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Todespakt

Thriller

von Michael Hübner (Autor:in)
360 Seiten
Reihe: Chris Bertram, Band 1

Zusammenfassung

»Ich habe den Tod gesehen!« Dies sind die letzten Worte eines mittelalterlich gekleideten Mannes, der während einer historischen Stadtführung aus einer Kapelle stürmt und tot zusammenbricht. Herkunft und Identität des Toten bleiben schleierhaft. Als noch mysteriöser stellt sich die Todesursache heraus: Der Unbekannte starb an der Pest. Während Gesundheitsamt und Polizei über die seltsamen Umstände rätseln, werden weitere grausam hingerichtete Leichen an historischen Plätzen gefunden. Der einzige Hinweis ist die Beschreibung einiger Zeugen, die eine seltsame Gestalt gesehen haben wollen. Mit Hilfe eines pensionierten Geschichtsprofessors entschlüsselt Kommissar Chris Bertram die versteckten Botschaften hinter den Morden - und kommt einem beispiellosen Kreuzzug auf die Spur, der gerade erst begonnen hat. Erster Teil der hochspannenden Chris Bertram-Reihe, die mit "Todesplan" und "Seelenblut" bislang zwei erfolgreiche Fortsetzungen fand.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Michael Hübner

Todespakt

 

Thriller

 

 

 

Copyright © 2013 by Michael Hübner

Vertreten durch:

Dr. Harry Olechnowitz
Autoren- & Verlagsagentur
Fritschestraße 68
10585 Berlin
E-Mail: olechnowitz@agentur-olechnowitz.de

www.michaelhuebner.de

 

Umschlagillustration

© buffalo792010 – Fotolia.com

© Les Cunliffe – Fotolia.com

© mrspopman – Fotolia.com

PROLOG

 

 

 


Die Dämmerung war bereits fortgeschritten, als die Touristengruppe gegen neun Uhr den Kern des historischen Stadtteils Sayn erreichte. Die an beiden Seiten von Fachwerkhäusern gesäumte Gasse dehnte sich hier zu ihrer breitesten Stelle aus. Der Stadtführer – ein Mann um die fünfzig, der das mittelalterliche Gewand eines Nachtwächters trug – versammelte die Teilnehmer der Gruppe um die Mitte des Platzes. Dort stand ein überdachtes, am Fuße eingezäuntes Kreuz, an dem der gepeinigte Körper Jesu Christi in Gestalt einer kunstvollen Holzfigur prangte.

»Hier beleuchten wir eines der dunkelsten Kapitel unserer historischen Stadt«, verkündete er mit kräftiger Stimme. Dabei hob er die Laterne an, deren flackerndes Kerzenlicht unheimliche Schattenspiele auf dem Kreuz verursachte. Augenblicklich kehrte Ruhe in die Gruppe ein.

»Als gegen Anfang des siebzehnten Jahrhunderts erstmals im nahegelegenen Koblenz die Pest ausbrach, wütete sie so verheerend, dass die Friedhöfe bald zu klein wurden. Durch Handelsrouten verbreitete sich die Seuche rasend schnell, sodass schon bald darauf auch hier die ersten Opfer zu beklagen waren. Aus Angst vor Ansteckung wurden die Leichen auf unchristliche Weise ohne Särge in Massengräbern bestattet. Eines dieser Gräber befand sich hier, an dieser Stelle.« Er deutete mit der Laterne in Richtung des Kreuzes. »Erst im Jahr 1783 errichteten die Bewohner der Stadt dieses Bußkreuz, in Angedenken der Pesttoten, die etwa 120 Jahre zuvor auf diesem Platz begraben wurden.«

Blitzlichter durchbrachen die beginnende Dunkelheit und bekundeten das rege Interesse der Besucher. Lediglich ein sechzehnjähriger Junge spielte gelangweilt mit seinem Handy herum. Sein demonstratives Desinteresse zeugte davon, dass seine Eltern ihn zur Teilnahme an dieser Stadtführung gezwungen hatten, wodurch er an diesem Sonntagabend seine Lieblingsserie im Fernsehen versäumte.

»Etwa gegen Mitte des siebzehnten Jahrhunderts erreichte die Pest ihren Höhepunkt«, fuhr der Stadtführer fort. »Ein ortsansässiger Pater betreute als einziger Geistlicher die Erkrankten bis zu deren Tod und hielt auf diesem Platz täglich unter freiem Himmel die heilige Messe. Zu dieser Zeit grassierte die Seuche fast in jedem Haus, sodass der Pater in seiner Not die verbliebenen Bürger dazu aufrief, dem Pestheiligen Sebastian zu Ehren eine Kapelle zu errichten. Nachdem der Pater als eines der letzten Opfer gestorben war, folgten die Überlebenden seinem Aufruf und bauten diese Pestkapelle.«

Der Stadtführer schwenkte die Laterne herum und deutete mit der altertümlichen Stabwaffe, die er in der anderen Hand hielt, in Richtung einer steinernen Kapelle. Ihr steiles Dach erhob sich auf der hinteren Seite des Platzes und erreichte nur etwa zwei Drittel der Höhe der Wohnhäuser, vor der sie errichtet war. In der Mitte, kurz unterhalb des Dachfirstes, war eine Aussparung in Form eines gleichschenkligen Kreuzes in die weiße Fassade eingelassen.

»Seit dem Jahr 1666 wird von den Einwohnern hier der 20. Januar, der Tag des heiligen Sebastian, festlich begangen, indem sich in der Kapelle die Einheimischen und Besucher versammeln, um das Ende der schrecklichen Seuche …«

Der Stadtführer stockte, als er auf die nach oben hin abgerundete Holztür der Kapelle blickte. Die Straßenleuchten erfassten diesen Teil nur spärlich, dennoch konnte er deutlich erkennen, dass dort an der Tür etwas angebracht war.

»… zu feiern und der Opfer zu gedenken«, vollendete er den Satz, um seine Unsicherheit zu überspielen, als er erkannte, was dort an der Tür hing. Auch einige Teilnehmer der Gruppe waren darauf aufmerksam geworden.

»Ist das ein Vogel?«, fragte eine ältere Frau mit dunkelblonden Haaren, die sie streng zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte.

Zögerlich trat der Stadtführer auf die Tür zu und betrachtete den toten Raben, der dort angebracht war. Erneut blitzten hinter ihm die Lichter der Kameras auf.

»Es handelt sich doch hoffentlich um ein ausgestopftes Exemplar«, bemerkte die Frau empört.

