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Früh am Morden

Hochspannung mit einer charmanten Heldin

von Volker König (Autor:in)
178 Seiten

Zusammenfassung

Eigentlich wollte Frigga Lendel ein paar arroganten Macho-Astronomen in England zeigen, wo der Hammer hängt. Aber sie musste ja ihr Spezial-Teleskop hinter einer Sicherheitstür deponieren! Den Schlüssel hatte der exzentrische Rentner Bause. Jetzt hat ihn die Polizei, denn Bause wurde brutal ermordet. Doch die Zeit zum Abflug drängt, die Polizei kommt nicht zu Potte, und die Suche nach einem Ersatzschlüssel ist verzwickt. Aber wer ist sie, um Ermittlungen anzustellen? Dafür muss es schon noch dicker kommen ...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Impressum

© Erstauflage April 2020 

© 2020 Volker König 

Kämmereihude 14, 45326 Essen 

www.vkoenighome.de 

Bildquelle: pixabay 

 

ISBN der Printversion: 9 783751 906920 

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Zitat

Wer weniger hat, als er begehrt, 

muss wissen, 

dass er mehr hat, als er wert ist. 

 

Georg Christoph Lichtenberg 

1.

In einer ruhigen Nebenstraße steht die Tür des Hauses Nummer neunzehn offen. Starker Wind in der Nacht hat Blätter und Papier in den Hausflur geweht. Eine zerfetzte Plastiktüte hat er bis zur niedrigen Stufe vor der Eingangstür der linken Wohnung getrieben. Es ist so kalt, wie es Ende März in Altenessen-Nord zu erwarten ist. 

Oben im Haus fällt eine Tür ins Schloss. Ein Relais im Keller klackt und schaltet die Lampen an den überhohen Decken des Treppenhauses ein. Sie sind nur wenig heller als das Dämmerlicht durch die Fenster auf den Treppenabsätzen.

„Ich bin so froh, dass Sie mitkommen“, dringt eine Frauenstimme bis ins Erdgeschoss. Eine andere Frau antwortet Unverständliches. In ein paar Schritte mit spitzen, harten Absätzen mischt sich müdes Schlurfen. Dann knarren die ersten rotbraunen Holzstufen. 

„Ich hätte ja Martin gefragt, aber der scheint nicht da zu sein“, sagt die eine Frau. „Und da dachte ich, dass vielleicht Viktoria ...“

„... schläft wie gesagt noch“, knurrt die andere Frau, niest unterdrückt und zieht dann die Nase hoch. „Was ist mit Polizei?“ 

„Um Himmels Willen! Am Ende ist alles ganz harmlos, und ich hole uns die Polizei ins Haus.“

Nach ein paar Stufen bleiben sie stehen.

„Ach, hier wohne ich übrigens. Direkt unter Viktoria.“

„Dann sind Sie Frau Rathenau?“

„Wie konnte ich das nur vergessen? Gesine Rathenau.“

„Lendel, Frigga Lendel, und ich habe ja auch noch nicht daran gedacht, mich vorzustellen“, sagt Frigga.

„Sie sind bei Viktoria zu Besuch, richtig?“

„Nur für ein paar Tage.“

„Und da bitte ich Sie in aller Frühe gleich um so etwas hier“, sagt Frau Rathenau.

„Ist schon in Ordnung. Die Nacht war ja auch schon schlecht“, sagt Frigga und denkt an Viktorias Sofa voller Hausstaubmilben.

„Es war ganz schön windig. Ich kann Ihnen nicht genug danken“, sagt Frau Rathenau.

Sie erreicht den ersten Treppenabsatz, nimmt die Brille ab und reibt sich nervös die Augen. Ihr heller Mantel steht offen, betont aber trotzdem ihre schlanke Figur. Das Licht aus Fenster und Lampe des Absatzes spiegelt sich in einer Uhr an einer Kette um ihren Hals. 

„Was ist los?“, fragt Frigga, die hinter ihr aufgetaucht ist und erneut die Nase hochzieht. Sie steckt in einem zu großen, gelben Bademantel und trägt derbe Bergstiefel. Alles Licht fällt durch ihre weit abstehenden, flammend roten Haare.

„Ich weiß nicht“, sagt Frau Rathenau. „Ich habe halt so ein komisches Gefühl, dass da was nicht stimmt.“

„Wird schon nicht so schlimm sein“, sagt Frigga und steigt an Frau Rathenau vorbei die letzte Treppe zum Erdgeschoss hinunter.

„Ach, das hatte ich ganz vergessen“, sagt Frau Rathenau, die Frigga gefolgt ist. „Die Haustür ist auch offen. Sie muss die ganze Nacht offen gewesen sein, so kalt wie das hier ist.“

Sie zieht sich den Mantel enger um den Körper und will die Tür schon schließen, aber Frigga hält sie zurück. 

„Wir sollten hier vorsichtshalber alles unverändert lassen“, sagt sie.

„Aber Sie haben doch gesagt, dass es wohl nicht so schlimm … oh, natürlich“, meint Frau Rathenau, „wenn Sie das für notwendig halten.“

Seltsam, denkt Frigga, jemand hat einen Keil unter die Tür geschoben, und auf der Straße weist nichts darauf hin, dass er im Moment für jemanden nützlich ist.

„Sehen Sie“, sagt Frau Rathenau und zeigt auf die linke Wohnungstür, „Herrn Bauses Wohnung steht halb offen. Ich habe schon gerufen, doch es kam keine Antwort. Aber Herr Bause ist ja auch schon ein alter Mann. Er hört nicht mehr so gut.“

Frigga wischt sich mit dem Ärmel die Nase. Verdammt, es ist ja Viktorias Mantel, und ich bin noch gar nicht geduscht, schießt es ihr durch den Kopf, denn sie riecht etwas streng. Dann drückt sie gegen die Tür, die lautlos ihre Endstellung erreicht. Frigga hört ein leises Ticken.

Nur das spärliche Licht des Treppenhauses fällt in den Flur der Wohnung. Frigga tastet nach einem Lichtschalter neben der Tür. Das Deckenlicht flammt auf. Vom sehr kleinen Flur gehen drei Türen ab. Die geradeaus steht offen und führt in ein fensterloses Badezimmer. Die rechte Tür hat eine Glasscheibe und verschließt die Küche.

„Hallo!“, ruft Frigga. Keine Antwort.

„Sehen Sie, es scheint niemand da zu sein“, flüstert Frau Rathenau hinter ihr.

„Vielleicht schläft er ja auch sehr tief“, sagt Frigga und wendet sich der Tür links zu. Die ist massiv und steht ebenfalls halb offen. Frigga muss sie ganz aufdrücken, denn nach einem kurzen Anstoß verhindert der Teppich, dass sie sich mehr als ein paar Zentimeter bewegt. Die Rollläden sind noch unten, und darum schaltet Frigga auch hier das Licht ein.

Ein Wohnzimmer mit in dunkler Eiche getäfelten Wänden. Rechts an der Wand eine hellbraune Chesterfield-Sitzgruppe. Über dem Sofa an der Wand eine Pendeluhr, die jetzt leiser als erwartet tickt. Sie steht auf 6:38 Uhr und zeigt damit eine halbe Stunde früher an als die Uhr in Viktorias Wohnzimmer. Mehrere kleine, alte und vermutlich teure Möbel sind im Raum verteilt, darunter ein Sekretär. Auf der Ablage über der Klappe fehlt kreisrund der dünne Staub. Daneben steht ein Bild. Es zeigt einen viel jüngeren Herrn Bause mit einem kleinen Mädchen auf dem Schoß. In der Mitte des Raumes liegen einige Zettel und Bauses umgestürzter Rollstuhl. Hinten im Raum ist eine weitere, vollständig geöffnete Tür. Sie führt in tiefe Dunkelheit. 

Frigga durchquert das Wohnzimmer. Der dicke, russisch-grüne Teppich dämpft ihre Schritte. Von der offenen Tür führen braune Flecken wie von Katzenpfoten zurück in das Wohnzimmer. Sie werden von Fleck zu Fleck blasser, bis sie nicht mehr zu erkennen sind. Frigga bleibt stehen und dreht sich zu Frau Rathenau um. Die steht mit eingezogenem Kopf hinter ihr und starrt sie an.

Sie muss ziemlich kurzsichtig sein, denkt Frigga. Ihre Augen wirken so klein und ängstlich. Vielleicht ist sie Mitte fünfzig.

„Bis hierher können wir noch nichts Genaues sagen“, sagt Frigga. „Es ist noch fast alles vorstellbar. Schrödingers Katze ist noch beides, tot und lebendig. Wenn wir aber durch diese Tür gehen und das Licht einschalten, dann wird sich ein Zustand bewahrheiten. Egal welcher das sein wird, behalten Sie um Himmels Willen die Nerven.“ 

Frau Rathenau nickt.

„Ich kenne Herrn Schrödinger und seine Katze zwar nicht, aber du kannst mich Gesine nennen.“

„Frigga“, sagt Frigga. „Und los.“

Ein letztes Mal drückt sie einen Lichtschalter.

Auf dem Boden liegt Bauses Gehstock mit silber- glänzendem Knauf. Er ist blutbeschmiert. Herr Bause liegt auf dem Rücken im Bett mit dem Kopf unter dem Kissen. Sein linker Arm hängt aus dem Bett heraus. Ein tiefer Schnitt klafft im Unterarm, und an den Fingern kleben Blutstropfen. Der Teppich unterhalb der heraushängenden Hand ist mit Blut vollgesogen. Hier sind die Pfotenabdrücke am deutlichsten und bilden ein aufgeregtes Muster. Die hat was aufgeschreckt, denkt Frigga. Der Wecker auf dem Nachtschränkchen steht auf 7:12 Uhr. Um 7:00 Uhr hat er geklingelt. Er ist blutbeschmiert. Am Nachtschränkchen ist Blut, an den Wänden ist Blut, am Schrank ist Blut. Überall ist Blut. Gesine stößt einen spitzen Schrei aus und lehnt schwach am Türrahmen.

„Der Graf ist tot“, ächzt sie.

