semmler genau hinschaute, dann konnte er sogar das schmale Metallband erkennen, das ihn vor Ameisen und Schnecken bewahren sollte. Selbst solchen Geschöpfen, wie er eines von ihnen soeben ertappt hatte, blieb normalerweise keine Chance.

Er schloss das Fenster, wischte sich die Brille mit Toilettenpapier trocken, das er geistesabwesend in seine Hosentasche steckte, schaltete den Fernseher aus und alle Lichter ein.

Mit Fliegenklatsche und Handstaubsauger bewaffnet machte er sich auf die Jagd. Sein Blick tastete sich über die großen Flächen der Wohnung. Die Wände, die Decke, den Fußboden, die Tischplatte. Nichts. Dann rutschte Semmler in seiner ausgebeulten Anzughose und mit Pantoffeln an den Füßen auf dem Teppichboden umher und suchte Ecken, Ritzen und Spalten ab. Zunächst blieb sein Stöbern ergebnislos, aber dann erschien das Tier vor seinen angestrengten Augen. Es flatterte bis zu der ganz besonders hellen Lampe mit Porzellansockel auf dem Couchtisch, die durch einen nicht ganz sicheren, weil erschreckten Schlag Semmlers, quer durch das Zimmer fegte und an der gegenüberliegenden Wand neben einem zusammengeklebten Puzzle eines Caspar-David-Friedrich-Gemäldes zerschellte. Semmler verlor durch den Schlag sein Gleichgewicht und konnte den Fall nur dadurch aufhalten, indem er sich auf dem Couchtisch abstützte. Dort erwartete ihn die Gabel.

Der Schmerz folgte mit Verzögerung. Semmler riss die Gabel aus seinem Handballen. Blut drang aus den vier Einstichen. Er fluchte.

Eigentlich hätte er die Wunde sofort versorgen müssen, aber seinen inneren Kampf zwischen medizinischer Notwendigkeit und Invasorenabwehr entschied das Tier, das jetzt unbeeindruckt vor seiner Nase schwebte. Ein Schlag, der den Falter in die Löcher der Klatsche presste, und die anschließende Säuberung mit dem Handstaubsauger bestätigte Semmler in seiner technischen und körperlichen Überlegenheit.

Gerade als er sich dem Badezimmer zuwenden wollte, um seine Wunde zu versorgen, klingelte es an der Tür.

3.

Filialleiter Reuter spürte, wie sich seine Frau näherte, denn er roch ihre Handcreme, ihre Gesichtscreme, ihre Körperlotion. Jeden Abend brachte sie eine Weile im Badezimmer damit zu, sich einzureiben. Wie immer verteilte sie auf den letzten Schritten zum Bett die Reste der Handcreme auf ihren Unterarmen. Die waren inzwischen weich wie ein Babybauch, und manchmal, wenn er sie unbeabsichtigt berührte, konnte er sich davon überzeugen.

„Hast du heute nicht genug telefoniert?“, fragte Iris und verschwand im Schlafzimmer. Die Katze folgte ihr auf dem Fuß.

„Ich wollte nur Herrn Semmler ...“

„Um diese Zeit? Du siehst ihn doch gleich morgen.“

Er hörte, wie sie die Bettwäsche aufschlug.

„Dann könnte es zu spät sein. Er ist aber auch nicht dran gegangen.“

„Ich würde auch nicht mehr ran gehen. Alles, was abends nach halb zehn telefonisch besprochen wird, ist entweder eine Katastrophe, oder es ist Alkohol mit im Spiel. Trifft irgendetwas davon zu?“

Jetzt klopfte sie sich das Kissen zurecht.

„Nein“, sagte Reuter und hatte damit gelogen.

„Dann komm ins Bett“, sagte sie, und Reuter wusste, dass sie eigentlich nicht scharf darauf war.

4.

Der Anruf kurze Zeit zuvor war von seiner Auswirkung auf Semmler verhältnismäßig spurlos geblieben. Jetzt aber waren Semmlers Füße auf ihrem Weg zum Flur verharrt, sein Unterleib wies ebenfalls in diese Richtung, aber der Oberkörper war zur Tür gedreht und sein Blick auf diese geheftet. Dort, hinter jener Holzplatte, keine fünf Schritte von ihm entfernt, musste ein Mensch stehen. Dieser Mensch wollte zu ihm, dieser Mensch wollte hier herein! Auf Semmlers Stirn sammelten sich Schweißtropfen, und sein Atem ging flach. Es klingelte erneut. Das schien seinen Körper zu erweichen. Semmler blickte auf seine Armbanduhr. 22:29 Uhr.

Mit angehaltenem Atem pirschte er sich auf Zehenspitzen an die Tür heran. Es klingelte wieder. Laut und eindringlich. Dann eine Stimme.

„Hallo!“

Eine Frauenstimme! Semmlers Herz dröhnte. Er spürte, wie sich hektische Flecken auf Gesicht und Hals sammelten. Es war schon mehr als ungewöhnlich, dass ihn überhaupt jemand besuchen kam, zudem noch mitten in der Nacht und vor allem unangemeldet. Aber eine Frau? Es klopfte.

„Hallo! Ist da jemand?”

Leise klickte Semmlers Brillenglas gegen den Rand des Türspions. Gegen das Licht der Straßenlaterne hob sich eine Gestalt mit fransigen Haaren und einem mächtig breiten Oberkörper auf spindeldünnen Beinen ab.

„Walter, ich weiß, dass du da bist”, rief die Frau und versuchte, durch die andere Seite des Spions zu blicken.

Semmler prallte zurück. Diese Frau kannte seinen Namen, sogar seinen Vornamen, und der stand nicht auf dem Klingelschild. An die Tür gelehnt drehte er mit der unverletzten Hand den Dimmer der Deckenlampe herunter. Jetzt war von außen kein Licht mehr zu erkennen. Er hatte das überprüft.

Mit aller Macht versuchte er, seinen fliegenden Atem zu kontrollieren, aber das verursachte einen unangenehmen Druck im Kopf.

„Nun sag schon was”, flüsterte von der anderen Seite die Stimme, die zierlich zu dem klang, was Semmler durch den Spion gesehen hatte.

„Ich kann dein Herz klopfen hören.“

Sofort rückte Semmler von der Tür ab.

„Du hast doch nicht etwa Angst vor mir?“

„Nein“, log Semmler und stopfte sich erschrocken die Faust in den Mund.

„Walter, ich bin es. Deine Tante Goutiette. Mach schon auf. Ich werde ganz nass.”

Tante Goutiette? Er kannte keine Tante Goutiette! Genau genommen hatte er noch nicht einmal eine Tante, wenn er einmal von den Tanten und Onkeln absah, die er lediglich so nannte, weil sie älter als er waren und mit Mutter in irgendeinem freundschaftlichen Verhältnis standen.

„Ich habe keine Tante Goutiette!“, rief er deshalb.

„Hast du doch“, klang es von der anderen Seite.

„Was für eine Art Tante wollen Sie denn sein?“, fragte Semmler.

„Ich bin die Halbschwester deiner Mutter“, tönte es verschnupft durch die Tür.

„Mutter hat keine Halbschwester”, bemerkte Semmler. Blut tropfte aus den vier Einstiche in seiner Hand auf den Fußboden. Er wickelte sein Taschentuch samt dem Stück Toilettenpapier um die Verletzung.

„Und wenn ich dir sage, dass deine Mutter Agnes Semmler, geborene Bender, ist? Glaubst du mir dann?“

„Das könnten Sie irgendwo gehört haben. Auf so etwas falle ich nicht herein. Verschwinden Sie, sonst rufe ich die Polizei!“

Semmler lauschte angestrengt, ob seine Drohung Eindruck gemacht hatte. Doch da war nur das leise Rauschen des Regens.

„Bitte, lass mich doch nicht so betteln. Was sollen denn die Leute denken?”, flüsterte Tante Goutiette von der anderen Seite der Tür, und es folgte ein unterdrücktes Husten. „Behandelt man so eine Dame?“

In Semmler stand irgendetwas unwillkürlich stramm. Nein, Damen behandelte man nicht so. Zumindest er behandelte so keine Damen.

„Aber ich bin überhaupt nicht auf Besuch eingerichtet“, sagte er mit Blick auf den Abendbrotteller.