»Beruhige dich, Mutter«, murmelte der Jugendliche mit dem Handy. »Das ist doch nur ein Teil dieser öden Führung.«

Augenblicklich bekam er von dem Mann neben ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. »Du könntest ruhig ein wenig mehr Interesse an der Sache zeigen«, mahnte er seinen Sohn. »Schließlich ist das auch ein Teil deiner Geschichte.« Erbost deutete er auf das Mobiltelefon in der Hand des Jungen. »Und wenn du dieses verdammte Ding nicht endlich wegsteckst, dann schmeiß ich es in den Stadtbrunnen!« Das zornige Gesicht des Mannes ließ erkennen, dass er diesen Ort für angemessen hielt, um der gesamten Handyindustrie die Pest an den Hals zu wünschen.

Während die Gruppe hinter ihm einen Moment durch diese Auseinandersetzung abgelenkt war, begutachtete der Stadtführer im Schein seiner Laterne den Vogel genauer. Es war kein ausgestopftes Exemplar, was das Blut bewies, welches Teile des schwarzen Gefieders bedeckte. Es entsprang einer Stelle am Halsbereich, an der ein eiserner Stift herausragte, mit dem das Tier gegen die Tür genagelt worden war.

Wer tut so etwas?, dachte er bei dem Anblick, der in ihm sogleich den Verdacht widerlegte, dass es sich hierbei nur um einen makaberen Streich seiner Vereinskameraden von der Gesellschaft für Geschichte und Heimatkunde handelte. Sein Blick glitt nach unten, wo eine schmale Schriftrolle an den Krallen des Tieres befestigt war. Er lehnte die Stabwaffe gegen die Fassade der Kapelle und rollte mit der freien Hand das Schriftstück auseinander. Im Schein seiner Laterne offenbarten sich in blutroter Schrift folgende Zeilen:

 


Nur vier Wände
ewig Nacht.
Welch ein Fluch
mich hergebracht.

 


Der Stadtführer starrte einige Sekunden auf die Zeilen, ohne sich einen Reim darauf machen zu können, als er plötzlich zusammenfuhr.

Im Inneren der Kapelle ertönte ein Schrei.

Augenblicklich wich er zurück. Das steife Papier rollte sich zusammen, als wollte es seine merkwürdige Botschaft beschützen.

Ein Poltern erklang. Dann ein weiterer Schrei.

»Hilfe!«, drang es gedämpft durch die Mauern nach draußen. »Hört mich jemand?«

»Tun Sie doch was«, rief eine besorgte Teilnehmerin dem Stadtführer entgegen.

»Ich … ich kann mir das ehrlich gesagt nicht erklären«, erwiderte der, völlig perplex. »Die Tür der Kapelle ist normalerweise verschlossen. Niemand hat dort Zutritt.«

»Kommt schon«, stöhnte der Junge mit dem Handy genervt. »Das ist doch alles nur Show.«

Der Stadtführer wandte sich der Gruppe zu. »Ich versichere ihnen, dies ist nicht Teil der …«

Die Tür der Kapelle wurde aufgestoßen, und eine Gestalt taumelte daraus hervor. Sie trug ein altertümliches Gewand, dessen breite Kapuze das Gesicht in Schatten hüllte.

»Wo … wo bin ich?«, fragte eine männliche Stimme.

»Im einundzwanzigsten Jahrhundert«, spottete der Junge mit dem Handy, worauf er einen weiteren Klaps von seinem Vater bekam.

»Wie kommen Sie in diese Kapelle?«, fragte der Stadtführer.

»Helfen Sie mir«, flehte der Mann, ungeachtet der Frage, und taumelte in die Richtung, aus der er die Stimme vermutete. Als er den Stadtführer erreicht hatte, krallte er sich mit letzter Kraft an ihm fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. »Ich habe ihn gesehen!«

»Beruhigen Sie sich«, redete der Stadtführer auf den Mann ein. Er fing ihn auf, als er zu stürzen drohte, wodurch ihm die Kapuze vom Kopf rutschte und das bleiche Antlitz eines Mannes im mittleren Alter offenbarte. Seine dunklen Haare standen filzig von seinem Kopf ab, und die Augen waren von einer fransigen Stoffbinde bedeckt, die straff um seinen Kopf gebunden war. Dicke Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, und er schien starke Schmerzen zu haben. Durch den dünnen Stoff des Umhangs hindurch war zu spüren, dass der Mann total überhitzt war. »Mein Gott, Sie glühen ja. Was ist mit Ihnen passiert?«

»Ich habe ihn gesehen«, wiederholte der Mann zitternd. Er schien sich in einer Art Fieberwahn zu befinden.

»So hilf mir doch jemand«, wandte sich der Stadtführer verzweifelt an die Teilnehmer, die das Ganze noch immer für eine Inszenierung hielten. Einige schossen weiterhin Fotos oder filmten das Geschehen mit ihren Kameras. »Ruf doch jemand einen Arzt!«

Der Mann sank auf die Knie und der Umhang verrutschte. Dadurch wurde der Blick frei auf einige blutunterlaufene Geschwüre am Hals des Mannes, die in etwa die Größe von Eiern hatten.

Der Stadtführer wich augenblicklich zurück. »Großer Gott«, stammelte er. »Das kann nicht sein!«

»Das war er«, sagte der Mann mit leichtem Akzent. »Ich habe ihn gesehen!«

»Wen?«, fragte der Stadtführer. »Wen haben Sie gesehen?«

Der Mann zog sich mit letzter Kraft die Augenbinde vom Kopf. Die Blitzlichter der Kameras erloschen auf der Stelle, und dem Jungen glitt vor Schock das Handy aus der Hand.

Die Laterne des Stadtführers fiel zu Boden und zerschellte, als er in die leeren, verkohlten Augenhöhlen des Mannes blickte, der wimmernd vor ihm kniete.

»Ich habe den Tod gesehen!«, keuchte er. Dann sackte der Mann leblos zu Boden, während die entsetzten Schreie der Gruppe durch die Gasse hallten.

KAPITEL 1

 

 

 


»Tut mir leid«, entschuldigte sich Kommissar Chris Bertram, der zu der kleinen Gruppe von Männern stieß, die vor der weitläufigen Absperrung neben dem prächtigen Schloss Sayn standen, an dem die Stadtgasse ihren Anfang nahm. Auf dem Hügel über ihren Köpfen erstrahlte eine mittelalterliche Burgruine, die in der Dunkelheit effektvoll beleuchtet war. »Ich war mit Rebecca im Kino und hatte das Handy stummgeschaltet.«

»Rebecca Klein, von der PI 2?«, fragte Rokko, der mit bürgerlichem Namen Roland Koch hieß und sich mit Chris ein Büro teilte.

»Ja«, erwiderte Chris zaghaft. »Wie du weißt, treffen wir uns seit einiger Zeit und … na ja … die Sache scheint sich zu entwickeln.«

»Respekt«, meinte Peter Gerlach und schlug ihm anerkennend gegen die Schulter. »Ziemlich heißer Feger.«

Chris betrachtete seinen jüngeren Kollegen verärgert. »Sie ist ein sehr sympathischer Mensch, falls du das meinst.«

»Und eine Kollegin von der Streife«, ergänzte Rokko, der wie immer auf einem Kaugummi herumkaute.