Verdammt, denkt Frigga, klapp jetzt bloß nicht zusammen. Ich sollte die Polizei rufen. Am besten auch einen Krankenwagen für Gesine.

Sie will sich gerade zum Gehen wenden, als sie etwas am Hals des Toten glitzern sieht. Sie tritt an das Bett. Eine dünne Kette verschwindet im blutgetränkten Halsausschnitt des Pyjamas. Frigga weiß genau, was am Ende dieser Kette hängt. Sie hat es sich gestern von Herrn Bause geliehen und ihm gestern auch wieder zurückgegeben. Sie sieht den alten Mann in seinem Dreiteileranzug und dem gezwirbelten Schnurrbart noch vor sich, wie er an der Wohnungstür, im Rollstuhl sitzend, den Schlüssel aus dem Hemd zieht. Sie möge sorgsam damit umgehen, denn er habe dafür unterschreiben müssen, hatte er ihr eingeschärft. Es ist der Schlüssel zum Dachgeschoss. Dort hat sie ihr Teleskop bis zu ihrer Weiterfahrt geparkt. Sie muss den Schlüssel jetzt nehmen, denn die Polizei wird hier alles auf den Kopf stellen, und dann ist er erst einmal weg. Ohne Schlüssel bleibt ihr Teleskop eingesperrt, und ohne Teleskop … Sie greift zu. 

„Sie lassen auf der Stelle los, was Sie in der Hand haben, und treten sofort zurück“, hört sie eine gefährlich ruhige Stimme hinter sich.

Frigga lässt den Schlüssel los, der an seiner Kette zurück unter den Pyjamakragen rutscht, und dreht sich langsam um.

In der Tür steht ein riesiger Kerl in schwarzem Lederjackett und Jeanshose. Vielleicht fünfunddreißig, sechsunddreißig und damit so alt wie ich, tippt Frigga, gut trainiert, ein kleines Schuppenproblem, leicht zerknitterter Hemdkragen, wohnt wahrscheinlich allein. Die rechte Hand des Riesen ruht auf seiner Waffe an der Hüfte, die andere hält eine Metallplakette. Eine junge Frau mit blondem Pferdeschwanz kniet vor Gesine. 

„Ganz ruhig“, sagt Frigga, „ich kann das erklären.“

„Da bin ich aber gespannt“, sagt der Kerl. „Aber zuvor treten Sie zurück.“

Frigga befolgt die Anweisung.

„Schon gut, schon gut.“

„Kriminaloberkommissar Thomas Scheibelhud, und das ist meine Kollegin Kommissarin Sigrid Mlaka.“

„Ich bin auch eine Kollegin, Oberkommissar Scheibelhud. Hauptkommissarin Frigga Lendel aus Bielefeld. Ich habe hier alles im Griff.“

Oberkommissar Scheibelhud lächelt verkniffen.

„Ja, ich habe gesehen, dass Sie gerade etwas angefasst haben.“

„Wollen Sie mich belehren? Wollen Sie mir sagen, wie ich meine Arbeit zu tun habe?“

Sie geht einen Schritt auf den Beamten zu in der Hoffnung, dass er zurückweicht. Doch der denkt wohl nicht daran.

„Wie Sie sehen, ist hier ein Kapitalverbrechen begangen worden, Oberkommissar Scheibelhud. Rufen Sie also ihre Leute her ... und achten Sie auf Ihre Kleidung. Wir wollen hier keine Kontaminationen!“

Sie zeigt auf eine Stelle an seiner Schulter, wo ein welkes Blättchen von einem der Straßenbäume klebt.

Scheibelhud nimmt das Blättchen und steckt es in seine Tasche.

„Danke, dass Sie mich darauf aufmerksam gemacht haben. Und nun treten Sie bitte wieder zurück. Sie können sich doch wohl ausweisen, oder?“

Frigga starrt ihn kalt an. Dann zeigt sie erst auf ihre Schuhe und dann auf den Bademantel. 

„Wenn Sie meine Dienstmarke hier irgendwo finden, dann haben Sie schon jetzt einen Orden verdient.“

„Das habe ich so nicht gemeint“, sagt Scheibelhud und legt seine Hand wieder auf die Waffe. „Wenn Sie die Dienstmarke nicht bei sich tragen, dann gehen wir jetzt in Ihre Wohnung.“

„Wir gehen jetzt nirgendwo hin, verstanden?“, ruft Frigga.

Kommissarin Mlaka stellt sich in die Tür.

„Vorerst können oder wollen Sie sich also nicht ausweisen“, sagt Scheibelhud. „Ich nehme Sie daher vorläufig wegen des Verdachtes auf Täterschaft fest.“

Frigga hat nur einmal ungläubig geblinzelt, da hat ihr der Beamte bereits Handschellen angelegt. Seine Kollegin redet gedämpft in ihr Funkgerät.

„Ich werde mich bei Ihrem Vorgesetzten beschweren!“, schimpft Frigga.

„Dazu haben Sie jedes Recht der Welt.“

Er führt Frigga und Gesine durch das Wohnzimmer, als die Pendeluhr dreimal schlägt. Unmittelbar darauf klingelt das Telefon. Frigga schießt die Möglichkeit zu Gegenwehr und Flucht durch den Kopf, aber ihre Arme zucken nur einmal kurz gegen den Widerstand der Handschellen. Dann legt sich Scheibelhuds Hand schwer auf ihre Schulter, und sie bleibt stehen.

Der Anrufbeantworter springt an.

„Hallo, Herr Bause“, dringt eine schwache Frauenstimme aus dem Apparat. „Hier ist Marie Keller. Ich hoffe, dass Sie das hier bald abhören. Leider kann ich heute nicht vorbeikommen, weil ich krank im Bett liege. Habe wohl gestern was Falsches gegessen und die ganze Nacht auf der Toilette ... oh, mein Gott, es geht schon wieder los.“

Das Geräusch eines großen Dilemmas ist zu hören. Dann rauscht eine Klospülung.

„Aber machen Sie sich bitte keine Sorgen“, dringt kurz darauf die gequälte Stimme durch das Geräusch von nachlaufendem Wasser. „Ich sorge dafür, dass jemand nach Ihnen schaut. Wenn ich mich wieder besser fühle, dann melde ich mich. Bis dahin! Oh, nei...“ 

Bevor erneut ein Dilemma übertragen wird, hat Marie Keller das Gespräch abgebrochen. Kommissarin Mlaka notiert ihre Rufnummer.

Auf der Straße sieht Frigga die alte Frau von gegenüber in ihrem Fenster lehnen. Unter ihr auf dem Gehweg stehen zwei Anwohner und unterhalten sich leise mit ihr.

„Vorsicht beim Einsteigen“, hört sie Scheibelhud hinter sich sagen, und seine Hand schirmt ihren Kopf gegen den Türrahmen ab. Frigga zwängt sich mit den Händen im Rücken auf die Sitzbank. Der Bademantel lappt über den Einstiegsschweller, und Scheibelhud schiebt ihn in den Fußraum. Dann drückt er die Tür zu. Hier riecht es nach Waffenöl. Sie fahren los, als ein paar Polizeifahrzeuge eintreffen. Jetzt ist es Frigga doch etwas flau im Magen.

2.

Die Bude in Schonnebeckshöfe öffnet früh. Burkhard Gorontzki betritt den Verkaufsraum mit lediglich einer vagen Vorstellung von den Kleinigkeiten, die er für seine Bahnfahrt einkaufen will. Irgendwas zum Essen, irgendwas zum Trinken, irgendwas zum Lesen. Die Zeitung hat er schnell gewählt, eine in Teig verpackte Salami setzt sich gegen eine Tafel Schokolade durch. Jetzt steht Gorontzki vor dem Kühlschrank. Wasser, Saft, ein Milchgetränk oder vielleicht ein Bier? Das Wasser würde seinen Durst löschen oder zumindest die Kehle befeuchten. Der Saft schmeckt zwar besser, aber er wäre vielleicht doch zu süß. Das Milchgetränk schließt Gorontzki aus, denn bis er das Getränk nötig hat, wäre die Milch warm und noch schleimiger geworden. Dem kann er nichts abgewinnen. Bliebe noch das Bier.

Die Tür wird mit einem Klingeln aufgedrückt. Ein halbes Dutzend Schulkinder erobert den Verkaufsraum und formiert sich vor dem Tresen. Dort stehen mehrere Glasgefäße mit Süßigkeiten. Die Kinder plappern durcheinander, und die Budenbesitzerin kämpft sich durch die Bestellungen. Saure Gummischlangen, Lutschmuscheln, Schnuller, Liebesperlen. Tüte um Tüte füllt sich.

Das Bier würde seine Nerven beruhigen. Wenn Gorontzki es aber vor dem Test trinkt, dann müsste er auch noch eine Rolle Pfefferminzbonbons kaufen, damit er nicht durch eine Fahne auffiel. Das Wasser müsste er in jedem Falle zum Nachspülen haben. Wenn der Test gelaufen war, könnte er sich in Oberhausen ein weiteres Bier kaufen. Ob als Belohnung oder zur Tröstung, hinge vom Ergebnis des Tests ab. Grün ist die Hoffnung, denkt Gorontzki und fügt eine grüne Flasche Stauder sowie eine Flasche Wasser seiner Sammlung bei. 

Er wendet sich dem Tresen zu. Der Süßigkeitenverkauf ist ins Stocken geraten, weil ein Junge zu wenig Geld dabei hat. Zum Beweis hält ihm die Budenbesitzerin die flache Hand mit den Münzen hin. Die anderen können ihm nichts leihen, weil sie ihres schon ausgegeben haben.

„Dann nehmen wir wieder etwas aus der Tüte heraus“, bietet die Budenbesitzerin an. „Auf was kannst du verzichten?“

Der Junge wirft einen scheelen Blick auf die prallen Tüten der anderen und kann auf gar nichts verzichten.

Burkhard Gorontzki schaut auf die Uhr. In sechs Minuten fährt der Zug nach Oberhausen ab.

„Du musst dich schon entscheiden“, sagt die Budenbesitzerin. „Entweder eine Lutschmuscheln oder dreimal den Zauberbären. Den Kleinkram fische ich nicht mehr raus.“

Der Junge ist hin- und hergerissen.