„Ich komme ja auch gar nicht zu Besuch, ich muss dir eine wichtige Sache erzählen.“

„Du lieber Himmel!“, rief Semmler, denn der blutige Lappen um seine Hand war auf den Fußboden gerutscht.

„Ich gebe ja zu, dass es etwas plötzlich kommt, aber die Dinge entwickeln sich nicht immer so, wie man es will.“

„So ein Unsinn ...“, begann Semmler geistesabwesend und griff nach dem blutigen Lappen.

„Ich habe auch lange überlegt, ob ich dich aufsuchen soll.“

Semmler wickelte das Tuch wieder um die Hand, aber es wollte nicht halten.

„Verdammt!“

„Was ist los?“

„Ach nichts. Ich habe mich nur eben verletzt.“

„Ist es schlimm?“

„Es blutet.“

„Das muss sofort desinfiziert und verbunden werden.“

„Ja, ich weiß. Aber ...“

„... du weißt nicht, wie man das macht, nicht wahr?“

„Eigentlich weiß ich ganz genau, wie man das ...“

„Komm, Walter. Lass mich rein. Ich kann dir bestimmt helfen.“

Semmler nickte. Eigentlich war es ziemlich unerheblich, ob die Frau vor der Tür seine Tante war oder nicht. Da war eine Dame, die an seine Tür geklopft hatte und die nun im Regen stand. Darüber hinaus wollte er das Glück der um weniges verzögerten, aber unentdeckt gebliebenen Rollladenprozedur nicht doch noch verspielen, indem er jemanden vor seiner Tür Radau schlagen ließ. Außerdem konnte sie ihm wirklich helfen.

„Sie müssen mir aber versprechen, dass es schnell gehen wird“, sagte Semmler.

„Aber ja, ich verspreche es.“

So kam es, dass Semmler den Dimmer wieder hoch drehte, die drei Schlösser entriegelte und die Tür öffnete.

„Na endlich”, seufzte Tante Goutiette, als sie tropfnass, eine Parfumwolke hinter sich herziehend, am erstarrten Walter Semmler vorüberrauschte.

Alles an ihr war reizend. Die fransigen Haare waren genauso verschwunden wie ihr breites Kreuz. Semmler gestand sich ein, dass er wohl zu aufgeregt gewesen war und außerdem kaum Erfahrung im Umgang mit seinem Türspionen hatte.

„Zeig mal her!“

Semmlers Erstarrung löste sich und er streckte ihr die blutende Hand entgegen.

„Du lieber Himmel. Das sieht gefährlich aus.“

„Das Badezimmer ist ...“

„... ich weiß“, entgegnete die Frau.

Mit einer geschmeidigen Bewegung ließ sie ihren durchnässten Mantel auf den Fußboden gleiten. Semmler blickte ihr irritiert nach, als sie mit geradezu unheimlicher Zielstrebigkeit dem Badezimmer entgegen stöckelte. Wie in Trance hob er den Mantel mit spitzen Fingern auf und hängte ihn an den Garderobenständer.

„Das ist ja ganz reizend!“, hörte er sie rufen. „So schön weiß und kühl!“

Sie sah ganz anders aus als seine Mutter. Andererseits sollte sie ja auch nur ihre Halbschwester sein. Semmler setzte sich auf das Sofa.

Die Frau kehrte mit einer Wundkompresse, einer Mullbinde und einem Fläschchen Jodtinktur zurück. Im Übrigen hatte sie sich ein Handtuch um den Kopf gewunden und eine Zigarette angesteckt.

„Du kannst von Glück reden, dass ich da bin“, sagte sie und kniete sich vor Semmler auf den Teppich gerade so, dass der direkt auf ihr Dekolleté blicken musste. Er wendete den Kopf ab. Geschickt verband die Frau seine Hand, die Semmler für die Dauer der Prozedur fremd wurde.

„Wie hast du das denn nur geschafft? Sieht wie die Einstiche einer Gabel ...“

„... es war ein Unfall.“

„Wie dem auch sei. Du bist sicher überrascht über meinen Besuch, nicht wahr, Walter?“

Semmler nickte matt.

„Ich war gerade in der Gegend, und da habe ich mir gedacht: Schau doch einfach mal bei deinem Neffen Walter vorbei … Wie groß du geworden bist! Auf den Bildern warst du noch viel kleiner.“

„Nun ja“, murmelte Semmler, vermied es, sie direkt anzublicken und hatte das Gefühl, als stecke er in seinem Konfirmationsanzug.

„Was müssen Sie ...“

„Walter! Du kannst mich ruhig duzen“, unterbrach die Frau.

„Oh, nun ja … Was müssen … du … mir denn Wichtiges erzählen?“, fragte er.

Sie setzte sich auf das Sofa.

„Sei so gut und bring mir etwas zum Trinken.“

„Ich habe außer Kranwasser aber nur kalten Kamillentee“, stammelte Semmler.

„Lieber Kranwasser“, meinte die Frau.

Semmler ging in die Küche wie jemand, der eigentlich ein scharfes Auge auf ein unternehmungslustiges Hündchen haben müsste. Während er ein Glas füllte, ordneten sich seine Gedanken etwas. Die Frau hielt sich trotz der erwiesenen Hilfeleistung schon viel zu lange in seiner Wohnung auf. Außerdem hatte sie noch nicht seine Frage beantwortet. Er musste energischer vorgehen. Entschlossen kehrte er ins Wohnzimmer zurück.

„Und jetzt erzähle, was du mir ...“

Er blieb abrupt stehen. Ihr Kopf war nach hinten auf die Rückenpolster gesunken, und ihr Mund stand weit offen. Die Arme hingen schlaff herab. Leises Schnarchen ließ die Luft und Semmlers Herz erzittern. Ihre Zigarette musste sie kurz zuvor in einem Käsebrotrest ausgedrückt haben. Noch immer qualmte sie sanft vor sich hin.

„Tante Goutiette“, flüsterte Semmler und musste sich darüber wundern, dass er dieses Verwandtschaftsverhältnis schon hingenommen hatte. Die Tante rührte sich nicht. Nervös nahm Semmler einen Schluck Wasser und setzte das Glas dann fahrig ab. Was sollte er tun? Sie aufzuwecken hatte er nicht den Schneid, aber sie einfach so sitzen zu lassen verbot seine Höflichkeit. Also entschied er sich widerwillig, sie in eine bequemere Position zu manövrieren. Er nahm ein Kissen, legte es neben sie und drückte dann eine zusammengefaltete Decke an die Schulter der Schlafenden, bis sie sacht zur Seite kippte und ihr Kopf auf das bereitliegende Kissen sank. Dann presste er die Decke unter ihre Beine und hob diese damit auf das Sofa. Jetzt lag sie einigermaßen bequem, nur ein Arm steckte leicht verdreht unter ihrem Körper. Aber Tante Goutiette nahm ihm die Lösung dieser heiklen Aufgabe ab, indem sie sich im Schlaf bewegte, bis sie ausgestreckt dalag. Semmler breitete die Decke über ihr aus und verschob seine Fragen auf den nächsten Morgen.

 

Später lag er mit weit aufgerissenen Augen im Bett. Er presste sich den Wecker mit den Leuchtziffern vor das Gesicht und nahm die Stellung der Zeiger mit Beunruhigung wahr. Kurz nach zwei! Immer wieder wälzte er sich von einer Seite auf die andere, zählte Kühe oder die wenigen Autos, deren Scheinwerferlicht durch die Ritzen dieser Rolllade drang und die Zimmerwände in helle und dunkle Streifen verwandelte. Wie konnte die Halbschwester seiner Mutter, die im Wohnzimmer auf dem Sofa laut schnarchte, jünger sein als er selbst? Was hatte sie ihm Wichtiges zu erzählen? Wieso wusste sie, wo sein Badezimmer war, und wie konnte er seiner Mutter das alles erklären? Morgen, nein heute würde sie ihn besuchen kommen. Zwischen diese Fragen wob sich seine Befürchtung, ob er die Tür nach dem Einlass der Tante rechtzeitig verschlossen hatte. Was für ein sechsbeiniges Tier würde ihm morgen früh über den Weg laufen? Oder wie viele davon? In seiner Vorstellung hatten sie das Gesicht von Tante Goutiette, oder war Tante Goutiettes Körper der eines Tieres? Oder der einer Gabel mit Gurkenzinken? Außerdem bildeten die Scherben des zerbrochenen Lampensockels ein kühnes Mosaik vor den rotglühenden Zähnen eines Monsters in Heizlüftergröße. Davor hüpfte ein Hahn auf einem Bein durch wild flatternde, tropfnasse Wäsche. Und während all diese Vorstellungen mehr und mehr miteinander verschmolzen, bis sie ein völlig unlogisches Paket aus Zusammenhängen, Mutmaßungen und Befürchtungen bildeten, hatte Semmler gar nicht bemerkt, dass er eingeschlafen war.