»Ja, und?«

»Ich meine ja nur, ihr werdet euch bei euren Dienstzeiten nicht oft zu Gesicht bekommen.«

»Das lass mal unsere Sorge sein«, knurrte Chris, dessen berufliches Leben ihn mit 39 Jahren bereits eine Ehe und zwei anschließende Beziehung gekostet hatte. Da betrachtete er die Bindung an eine Kollegin als eine eher logische Konsequenz, da sie sicher mehr Verständnis für seine Dienstzeiten aufbrachte. Verwundert ließ er seinen Blick über den hell erleuchteten Parkplatz gleiten, wo Uwe Meißner und sein Spurensicherungsteam gelangweilt bei ihren Dienstfahrzeugen standen. Neben Notarzt- und Rettungswagen entdeckte Chris hinter der Absperrung auch ein Sanitätsfahrzeug der Bundeswehr. »Na schön«, meinte er, »was genau ist hier los? In der Zentrale sagten sie was von einem Toten.«

»Tja«, entgegnete Rokko, »damit weißt du in etwa das, was wir wissen.«

»Und warum tun wir dann nicht unsere Arbeit?«

»Weil man uns nicht lässt.« Rokko strich sich über seinen dunklen Kinnbart, der seinem Spitznamen alle Ehre machte. »Wir stehen uns jetzt seit gut einer Stunde die Beine in den Bauch und haben strikte Anweisung nicht hinter die Absperrung zu treten, bis die mit ihren Untersuchungen fertig sind.«

»Wer sind die?«, fragte Chris.

»Das Gesundheitsamt.«

»Und was haben die hier verloren?«

Rokko zuckte mit den Schultern. »Mehr weiß ich auch nicht. Vor etwa zehn Minuten haben zwei Krankenfahrzeuge der Bundeswehr die Absperrung passiert. Sah aus, als hätten die eine Gruppe von Leuten abtransportiert. Allerdings wollte man uns dazu noch keinerlei Informationen geben.«

»Wer ist hier der Verantwortliche?«, fragte Chris.

»Das bin ich!«

Chris und die anderen drehten sich um und sahen einen Mann im mittleren Alter auf sich zukommen. Er trug ein dunkles Jackett über einer Jeanshose. Als er sie erreicht hatte, streckte er Chris die Hand entgegen.

»Doktor Armin Kolb, Gesundheitsamt.«

»Kommissar Chris Bertram, Kripo Koblenz. Meine Kollegen kennen Sie bereits?«

Kolb nickte ihnen zu.

»Soweit wir wissen, hat es einen Toten gegeben.«

»Das ist richtig«, bestätigte Kolb.

»Würden Sie uns dann bitte den Grund dafür nennen, weshalb wir nicht mit unseren Ermittlungen beginnen dürfen.«

»Es tut mir wirklich leid, dass Sie so lange warten mussten«, meinte Kolb, »aber bestimmte Umstände haben uns dazu gezwungen, den Tatort weiträumig absperren zu lassen.«

»Und welche Umstände sind das?«, fragte Chris.

»Das Seuchenschutzgesetz.«

Rokko und Gerlach verharrten in ihren Bewegungen. Auch Chris starrte den Mann ungläubig an. »Na schön, was ist hier los?«

Kolb fuhr sich über seine dunklen Haare. »Vor etwas mehr als zwei Stunden nahm eine Gruppe aus fünfzehn Personen an einer Führung durch den historischen Stadtkern von Sayn teil«, erläuterte er. »Eines ihrer Ziele war die alte Kapelle in der Abteistraße. Aus deren Inneren vernahm die Gruppe Geräusche und Hilferufe. Kurz darauf stürzte ein altertümlich gekleideter Mann daraus hervor. Er brabbelte sinnloses Zeug und brach leblos zusammen. Der verständigte Notarzt konnte nur noch den Tod feststellen.«

Erneut sah Chris sich um. »Wenn ich mir den ganzen Zirkus hier betrachte, schließe ich daraus, dass es nicht das Einzige ist, was der Arzt festgestellt hat.«

»So könnte man es ausdrücken«, pflichtete Kolb ihm bei.

»Und werden Sie uns auch mitteilen, was Ihnen offensichtlich solche Sorgen bereitet?«

»Wissen Sie«, begann Kolb verhalten, »ehrlich gesagt tue ich mich schwer damit, da ich es selbst kaum glauben kann. Denn das Opfer ist an einer Krankheit gestorben, die in dieser Gegend zuletzt vor mehr als dreihundert Jahren aufgetreten ist.«

Chris' Augenbrauen senkten sich, während er Kolb fordernd betrachtete und ihm dadurch zu verstehen gab, dass er konkreter werden sollte.

Kolb stieß einen tiefen Seufzer aus, in der Erwartung, dass ihn alle für verrückt erklären würden. »Es ist einwandfrei erwiesen, dass der Tote an der Pest gestorben ist.«

Die Augen der drei waren argwöhnisch auf Kolb gerichtet. »An der Pest?«, wiederholte Chris.

Kolb nickte. »Genauer gesagt an der Beulenpest.«

»Und das ist sicher?«

»Der Schnelltest hat eindeutig den Erreger Yersinia Pestis nachgewiesen.«

»Und wie ist das möglich? Ich meine …«

»Wir haben zwar noch keine Erklärung dafür«, sagte Kolb, »aber es ist keineswegs so, dass diese Krankheit ausgerottet ist. Das Bakterium kommt auch heute noch in wildlebenden Nagetierpopulationen in Asien, Afrika, dem Kaukasus und im Südwesten der USA vor. Jedoch sind keine solchen Populationen in Europa bekannt.«

»Wie wird die Krankheit normalerweise auf den Menschen übertragen?«

»Durch eine sogenannte Zoonose.«

Chris seufzte. »Bitte etwas allgemeiner.«

»Durch Wirtstiere, zum Beispiel dem Rattenfloh«, erläuterte Kolb. »Jedoch schließen wir in diesem Fall eine natürliche Übertragung aus.«

»Und weshalb?«

»Obwohl der Körper einen ziemlich verwahrlosten Eindruck macht, ergab eine erste oberflächliche Untersuchung des Leichnams keinerlei derartigen Parasitenbefall. Wir haben jedoch massive Anwendungen von Gewalt festgestellt.«

»Inwiefern?«, fragte Chris.