„Wie viel fehlt denn?“, fragt Gorontzki.

„Nur achtzehn Cent“, sagt der Junge.

Gorontzki zückt sein Portemonnaie und begleicht den Betrag. Die Bande zieht aus dem Laden, und Gorontzki bestellt am Tresen die Rolle Pfefferminzbonbons. Jetzt muss er sich aber beeilen. Wenn er zu spät kommt, dann ist der Job weg.

„Macht vier Euro achtunddreißig.“

Das sind acht Cent zu viel für Gorontzki. Er lässt die Bonbonrolle zurück und stopft alles andere in seine Aktentasche. Die hat er schon seit seiner Schulzeit. Sie lässt sich nicht mehr schließen, weil das Schloss defekt ist. Er eilt in Richtung Bahnhof Essen-Zollverein Nord. Als er unten an der Treppe zum Bahnsteig steht, fährt der Zug ein. Gorontzki ist schon jetzt außer Atem. Mit großen Sätzen stürzt er die Treppe hoch. Sein Mund ist staubtrocken. Nur noch zwei Sätze. Seine Beine haben kaum noch Kraft. Er taumelt. Sein schwingender Arm mit der Aktentasche gerät unter den Handlauf der Treppe, die Aktentasche dreht sich heraus, rutscht auf den obersten Treppenabsatz und öffnet sich. Auch die Türen des Zuges öffnen sich. Ein paar Fahrgäste steigen aus und weichen Burkhard Gorontzki aus, der zwischen ihren Füßen zusammenrafft, was er erreichen kann. Die Bierflasche ist über den Rand des Treppenabsatzes gerollt. Dahinter ist es abschüssig. Ein Wunder, dass sie nicht zerbrochen ist. Die Wurst ist auch dorthin gerutscht. Gorontzki kann beides nicht mehr sehen. Dafür sieht er aber, dass sich die Türen schließen. Es ist keine Zeit, nach seinem Besitz zu suchen. Er sprintet zum Zug, steckt seine Hand zwischen die fast geschlossenen Türen und drängt hinein. Schwer atmend steht er an eine Haltestange gelehnt. Es wird kein Beruhigungsbier geben. Hoffentlich reicht das Geld für das Belohnungsbier danach. Dass die Flasche bei seiner Rückkehr noch dort liegen wird, braucht er wohl nicht zu hoffen.

3.

Während der Fahrt behält Scheibelhud Frigga und Gesine im Auge. Mlaka steuert das Fahrzeug. Friggas Hände werden langsam kalt. Die Handschellen sitzen eng. Dreh nur nicht durch, denkt sie. Am Ende lässt sich alles irgendwie klären. Bring es mit Anstand hinter dich.

Sie blickt zu Gesine hinüber. Die ist weit davon entfernt, die Sache mit Anstand hinter sich zu bringen. Zusammengesunken hockt sie da. Sie ist auch etwas bleich, und plötzlich durchströmt ein beißender Geruch das Wageninnere.

„Nein, das ist jetzt nicht wahr!“, ruft Scheibelhud.

„Sie hätten sich die Frau vielleicht mal besser ansehen sollen, bevor Sie sie wie eine Verbrecherin in ihren Polizeiwagen zerren“, sagt Frigga. „Sie hat immerhin gerade eine Leiche gesehen. Das ist menschenunwürdig, was Sie hier mit uns machen.“

Gesine Rathenau laufen Tränen über die Wangen.

„Du meine Güte! Fahr schneller, Mlaka!“, ruft Scheibelhud und stellte die Sirene an.

Die Fahrt dauert nur noch sehr kurz, denn das Polizeirevier liegt am Mallinckrodtplatz und damit nur einen knappen Kilometer entfernt vom Tatort.

Die Polizeiinspektion 3 – Nord Polizeiwache Altenessen – ist ein mehrstöckiges, graues Gebäude, das auch ein Wohnhaus hätte sein können, wenn nicht über dem Eingang in großen Buchstaben POLIZEI stünde, und wenn nicht fast ein Dutzend Polizeifahrzeuge davor parkten.

Scheibelhud springt aus dem Wagen und reißt Gesines Tür auf. Ihr Rock wie die Sitzbezüge sind nass. Gesine wimmert, dass es ihr leid tue, und Frigga würde Scheibelhud am liebsten an die Kehle fahren. Mlaka geleitet sie beide ins Gebäude hinein. Dort wird Gesine auf die Toilette, Frigga dagegen in einen Raum mit einer Pritsche geführt. Auf der Pritsche stehen eine weiße und eine blaue Schale. Eine Polizistin schließt die Tür und stellt sich davor, eine andere weist auf die Pritsche.

„Bitte ziehen Sie alle Kleidungsstücke aus, und legen Sie sie in die weiße Schale. Die Schuhe bitte in die blaue.“

Frigga schluckt.

„Weshalb denn das?“

„Sie sind am Tatort vorläufig festgenommen worden, und die Kleidung wird zwecks Spurensicherung gebraucht. Sie wissen doch, wie das geht, Frau Hauptkommissarin.“

Die Beamtin an der Tür unterdrückt ihr Grinsen nur mühsam. 

„Aber ich habe dann doch gar nichts mehr an!“, ruft Frigga. „Wie weit wollen Sie uns denn noch demütigen?“

„Jetzt machen Sie hier keinen Aufstand! So was wie bei Ihrer Freundin kann passieren. Da kann der Kollege überhaupt nichts für. Sie aber können sich vorübergehend hiermit behelfen. Und keine hektischen Bewegungen, wenn ich bitten darf!“, sagt sie scharf, weil Frigga mit ihrer Hand herumwedelt. Hier gibt es eine Fliege.

Die Polizistin reicht Frigga etwas, was wie eine weiße Plastikfolie aussieht.

„Das soll ich anziehen?“

Die Polizistin an der Tür nickt langsam, während die andere Frigga anstarrt.

„Das wird Sie noch teuer zu stehen kommen“, presst Frigga hervor und zieht sich aus. Die Fliege setzt sich auf ihren nackten Oberschenkel.

Die Folie lässt sich zu einem Plastikoverall mit Kapuze entfalteten. Er fühlt sich kühl auf der Haut an, wird aber sicher bald auf ihr kleben. Nur gut, dass das Ding blickdicht ist, denkt Frigga. Die Fliege krabbelt ihr über den nackten Fuß.

„Soll ich barfuß hier herumlaufen?“, fragt Frigga.

„Nehmen Sie diese Überzieher“, sagt die Polizistin und hält ihr zwei kleine, weiße Plastikfolien hin. Das Gummi am Einstieg ist verhältnismäßig stramm und wird Abdrücke auf der Haut hinterlassen. 

„So, und damit die Dame keine schwarzen Fingerchen bekommt, haben wir hier unser AFIS“, sagt die Polizistin. „Drücken Sie ihre Fingerkuppen drauf!“

Sie hält ihr ein elektronische Gerät entgegen, auf das sich die Fliege setzt und erst flüchtet, als Frigga tut, was man von ihr verlangt.

„Dann haben wir es ja beinahe geschafft“, sagt die Polizistin und greift nach einem Plastikröhrchen. „Sie wissen, was das ist? Stichwort DNA-Probe?“

Sie wedelt mit dem Röhrchen.

„Ich weise Sie darauf hin, dass sie dazu nicht verpflichtet sind. Sollten Sie sich jedoch weigern, werden Sie per richterlicher Anordnung dazu gezwungen. Die Anordnung ist in ein paar Stunden erteilt. Solange bleiben Sie hier. Ich empfehle Ihnen, zu kooperieren.“

Die Polizistin an der Tür grinst nicht mehr, sondern sieht jetzt wirklich gefährlich aus. Die andere zieht ein Wattestäbchen aus dem Plastikröhrchen, und Frigga lässt sie damit in ihrem Mund herumwerkeln. Sie kann gerade so verhindern, dass ihr die Fliege nicht auch noch hineinfliegt.

Anschließend wird Frigga vermessen, gewogen und fotografiert.

„Folgen Sie mir.“

Man führt sie in ein Büro. Allein die Vorstellung, in diesem Anzug vernommen zu werden, bereitet ihr Unbehagen. Aber der Grund, weswegen sie sich wirklich flau fühlt, liegt woanders.

„Bitte, setzen Sie sich.“

In dem Büro wartet Scheibelhud. Er deutet auf einen Stuhl. Kommissarin Mlaka postiert sich an der Tür. 

„Bitte, nennen Sie mir Ihren Namen, ihre Anschrift und Ihr Geburtsdatum.“

Er fragt auch nach ihrem Geburtsort, dem Familienstand und ihrer Staatsangehörigkeit und tippt alles in einen Rechner.

„Zu Ihrem Beruf haben Sie sich ja bereits geäußert. Bei nächster Gelegenheit werden wir das natürlich überprüfen“, sagt er. „Dann weise ich Sie hiermit auf Ihre Rechte hin.“ 

Er spult auch diesen Teil wie eine gut geölte Maschine ab, und Frigga überlegt, wie sie vorgehen soll. Die Aussage verweigern, einen Anwalt anfordern, eigene Beweisanträge zur eigenen Entlastung stellen oder sich ausschließlich schriftlich äußern? Nichts von allem wird ihr helfen. Man hat sie mit der Hand am Toten im Mordzimmer vorgefunden. Da sie der Tat aber nicht schuldig ist, macht ihr das keine Sorgen. Aber etwas anderes bohrt in ihr. Sie muss es jetzt zur Sprache bringen, ohne Anwalt und ohne viel Firlefanz.

„Ich möchte eine Aussage machen“, beginnt sie, als ein Mann, ehrfurchtgebietend grauhaarig und mit unverschämt vielen silbernen Sternen auf den Schulterklappen, den Raum betritt.

Frigga starrt ihn an.

„Onkel Horst?“, flüstert sie.

 

Im Großraumbüro nebenan klingelt ein Telefon. 

„Polizeiinspektion 3, Kriminaloberkommissar Görtzig“, meldet sich der Beamte.