5.

Die Batterie der Nachttischuhr musste kurze Zeit nach seinem Abgleiten in verworrene Traumszenarien die letzte Spannung verloren haben. Seiner inneren Uhr, seinem alles andere als erholsamen Schlaf, aber vor allem einem hellen Gesang hatte es Walter Semmler zu verdanken, dass er aufwachte. Der Gesang vergegenwärtigte ihm den vergangenen Abend und den späten, sonderbaren Besuch.

Sein Rücken, seine Schultern, sein Hals und selbst seine Kaumuskeln waren hart wie tiefgefrorener Fisch. Ächzend richtete er sich im Bett auf und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war spät, aber noch nicht zu spät, um halbwegs pünktlich zur Arbeit zu kommen. Er stolperte, dem Gesang folgend, durch die abgedunkelte Wohnung bis zum Badezimmer. Feuchtwarmer Wasserdampf quoll unter der Tür hervor, und der glasklare Gesang mischte sich in das Rauschen der Dusche. Vorsichtig schlich er sich an die Tür heran, presste eine Gesichtshälfte an die feuchte PVC-Beschichtung und lauschte. Der Gesang verstummte. Mit zitternder Hand klopfte Semmler an die Tür. Das Wasser wurde abgestellt.

„Ja?“

„Tante Goutiette?“, sagte Semmler etwas zu leise. Dann räusperte er sich. „Ich muss dringend in das Badezimmer, denn ich bin etwas spät dran.”

„Einen Moment noch, Walter. Ich bin gleich soweit.”

Semmler atmete tief ein. Er fühlte seinen Zeitplan in Gefahr. Um Schlimmeres zu verhindern beschloss er, sein Frühstück vor dem Duschen herzurichten. Er stapfte in die dämmerige Küche.

Die Krümel auf dem Küchentisch hätte er vielleicht noch verkraftet. Aber der weit geöffnete Kühlschrank mit dem ausgelaufenen Tauwasser und – sehr unappetitlich – ein angenagtes Hühnerbein ließen ihn erschauern. Ein Gluckern wie aus einem Lavasee drang aus seiner Brust. Das konnte nur Tante Goutiette gewesen sein! In Anbetracht seines geradezu qualvollen Dahindämmerns während der vergangenen Nacht konnte er überhaupt nicht glauben, dass er hiervon nichts mitbekommen hatte.

Sie hatte wieder zu singen begonnen, aber das ging jetzt in ein Stöhnen über. Semmler erbebte. Die nunmehr spitzen Juchzer bereiteten ihm Angst. Außerdem raste die Zeit dahin. Lang genug hatte er gebraucht, um einen genau bemessenen Zeitplan aufzustellen. Eigentlich hätte er jetzt bereits geduscht sein müssen, genauer gesagt, wäre er jetzt normalerweise dabei, seine Socken anzuziehen. Und er war noch immer im Pyjama.

Kopflos stolperte er zur Badezimmertür. Er wollte kräftig dagegen bollern, aber ein ganz besonders lustvolles Stöhnen ließ sein Selbstvertrauen schwinden. Hier konnte, wollte und durfte er nicht dazwischenfahren. Er schlich in sein Schlafzimmer und hockte sich auf die Bettkante.

Er konnte ja etwas auf dem Weg beim Bäcker kaufen. Einen Deodorantstift hatte er in der Nachttischschublade und ebenso eine Sprühflasche gegen schlechten Atem. Mit geübten Griffen kleidete er sich an. Dabei behinderte ihn der Verband. Mit diesem Zeugnis seiner Ungeschicklichkeit konnte er unmöglich in der Bank auftauchen. Er entfernte die verräterische Binde.

In eine Gabel gefasst zu haben ließ sich nicht übersehen. Natürlich durfte seine Verletzung nicht mit Schusseligkeit in Verbindung gebracht werden, denn Schusseligkeit gehört nicht in das Verhaltensspektrum eines Bankangestellten. Im letzten Winkel der Schublade fand er ein Pflaster. Das musste reichen.

Plötzlich durchfuhr ihn ein eisiger Schreck. Die Rollläden waren noch nicht oben! Eilig machte er sich daran und stellte beunruhigt fest, dass Frau Leibisch von gegenüber schon mit Lockenwicklern im Haar und dem Küchenkittel über einem blass bunten Kleid bei den Mülltonnen stand und herüberstarrte. Der Zeitpunkt, zu dem Semmler gewöhnlich seine Wohnung verließ, war also schon vorüber. Es war eine liebe Gewohnheit, dass sie sich immer gegenseitig grüßten und einen schönen Tag wünschten. Es wurde also höchste Zeit, das Haus zu verlassen. Er versenkte die Thermoskanne mit dem Rest Tee vom Vorabend in der Aktentasche, nahm auch den Stockschirm an sich, aber als er beinahe die Tür erreicht hatte, wurde er von hinten an seinem Jackett festgehalten. Semmler fuhr herum.

„Willst du deiner Tante nicht auf Wiedersehen sagen?”

In einem seidenen Kimono und exotisch duftend stand Tante Goutiette vor ihm. Ihr Anblick verwirrte Semmler vollends.

„Na... natürlich.”

Tante Goutiettes Gesicht kam auf ihn zu. Semmlers Nackenhaare richteten sich auf. Dann drückte sie ihm einen Kuss auf die Lippen. Semmler versteinerte.

„Moment. Da ist etwas Lippenstift.“

Sie wischte mit einem Kimonoärmel über Semmlers verhärtete Lippen.

„Nun geh, Walter. Du wirst sonst zu spät kommen.“

Teils von ihr geschoben, teils mechanisch laufend, taumelte Semmler aus der Haustür. Er war schon fast bis zur Straßenecke gekommen, als ihm bewusst wurde, dass Tante Goutiette noch immer nichts über die wichtige Sache erzählt und außerdem, dass er Frau Leibisch nicht zurück gegrüßt hatte.

6.

Die Fußgängerampel sprang auf Grün, als Walter Semmler sie erreichte. Zwei Kreuzungen weiter, auf der anderen Straßenseite, lockte das Emblem der Bank. Er war versucht, den Schritt wie gewohnt dorthin zu lenken, aber sein Magen erinnerte ihn knurrend daran, dass er noch etwas zu erledigen hatte. Aus dem Augenwinkel bemerkte er das warme Licht einer Bäckerei. Ein schwacher Wind trug den Duft frischer Brötchen zu ihm herüber.

Im Gegensatz zur anderen Straßenseite war diese mit Kastanien bepflanzt. Kastanien machten immer irgendwelchen Dreck, und darum vermied Semmler es für gewöhnlich, hierher zu gehen. Heute lagen überall blassrosa Blüten, viele davon zu einem schmierigen, braunen Matsch zertreten. Semmler musste jeden Schritt bedächtig tun, um nicht auszurutschen. Außerdem wollte er den ungepflasterten Bereichen um die Baumwurzeln nicht zu nahe kommen, denn dort hatten Hunde ihre Haufen abgelegt. Andere Hunde schienen hingegen die unmittelbare Nähe der Hauswand zu bevorzugen, so dass Semmler lediglich ein schmaler Grat auf dem Gehweg blieb.

Als Semmler sein Ziel fast erreicht hatte, blieb er unschlüssig stehen. Die Bäckerei war voller Menschen. Er konnte nicht sagen, weshalb er sich eingebildet hatte, er würde der einzige Kunde sein, aber er musste sich eingestehen, dass er es gehofft hatte. Er überflog die Gesichter im Verkaufsraum durch die große Glasscheibe. Sollte er vielleicht doch nach einer anderen Bäckerei suchen? Sein Magen drängte lautstark nach einer Entscheidung. Er trat ein.