»Dem Mann wurden die Augen ausgebrannt.«

Es dauerte einige Sekunden, bis diese Information ein wenig von ihrem Schrecken verlor und Chris wieder zu Wort kommen ließ. »Was wissen Sie über den Toten?«

»Bis jetzt so gut wie nichts. Er war mit einer Art Mönchskutte bekleidet. Keinerlei Ausweispapiere. Schätzungsweise zwischen dreißig und vierzig Jahre alt. Es ist nicht einmal ersichtlich, wie er in die Kapelle gekommen ist. Wie uns der Stadtführer sagte, ist sie normalerweise nicht zugänglich.«

»Wer verwaltet die Kapelle?«

»Die Kirchengemeinde der Stadt. Es werden nur zu bestimmten Anlässen Gottesdienste und Andachten darin abgehalten. Auffällig ist in diesem Fall jedoch ihre Entstehungsgeschichte. Das Gebäude wurde vor etwa dreihundertfünfzig Jahren errichtet, zur Zeit des Schwarzen Todes, und wird von den Anwohnern als Pestkapelle bezeichnet. In Anbetracht der Umstände hat es fast den Anschein, als wäre der Mann direkt dem Mittelalter entsprungen.«

Na großartig, ging es Chris durch den Kopf. Die Zeitungen würden sich darauf stürzen. »Ich denke, diese Möglichkeit können wir sicher ausschließen«, erwiderte er mit Nachdruck.

»Ich wollte damit nur deutlich machen, wie merkwürdig diese Geschichte ist«, konterte Kolb.

»Umso wichtiger ist es, dass unser Spurensicherungsteam sich vor Ort umsehen kann.«

Kolb nickte missbilligend. »Ja, das sehe ich ein. Allerdings nur unter gewissen Voraussetzungen.« Er führte die Kuppen beider Zeigefinger zusammen. »Erstens, Ihre Männer tragen spezielle Schutzanzüge. Zweitens«, er wechselte zum Mittelfinger über, »Sie können unter Beobachtung Fotos machen und spurentechnische Untersuchungen durchführen, aber es werden keine Gegenstände vom Tatort konfisziert, bevor sie nicht durch unsere Behörde freigegeben wurden. Und drittens«, nun war der Ringfinger dran, »müssen Ihre Leute sich medizinisch präventiver Maßnahmen unterziehen. In diesem Fall wäre das eine vorsorgliche Behandlung mit bestimmten Antibiotika, über einen Zeitraum von sieben Tagen.«

Chris nickte zustimmend.

»Also schön, wie viele Ihrer Leute benötigen Sie?«

Erneut ließ Chris seinen Blick über das abgesperrte Areal gleiten. »Unter diesen Umständen sollten zwei Leute ausreichen.«

»Gut, ich werde sofort alles Nötige veranlassen.«

»Wohin haben Sie den Leichnam gebracht?«

»Ins Bundeswehrzentralkrankenhaus. Die sind dort als Einzige mit einem isolierten Bereich ausgestattet und arbeiten in solchen Fällen eng mit uns zusammen. Dort wird auch die Untersuchung der Leiche stattfinden, ich habe bereits mit der Staatsanwaltschaft und dem rechtsmedizinischen Institut in Mainz telefoniert. Auch die Touristengruppe und der Stadtführer befinden sich vorsorglich für die nächsten Tage im Bundeswehrkrankenhaus unter Beobachtung. Wir gehen zwar momentan nicht von einer Verbreitung der Seuche aus, aber sicher ist sicher. Sollten Sie die Zeugenaussagen der Leute benötigen, wenden Sie sich bitte an den dortigen Chefarzt. Auch haben wir die Aufnahmegeräte der Touristen beschlagnahmt. Sämtliche Bilder und Aufzeichnungen werden wir Ihnen zusammen mit den Obduktionsergebnissen schnellstmöglich zukommen lassen.«

»Vielen Dank für Ihre Unterstützung«, sagte Chris.

»Keine Ursache. Ich hoffe, Sie finden heraus, was hier passiert ist. Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, aber mir verursacht das Ganze eine Gänsehaut.«

Chris konnte den Mann verstehen. Er hatte in seiner Laufbahn viele Merkwürdigkeiten erlebt und grausame Dinge gesehen. Aber irgendwie beschlich ihn das ungute Gefühl, mit dieser Sache auf einen persönlichen Höhepunkt zuzusteuern.

 


Es dauerte etwas mehr als eine Stunde, bis Uwe Meißner und sein Mitarbeiter den Tatort untersucht und die Sperrzone wieder verlassen hatten. Die ungewöhnlich milden Temperaturen des Frühlingsabends hatten sich deutlich in Form von Schweiß in Meißners Gesicht niedergeschlagen.

»Und, wie sieht’s da drin aus?«, fragte Chris, nachdem sein Kollege die Sicherheitskontrolle passiert hatte.

Meißner verstaute sein Handy, mit dem er gerade noch telefoniert hatte. »Immerhin weiß ich jetzt, wie sich ein Raumfahrer fühlen muss«, entgegnete er müde. »Gegen diese Schutzanzüge sind unsere weißen Overalls geradezu atmungsaktiv.« Er wischte sich erschöpft den Schweiß von der Stirn, bevor er detaillierter auf Chris‘ Frage einging. »An Spuren gab es dort nicht viel zu sichern. Die Kapelle ist zwar sehr klein, aber da dort öffentliche Messen abgehalten werden, dürfte die Suche nach Fingerabdrücken ziemlich aussichtslos sein, da sie so ziemlich zu jedem hier im Ort gehören könnten. Das Türschloss wurde aufgebrochen, was aber keinerlei spezielle Fähigkeiten erfordert, da es mindestens so alt ist wie das Gebäude selbst. Einer der Anwohner hat gegen halb neun eine Person aus der Kapelle kommen gesehen. Aufgrund der dunklen Kleidung hielt er sie jedoch für einen Kirchenmitarbeiter und hat sich nichts dabei gedacht, zumal dies nichts Ungewöhnliches ist. Ich habe mit dem zuständigen Vertreter der Kirchengemeinde telefoniert, der mir versichert hat, dass dort zurzeit keinerlei kirchliche Aktivitäten stattfinden. Demnach können wir davon ausgehen, dass der Täter das Opfer betäubt und nach Einbruch der Dunkelheit in die Kapelle geschafft hat.«

»Ziemlich riskant, wenn man bedenkt, dass die Kapelle sich mitten im Stadtkern befindet«, meinte Chris.

»Sayn ist nur ein kleiner historischer Stadtteil«, erwiderte Meißner. »Selbst tagsüber verirren sich außer den Anwohnern nur ein paar Touristen in die Gasse. Und nach Einbruch der Dunkelheit klappen die hier sprichwörtlich die Gehsteige hoch.«

»Ist diesem Zeugen sonst noch etwas aufgefallen?«, fragte Chris.

»Er hat was von einem dunklen Gewand erzählt, das die Person getragen hat. Und …« Er zögerte.