„Kemsich Moden, Teuber“, meldet sich eine Frau am anderen Ende, „ich wollte nur mal nachhören, ob sich schon eine Spur wegen der Puppe ergeben hat.“

„Der Puppe?“, fragte Görtzig.

„Unsere Schaufensterpuppe wurde doch vorgestern gestohlen“, erklärte Frau Teuber, und Görtzig schlägt die Hand an die Stirn.

„Es ist nur so, dass es sich dabei um ein altes Stück handelt, antik sozusagen, und es ist eine Leihgabe. Wir brauchen es daher unbedingt zurück. Haben Sie denn schon eine Spur?“

Görtzig verdreht die Augen.

„Wir sind mit allen Kräften auf der Suche und melden uns, sobald wir etwas ermittelt haben.“

„Wir wollen halt nur, dass ihr nichts passiert. Die Puppe ist unbezahlbar für diejenigen, die sich damit auskennen. Ein Sammlerstück. Eine Bonaveri von 1951! Wir mussten zweitausend Euro hinterlegen.“

„Ich kann Sie nur bitten, sich zu gedulden. Wir warten nur darauf, dass die Entfüh...“

Er hält inne, legt die Hand über das Mikrofon des Telefonhörers und schüttelt den Kopf, weil er sich über seine Gedankenlosigkeit wundert.

„Eine Entführung? Sie glauben, es ist eine Entführung?“, schallt es schrill aus der Ohrmuschel.

„Nein, so kann man es wohl nicht bezeichnen“, versucht Görtzig zu beruhigen. „Trotzdem tun wir alles in unserer Macht Stehende, um Ihnen das Stück zurückzubringen. Wir melden uns, sobald wir mehr sagen können.“

Kaum hat er aufgelegt, als das Telefon erneut klingelt. Die angezeigte Nummer kennt er, und sie ist wichtig. Er hebt ab und beginnt zu schwitzen.

 

„Sie kennen den Ersten Kriminalhauptkommissar Sobel?“, fragt Scheibelhud verblüfft.

„Ja, den kennt sie“, antwortet Sobel. „Hallo, Frigga!“

„Hallo, Onkel Horst. Ich wusste gar nicht, dass du in dieser Dienststelle bist“, sagt Frigga und wird rot.

„Letztes Jahr habe ich mich her versetzen lassen. Als Dienststellenleiter hatte ich da die Wahl.“

Er hockt sich auf einen Stuhl und blickt Frigga so streng an, dass ihr plötzlich der Plastikoverall am ganzen Körper klebt.

„Ich habe die Befragung am Rechner mitverfolgt. Als dein Name fiel, wurde ich natürlich hellhörig. Ganz besonders, als ich las, dass du jetzt Kriminalhauptkommissarin bist.“

„Nun, dazu wollte ich gerade etwas sagen, als du hereingekommen bist.“

„Das hört sich an, als wolltest du dem etwas hinzufügen, oder?“

Frigga nickt.

„Wir brauchen also nicht erst in Bielefeld zu fragen, ob die eine Kriminalhauptkommissarin deines Namens haben, nicht wahr?“

Frigga schüttelt den Kopf.

„Am Ende meinst du es damit auch nicht so ernst, wie es zunächst schien?“

Frigga schüttelt den Kopf noch heftiger.

„Denn so etwas könnte man leicht als Amtsanmaßung ahnden, und das ist eine Straftat. Was ist also dein wirklicher Beruf?“

„Ich fahre Taxi“, sagt Frigga. „Es tut mir leid, dass ich etwas anderes gesagt habe. Wahrscheinlich ist mir eine Sicherung durchgebrannt angesichts des Toten. Frau Rathenau hat mich zu Hilfe geholt, weil Herrn Bauses Tür offen stand. Sie hat sich nicht alleine hineingetraut, und ich wollte doch nur fühlen, ob er noch lebt.“

Sobel lehnt sich zurück. 

„Wurde Frau Rathenau schon befragt?“

„Sie war vorher dran“, sagt Scheibelhud.

„Ist das die Frau, die sich ...“

Scheibelhud nickt verkniffen.

„Da reden wir später drüber. Deckt sich Friggas Aussage mit der von Frau Rathenaus?“, fragt Sobel. Scheibelhud schaut in seinen Rechner und nickt.

„Was meinen Sie, Scheibelhud, müssen wir die Amtsanmaßung weiterverfolgen?“

„Wir müssten eigentlich schon … allerdings haben wir keinen Hinweis darauf, dass Frau Lendel eine Handlung vorgenommen hat, die nur Kraft eines öffentlichen Amtes vorgenommen werden darf. Sie hat lediglich behauptet, Kriminalhauptkommissarin zu sein.“ 

„Und was hat Sie dazu veranlasst, ihr das nicht zu glauben?“, fragt Sobel.

„Wie Sie sehen, ist hier ein Kapitalverbrechen begangen worden“, zitiert Scheibelhud.

„Verstehe“, meint Sobel, „so reden wir heute nicht mehr. Ich denke, dann ist alles geklärt. Frigga kann erst einmal gehen, wir kennen ja ihren Aufenthaltsort. Oder haben Sie noch Fragen an sie.“

Scheibelhud schüttelt den Kopf. Sobel erhebt sich.

„Onkel Horst?“

Sobel wendet sich ihr zu.

„Was ist mit Herrn Bauses Schlüssel? Kann ich den bekommen?“

„Keine Ahnung. Das muss der Oberkommissar entscheiden.“

„Das ist nicht möglich“, sagt Scheibelhud. „Wir haben noch nichts ausgewertet. Aber ihren eigenen Schlüssel kann sie natürlich wiederhaben.“

Die Tür wird geöffnet, und Görtzig bedeutet Sobel, er möge herauskommen. Für einen kurzen Moment sitzen sich Scheibelhud und Frigga wortlos gegenüber.

„Wie lange sind Sie noch in Essen?“, fragt Scheibelhud schließlich.

„Bis Samstag.“

Scheibelhud schaut zum Wandkalender, auf dem Mittwoch  mit einem Plastikrahmen markiert ist, und macht einen Vermerk.

„Wofür brauchen Sie eigentlich den Schlüssel?“, fragt er.

„Ich habe was für meine Reise auf dem Dachboden deponiert.“

Nur einmal noch treffen sich ihre Blicke, und Frigga weiß Scheibelhuds nicht einzuordnen.

Sobel kehrt zurück. Er wirkt angespannt.

„In Arnheim hat jemand um sich geschossen. Es gab Tote. Der Mann ist auf der Flucht, und die holländischen Kollegen bitten um Amtshilfe an der Grenze. Görtzig stellt die Teams zusammen. Die können jeden Mann brauchen, den sie kriegen können. Mlaka, Sie melden sich bei Görtzig. Scheibelhud, Sie machen das hier weiter.“

„Aber das ist für einen alleine ...“

„Der Erkennungsdienst ist doch schon vor Ort. Die Arbeit bleibt Ihnen also schon einmal erspart. Und außerdem wird es nicht für ewig sein. Wie lange kann schon so einer fliehen. Ansonsten stellen Sie meinetwegen Frigga als Informantin ein.“

„Was?“, ruft Scheibelhud. „Eine Zivilistin? Das kann nicht ihr Ernst sein.“

„Jetzt hören Sie mal zu.“

Sobel stützt sich auf den Schreibtisch.

„Ich hatte einmal einen sehr geschätzten Kollegen namens Robert. Leider hat er uns viel zu früh verlassen. Kriminalkommissar Lendel ist vor etwa fünfundzwanzig Jahren im Dienst zu Tode gekommen. Frigga ist seine Tochter.“

Ein Hauch von Verständnis huscht durch Scheibelhuds Widerwillen und zeichnet ein schiefes Lächeln in sein Gesicht.

„Ich weiß noch, wie er sie das erste Mal auf das Revier mitbrachte. Wie alt warst du da? Zehn? Oder Elf? Jedenfalls ziemlich jung. So klein war sie damals“, sagt Sobel und hält die Hand in etwa Brusthöhe. „So klein und konnte schon schießen.“

Er lacht kurz auf.

„Ja, ganz recht. Robert hat Frigga auf den Schießstand mitgenommen. Die junge Dame hat sechsmal hintereinander ins Schwarze getroffen. Ich erinnere mich noch wie heute. Da sind selbst alte Hasen vom Glauben abgefallen.“

Frigga sieht Scheibelhud seine Ungläubigkeit an.

„Und du hattest vorher noch nie eine Waffe in der Hand, stimmt´s Frigga?“

„Ich hatte nur Glück“, sagt Frigga.

„Nein, nein. Glück ist, einmal oder zweimal zu treffen. Aber sechsmal hintereinander? Da kann man ja fast von Bestimmung sprechen. So was liegt im Blut. Denken Sie an meine Worte, Scheibelhud: Aus dieser jungen Dame wird noch etwas werden. Du willst nicht zufällig zur Truppe stoßen?“

Frigga winkt ab und meint, sie habe im Moment andere Pläne.

„Und diese Informantinnensache ist ja schon einmal gar nichts für mich“, sagt sie mit schnellem Blick auf Scheibelhud.

„Dann sage ich es einmal anders“, meint Sobel. „Wenn du auch nur einen Hinweis liefern kannst, der uns den Täter näher bringt, dann können wir über den Schlüssel reden.“

„Na gut. Aber was soll ich denn tun?“, fragt sie.

„Hör dich im Hause etwas um, und gib alles an Scheibelhud weiter.“

„Ich soll Petze spielen?“

„Nein, Informantin. Scheibelhud ist zwar gut, aber er ist auch Polizist. Wer redet schon gerne mit uns. Und die, die es gerne tun, nun, die haben sie in der Regel doch nicht alle. Sie bringen Frigga und Frau Rathenau nach Hause.“

Er nickt Scheibelhud zu und verlässt den Raum.

„Kann ich wenigstens meine Sachen wiederhaben?“, fragt Frigga.

„Natürlich nicht“, knurrt Scheibelhud und erhebt sich. „Die werden auch noch ausgewertet. Außerdem muss büßen, wer ne dicke Lippe riskiert.“

Verdammter Mist, denkt Frigga. Das ist bestimmt nicht der Beginn einer langen Freundschaft.

4.