Die Verkäuferinnen füllten emsig Tüten. Semmler musterte noch einmal die Gesichter und atmete erleichtert auf. Nein, von denen hier kannte er niemanden. Wenn er jetzt bedient würde, dann konnte er sogar noch pünktlich sein. Ein Mann mit einem kleinen Hund kam gerade an die Reihe. Der Hund schnupperte an Semmlers Hosenbein.

„Ah, ein Mops“, stellte Semmler fest.

Der Mann wirbelte herum.

„Das ist kein Mops“, zischte er.

„Was ist es denn dann für ein Tier, wenn es kein Mops ist?“, fragte Semmler überrascht.

„Das ist kein Mops“, giftete der Mann, und Semmler lächelte verlegen. Die Umstehenden blickten zu ihnen herüber, und Semmler erkannte ein unmerkliches Nicken, das ihm bestätigte: Das war sehr wohl ein Mops!

„Sie wünschen?“

„Einen Apfelberliner und einen Kaffee“, sagte Semmler.

„Sonst noch etwas?“

„Das ist alles.“

Der Kaffee wurde ihm in einem Pappbecher über die Theke gereicht, und der Apfelberliner verschwand in einer Tüte.

„Das macht 2,20 Euro.“

Viel zu teuer, dachte Semmler. Für einen Notfall aber noch billig.

Semmler stellte sich an einen Tisch und spülte den Kaffee hastig hinunter. Dabei schützte er mit einer Hand seine Krawatte vor möglichen Flecken. Ein paar Mal biss er von dem Berliner ab, aber darüber wuchs seine Unruhe derart an, dass er sich den Rest eilig hineinstopfte. Er hatte gerade noch dreieinhalb Minuten Zeit.

Die letzte Strecke legte Semmler im Sturmschritt zurück. Als er die Bank von der rückwärtigen Seite her erreichte, war er völlig außer Atem, hatte einen aufgeweichten Hemdkragen und war etwa zwei Minuten zu spät. Er atmete einmal tief durch und betrat das Gebäude. Sein Blick richtete sich auf die Wand mit der Stahltür am anderen Ende der Schalterhalle, und er steuerte darauf zu. Alle anderen Angestellten waren bereits da, wendeten sich aber mit einem Grinsen von ihm ab. Ein Albtraum.

Mit einem flauen Gefühl eilte er an der geschlossenen Tür des Filialleiters vorüber.

Aha, dachte Semmler. Reuter ist auch zu spät. Neben der Stahltür drückte er die Zahlenkombination in die Tastatur, trat ein und blieb wie angewurzelt stehen.

Im Raum hinter der Schalterhalle warteten Filialleiter Reuter sowie drei Herren in Schlichtblau. Die Herren trugen schmale, schwarze Koffer. Außer ihnen stand da auch Bezirksleiter Benisch. Semmler wurde blass.

„Entschuldigen Sie, dass ich mich verspätet habe”, stotterte Semmler. Erst jetzt fiel ihm sein Kollege Grahlke auf. Der war auch blass. Einer der Herren notierte etwas auf einem Zettel und Reuter schüttelte so unmerklich den Kopf, dass Semmler glaubte, es sich nur einzubilden. Verwirrt stand er in der Tür. Um die Situation besser einschätzen zu können, sah er noch einmal zu Grahlke hinüber, der sich daraufhin mit schiefem Grinsen abwendete.

Verflucht, dachte Walter Semmler. Was war hier los? Er erreichte seinen sicheren Stuhl, stellte die Aktentasche an das rechte Bein des Tisches und pappte eine schweißnasse Haarsträhne irgendwo hinten an seinem Kopf fest.

„Nun, dann wollen wir beginnen”, meldete sich Bezirksleiter Benisch zu Wort. „Diese Herren hier sind eine Untersuchungskommission, welche die Effektivität unserer Arbeitsplätze einschätzen soll. Wir wissen, dass Sie Ihren Job beherrschen, aber dennoch schleichen sich mit der Zeit unnötige Bewegungen, Abläufe und was weiß ich noch alles ein. Wie andere Unternehmen muss auch dieses Institut mit dem Geist der Zeit gehen, und das bedeutet zwangsläufig, dass ein professionell geführtes Unternehmen, wie das unsere ...”

Das Folgende wurde in Semmlers Kopf durch das unheilvolle Crescendo eines großen Orchesters übertönt. Ein Test! Unwillkürlich leckte sich Semmler die jetzt trockenen Lippen. Seine Zunge stieß am linken Mundwinkel an etwas Weiches. Er zuckte zusammen. Noch bevor er etwas dagegen tun konnte, löste sich dieses Etwas, und ein Stück Apfel klatschte vor ihm auf den Tisch. Semmler merkte, wie er rot wurde, äugte vorsichtig zu den Herren und Reuter hinüber und wäre am liebsten im Boden versunken. Dieses Apfelstück hatte die ganze Zeit an seiner Lippe geklebt! Ihm wurde abwechselnd heiß und kalt. Darum hatte Grahlke so hinterhältig gegrinst. Unwillkürlich legte Semmler eine Hand über das Apfelstück. Es war die Hand mit dem Pflaster!

„... schlanke Unternehmen brauchen eine schlanke Struktur ...”

Semmler steckte sich das Apfelstück schnell in den Mund.

„Wir werden darum heute Sie, Herr Semmler, und Sie, Herr Grahlke, bei Ihrer Tätigkeit beobachten,“ erklärte Bezirksleiter Benisch, „um Optimierungsmöglichkeiten herauszufinden. Tun Sie einfach genau das, was Sie sonst auch tun.”

Optimierungsmöglichkeiten wollten sie also herausfinden. Das klang vernünftig und das empfand Semmler darum auch nicht als besonders schlimm. Aber warum waren dazu so viele von diesen Herren und der Bezirksleiter notwendig? Warum schrieb einer der Herren pausenlos etwas auf? Und wieso verhielt sich Grahlke so seltsam? Da musste mehr dahinter stecken, und Semmler vermutete, dass sein Arbeitsplatz in Gefahr war.

Für sie beide war je ein Berg Geldscheine aufgehäuft, der nach Wert zu sortieren und zu zählen war. Der Gesamtwert sollte als Parameter für ihre Genauigkeit gelten. Ein Handikap war durch zahlreiche zerknickte Scheine gegeben, andere waren eingerissen und selbst Falschgeld hatte die Kommission darunter gemischt. Mit geübtem Auge und sensorgleichen Fingern entlarvte Semmler die Blüten, Knitter und Falten verschwanden zwischen seinen massierenden Fingerkuppen wie von selbst. Die Herren, Filialleiter Reuter und Bezirksleiter Benisch, die den ganzen Prozess überwachten, würden lediglich vermerken können, dass Semmler die Aufgabe wie ein Uhrwerk abspulte. Zumindest war das so, bis Semmler bemerkte, dass Grahlke schneller arbeitete.

Sein Vorsprung war noch nicht besonders groß, aber er würde ausreichen, um den Kampf zu entscheiden. Jedenfalls war Semmler inzwischen von einem Kampf überzeugt, denn Grahlke arbeitete so fieberhaft, als ginge es um sein Leben. Semmler legte ebenfalls zu. Aber das Pflaster behinderte ihn in seinen Bewegungen. Als er einen Packen Zweihunderter ordnete, spürte er Reuter näher kommen.

„Ganz ruhig, Semmler”, hörte er ihn über sich.

„Oh, äh, ja … geht schon. Ich bin etwas nervös, weil ich vorhin ...”, flüsterte Semmler.

„Vergessen Sie das erst einmal”, beruhigte ihn Reuter und stützte sich neben Semmler auf den Tisch.

„Sie haben doch wohl die Mitteilung gelesen, mit der ich Sie von diesem Besuch in Kenntnis gesetzt habe?“, fragte Reuter noch leiser.

Semmler schüttelte den Kopf. Reuter griff in Semmlers Ablage und lupfte einen Zettel ein winziges Stück hervor.