»Und was?«

Meißner kratzte sich am Hinterkopf und blickte verlegen zu Boden. »Der Zeuge glaubt gesehen zu haben, dass der Person etwas aus dem Gesicht geragt hat.«

Chris' Stirn legte sich in Falten. »Er glaubt was?«

»Es … es soll ausgesehen haben wie ein Art Schnabel«, konkretisierte Meißner.

Chris musterte ihn befremdlich. »Und dieser angebliche Zeuge hält das für ein typisches Erscheinungsbild eines Kirchenmitarbeiters?«

»Er hat anfangs nichts davon erwähnt, weil er es für eine Täuschung hielt. Es war bereits dunkel und er trug seine Brille nicht.«

Chris seufzte. »Vielleicht sollte ich dieses Detail besser in meinem Bericht auslassen.«

»Normalerweise würde ich dir recht geben, aber da wäre noch etwas«, sagte Meißner, dessen braune Haare verschwitzt an seinem Kopf klebten, womit er bei Chris unweigerlich den Eindruck eines nassen Hundes erweckte. »An der Tür zur Kapelle war ein toter Vogel angebracht. Wenn du mich fragst, versucht da jemand Theater mit uns zu spielen.«

»Sonst noch was?«

»Am Körper des Vogels war eine Schriftrolle angebracht. Ich habe mit Doktor Kolb vom Gesundheitsamt gesprochen. Er hat mir versichert, dass er beides zur Untersuchung an das LKA schickt, sobald gesichert ist, dass der Körper des Tieres nicht infiziert ist. Ich habe jede Menge Fotos vom Fundort und der Schriftrolle gemacht. Ich werde sie dir zusammen mit meinem Bericht bis morgen Mittag zukommen lassen, damit ihr euch ein erstes Bild machen könnt. Und jetzt würde ich gerne nach Hause fahren, weil ich glaube, dass mir diese verdammten Antibiotika schon jetzt auf den Magen schlagen.«

 


»Was haltet ihr von der Sache?«, fragte Chris seine Kollegen, nachdem er sie von Meißners Eindrücken unterrichtet hatte.

»Na ja«, meinte Rokko, »es ist zumindest mal was anderes.«

»Wir haben es mit einem ziemlich ausgefuchsten und kreativen Täter zu tun«, meinte Gerlach.

Chris nickte. »Im Moment können wir nicht viel tun. Doktor Kolb hat mir noch einmal zugesichert, dass wir schon morgen Mittag mit ersten Ergebnissen rechnen können. Schlafen wir also erst einmal darüber.«

KAPITEL 2

 

 

 


Die Obduktion der Leiche fand am nächsten Morgen im Bundeswehrzentralkrankenhaus statt. Wie besprochen leitete Dr. Kolb die vorläufigen Ergebnisse sogleich per Kurierdienst an das Polizeipräsidium, wo sie beinahe zeitgleich mit dem Bericht der Spurensicherung auf Chris' Schreibtisch landeten. Alle arbeiteten auf Hochtouren an dem Fall. Gegen halb zwei an diesem Nachmittag versammelten sich Chris und seine Leute im Büro, um erste Ergebnisse zu analysieren und Bildmaterial zu sichten. Die Videoaufzeichnung, die einer der Teilnehmer der Stadtführung erstellt hatte, diente als Ausgangspunkt.

»Hm«, meinte Rokko, nachdem das Videobild auf dem Monitor erloschen war. Er stellte die halbvolle Kaffeetasse ab, an deren Vorderseite wie immer sein Kaugummi klebte. »Das wirkt beinahe wie inszeniert. Als wäre es ein Teil der Führung.«

»Genau das muss der Täter beabsichtigt haben«, erwiderte Chris. Er erhob sich von seinem Stuhl und trat vor die Magnetwand, an der in verschiedene Bereiche unterteilt Fotos der Touristen, der Spurensicherung und Aufnahmen der Obduktion angebracht waren. »Er muss gewusst haben, dass an diesem Abend eine Führung stattfindet und hat es darauf angelegt, dass die Leute das Opfer finden.«

»Das erfordert eine exakte Planung«, warf Gerlach ein. »Der Zeitpunkt, an dem die Gruppe die Kapelle erreicht, muss ihm bekannt gewesen sein. Auch wie lange die Betäubung seines Opfers anhält, was eventuell auf medizinische Kenntnisse hindeutet.«

»Laut vorläufigem Obduktionsbericht wurden im Blut des Opfers Rückstände des Benzodiazepins Temazepam gefunden, das auch in K.o.-Tropfen vorkommt«, las Chris von seinen Notizen ab. »Die endgültigen Ergebnisse des toxischen Screenings müssen zwar vom Labor noch bestätigt werden, aber das dürfte reine Formsache sein. Der Täter hätte das Mittel auch schon vorab an seinem Opfer testen können, um die Wirkungsdauer zu bestimmen, zumal der Mann sich mindestens 36 Stunden in seiner Gewalt befunden haben muss.«

»Wie kommst du darauf?«, fragte Rokko.

»Das ist die schnellste Form der Pestsepsis, also die Zeitspanne vom Eintreten der Bakterien in die Blutbahn bis zum Tod.«

»Moment mal«, meldete sich Gerlach zu Wort. »Soll das etwa heißen, das Opfer wurde vorsätzlich mit der Pest infiziert?«

»Zumindest deutet alles darauf hin.« Chris trat vor den Bereich der Wand, an dem die Obduktionsfotos befestigt waren. Eines davon zeigte das augenlose Gesicht der Leiche. »Wie die Untersuchung ergeben hat, wurden dem Opfer vor seinem Tod beide Augen mit einem glühenden Gegenstand entfernt. Doch diese Verletzungen waren nicht tödlich. Gestorben ist der Mann an einem toxischen Schock, hervorgerufen durch die Folgen der Pesterkrankung. Eine Übertragung der Krankheit vom Wirtstier auf den Menschen findet in der Regel über Flöhe statt. Man hat aber nur eine Einstichstelle in der linken Armbeuge gefunden.« Er deutete auf eine Großaufnahme, die deutlich einen rot umränderten Punkt in der blassen Haut zeigte. »Es ist davon auszugehen, dass dem Opfer der Erreger injiziert worden ist.«

»Wer kommt auf die Idee, einen Menschen auf diese Weise zu töten?«

»Wir sollten uns lieber fragen, wie der Täter an den Erreger gekommen ist?«, bemerkte Chris nüchtern. »Nach unserem Kenntnisstand ist das hierzulande nur über Hochsicherheitslabore möglich. Nur solche Einrichtungen haben die Genehmigung, mit Erregern dieser Sicherheitsstufe zu hantieren.«

Rokko machte eine abfällige Handbewegung. »Ja, auf offiziellem Weg vielleicht«, höhnte er. »Aber ich glaube kaum, dass der Täter so blöd ist, selbst wenn er diese Möglichkeit hätte. Zumal wir wissen, dass die Krankheit in einigen Ländern noch immer existiert. Und nicht jedes dieser Länder hat solch strenge Sicherheitsbestimmungen. Mit den richtigen Verbindungen kann man sich solche Erreger vermutlich heutzutage übers Internet bestellen.«

»Dennoch müssen wir die betreffenden Labore überprüfen«, beharrte Chris. »So viele kann es davon nicht geben. Das Gesundheitsamt wird uns dahingehend unterstützen, da Fälle solcher Erkrankungen ohnehin meldepflichtig sind.«

»Wir sollten aber auch einen terroristischen Hintergrund nicht ausschließen«, meinte Gerlach und deutete auf die Großaufnahme der handschriftlich verfassten Botschaft.