Als Frigga und Gesine das Polizeirevier verlassen, ist der Stadtteil im Begriff, die Augen zu öffnen. In wenigen Minuten wird es von der Alten Kirche Altenessen neun Uhr schlagen. Dann beginnen die Geschäfte im Allee Center bis auf die des Kauflands, denn das hat schon ab sieben Uhr geöffnet und ist damit Anlaufpunkt früher Vögel wie etwa den Flaschensammlern.

Frigga steigt zu Gesine in den Streifenwagen. Man hat Scheibelhud einen anderen, sauberen zugewiesen. Doch so sauber dieser Wagen auch ist, Frigga selbst fühlt sich schmutzig. Über Gesines Zustand kann sie nur mutmaßen. Sie trägt wie Frigga einen dieser weißen Plastikanzüge, aber sie hat wenigstens noch ein Unterhemd an. Mit zusammengepressten Lippen hält sie ihre Hände im Schoß vergraben und den Kopf gesenkt. Alles in allem ist das eine demütigende Behandlung für sie beide gewesen, und sie ist es noch. Man hat ein Exempel an ihnen statuiert. Gut möglich, dass man nicht so mit ihnen hätte umspringen dürfen. Vielleicht hätte sie doch einen Anwalt hinzuziehen sollen. 

Frigga friert in dem dünnen Plastikzeug. Es ist inzwischen glitschig auf der Haut. Bei Viktoria wird sie gründlich duschen müssen. Die Demütigungen hingegen wird sie nicht so einfach abspülen können. Hoffentlich hat Viktoria ein paar Schuhe, die ihr passen, sonst muss sie sich neue besorgen. Schließlich ist nicht abzusehen, wann sie ihre eigenen wieder zurückbekommt, und ein zweites Paar hat sie nicht eingepackt, weil auf solch eine Idee nur Menschen eines ganz anderen Schlages gekommen wären. Dem Schlafanzug weint sie keine Träne nach. Er hat ohnehin Löcher. Hoffentlich flippt Viktoria wegen des Bademantels nicht aus. 

Die Sache mit der Amtsanmaßung war noch einmal glimpflich verlaufen. Was hat mich nur geritten, denkt Frigga. Warum übertreibe ich manchmal so maßlos? Ich sollte mich mehr unter Kontrolle haben. Eine freche Klappe kann man sich als Teenager gerade noch leisten, aber von einer erwachsenen Frau verlangt die Welt mehr Beherrschung. Ich kann von Glück reden, dass Onkel Horst ausgerechnet in diesem Revier als Leiter eingesetzt ist. Dabei ist er gar nicht mein richtiger Onkel, sondern nur einer der vielen Nennonkel, die damals Arbeitskollegen von Papa waren. Papa wäre jetzt in seinem Alter. Ach ja, Papa!

Der Streifenwagen fährt an. Wenig später biegt er in die Straße zum Tatort ein. Die macht einen leichten Rechtsbogen, so dass man Haus Nummer neunzehn von der Kreuzung aus nicht sehen kann. Auf halber Strecke kommt ihnen ein Müllfahrzeug entgegen. Nachdem sich der Streifenwagen daran vorbeigedrückt hat, bemerkt Frigga, dass der Zugang zum Haus abgesperrt ist.

Außerhalb der rot-weißen Absperrung stehen Fahrzeuge des Erkennungsdienstes. Anwohner warten in einiger Entfernung, zwei oder drei Presseleute haben sich darunter gemischt. Die Presseleute erkennt Frigga an ihren großen Taschen für die Kamera, ihren Notizblocks und ihren neugierigen Blicken. Die Anwohner erkennt sie an ihren Trainingsanzügen, den in den Taschen versenkten Händen und ihren sensationsgierigen Blicken. Die meisten stehen unter dem Fenster der alten Frau von gegenüber. 

Die Leute vom Erkennungsdienst stechen in ihren blendend weißen Plastikoveralls befremdlich sauber aus der ganzen Gegend heraus. Sie haben die Kapuze über den Kopf gezogen und tragen Handschuhe sowie weiße Überschuhe. Gerade holt einer noch einen Mundschutz aus einem der Fahrzeuge, bindet ihn um und betritt das Haus. Ein Astronaut auf einem fremden Planeten. Ein weiterer steht neben die Haustür gelehnt und scheint um Luft zu ringen. In nächster Nähe zu ihm parkt ein Leichenwagen. Man hat Bause also noch nicht abtransportiert, denkt Frigga. 

Die Person mit dem Mundschutz hat die Wagentür nur zufallen lassen. Frigga blickt an sich selbst hinunter. Das ist auch ein weißer Overall, denkt sie.

„Aussteigen!“, ruft Scheibelhud. „Sie finden ja selbst hinein. Aber fassen Sie nichts an!“

Sie haben genau neben dem Wagen mit der zugefallenen Tür gehalten. Frigga beobachtet, wie Scheibelhud es vermeidet, keinem der Reporter in die Augen zu sehen. Ein Anwohner ruft etwas Flottes, was Scheibelhud dazu veranlasst, sich den Gaffern zu nähern. Er zückt seinen Notizblock. In dem Moment hat Frigga bereits einen Mundschutz in der Hand. Sie zieht sich die Kapuze tief ins Gesicht, stopft ihre Haare darunter und bindet den Mundschutz um. Dann schreitet sie auf die Absperrung zu, hebt sie an, windet sich darunter her und hält auch für Gesine das Band hoch. Wie ein Zombie wankt die an ihr vorbei. 

„Handschuhe nicht vergessen, Schätzchen“, ruft eine weiß vermummte Frau, die soeben das Haus verlässt.

„Ich habe keine gefunden“, nuschelt Frigga.

„Hier, nimm diese.“

Die Frau reicht ihr ein Paar Latexhandschuhe.

„Und du brauchst wohl ne Extraeinladung, wie? Im Wagen sind auch noch welche“, fährt sie Gesine an. Die scheint daraufhin wieder ins Leben zurückzukehren.

5.

Für gewöhnlich versucht Hermine Jeskowiak, über den Tag in ihrem Fenster liegend, einen Anwohner nach dem anderen für ein Schwätzchen abzufangen. Diese Versuche bleiben oft genug erfolglos. Die Leute wechseln die Straßenseite, wenn sie ihrer ansichtig werden, scheinen sehr in Eile zu sein oder haben, wenn sie sich doch von Hermine haben einfangen lassen, viel zu wenig Neues zu erzählen. Dann bleibt Hermine kurz angebunden, bis die Unterhaltung im Sande verläuft.

Heute ist alles anders. Niemand kann ihr ausweichen, alle wollen wissen, warum hier soviel Polizei steht, und es gibt mächtig viel zu erzählen. Soweit sie erkennen kann, stehen jetzt alle aus der Straße, die nicht arbeiten müssen oder dürfen, wie man es hier eher sieht, unter oder in unmittelbarer Nähe zu ihrem Fenster.

In einiger Entfernung unterhält sich Scheibelhud mit den Husterts. Die müssen ihm aufgelauert haben, denkt Hermine. Aber haben die Husterts die Polizei verständigt? Wohl kaum. Die wohnen hinter der Biegung zur Hauptstraße. Von dort kann man gar nichts sehen. Aber wenn sie Scheibelhud angesprochen haben, dann blieb dem gar nichts anderes übrig, als sich mit ihnen zu befassen. Er würde noch zu ihr kommen. Denn schließlich erführe er nur von ihr, was es zu erfahren gibt. Bisher hat er sich von ihr nur ins Haus Nummer neunzehn leiten lassen. 

„Na, Hermine? Ganz schön was los, woll?“

Die Bronski grinst zu ihr hoch. Sie hat die Zeitung in der Hand, ist also gerade an der Bude gewesen.

„Kann man wohl sagen“, sagt Hermine.

„Und? Weiß man schon mehr?“

„Die fangen doch gerade erst mit ihrer Arbeit an“, meint Hermine.

„Der Graf wurde ganz schön zugerichtet“, flüstert die Bronski. „Man soll ihm den Kopf abgeschnitten haben.“

„Steht das in deiner Zeitung?“, fragt Hermine spöttisch.

„Nee, da steht noch überhaupt nichts. Morgen wahrscheinlich. Sind ja genug da von denen.“

Die Bronski weist auf einen Reporter.

„Und du hast gar nichts gesehen von hier?“

„Was soll ich denn gesehen haben?“, fragt Hermine.

„Keine Ahnung! Ich frage ja nur.“

Scheibelhud ist mit den Husterts fertig. Aber anstatt direkt zu Hermine zu kommen, redet er jetzt mit Asli Celic. Wenn das so weitergeht, dann habe ich einen Bart, bevor er hier ankommt, denkt Hermine.

„Möchte nur wissen, warum ausgerechnet der Graf?“, hört sie die Bronski fragen.

„Vielleicht war es Zufall“, murmelt Hermine.

„Musstest du ihm so eine Scheiße erzählen?“

Bernd Hustert zieht mit seiner Frau Gabi vorüber.

„Wieso Scheiße?“, fragt Gabi Hustert.

„Was geht den Bullen an, dass wir gestern Abend Gäste hatten.“

„Ich dachte, dass das doch ein gutes Alibi ...“

„Mann, Gabi! Wir erzählen dem nur was, wenn er uns was fragt. Seit wann brauchen wir ein Alibi für gestern Nacht?“

„Ich wollte die Sache nur klarstellen.“

„Ich bin mir sicher, dass den überhaupt nicht interessiert, was es zum Essen gab.“

„Das hat dir doch sowieso nicht geschmeckt.“

„Weil du immer rumexperimentieren musst. Gulasch ist ne runde Sache. Warum Bananen reinschnippeln?“

„Also mir hat es geschmeckt. Und Beate auch. Aber mit dem Wein, den du uns vorgesetzt hast, werden wir keinen Preis gewinnen.“

„Wieso? Was ist mit dem Wein?“

„Der ist zu billig. Wenn du nicht so kniepich wärst, dann müssten wir den Wein nicht immer in ne Karaffe füllen, nur damit niemand sieht, dass der aus nem Tetrapack kommt.“

„Wein muss atmen, Schätzchen. Selbst der aus dem Tetrapack. Und der hat zumindest keinen Kork. Beate trinkt sowieso im Moment nichts wegen dem Kleinen, und Rudi … also dem kannste auch Traubenessig mit Korn geben. Außerdem hat das alles nichts damit zu tun, dass du der Polizei gleich dein ganzes Leben erzählst, bevor überhaupt nur einer danach gefragt hat. Mann, die haben den Grafen umgebracht! Da kann jeder Furz verdächtig sein.“

„Wie ich schon sagte, ich dachte ...“

Sie geraten außer Hörweite.