„Tut mir Leid, Herr Semmler. Mehr konnte ich nicht für sie tun. Ich kann Sie ja nicht einfach nachts anrufen.“

Ein Zweihunderter geriet mit einer Ecke unter das Pflaster, blieb dort auch dann noch verklemmt, als Semmler die Hand vom Packen zurückzog, löste sich aber spontan etwa eine halbe Armlänge davon entfernt und segelte zu Boden.

„Da liegt noch einer”, flüsterte Reuter und deutete auf die Stelle am Boden.

„Oh, ja”, hauchte Semmler und versuchte ein Dankeslächeln in sein Gesicht zu falten.

Grahlke blickte interessiert von seiner Arbeit auf. Sie hatten zwar die letzten Jahre beinahe kein Wort miteinander gewechselt, was damit zu tun hatte, dass Grahlke absichtlich und hartnäckig Zucker in Semmlers Kaffee getan hatte. Zunächst hatte Semmler darüber hinweggesehen, dann hatte er Grahlke zur Rede gestellt und dabei allerhand dummes Zeug zu hören gekriegt.

Semmler hatte den Kollegen daraufhin mit Verachtung und Arroganz gestraft, hatte seinen Tisch an die Wand gerückt und beschlossen, dass es Grahlke nicht mehr gab. Zumindest nicht in dieser kleinen Kammer. 

Grahlke war auf das Spiel eingegangen, und so waren ihre Unterhaltungen gestorben. Semmler schrak inzwischen auf, wenn Grahlke etwa seine Brote auspackte oder sich sonst wie rührte, denn er hatte ihn schlicht vergessen.

Nach Semmlers letzter Äußerung musste Grahlke der Klang mitschwingender Angst aufgefallen sein.

„Was haben Sie denn an Ihrer Hand?”, fragte Benisch, der hinter Reuter aufgetaucht war. „Eine Verletzung?“

„Nun ja, nicht direkt”, gab Semmler zurück.

„Das wird bestimmt nichts sein“, unterbrach Reuter.

„Was soll das heißen”, fragte Benisch lauernd.

Mit einem Auge sah Semmler, wie Reuter sauertöpfisch lächelte, und außerdem, wie Grahlke triumphierend grinste und dann seinen Zeigefinger vom einen Ohr zum anderen über die Kehle führte. Semmlers Augen zogen sich zu Schlitzen zusammen. Dieses Arschloch, dachte er.

„Herr Bezirksleiter, Herr Semmler wird sicher eine gute Erklärung dafür haben, nicht wahr, die haben Sie doch?“, fragte Filialleiter Reuter unsicher.

Semmler schwirrte der Kopf.

„Es war … mir ist“, stammelte er, „... also, das war … ein Jagdunfall … sozusagen.“

„Ein Jagdunfall?“, gellte Benisch.

„Sozusagen.“

„Was haben Sie denn mit Jagen zu tun?“ 

„... sozusagen ...“

„Wir wollen uns beruhigen!“

Benisch fuhr zornig herum. Einer der Herren war einen Schritt vorgetreten.

„Das hier sollten wir jetzt nicht vertiefen“, sagte er. „Wir haben hier eine wichtigere Sache zu prüfen. Wenn ich also bitten dürfte ...“

Semmler saß da wie von einem Blitz um Haaresbreite verfehlt. Grahlkes Grinsen hatte sich verschmiert, und Bezirksleiter Benisch zog sich mit einem misstrauischen Blick in den hinteren Teil des Raumes zurück. Semmler atmete erleichtert durch. Jetzt würde er zeigen, was er konnte.

7.

Marianne Finke saß an der Information der örtlichen Bücherei und fühlte sich ungeliebt. Sie wusste nicht, woher dieses unbestimmte Gefühl tiefer Einsamkeit kam, aber es war da. Dabei sollte es eigentlich keinen Grund geben, der ihr von Zeit zu Zeit die Farbe aus dem Leben zog. Sie hatte einen guten Job und eine gemütliche Wohnung, die sie erst kürzlich bezogen hatte. Ihr Umzug aus der Großstadt hierher hatte rein praktische Gründe. Einerseits war so der Weg zu ihrer neuen Arbeitsstelle wesentlich kürzer und außerdem auch der Weg zu ihrem festen Freund, der jedoch selten zu Hause war und ihr darum regelmäßig eine Karte aus fernen Ländern schickte. Als Student musste man viel reisen, um seinen Horizont zu erweitern. So hatte er ihr das vor ein paar Monaten in einem zweiseitigen Brief aus Bangkok erklärt, und sie hatte ihn in seinem Streben nach Erfahrung tatkräftig und in angemessenem Umfange auch finanziell unterstützt. Er würde es ihr eines Tages danken, und manchmal hatte sie sich in Erwartung dieses Dankes heimlich darin geübt, mit seinem Nachnamen zu unterschreiben.

Trotzdem fühlte sie sich an manchen Tagen sehr einsam. Kinobesuche mit ihm blieben bloße Phantasieereignisse und auch ihr Versinken in die bunten Bildchen seiner Ansichtskarten konnte ihre Sehnsucht nach Geborgenheit nicht stillen.

„Wo mag er dort jetzt sein?”, fragte sie sich dann, zündete eine Duftkerze an, legte sich eine nachtblaue Samtdecke über den Kopf, entnahm einem Ebenholzkästchen einen fast roten Bernstein und versetzte sich so in eine beinahe telepathische Stimmung. Sie stellte sich vor, dass er für das Bild auf der Postkarte kurz beiseite getreten war, aber gleich danach wieder seinen Platz an beispielsweise einem Palmenstrand einnehmen werde. Wenn die Karte eine Aufsicht einer Metropole zeigte, dann wählte sie eine besonders hübsche Stelle aus, um sich vorzustellen, er läge dort schweißgebadet auf einem Bett unter einem Moskitonetz, erschöpft von seiner Forschertätigkeit. Sie selbst käme dann herein mit einem kühlen Getränk, um anschließend mit ihm in Urwäldern umherzustreifen, Abenteuer zu bestehen und Sonnenuntergänge zu genießen. Dann seufzte sie leise, dachte, dass es sicher einmal so sein werde, machte mit ihrer Sofortbildkamera noch ein Foto von sich, das sie ihm zusammen mit dem von ihm gewünschten Betrag und ihren heißesten Wünsche mit der Hoffnung zuschicken würde, es mögen ihn in einem wehmütigen oder gar verzweifelten  Moment erreichen und aufbauen.

Jetzt saß sie schon den ganzen Nachmittag vor ihrem flimmerfreien Monitor. Zahlenkolonnen huschten an ihren Augen vorüber. Als sie den Job vor Jahren angenommen hatte, waren ihr diese Zahlen äußerst fremd gewesen, aber mit der Zeit hatte sie mit jeder dieser Nummern ein Buch verbunden. Die Bücherei konnte zwar nicht mit ihrer ehemaligen Bücherei in der Großstadt verglichen werden, aber dennoch war Marianne Finke manchmal sehr stolz, wenn sie einem Anrufer eine Auskunft erteilen konnte, ohne in eine Liste, die den Zahlencode einem Titel zuordnete, sehen zu müssen.

Wahrscheinlich macht mich nur diese verdammte Periode verrückt, versuchte sie ihre Stimmung zu erklären und stopfte sich ein Weingummi aus einer Papiertüte in den Mund. Sie musste zur Toilette. Da gerade niemand anwesend war, dem sie mit einer Information hätte behilflich sein können, griff sie nach ihrer Handtasche, winkte ihrer Kollegin Frau Hausner zu und machte sich dann auf den Weg ins Kellergeschoss zur Personaltoilette.

Das kalkweiße Licht dort bereitete ihr Unbehagen. Nachdem sie den Tampon gewechselt hatte, betrachtete sie sich eine Weile im Spiegel. Eine Strähne ihrer braunen, schulterlangen Haare fiel ihr ins blasse, beinahe bleiche Gesicht. Eigentlich war die Brille etwas zu groß und auch nicht mehr stark genug, und von Kolleginnen hatte sie erfahren, dass sie sich nicht vorteilhaft kleidete. Nein, direkt hatten sie ihr das nicht gesagt, dafür waren sie zu höflich.

Auf einer Betriebsfeier hatte sie in der Toilettenkabine unfreiwillig eine Unterhaltung aufgeschnappt. Vielleicht war auch jemand anderes gemeint gewesen, obwohl ihres Wissens niemand in der Bücherei Kniestrümpfe und Dralonblusen trug. Auf Toiletten hört man nur selten gute Sachen!