 


Nur vier Wände
ewig Nacht.
Welch ein Fluch
mich hergebracht.

 


»Das halte ich im Moment für unwahrscheinlich«, widersprach Chris. »Offensichtlich ging es dem Täter nicht darum, die Krankheit zu verbreiten, sonst hätte er sein Opfer nicht für längere Zeit isoliert. Ich denke, die Tat ist eher Teil seiner Botschaft und hat symbolischen Charakter.«

Rokko runzelte die Stirn. »Du meinst, das Opfer wurde auf diese Weise für etwas bestraft?«

»Das ist durchaus möglich«, meinte Chris. »Vielleicht will der Kerl uns damit auch sagen, dass Denken und Handeln unserer Gesellschaft verseucht sind, oder was Abgedroschenes in der Art.«

»Auf jeden Fall scheut er keinen Aufwand, um sich mitzuteilen«, bemerkte Rokko sarkastisch. »Weiß man denn schon, um wen es sich bei dem Opfer handelt?«

Chris schüttelte den Kopf. »Die Kollegen checken bereits die Vermisstenmeldungen. Außerdem ist eine Meldung an sämtliche Zahnärzte raus. Der Abgleich der medizinischen Unterlagen kann jedoch noch Tage dauern.«

»Was ist mit dem Vogel?«, fragte Rokko. »Soviel ich weiß, kann man einen Raben nicht einfach in einer Tierhandlung kaufen.«

»Das ist richtig«, sagte Chris. »Er gehört zu den Wildtieren und steht unter Artenschutz. Man darf diese Vögel nur mit einer Genehmigung und unter strengen Auflagen halten. Da kann es nicht so viele Möglichkeiten geben.«

Gerlach schüttelte den Kopf. »Das ist mir alles eine Nummer zu hoch«, meinte er. »Wenn ich jemanden umbringen will, dann vergifte ich ihn oder schlag ihm den Schädel ein. Meinetwegen ramm ich ihm ein Messer zwischen die Rippen, aber ihn mit der Pest zu infizieren, stünde sicher ganz unten auf meiner Liste. Zu viele Spuren, die man zurückverfolgen kann, zu viele Ermittlungsansätze. Mal abgesehen von dem Risiko, das Opfer in einer Kapelle abzulegen, die sich mitten in einem Wohngebiet befindet. Entweder ist der Täter ziemlich dumm, oder er hält sich für außerordentlich clever.«

»Ersteres können wir in dem Fall ausschließen«, argwöhnte Chris, »da es sich keinesfalls um eine willkürliche Tat handelt und der Täter planmäßig vorgegangen ist. Außerdem scheint er über technische und medizinische Grundkenntnisse zu verfügen. Und wenn wir der Aussage Glauben schenken, die einer der Anwohner gemacht hat, dürfte der Täter verkleidet sein. Der Zeuge sprach von einer Art Maske, die einem Vogelkopf ähnlich ist. Außerdem soll er ein langes schwarzes Gewand getragen haben, das seine Konturen völlig verdeckt hat. Daher konnte der Zeuge auch keine genauen Angaben über Alter, Größe und Geschlecht machen. Wir können aber davon ausgehen, dass es sich aufgrund des Tathergangs um eine männliche Person, maximal mittleren Alters handelt. Das Opfer wog immerhin fast achtzig Kilo.«

»Eine solche Verkleidung dürfte ihn auch eingeschränkt haben«, mutmaßte Gerlach.

»Sie scheint ihm aber eine gewisse Sicherheit zu vermitteln, die seine Risikobereitschaft erhöht.«

»Wie oft finden eigentlich solche Führungen statt?«, fragte Rokko.

»Nicht sehr oft«, erwiderte Chris. »Nur zwei- bis dreimal im Jahr, meist zu den Frühlingsfesten.«

»Dann sollten wir auch alle Teilnehmer des Vorjahres überprüfen. Immerhin scheint der Täter über Ablauf und Inhalt genauestens informiert gewesen zu sein. Eventuell hat er selbst an einer solchen Führung teilgenommen.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass die darüber Listen führen.«

Rokko seufzte betrübt und nippte an seinem Kaffee. »Was ist mit dem Veranstalter, diesem Heimatverein?«

Chris ließ seinen Blick über die Runde gleiten. »Ich denke zwar nicht, dass die Lösung so einfach ist, aber gut, fangen wir damit an.«

 


Nachdem die Besprechung beendet war und Gerlach das Büro verlassen hatte, trat Rokko neben Chris, der damit beschäftigt war, die Berichte zu sortieren. Rokko leerte seine Tasse, löste anschließend den Kaugummi an der Vorderseite und steckte ihn sich wieder in den Mund.

»Das ist eine ziemlich eklige Angewohnheit«, meinte Chris.

Rokko zuckte mit den Schultern. »Ist seit der Polizeischule an mir hängengeblieben«, meinte er. »Der Kaffee in der Kantine dort hat nach Seifenlauge geschmeckt. Da brauchte man hinterher etwas Minziges.« Er sah auf das Foto an der Magnetwand, auf dem die Schriftrolle mit dem Text zu sehen war. »Dir ist doch hoffentlich klar, was diese Botschaft bedeutet.«

Chris legte die Berichtsmappen beiseite und betrachtete ebenfalls das Foto. Ja, ihm war die Bedeutung dieser Worte durchaus bewusst.

Dies war nur der Anfang. Es würde weitere Morde geben.