„So, Hermine, dann erzähl mal.“

Na endlich, denkt Hermine, als sie Scheibelhud unten stehen sieht.

„Was willst du wissen, Thomas?“

„Alles.“

Hermine sammelt sich etwas. Nach einem schnellen Blick auf die Bronski wendet sie sich dem Beamten zu.

„Ich stehe ja morgens meist recht früh auf. Ist dann immer noch so gute Luft, was sich hier ja schnell ändert. Du weißt schon: Autos, Emscher, der Müll ...“

Sie zeigt die Straße hinunter. Die steht voller schwarzer Tonnen.

„Wenn da die Sonne erst mal drauf scheint im Sommer, dann ...“

„Geschenkt“, sagt Scheibelhud.

„Ich steh also an meinem Fenster, da sehe ich diese Katze vorbeistreichen. Ist so eine kleine graue. Ich sehe die eigentlich jeden Morgen. Ich freue mich dann immer, weil, ja warum eigentlich? Ach, ist jetzt auch egal.“

Scheibelhud nickt verständnisvoll.

„Soweit also nichts Besonderes, bis die Katze im Haus gegenüber verschwindet. Ich hatte die offene Tür schon vorher gesehen, bin aber davon ausgegangen, dass sie gerade zufällt, weil vielleicht kurz vorher wer reingegangen ist. Als aber die Katze im Haus verschwindet, merke ich, dass die Tür sich gar nicht bewegt.“

Scheibelhud nickt.

„Wie spät war es da in etwa?“

Hermine bläst die Backen auf.

„Vielleicht halb sieben?“

Gleich platzt die Bronski, denkt Hermine. Aber die wendet sich nur brüsk ab und tritt zu anderen etwas abseits. Soll sie doch. Die hätte auch nicht alles doppelt erzählt.

„Aber deswegen hast du uns ja nicht gerufen.“

„Nein, nein. Irgendwie kam mir dann wieder in den Sinn, dass die Tür schon vergangene Nacht aufgestanden haben könnte. Ich bin da nämlich aufs Klo gegangen. Eigentlich bin ich dann gar nicht richtig wach, wenn du verstehst, was ich meine. Eigentlich will ich nur wieder ins Bett. Bloß nicht zu wach werden, sonst klappt es nicht mit dem Weiterschlafen. Und vergangene Nacht habe ich ein Riesenmaul mit einer flinken, schwarzen Zunge darin gesehen.“

Scheibelhud schüttelt ungläubig den Kopf.

„Und da kannst du weiterschlafen?“

„Thomas, wenn du wüsstest, was ich in dem Zustand schon gesehen habe. Fritz, meinen Mann, hab ich schon gesehen, und der ist schon zwanzig Jahre tot. Einmal war es sogar ein russischer Panzer. Weiß der Himmel wieso. Da wundert mich gar nichts mehr. Und darum vergesse ich in der Regel, was ich in diesem Zustand, so will ich es einmal nennen, sehe, ganz schnell wieder.“

„Du weißt nicht zufällig, um wie viel Uhr du in diesem Zustand warst?“, fragt Scheibelhud.

Hermine überlegt, ob sie einen Blick auf die Uhr geworfen hat, aber sie kann sich nicht erinnern. Sie schüttelt den Kopf. 

„Normal muss ich meist etwa drei Stunden, nachdem ich eingeschlafen bin, aufs Klo. Es kann also gegen eins, halb zwei gewesen sein.“

Scheibelhud notiert das.

„Und dann?“

„Mir kommt das alles also wieder in den Sinn, und da setz ich doch tatsächlich meine Brille auf und sehe den Keil, den die da drüben immer unter die Tür schieben, wenn sie was anliefern lassen oder so. Ich denke also, dass jemand gestern vergessen hat, den Keil wegzunehmen. Und weil schon die Katze im Haus verschwunden ist, gehe ich los, um die Tür zu schließen. Müssen ja nicht noch mehr Viecher da reinlaufen, woll? Aber wie ich davorstehe, da kommt die Katze wieder rausgerannt, kreist um meine Waden – die muss mich wohl doch kennen – und hat einen roten Streifen auf dem Rücken. Da drinnen muss die sich ganz schön erschrocken haben, denn sonst hätte sie den längst weggeleckt. Ich wusste erst nicht einmal, dass es Blut ist, aber ich hab es angefasst, weil es so feucht schimmerte auf dem Fell. Da bin ich dann wieder rein und habe euch gerufen.“

„Das war auch ganz richtig“, meint Scheibelhud. „Kommen wir noch einmal zu dem, was du genau letzte Nacht gesehen hast.“

„Ich weiß halt nicht, was ich gesehen habe. Es war spät, ich war im Halbschlaf, meine Brille hatte ich nicht auf, aber wenn ich es jetzt recht bedenke, dann kann die Zunge auch eine dunkle Gestalt gewesen sein. Ziemlich schnell war die, aber ich kann mich eben auch täuschen.“

„Ich werde es einmal so vermerken“, sagt Scheibelhud.

„Ja, vermerk das. Es ist, als wäre es gestern gewesen, dass du hier noch in kurzen Hosen rumgelaufen bist, und heute vermerkst du, was ich gesagt habe.“

Scheibelhud lächelt süßlich.

„Wenn dir noch etwas einfällt, dann kannst du mich oder einen meiner Kollegen jederzeit ansprechen.“

„Haben sie dem Graf wirklich den Kopf abgeschnitten?“, fragt Hermine.

„Wer sagt denn so was?“

„Ich habe es wohl irgendwo aufgeschnappt.“

„Wir sind erst am Anfang unserer Ermittlungen“, sagt Scheibelhud.

6.

Gesine hat sich schon im Treppenhaus von Frigga verabschiedet und ist zu ihrer Wohnung hinaufgeeilt. So weit, so gut, denkt Frigga. Die Plastiktüte am Eingang wurde schon eingesammelt. Sie betritt Bauses Wohnung.

Die Rollläden sind noch nicht hochgezogen worden wohl auch, damit von außen niemand hereinschauen kann. Dafür brennen aber die Deckenlampen. Für die dunklen Ecken wurden Scheinwerfer aufgestellt. Auf der Straße wirkten die Beamten des Erkennungsdienstes wie Astronauten. Hier in der Wohnung sind sie zu Maden geworden, die sich in das Leben des Toten fressen. Es sind gerade so viele, dass Frigga sicher ist, unter ihnen nicht aufzufallen. Vom Flur aus bemerkt sie zwei von ihnen in der Küche und eine im Badezimmer. Was sie an möglichen Indizien finden, stecken sie in Tüten und machen Notizen. Im Wohnzimmer ist die Madendichte ungleich höher. Frigga zählt fünf. Ab und zu flammt das Blitzlicht einer Kamera auf. Die Beamten reden nicht. Hochkonzentriert widmen sie sich ihrer Aufgabe. Perfekt, denkt Frigga und steuert auf das Schlafzimmer zu. Sie bewegt sich so langsam, wie sie es für angemessen hält. Gleich wird sie erneut die Leiche zu Gesicht bekommen. Ihr Mundschutz bläht sich und fällt wieder ein unter ihren kurzen Atemstößen. Sie wirft einen schnellen Blick in den Raum, prallt zurück und lehnt sich von außen an den Türrahmen. Herr Bause liegt völlig nackt auf dem Bett! Die Beamten haben ihn außerdem auf den Bauch gedreht, und so hat Frigga sein dunkelvioletter Rücken entgegengeleuchtet. Sein Hinterkopf ist eine Masse aus Blut und Haaren. Drei Maden sind mit ihm befasst, zwei weitere knien am Boden.

Was ist denn los mit dir, denkt Frigga. Du hast die Leiche doch vorhin auch schon gesehen, du hast sogar viel näher vor ihr gestanden. Es ist auch nicht die erste, die du siehst. Papa lag jedoch damals friedlich zurechtgemacht im Sarg. Alle Anzeichen für ein Gewaltverbrechen hatten die Bestatter verschwinden lassen. Ihr Vater sah so lebendig aus, dass Frigga damit rechnete, dass er seinem Sarg entstieg und sie in die Arme nahm. Erst als sie seine kühle Wange berührte, verschwand jeder Zweifel. Hier aber ist kein Zweifel möglich. Hier tritt die Gewalt, mit der Herrn Bauses Leben beendet wurde, offen zu Tage. 

„Darf ich mal kurz?“

Eine Made schiebt sich an ihr vorbei in den Raum hinein.

„Geht es dir schon wieder besser?“, fragt der Mann.

Frigga nickt und schaut noch einmal nach der Leiche. Sie macht sogar einen Schritt darauf zu und fixiert dabei den Hals des Toten. Da ist keine Kette mehr! Wahrscheinlich steckt sie in einer der Tüten, die zusammen mit anderen in einer Wanne gesammelt werden. Was habe ich denn erwartet? Dass ich ungestört noch einmal danach greifen kann? Vor all diesen Leuten? In der Wanne kann sie auch unmöglich unbemerkt herumwühlen. Und jetzt nimmt der zuletzt Eingetroffene sie sogar noch an sich.

„Komm, steh hier nicht so herum. Auch wenn ihr hier heute nur aushelft, so könnt ihr euch doch nützlich machen.“

Frigga zeigt auf die Wanne.

„Nee, das geht schon“, sagt der Mann. „Geh mal in den Keller zu Ludwig. Da ist auch genug zu tun.“

Er trägt die Wanne an ihr vorbei nach draußen.