Mit einem Papiertaschentuch tupfte sich Marianne Finke die Augenwinkel aus, denn dort war etwas zu viel Wimperntusche hingelangt. Mit ihrem Anblick war sie ganz und gar nicht zufrieden. Sie löste die überdimensionale Sicherheitsnadel ihres weiß-grauen Wickelrockes und steckte sie ein paar Zentimeter höher durch den Stoff. Jetzt hatte sie zumindest etwas mehr Beinfreiheit. Dann ging sie wieder nach oben.

Vielleicht ist heute Abend ja etwas Schönes im Fernsehen, dachte sie, die Stufen erklimmend. Ich könnte mir eine Chipstüte besorgen.

8.

Kurz bevor die Arbeit zu Ende ging, öffnete Filialleiter Reuter leise die Stahltür und flüsterte etwas in den Schalterraum hinaus. Wenig später erschien Frau Hemmstedt mit einem Tablett Kaffee. Sie rauschte durch den Raum und verteilte Tassen an die Herren. Dabei kam sie Semmler so nahe, dass er ihr Parfüm riechen konnte. Tante Goutiette hatte genau so gerochen, als sie ihn am Morgen verabschiedet hatte. Tante Goutiette! Ob sie noch bei ihm zu Hause war? Er hoffte inständig, dass sie seine Küche aufräumte. Aber mehr noch hoffte er, dass sie verschwunden sein würde, wenn er heimkehrte. Die wichtige Sache, die sie ihm erzählen wollte, interessierte ihn überhaupt nicht mehr. Ausgerechnet zu ihm war sie gekommen, der nichts mehr fürchtete als unangemeldeten Besuch. Seine Mutter musste doch von einer Halbschwester wissen. Fragen über Fragen, die sich in Semmlers Gehirn festsetzten. Plötzlich stutzte er.

Hatte er sich nicht gerade verzählt? Oder hatte er sich irgendwann vorher verzählt? Er heftete seinen Blick auf die Digitalanzeige des Zählautomaten. Der würde keinen Fehler machen. Aber wie viele der Geldbündel hatte er bereits in den Leinensack gesteckt? Waren es vierzig oder fünfzig? Semmler marterte sein Gehirn. Er könnte alle noch einmal herausnehmen und nachzählen. Sein Blick huschte zu Grahlke hinüber. Der war fast fertig. Wenn Semmler nicht ins Hintertreffen geraten wollte, dann musste er jetzt schneller als Grahlke sein. Das war er seiner Ehre schuldig. Semmler schwitzte. Diese verfluchte Tante! Nur durch sie war er jetzt zu etwas gezwungen, das er zutiefst verabscheute. Er musste schätzen.

Semmler zitterte, als er fertig war. Grahlke war nicht minder aufgeregt. Er hatte den Geldstapel zwar etwas später aufgearbeitet als Semmler, konnte aber immerhin die richtige Endsumme nennen. Nun hing er gespannt an Semmlers Lippen. Fieberhaft versuchte der sich zu erinnern, wie viele Bündel er versehentlich nicht aufsummiert haben könnte. Oder ob er es doch getan hatte? Das Schweigen im Raum wurde unerträglich.

„Nun, Herr Semmler, was haben Sie errechnet?“, fragte Bezirksleiter Benisch.

Semmler erwog die Möglichkeit, dieselbe Zahl wie Grahlke zu nennen, aber sicherlich hatten die Herren in Schlichtblau dieser einfachen Möglichkeit keine Chance eingeräumt. Er musste etwas sagen, und das genau jetzt.

„118.430 Euro?“, flüsterte er unentschlossen und wusste nicht, warum er das sagte.

„Das ist … richtig!“, bestätigte Bezirksleiter Benisch.

9.

Es gibt sicherlich nur wenige Momente im Leben eines Menschen, die als ganz besonders erfreulich bezeichnet werden können. Aber diejenigen, in denen sich Befürchtungen zerschlagen, zählen bestimmt dazu. Semmler hatte sogar nach dem Test Gelegenheit gehabt, Doktor Geehrkes anzurufen. Der Arzt ließ sich Semmlers Maßnahmen bezüglich der Handverletzung schildern und konnte Semmlers Sorge zerstreuen. Mehr hätte auch er nicht tun können. Lediglich bei Komplikationen in den kommenden vierundzwanzig Stunden solle Semmler ihn aufsuchen. Und ja, er sei arbeitsfähig.

Nachdem er die Bank verlassen hatte, fühlte sich daher für Walter Semmler die Sonne wärmer an, der Himmel strahlte blauer, die Menschen erschienen ihm wie Gratulanten.

Übermütig kaufte er sich eine Cola, schwenkte in eine unbelebte Gasse ein und machte einen klitzekleinen Freudensprung. Dabei schwappte etwas aus der Coladose heraus und rann ihm über die Hand. Benisch würde mir jetzt kündigen, wenn er mich so sähe, dachte er verschmitzt.

„Der kann mich mal”, hörte er sich sagen. Gierig saugte er die Dose leer, stellte sie auf das Pflaster und trat sie in hohem Bogen gegen ein Wasserrohr. Es schepperte lauter, als es Semmler erwartet hatte, und das riss ihn aus seinem Taumel. Er eilte den Weg zur Hauptstraße zurück.

Grahlke hatte erbärmlich ausgesehen, als ihm die Kündigung ausgesprochen wurde. Insgeheim hatte Semmler etwas Mitleid. Wenn sein Jagdunfall und diese seltsame Eingebung über die Höhe der Summe der sortierten Geldscheine nicht gewesen wären, dann stünde er jetzt sicher nicht in Versuchung, sich eine Blume zu kaufen, um sie in sein Revers zu stecken. Aber er konnte sich nicht entscheiden, denn die Blumen standen in zu großer Zahl und Vielfalt in den Kübeln, und außerdem erinnerte ihn das Muster aus Blütenköpfen in den Zinkeimern mit einem Mal an das von Tante Goutiettes Kimono. 

Als er sich seiner Wohnung näherte, bemerkte er Frau Leibisch in ihrem Vorgarten. Bewaffnet mit einem kleinen Eimer suchte sie den Boden ab. Von Zeit zu Zeit hob sie etwas mit Hilfe einer Handschaufel auf, um es mit ekelverzerrtem Gesicht in den Eimer zu werfen. Semmler beschloss, sein Versäumnis vom Morgen nachzuholen.

„Guten Tag, Frau Leibisch!“, rief er.

Frau Leibisch richtete sich auf. Semmler erkennend, schlug ihre Miene in ihr Morgengrußgesicht um.

„Ah, guten Tag Herr Semmler. Die Schnecken sind dieses Jahr wieder ganz fürchterlich. Aber was kann man machen?”

„Ja, ja”, lachte Semmler verkniffen und warf einen misstrauischen Blick hinüber zu seiner Wohnhaushälfte. Die Rollläden waren hochgezogen, das Gartentor geschlossen, der Weg gefegt, und aus dem Briefschlitz in der Tür lappte eine Werbebroschüre heraus. Vielleicht war Tante Goutiette gar nicht mehr da.

„Sie sind heute Morgen etwas spät rausgekommen“, meinte Frau Leibisch und versuchte, Semmlers Blick mit ihren Augen einzufangen. 

„Ich … äh … nun ...”, stammelte Semmler, während er nach einer belanglosen Erklärung suchte und dabei diesen bohrenden Augen auswich. Die Tante durfte er nicht erwähnen, denn dann hätte er genauso gut Flugblätter verteilen können.

„Die Batterie in meinem Wecker war leer, und darum ...”

„Ach so”, sagte Frau Leibisch verständnisvoll. „Aber dafür sind Sie noch ziemlich pünktlich gewesen, nicht wahr? Mein Mann, Gott hab ihn selig, hatte auch eine innere Uhr.”

Semmler lächelte artig. Ein weiterer, vergewissernder Blick schweifte zu seiner Wohnung hinüber. War da nicht doch irgendetwas anders? Frau Leibischs leichter Griff an seinen Arm zwang ihn, sich ihr zuzuwenden. Er hasste diese leichten Griffe!