KAPITEL 3

 

 

 


Gegen 18 Uhr verließ Chris das Präsidium. Während er durch die Innenstadt mit ihren zahlreichen Ampelanlagen fuhr, ließ er den Nachmittag noch einmal Revue passieren. Ihre Nachforschungen waren alle im Sand verlaufen. Wie sich herausstellte, gab es hierzulande fünf Sicherheitslabore, von denen derzeit nur einer mit dem Pesterreger experimentierte, nämlich das Institut für Mikrobiologie der Bundeswehr in München. Dort versicherte man ihm, dass lediglich fünf ihrer Wissenschaftler die Genehmigung hätten, an dieser Art von Erregern zu forschen und dass es durch die strengen Sicherheitsvorkehrungen schlicht unmöglich sei, diese zu entwenden. Dennoch ließ Chris sich die Namen der betreffenden Personen geben. Was die Mitglieder des Heimatvereins betraf, so würde deren Überprüfung einige Tage beanspruchen. Auch was den toten Raben anging, schienen sie sich auf eine Sackgasse zuzubewegen. Eine private Genehmigung zur Aufzucht dieser Rasse wurde bisher in Rheinland-Pfalz nicht vergeben. Die Anfrage bei der Landschaftsbehörde offenbarte jedoch, dass gut ein Dutzend Auffangstationen für Vögel und Wildtiere in der näheren Umgebung existierten. Die Ermittlungen in dieser Richtung würden ebenfalls viel Zeit in Anspruch nehmen und vermutlich nichts Konkretes erbringen. Daher beschloss Chris, an diesem Abend keinen Gedanken mehr daran zu verschwenden und sich auf das Treffen mit seiner Freundin zu konzentrieren.

Rebecca wohnte in Horchheim, einem Stadtteil von Koblenz. Ihre Wohnung befand sich im dritten Stock einer Reihenhaussiedlung, was es Chris zu dieser Zeit nahezu unmöglich machte, einen Parkplatz in der Nähe zu ergattern. Erst nach mehreren Runden stieß er in einer Nebenstraße auf einen freien Stellplatz. Und während er die Entfernung bis zu Rebeccas Wohnung zurücklegte, wurde ihm einmal mehr bewusst, welche Vorteile es hatte, außerhalb der Stadt zu wohnen.

Als die Tür sich öffnete, empfing sie ihn mit ihrem strahlenden Lächeln, das ihn sofort vergessen ließ, mit was er sich tagtäglich beschäftigen musste. Rebecca schien gerade geduscht zu haben. Ihre Haare hingen in feuchten Strähnen über ihren Rücken, was die braune Farbe noch um zwei Töne dunkler machte.

»Hast einen miesen Tag gehabt, was?«, fragte sie, als beide kurz darauf vor zwei gefüllten Rotweingläsern auf der Couch saßen.

»Mies ist gar kein Ausdruck.« Er rieb sich erschöpft die Augen. Anschließend erklärte er ihr den Grund, der ihren gestrigen gemeinsamen Abend so abrupt hatte enden lassen und von den Erkenntnissen, die sie bis jetzt zu dem Fall zusammengetragen hatten.

»Die Pest? Wie ist das möglich?«

»Das wissen wir noch nicht.«

Sie betrachtete ihn mit ihren großen braunen Augen. »Diese Botschaft, von der du erzählt hast … Ihr rechnet mit weiteren Taten, nicht wahr?«

Chris nickte verhalten. »Aber sie sagt nichts Konkretes über das Motiv des Täters aus.«

»Ihr werdet schon dahinterkommen.« Noch immer ruhte ihr Blick auf ihm und nahm die Anspannung wahr, die sich in Chris' Gesicht widerspiegelte. »In unserem Job kann einem die Welt manchmal wie ein ziemlich kranker Ort vorkommen.« Sie streichelte ihm sanft über die Wange. »Wir sollten diese Dinge aber nicht zu sehr an uns heranlassen.«

Chris sah ihr in die Augen, die trotz der Ungerechtigkeiten, die sie jeden Tag zu sehen bekamen, anscheinend nie den Blick für das Wesentliche verloren. Die Reife, die er darin erkannte, ließ ihn den Altersunterschied von acht Jahren vergessen. »Du hast recht«, sagte er. »Lass uns an deinem freien Tag nicht über die Arbeit sprechen. Ich brauche jetzt etwas Ablenkung.«

Der Ausdruck in ihren Augen wechselte sofort, während sie ihn verführerisch über den Rand des Glases hinweg betrachtete. »Und was genau schwebt dir da vor?«

»Tja«, meinte er verschmitzt. »Ich wüsste da schon was, das mich auf andere Gedanken bringen könnte.«

Lächelnd stellte sie ihr Glas auf dem Tisch ab. »Dann sorgen wir doch mal für ein wenig Entspannung«, sagte sie und zog ihn zu sich auf die Couch.

Für den Rest des Abends waren all die dunklen Ereignisse aus Chris' Kopf verschwunden.

KAPITEL 4

 

 

 


Es war kurz vor Mitternacht, als Daniel Nowak seine Arbeitsstätte verließ. Das Restaurant Meviana lag oberhalb des Rheinufers und bot einen spektakulären Blick über das abendliche Koblenz, weshalb es bei den Gästen der umliegenden Hotels sehr beliebt war. Auch an diesem Abend hatten sie viel zu tun gehabt, was Nowak ein beachtliches Trinkgeld beschert hatte. Dementsprechend erschöpft fühlte er sich, als er über die Straße auf den Parkplatz des Restaurants zuging. Der intensive Geruch von gebratenem Fett hatte sich wie jeden Abend in seiner Dienstkleidung festgesetzt. Er hatte sich an diesen Geruch gewöhnt, ihn mittlerweile akzeptiert, denn er vermittelte ihm das Gefühl von Freiheit. Ein Gefühl, das ihm in den Jahren zuvor fremd geworden war. Die Stelle als Kellner hatte ihm sein Bewährungshelfer vor etwas mehr als drei Monaten besorgt. Der Besitzer des Meviana wusste daher, dass Nowak im Gefängnis gewesen war, doch er hatte ihn bis heute nicht nach dem Grund dafür gefragt. Und er behandelte ihn immer mit Respekt. Für beides war Nowak ihm dankbar, denn mit seiner Vergangenheit hatte er endgültig abgeschlossen. Keinen Tropfen hatte er seit damals angerührt, und auch keine Drogen. Er hatte im Rausch schreckliche Dinge getan, für die er sich selbst verabscheute. Dinge, die ihn manchmal um den Schlaf brachten. Daher war er fest entschlossen, diese zweite Chance, die sich ihm bot, nicht noch einmal zu versauen. Zwar verdiente er nicht viel, doch es reichte für eine kleine Wohnung und sein altes Auto. Mehr brauchte er letztendlich nicht, um sich frei zu fühlen. Und als er mit wunden Füßen und schmerzendem Rücken in der Dunkelheit über den Parkplatz ging, hatte er ein gutes Gefühl, was sein weiteres Leben betraf.

Er schaltete sein Handy ein, und sofort meldete es den Eingang einer Nachricht. Sie war von Silvia, was automatisch ein Kribbeln in seinem Bauch erzeugte. Gute Nacht und schlaf gut, lautete die Mitteilung, die ein verträumtes Lächeln auf seine schmalen Lippen legte. Ja, er war auf dem richtigen Weg.