Frigga folgt ihm bis zur Wohnungstür. Wenn jetzt der Astronaut, den sie am Hauseingang gesehen hat, zurückkehrt, dann ist sie geliefert. Vorsichtig blickt sie hinaus auf den Flur und sieht den Wannenträger auf die Straße treten. Er guckt weder nach links, noch nach rechts und bemerkt darum den anderen vor der Tür nicht. Jetzt muss Frigga schnell sein. Nur noch die Treppe hinauf und in die Wohnung. Dann den Overall ausziehen und unter die Dusche.

„Lass mich mal durch!“, hört sie eine Frauenstimme hinter sich. Die hat mir die Handschuhe gegeben, denkt Frigga. Die Frau drückt sich mit einer weiteren Wanne aus der Wohnung heraus an ihr vorbei, bleibt stehen und dreht sich zu ihr um. 

„Pack mal deine Haare richtig unter die Kapuze“, sagt sie. „Moment, von uns hat niemand rote Haare. Sie sind doch die, die den Toten gefunden hat, oder? Was haben Sie jetzt hier wieder herumzustehen?“

„Ich habe nichts gemacht“, sagt Frigga.

„Wenn Sie wieder versuchen, hier etwas mitgehen zu lassen, dann Gnade Ihnen Gott!“

„Ich habe nichts mitgehen lassen!“, ruft Frigga empört. „Und ich will von Ihrem Tatort auch gar nichts haben, nicht so viel!“

Frigga wischt mit dem Fuß an der kleinen Stufe vor der Eingangstür entlang und beschmutzt den weißen Überschuh.

„Sehen Sie? Auch das können Sie wiederhaben.“

„Den Dreck können Sie behalten. Hier sind wir sowieso schon gewesen.“

„Erika!“, ertönt eine Stimme von draußen.

„Ich komme!“, ruft Erika. „Und Sie kommen uns nicht in die Quere. Ich habe ein Auge auf Sie.“

Sie verschwindet.

Frigga steigt geladen die Treppe hoch und ist schon auf dem ersten Treppenabsatz, als sie die Stimme des ersten Wannenträgers hört.

„Geht´s dir schon wieder schlecht? Mit euch jungen Leuten ist aber auch gar nichts mehr los. Dann muss Ludwig eben noch ein bisschen alleine weitermachen.“

Die dünne Antwort des Astronauten vor der Tür kann Frigga nicht verstehen.

 

Man hatte Frigga zwar den Wohnungsschlüssel zurückgegeben, aber sie ist so aufgebracht, dass sie ihn nicht ins Schloss bekommt. Das macht sie wütend. Sie ist kurz davor, die Tür einzutreten, als sich plötzlich alles fügt. Die Tür springt auf und kracht im Raum gegen die Wand. Viktoria steht verpennt und mit zerwühlter, blonder Bobfrisur in der Schlafzimmertür. Der plötzliche Anblick einer weiß vermummten Gestalt in ihrer Wohnung lässt sie reflexartig zu einem Schirm in einem Ständer greifen. Frigga reist sich Mundschutz und Kapuze herunter. 

„Ich bin es!“, ruft sie und hält Viktoria so davon ab, mit dem Schirm auf sie einzustechen.

„Das hätte aber auch danebengehen können!“, ruft Viktoria und stellt den Schirm zurück. „Was ist denn los da draußen?“

„Herr Bause wurde ermordet, ich wurde verhaftet und im Polizeirevier vernommen.“

„Du lieber Himmel! Polizeirevier. Verhaftet! Ermordet!“, stammelt Viktoria.

„Ja, das ist alles ganz große Scheiße!“, ruft Frigga. „Und du bist erst jetzt aufgestanden?“

„Und wenn schon! Ich konnte ja nicht ahnen, dass du dich hier wichtig machst. Mir brummt noch der Schädel von gestern.“

Auf dem Couchtisch stehen eine leere und eine halbleere Sektflasche dazu zwei Gläser und eine Schale mit Chipsresten. Auf der Couch liegen noch die Decke und das zerknautschte Kissen von heute Nacht. Eine Wasserflasche steht neben der Couch auf dem Boden.

„So schlimm ist es doch gestern gar nicht geworden“, meint Frigga.

„Bin halt nichts mehr gewohnt“, murmelt Viktoria und tritt ans Fenster. 

„Tatsächlich! Alles voller Polizei“, sagt sie.

„Und der da, der große Kerl im Lederjackett, der hat mich festgenommen. Kriminaloberkommissar Thomas Scheibelhud“, knirscht Frigga.

„Thomas Scheibelhud“, wiederholt Viktoria langsam. „Sieht klasse aus.“

Frigga verdreht die Augen. Das ist die direkte Fortsetzung ihrer gestern geführten Gespräche oder besser Viktorias Monologe über den Richtigen. Frigga hatte sich wieder einmal gewundert, dass Viktoria es bei einer neuen Bekanntschaft offenbar gar nicht abwarten kann, alles loszuwerden, was sie bewegt. Selbst bei einem bisher völlig Fremden. Später dann bereut sie ihre Offenheit für gewöhnlich, aber kaum steht der nächste Neue da, wiederholt sie ihre Offenbarungen so, als habe man es von ihr erwartet oder gar verlangt. Wenn Viktoria überhaupt nach Friggas Bedürfnissen fragt, dann sagt die immer, dass sie auf den wartet, der auf sie wartet. Dabei fühlt Frigga sich gut, und Viktoria hat zu denken. 

„Hast du ihn denn noch nicht klingeln oder klopfen hören?“, will Frigga wissen.

„Also wenn jemand an meine Tür geklopft haben sollte, dann habe ich es nicht gehört.“

„Er wird es sicher bald nachholen.“

„Dann sollte ich wohl mal duschen gehen.“

„Lass mich erst einmal. Ich muss aus diesen Sachen raus. Mach du mal einen starken Kaffee.“ 

Wenig später steht Frigga unter der Dusche. Viktoria legt ihr ein paar Kleidungsstücke hin. Das heiße Wasser braucht eine Weile, bis Frigga sich wieder sauber fühlt. Und als ihr der noch heißere Kaffee durch die Kehle rinnt, ist sie so weit im grünen Bereich, dass sie Viktoria auch alle Einzelheiten erzählen kann. Das Miniaturschauspiel, was Viktorias Gesicht im Wechselspiel ihrer Gefühle bietet, treibt Frigga zu blumigen Ausschmückungen dessen, was ihr widerfahren ist. In Viktorias Gesicht sieht sie erneut die leidende Gesine, die gefährliche Polizistin in der Pritschenkammer, den graumelierten Sterneträger. Sogar das Gefühl in der Plastikhaut findet seine Entsprechung in einem Gesichtsausdruck Viktorias. Zum Schluss bleibt die Wut in Hilflosigkeit, als sie endet.

„Mein lieber Mann“, sagt Viktoria, „das ist viel für einen Morgen. Und jetzt wirst du auch noch Informantin spielen. Ich dachte, wir könnten die paar Tage ein bisschen zusammen verbringen. Dabei habe ich mir doch extra den Rest der Woche frei genommen.“

„Ich habe überhaupt nicht vor, hier die Leute zu bespitzeln“, sagt Frigga. „Aber ich brauche einen Schlüssel zum Dachboden. Hast du gestern deinen nur nicht gefunden, oder ...“ 

„Ich habe keinen“, sagt Viktoria und verschwindet im Schlafzimmer.

„Und wieso nicht?“

„Es gibt nur zwei oder drei!“, ruft Viktoria.

„Und wer hat die anderen?“

Sie hörte Viktoria kramen.

„Was?“

„Wer die anderen Schlüssel hat!“

Viktoria kehrte mit einem Handtuch zurück.

„Der Vermieter hat einen und … Herr Bause.“

Sie verschwindet im Badezimmer.

„Dass Bause einen hat, weiß ich doch. Der hat mich schließlich in diese Schwierigkeiten gebracht. Wer hat außer ihm und dem Vermieter noch einen?“

„Was?“

„Wer noch einen Schlüssel hat!“

„Mann, Frigga, ich weiß nicht. Martin vielleicht.“

„Welcher Martin?“

„Der andere alte Typ aus dem Erdgeschoss.“

Die Tür fällt ins Schloss, und die Dusche beginnt zu rauschen. Dann geht die Tür wieder auf.

„Frigga!“

„Was ist!“

„Räum das hier erst mal weg!“

Im Badezimmer liegt der weiße Overall auf dem Boden. Frigga rafft das Symbol ihrer Demütigung zusammen und stopft es kurzerhand in den Abfalleimer in der Küche.

„Iiiihhh, Frigga!“, hört sie Viktoria aus dem Badezimmer. „Wirf das hier auch weg. Das ist ekelig!“

Sie zeigt auf einen Klumpen Schmutz am Boden. Der muss vom Schuhüberzieher abgefallen sein. Bei genauerem Hinsehen ist der kleine, braune Klumpen strukturiert. Wenn Frigga ihn gegen das Licht der Badezimmerlampe hält, dann schillert er in vielen Farben.

„Das ist nicht ekelig“, sagt Frigga. „Das ist ein Nachtfalter.“

„Nachtfalter hin, Nachtfalter her. Ich will ihn nicht in meiner Wohnung haben.“

„Ich würde ihn aber gerne behalten“, sagt Frigga.

„Warum das denn?“

„Ich habe den Schlüssel von Bause nicht bekommen, aber dieses Tier beweist, dass ich der Eule von der Polizei doch was wegnehmen konnte.“

„Du spinnst. Es beweist nur, dass die im Erdgeschoss nicht richtig putzen.“

„Na, wenn schon. Dieses Tier wird mich daran erinnern, wie schnell man der Willkür des Staatsapparates ausgeliefert sein kann. Und es zeigt, das selbst im größte Dreck Schönheit steckt. Dieses kleine Tier ist in seiner Ambivalenz ein Symbol für unser aller Dasein!“

„Dann behalte es eben“, stöhnt Viktoria. „Aber ich will es nicht in der Küche sehen oder im Schlafzimmer oder hier im Bad. Und du wirst mir sagen, wo du es hingelegt hast, damit ich nicht zufällig darauf stoße.“

Frigga trägt das Tier ins Wohnzimmer und legt es auf einer Zeitung ab. Hier kannst du liegen, ein wenig trocknen und neben Willkür und Schönheit auch noch die Vergänglichkeit anmahnen, denkt sie. Wenn Viktoria mit Duschen fertig ist, dann muss ich sie unbedingt noch nach ein paar festen Schuhen fragen.