„Da konnte kommen, was wollte. Jeden Morgen um ...”

Eine Weile ließ Semmler den Wortschwall über Uhrwerk und Pünktlichkeit über sich ergehen. Aber als Frau Leibisch einmal kurz wegschaute, flog sein Kopf zu seiner Wohnung. Sein Blick kroch scheinbar um das Haus herum. Und da sah er es! 

Auf dem Rasen hinter dem Haus musste die Wäschespinne aufgeklappt worden sein, denn eine Strebe lugte hinter der Ecke des Hauses hervor. Semmler wurde unruhig. Er selbst hatte sie bestimmt nicht aufgespannt, und die Strunzens, die die andere Hälfte des Zweifamilienhauses bewohnten, waren verreist und würden erst am Wochenende zurückkehren. Als ein leichter Windstoß ein Stoffteil für einen Moment hinter der Ecke hervorblies, wurde er bleich. Er glaubte, einen schwarzen Spitzen-BH erkannt zu haben!

„Wir können nur froh sein, dass es heute doch nicht geregnet hat”, hörte er Frau Leibisch wie aus großer Ferne sagen. Semmler fuhr herum.

„Äh … wie?”

„Nun, wir haben beide Wäsche draußen hängen”, bemerkte sie und zeigte auf ihre eigene Wäschespinne. „Aber keine Sorge, ich hätte Ihre schon von der Leine genommen. Wozu hat man denn Nachbarn? Sie hängt ja bestimmt schon seit gestern dort und dürfte über den Tag trocken geworden sein. Kommen Sie doch herein, und ich mache uns einen schönen, heißen Kaffee.”

„Äh, was? Nein, ich muss ...“

„Haben Sie Besuch?“, fragte Frau Leibisch.

Sie hat den BH gesehen, schoss es Semmler durch den Kopf. Ob sie die Tante dabei beobachtet hatte, als sie diese Sachen aufgehängt hatte? Er konnte kaum mehr klar denken.

„Äh … nein … das ist meine Wäsche.“

„Ach so, das ist Ihre.“

Für Semmlers Geschmack setzte Frau Leibisch ein  zweideutiges Lächeln auf. Aber er war auch nicht sehr gut in solchen Einschätzungen.

„Ja, meine! Das ist die Wäsche von mir.“

Ich lüge, ich lüge, schrie es in Semmler auf.

„Ist denn Ihre Mutter schon da?“, fragte Frau Leibisch verdutzt. „Ich habe sie gar nicht eintreffen sehen. Und ich sehe auch ihr Auto ...“

„Sie wird wohl zu Fuß gekommen sein“, murmelte Semmler mechanisch und ärgerte sich sofort, denn zu Fuß zu kommen wäre so ziemlich das Letzte, was seine Mutter tun würde.

„Bestimmt ist sie jetzt trocken. Ich sollte ihr helfen, sie abzunehmen“, fügte er an. 

„Wenn Sie wollen, dann helfe ich ihr dabei. Das ist doch keine Arbeit für einen Mann“, meinte Frau Leibisch. 

„Nein“, antwortete Semmler entschiedener, als er es gewollt hatte, „das mache ich schon. Einen schönen Tag noch.“

Er drehte sich hastig um und eilte zum Haus. In seinem Nacken fühlte er Frau Leibischs Blick.

Tapfer erreichte er die Wohnungstür, zitterte den Schlüssel ins Schloss, öffnete die Tür und erstarrte.

Das Sofa war von seinem Platz gerückt worden, und im Viereck der in den Teppich gedrückten Mulden kniete Tante Goutiette auf dem Boden, eine Zigarette mit Spitze rauchend. Sie trug ihren geblümten Kimono und vor ihr stand ein Glas Rotwein.

„Hallo Walter”, lächelte sie.

Semmler löste sich aus seiner Erstarrung, hastete zur Balkontür, stürzte nach draußen auf den Rasen, pflückte die Kleidungsstücke von der Wäschespinne, klappte das Gestell zusammen und stand dann schwer atmend in seinem Wohnzimmer vor der rauchenden Tante.

„Was hat das zu bedeuten?”, keuchte er.

„Was meinst du?“, fragte Tante Goutiette.

„Na, das hier. Die Wäsche, meine Wohnung!“, rief Semmler unbeherrscht. Er eilte zur Küche. Hier war alles wieder in Ordnung. Er öffnete den Kühlschrank. Alles an seinem Platz. Er kehrte ins Wohnzimmer zurück.

„Niemand hat dir das Recht gegeben, hier alles auseinander zu nehmen!”, schimpfte Semmler.

„Ich fühlte mich nicht wohl”, erwiderte Tante Goutiette achselzuckend.

„Du sollst dich hier auch nicht wohl fühlen. Du sollst überhaupt nicht hier sein!“

Tante Goutiette blickte ihn erstaunt an.

„Willst du einen Schluck Wein?“

„Nein, ich will keinen Wein! Ich will, dass du hier verschwindest, und zwar augenblicklich!“

Tante Goutiette setzte sich kerzengerade auf, und ihre Augen verwässerten. Dann rutschte eine Träne über ihre glatte Wange, was Semmler heimliche Genugtuung gab, aber auch die Gewissheit, dass er dem nicht gewachsen sein würde.

„Walter. Ich brauche deine Hilfe“, hauchte sie.

„Was?“, bellte Semmler. Mit der Wäsche im Arm sackte er in den Fernsehsessel.

„Ich muss mich für eine Weile verstecken.“

Semmler sprang der Mund auf.

„Aber … ich weiß nicht, ob ich dir da … verstecken sagst du? Du bist also auf der Flucht? Und dann zu mir? Du hast doch nicht etwa jemanden ...“

„Beruhige dich doch, Walter. Das Ganze ist ein Missverständnis. Aber bevor es aufgeklärt ist, wäre es für mich besser, wenn ich kurzzeitig untertauche.“

Semmler atmete erleichtert durch.

„Ein Missverständnis also … was heißt kurzzeitig?“

„Na eben für eine kurze Zeit.“

„Das ist also die wichtige Sache, die du mir erzählen wolltest?“

Tante Goutiette nickte langsam.

„Ich will dir jetzt nicht die ganze Geschichte erzählen, aber zumindest so viel, dass ich bis auf deine Mutter und dich niemanden mehr auf dieser Welt habe.“ 

„Warum kommst du dann zu mir? Mutter könnte dir viel besser helfen.“

„Ehrlich gesagt, wir können nicht so gut miteinander“, sagte Tante Goutiette und tupfte sich mit dem Ärmel des Kimonos die Augen.

„Das wundert mich nicht im mindesten“, entgegnete Semmler spitz.

„Wirst du mir nun helfen?“, fragte Tante Goutiette.

Semmler spürte, wie sein Magen zu Stein wurde. Wie schon am Abend zuvor fühlte er sich von ihr eingewickelt. Sicher, sie brauchte offenbar seine Hilfe und niemanden auf der Welt zu haben war bestimmt nicht leicht. Aber sie hier bei sich zu behalten war schlicht unmöglich. Was sollten die Leute denken, wenn er eine Frau bei sich aufnahm? Sah die Hausordnung so etwas überhaupt vor? Bestimmt würde ihm niemand glauben, dass sie seine Tante war. Aber dieser hilflosen Frau etwas abzuschlagen, dazu war er nicht der Mann, und es musste sie ja niemand sehen. Ein tiefer Seufzer drang aus seiner Brust.

„Wenn du mir versprichst, nicht wieder vor die Tür zu gehen, dann kannst du so lange bleiben, bis die Sache erledi...“

„Walter!“

Tante Goutiette sprang auf. Semmler sah das Weinglas wackeln, aber noch bevor sich sein Inhalt auf dem Teppich ausbreitete, war ihm die Tante um den Hals gefallen. Er spürte ihren straffen Körper und ihre Wärme durch den dünnen Stoff des Kimonos hindurch. Ihr Parfum nahm ihm den Atem.

„Ich wusste, dass du mich nicht im Stich lassen würdest. Ich wusste es!“

„Schon gut“, brummte Semmler. Derartige Gefühlsausbrüche verursachten bei ihm Beklemmungen. Tante Goutiette setzte sich zurück auf ihren Platz und strahlte ihn an.