7.

Im Hausflur trifft Scheibelhud auf Erika.

„Na? Was haben wir?“

„Ein abscheuliches Puzzle.“

„Kannst du schon etwas sagen?“

Erika schüttelt den Kopf.

„Ich kann dir viel zu viel sagen. Wahrscheinlich trat der Tod zwischen 22:00 Uhr und 2:00 Uhr ein. Genauer wird dir das ...“

„... die Rechtsmedizin nach der Obduktion sagen können“, vollendet Scheibelhud.

Erika stutzt.

„Hey, das ist mein Text! Wenn ich daran denke, wie du als kleiner Kommissaranwärter ...“

Scheibelhud lächelt süßlich und denkt an Versetzung.

„Wir haben jedenfalls einen ganzen Schwung unbekannter Fingerabdrücke gefunden. Es scheint so, als sei das halbe Viertel bei dem Mann ein- und ausgegangen.“

„Aber nicht das halbe Viertel hat ihn auf dem Gewissen“, witzelt Scheibelhud.

„Nein“, sagt Erika langsam, „das hat es nicht. Aber wir haben Hinweise dafür, dass mindestens drei Handlungen an ihm vorgenommen wurden, die den Tod zur Folge haben konnten.“

„Da wollte wohl jemand ganz sicher gehen“, meint Scheibelhud.

„Oder da waren mehrere beteiligt, wobei dann mindestens einer nicht wusste, dass der Mann bereits tot war.“

„Verdammt! Du bist dir da sicher?“

„Du hast jetzt keine Schutzkleidung an, sonst würde ich es dir zeigen.“

„Ich glaube dir auch so.“

„Nun gut. Wahrscheinlich wurde er zuerst erschlagen. Stumpfe Gewalteinwirkung. Der Gehstock kommt als Tatwerkzeug in Frage. Er muss dazu auf dem Bauch gelegen haben. Dann wurde er auf den Rücken gedreht. Keine leichte Aktion, wenn du mich fragst. Dann wurde ihm das Kissen aufs Gesicht gedrückt. Es gibt einen tiefen Einschnitt in die linken Unterarmarterie. Ist aber erst später gemacht worden, weil er da nicht mehr gelebt hat. Darum ist nicht soviel Blut ausgetreten. Und dann, wir haben es fast übersehen, aber die Gerichtsmedizin hätte es dann eben später gefunden, ist da ein Einstich hinter dem Ohr.“

„Drogen?“, fragt Scheibelhud.

„Können wir noch nicht sagen. Das wird ...“

„... die Gerichtsmedizin klären“, vollendet Scheibelhud.

„Also so langsam wirst du mir unheimlich, oder entwickelst du dich am Ende zu einem Klugscheißer?“, grinst Erika.

Scheibelhud winkt ab.

„Ich dachte mir heute Morgen, dass ich dich mal beeindrucken sollte. Gibt es noch mehr?“

„Da sind Faserspuren auf dem Boden und dem Kissen. Höchstwahrscheinlich stammen die von einem Pullover, der im Keller auf der Leine hing. Der gehört einem Andi Woitek. Der wohnt hier drüber.“

Sie zeigt an die Decke.

„Faserspuren auf dem Boden … dann gab es vielleicht erst einen Kampf?“, meint Scheibelhud.

„Danach sieht es zwar nicht aus, aber es ist sehr ungewöhnlich. Als wäre jemand hingefallen, vielleicht nach einem wuchtigen Schlag aus dem Gleichgewicht geraten. Oder gestolpert. Vor der Faserspur auf dem Boden verläuft nämlich eine etwas hoch stehende Teppichkante. Vielleicht ist Bause vor dem Täter geflohen, bis der ihn im Schlafzimmer erwischt hat. Und dann sind da noch die Zigarettenasche und die Einweghandschuhe. Die Asche findet sich an mehreren Stellen in der Wohnung, die zugehörigen Zigarettenkippen sind im Küchenmüll. Die Handschuhe lagen da auch. Irgendwas ist da drauf gespritzt. Die KTU wird es herausfinden. Aber wieso sollte jemand mehrere Zigaretten rauchen, wenn er jemanden umbringen will?“

„Was ist mit dem Rollstuhl?“

„Keine Ahnung. Sieht eher so aus, als sei der dort drapiert worden. Wir haben aber auch noch die blockierte Eingangstür, obwohl der kleine Hebel im Schloss auf Durchgang steht und die Pendeluhr. Die geht eine halbe Stunde nach. Ich glaube, hier hat jemand dafür gesorgt, dass auf viele Leute ein Verdacht fällt, oder es waren tatsächlich viele daran beteiligt. Da passt jedenfalls allerhand nicht zusammen.“

„Und es sieht nach einem Haufen Arbeit aus“, meint Scheibelhud.

„Die ganzen Papiere habe ich dabei noch gar nicht erwähnt. Die müssen wir noch intensiv untersuchen. Wenn du jetzt noch sagst, dass die hier im Haus alle ein Alibi und ein Motiv haben, dann Prost Mahlzeit.“

„Warum hat der Täter die Sachen denn nicht im Hausmüll entsorgt. Die Müllabfuhr war heute schon da. Wir hätten erhebliche Schwierigkeiten, sie dort zu finden.“

„Wer weiß, vielleicht hat er ja auch dort etwas verschwinden lassen.“

„Mach mich nicht schwach. Ich bin ganz alleine.“

„Hab schon davon gehört. Nur gut, dass man uns Spezialisten nicht auch so rumschubsen kann.“

„Und dann soll ich diese Frigga Lendel einbeziehen“, sagt Scheibelhud.

„Das machst du doch nicht wirklich, oder?“

„Sobel verspricht sich was von ihr, und ich will ihn darum nicht verärgern.“

„Ach Sobel, was der sich immer ausdenkt.“

„Es wird auch nichts dabei rumkommen, trotzdem habe ich ihr gesagt, sie soll sich mal unauffällig im Haus umhören. Wenn ich mal weg muss, kannst du dann ein Auge auf diese Frigga haben?“

Erika nickt.

„Zu deiner Beruhigung: Wir haben vorsorglich die Müllabfuhr durchgewunken und für später bestellt“, sagt sie. „Für heute bleiben die Leute hier auf ihrem Müll sitzen.“

„Gut, gut. Ich werde erst einmal dieser Pflegerin auf den Zahn fühlen.“

8.

Frigga läuft in Viktorias Wohnung auf und ab. Wo steht der Guinness-Rekord für Dauerduschen? Viktoria ist sicher gerade dabei, ihn zu brechen. Wie sauber wollte sie denn noch werden? Die Zahl der Hautschichten ist begrenzt. Und nach dem Duschen kommt dann das Eincremen, danach das Fönen, danach das Schminken, danach die Kleiderwahl. Alles quälend zeitaufwendige Prozeduren bei Viktoria. Frigga selbst hätte alles in allem vielleicht zehn Minuten gebraucht. Zehn Minuten braucht Viktoria schon, um die Wassertemperatur einzustellen. 

In der Küche schmiert Frigga eine dicke Lage Frischkäse auf eine Brotscheibe, und schichtet mehrere Scheiben Kochschinken mit etwas Senf, ein Blatt Eisbergsalat und hartgekochte Eierscheiben darauf. Abschließend drückt sie noch Mayonnaise aus der Tube darüber und deckt alles mit einer zweiten Scheibe Brot zu. Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrt, hört sie den Fön. Als sie aufgegessen hat, kehrt Viktoria aus dem Badezimmer zurück. 

„Sind dir irgendwelche Farben an Scheibelhud aufgefallen?“, fragt sie.

„Er trägt schwarze Klamotten“, antwortet Frigga.

„Habe ich ja gesehen, und das meine ich auch nicht. Trägt er vielleicht eine Uhr mit farbigem Armband oder eine Krawattennadel mit irgendwas darauf.“

„Habe ich nicht gesehen. Eine Krawatte hatte der sowieso nicht. Wieso?“

„Ich muss doch meine Schminke anpassen.“

„Wie dumm von mir.“

„Ich weiß, dass du auf so etwas nicht achtest, aber rein psychologisch spielen Farben eine entscheidende Rolle.“

„Mach einfach das, was du für richtig hältst“, rät Frigga.

„Aber das will ich ja gerade tun“, sagt Viktoria.

„Versuch es doch mit einem Schuss ins Blaue.“

„Heijeijeijeijeijeijeijei!“

Sie eilt zurück ins Badezimmer.

Frigga folgt ihr und beobachtet an den Türrahmen gelehnt,  wie sie ihre Parade aus Töpfchen mustert. Offenbar ist sie mit der Auswahl auf der Spiegelablage nicht zufrieden, und darum öffnet sie einen Wandschrank. Der ist bis oben voll mit weiteren Schminkutensilien.

„Meinst du, dass du fündig wirst?“, fragt Frigga.

„Wahrscheinlich nicht“, sagt Viktoria nachdenklich, „aber ich habe jetzt keine Zeit, mir noch etwas anderes zu besorgen. Ich muss improvisieren.“

„Dann improvisiere. Und während du das tust, kannst du mir etwas über die anderen Dachbodenschlüssel erzählen.“

„Mann, Frigga, nerv mich nicht.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752105339
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Juli)
Schlagworte
Fischbrötchen des Todes weibliche Ermittlerin Geschenkbuch Frau starke Frauen Cosy-Crime Whodunit Essen skurrile Ermittler Humor Urlaubslektüre Krimi Thriller Spannung Ermittler

Autor

  • Volker König (Autor:in)

Volker König wurde 1965 in Dortmund geboren und wuchs in Herdecke auf. Nach seinem Biologiestudium begann er zu schreiben. Bisher erschienen sind der Roman "Tantenfieber", der Erzählband "Dicke Enden", die Novelle "Die Farbe des Kraken", die Erzählung "VARN", der SF-Roman "In Zukunft Chillingham" und der Kriminalroman "Früh am Morden".
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Titel: Früh am Morden