Worauf hatte er sich da eingelassen? Und dann war da noch dieser schwarze Spitzen-BH, der sich im Nachhinein jedoch als eine schwarze Socke entpuppt hatte. Wie hatte er sich nur einbilden können, dass solch ein Stofffetzen, noch dazu schwarz und hauchdünn, in seine Vorstellung gerutscht war? Dabei konnte er sich doch lediglich an die gestärkten, hautfarbenen seiner Mutter erinnern. Seine Mutter! Sie würde gleich da sein.

„Das muss alles wieder an seinen Platz”, sagte er entschieden.

„Aber Walter.”

„Lass das Gerede! Mutter kann jeden Augenblick kommen, und dann muss alles wieder so wie immer sein.”

„Deine Mutter kommt hierher? Du lieber Himmel! Was will sie denn hier?“

„Das hat rein praktische Gründe. Wir werden ...“

„Bitte, sag ihr nicht, dass ich hier bin”, flehte Tante Goutiette.

„Aber du könntest ihr doch zumindest guten Tag sagen. Sie ist immerhin deine Halbschwester.“

„Nein, auf keinen Fall. Versprich mir, dass du ihr nichts von mir und von dem, worüber wir geredet haben, erzählst.“

„Geht das nicht etwas zu weit?“

„Versprich es mir. Das ist sehr wichtig.“

„Also gut, ich verspreche es“, knurrte Semmler unwillig. Dann hörte er harte Absätze auf dem Gehweg vor dem Haus. Er konnte gerade noch Tante Goutiette zusammen mit dem Wäscheberg in sein Schlafzimmer schieben und ein Fenster gegen den Zigarettenqualm aufreißen, als die Türglocke ertönte. 

10.

Die um wenige Sekunden verlängerte Wartezeit, bis ihr geöffnet wurde, machte Agnes Semmler stutzig.

Sie hatte in der Nacht schlecht geschlafen. Ruhelos hatte sie sich in ihrem Bett hin und her gewälzt, war dann aufgestanden, um ein Mittel gegen Kopfschmerzen einzunehmen, hatte ein paar Seiten in einem langweiligen Buch gelesen und dann den Vollmond verflucht, den sie für diesen Tatendrang verantwortlich machte. Über ein bloßes Dahindämmern war sie jedoch nicht hinausgekommen, so dass sie am Morgen wie gerädert am Frühstückstisch gesessen hatte.

Ein Blick über die Kaffeetasse hinweg zum Wandkalender hatte ihr verraten, dass sie heute ihren Sohn Walter besuchen musste. Er konnte froh sein, dass seine Mutter regelmäßig bei ihm nach dem Rechten sah. Bestimmt hatte er wieder zu lange Fingernägel.

Früher hatte sie den Tag, an dem Walter das Haus verlassen würde, um auf eigenen Beinen zu stehen, herbeigesehnt. Als Walter dann im Institut anfing, hatte sie sich doch etwas einsam und nutzlos gefühlt, aber nur so lange, bis sie bemerkte, dass ihr Sohn ohne ihre Unterstützung schlichtweg lebensunfähig war. Nein, sie hatte keinen Sohn verloren, sondern seine Wohnung dazugewonnen!

Mit Nagelschere, dem Rest des Manikürbestecks, ein paar Gummihandschuhen und einem Korb voller Konserven und leckerer Kleinigkeiten bewaffnet hatte sie sich so pünktlich auf den Weg gemacht, dass sie ihrem Sohn die Tür öffnen konnte, wenn der von der Arbeit kam. Doch sie war in einen Stau geraten, weil sich ein grässlicher Verkehrsunfall zwischen einem Glastransporter und einem Linienbus ereignet hatte. Während Sanitäter und Polizisten in ihrem Blickfeld hin- und hergerannt waren, hatte sie sich dazu beglückwünscht, Walter nie erlaubt zu haben, einen Führerschein zu machen. Doch wirklich verbieten müssen hatte sie es nicht, denn Walter schien an solchen Dingen ohnehin keine rechte Erbauung zu finden. Und so war Agnes Semmler eine taktisch kluge, weil tränenreiche Schilderung von Verkehrskrüppeln erspart geblieben.

Agnes Semmler erreichte die Wohnung ihres Sohnes somit später als geplant, ihr Auto postierte sie direkt vor dem Haus  und klärte damit jegliche Zweifel über Besitzverhältnisse. Aus dem Augenwinkel erspähte sie Frau Leibisch in ihrem Garten, die zu ihr herüber grüßte.

Agnes Semmler brummte nur zur Antwort und überlegte, ob ihr Sohn wohl eine Affäre mit diesem Weib haben könnte. Für einen Augenblick war sie eifersüchtig, weil sie daran dachte, eine andere könnte das für Walter tun, was sie für ihn tat. Doch im Grunde brauchte sie sich keine Sorgen zu machen. Walter hatte noch nie eine Beziehung zu einem weiblichen Wesen aufgebaut, wenn sie einmal von dem Hamster absah, den sie ihm zum fünften Geburtstag geschenkt hatte. Als Walter eines Tages unter einem Handtuch und über einem dampfenden Kamillebad saß, um seine Schleimhäute zu beruhigen, war ihr das winzige Wesen unter einen Fuß geraten. Der Holzschuh hatte keinerlei Mühe mit dem zarten Genick des Tieres gehabt. Glücklicherweise hatte Agnes Semmler den kleinen Kadaver unbemerkt entsorgen können. Den Rest des Tages hatte sie sich unwissend über den Verbleib des Tieres gezeigt, und am folgenden, Walters sechstem Geburtstag, hatte sie einen vollwertigen Ersatz in Form eines Plüschhasen geschaffen.

„Ach, da sind Sie ja doch! Ihr Sohn ist auch vorhin zurückgekommen!”, rief Frau Leibisch. „Heute Morgen war er etwas spät dran.”

Sie lächelte für Agnes Semmler etwas zu zweideutig.

„So, so”, brummte sie misstrauisch und machte sich an das Öffnen des Törchens. Zuverlässigkeit, gutes Benehmen und Pünktlichkeit waren die Grundsätze ihrer Erziehung gewesen, und ein Abweichen von diesen Lebensprämissen musste sie ernst nehmen. Deshalb sog sie auf ihrem Gang über den kurzen Weg des Grundstückes alles auf, was auf eine Veränderung hindeuten konnte.

Aber der Weg war wie geleckt, die Rollläden waren hochgezogen und auch die Türglocke klang so vertraut wie eh und je.

Sie zückte gerade ihren Schlüssel, als die Tür aufgerissen wurde.

Walter trug zwar seinen grauen Anzug, aber der gehetzte Gesichtsausdruck war neu in der sonst bescheidenen Mimik ihres Sohnes. Seine Haare waren in Unordnung geraten, und außerdem war ihr mit dem Öffnen der Tür ein unbekannter Geruch entgegengeweht. Konnte das Frauenparfüm sein? Ohne die gestammelte Begrüßung Walters zu beachten, rangierte Agnes Semmler um die gespitzten Lippen ihres Sohnes herum und trat ein.

Wer hatte dafür gesorgt, dass Walter eine angenehme Behausung hatte? Wer hatte die Möbel ausgesucht und an ihren richtigen Platz gestellt? Wer hatte keine Mühe gescheut, alles sauber zu halten? Diese Fragen schrien in Agnes Semmler auf, als sie das verschobene Sofa und den Weinfleck erblickte. Und für alle gab es nur eine einzige Antwort. Sie selbst hatte das getan, und warum? Weil sie seine Mutter war! Sie musste sich setzen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739493718
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (April)
Schlagworte
leichte Kost Coming-of-age spätere Lebensphase Unordnung liebenswerter Chaot Familiengeheimnis Selbstfindung Familienleben RomCom

Autor

  • Volker König (Autor:in)

Volker König wurde 1965 in Dortmund geboren und wuchs in Herdecke auf. Nach seinem Biologiestudium begann er zu schreiben. Bisher erschienen sind der Roman "Tantenfieber", der Erzählband "Dicke Enden", die Novelle "Die Farbe des Kraken", die Erzählung "VARN", der SF-Roman "In Zukunft Chillingham" und der Kriminalroman "Früh am Morden".
Zurück

Titel: Tantenfieber