An seinem Wagen angekommen, zog er die Autoschlüssel aus seiner Hosentasche, als er plötzlich erschrocken zurückwich.

Am Außenspiegel seines Autos hatte jemand etwas angebracht.

Ein Vogel, dachte er völlig perplex. Da hängt ein toter Vogel!

Unsicher sah er sich um. Die Straßenbeleuchtung erfasste nur den vorderen Teil des Parkplatzes. Außer dem Wagen seines Chefs konnte er nicht viel erkennen. Die letzten Gäste hatten das Restaurant vor einer halben Stunde verlassen, ebenso das Küchenpersonal. Dennoch beschlich ihn das unheimliche Gefühl, nicht allein zu sein. Neugierig trat er an sein Auto heran und betrachtete den toten Vogel genauer. Sein schwarzes Gefieder schimmerte seidig im Licht der Straße, und Nowak konnte ein Stück zusammengerolltes Papier an den Krallen des Tieres erkennen. Nach kurzem Zögern schaltete er das Display seines Handys ein, zog das aufgerollte Papier auseinander und leuchtete auf die Botschaft darauf. Es waren nur vier Zeilen, die aber ausreichten, ein kaltes Kribbeln zu erzeugen, das sich von seinem Nacken bis hinunter zu seinem Steiß ausbreitete. Im selben Moment hörte er ein elektrisches Knistern, unmittelbar hinter seinem Rücken. Erschrocken wirbelte er herum – und sein Herz setzte für einige Sekunden aus. Eine glühende Woge fuhr durch ihn hindurch, die jeden Muskel seines Körpers lähmte. Noch während er bewegungsunfähig zu Boden glitt, starrten seine angsterfüllten Augen auf die Gestalt über ihm … und was sie sahen, raubte ihm fast den Verstand.

 


Als er zu sich kam, fühlte er einen harten Gegenstand in seinem Mund, der gegen seinen Rachen drückte und einen widerlich kupferartigen Geschmack verursachte. Auch spürte er heftige Schmerzen auf der Rückseite seines Körpers, auf der er lag. Es fühlte sich an, als würden hunderte heißer Nadeln in seine nackte Haut stechen. Ein erdiger Geruch drang in seine Nase und ließ ihn schließlich endgültig zu Bewusstsein kommen.

Langsam öffnete Nowak die Augen und sah den nächtlichen Sternenhimmel über sich, eingegrenzt von einem erdigen Rahmen, an dessen Rändern er dunkle Grashalme erkennen konnte. Nur schwach drang etwa einen Meter über ihm ein wenig Licht in die Dunkelheit, als befände er sich in einer Vertiefung.

In einem Grab.

Sofort ergriff die Panik Besitz von ihm. Doch sein Versuch zu schreien endete in einem hohlen Laut, der in dem schmalen Rohr verhallte, das aus seinem Mund in die Höhe ragte. Er wollte danach greifen, es loswerden, doch seine Glieder waren noch immer wie betäubt und so schwerfällig, als schwimme sein Körper in einer zähen, stacheligen Masse, in der jegliche Bewegung mit Scherzen gestraft wurde. Sein Verstand wurde klarer, und er erinnerte sich, wie er über den Parkplatz gegangen war; an den toten Vogel und an den Zettel. Er rief sich dessen unheilvolle Botschaft ins Gedächtnis. Sein Herzschlag setzte erneut aus, als er sich daran erinnerte, was er danach gesehen hatte. Dieses Bild in seinem Kopf konnte nicht echt sein. Nicht einmal seine wildesten Drogenfantasien hatten dergleichen hervorgebracht. Dieses Trugbild war durch den Schock entstanden, der seinen Verstand zu dieser Halluzination verleitet hatte. Doch diese Erkenntnis änderte nichts an seiner Situation, die er als äußerst real einstufte. Was in aller Welt geschah mit ihm?

Du wirst lebendig begraben!

Dieser Gedanke ließ seine Panik eskalieren und wurde durch das Rohr bekräftigt, das offensichtlich dazu diente, ihn mit Luft zu versorgen. Verzweifelt versuchte er, die Lähmung abzuschütteln, die noch immer nachhallte wie nach einem tiefen Traum, bis der Schmerz an der Rückseite seines Körpers ihn zur Kapitulation zwang.

Dann tauchte eine Gestalt am Rand der Grube auf und sah mit Augen auf ihn herab, die nicht menschlich waren. Sie schienen in dem schwachen Licht rötlich zu glühen. Darunter ragte etwas aus dem Gesicht des Schattens, das wie ein gekrümmter Schnabel aussah. In diesem kurzen, surrealen Moment war er fest davon überzeugt, den leibhaftigen Tod über sich zu sehen.

Er hat dir etwas eingeflößt. Er hat dir Drogen gegeben, anders ist das nicht zu erklären. Das alles hier ist pure Einbildung. Es ist nicht real!

Doch dann spürte er auf erschreckend reale Weise, wie feuchte Erde auf seinen Körper geschaufelt wurde. Ein erneuter Schrei endete abrupt, als eine Ladung Dreck auf seinem Gesicht landete und seine Nasenlöcher verstopfte. Weitere Erde prasselte auf ihn herab, sodass er verzweifelt durch das Rohr nach Luft schnappte wie durch einen Schnorchel. Der Druck auf seinen Körper wuchs mit jeder Ladung, und schon nach wenigen Minuten fiel ihm das Atmen schwerer. Das dornige Gestrüpp, auf dem er lag, bohrte sich durch den Druck immer tiefer in sein Fleisch, doch seine Panik verdrängte den Schmerz. Die Geräusche um ihn herum entfernten sich mit jeder Lage, die über ihm aufgeschichtet wurde, bis er schließlich nur noch sein Herz wahrnahm, das wild vor Angst gegen das Erdreich auf seiner Brust hämmerte, als wollte es sich verzweifelt aus dieser Grube freikämpfen. Einige Minuten blieb es beängstigend still um ihn, während er gierig durch das Rohr atmete, das sein einziger verbliebener Kontakt zur Außenwelt war. Der Gedanke daran, dass er womöglich tagelang hilflos unter der Erde in dieser Dunkelheit und Stille liegen musste, bevor der Tod ihn erlöste, trieb ihn fast in den Wahnsinn.

Warum?, schrie ein verzweifelter Gedanke in seinem Kopf. Warum ich? Warum jetzt? Ich habe für meine Sünden gebüßt! Er dachte an Silvia, an die gemeinsame Zeit, die sie noch vor sich hatten, an die vielen Dinge, die er noch tun wollte. Gott, hilf mir!

Seine Panik eskalierte, wurde nur durch seine völlige Bewegungsunfähigkeit ausgebremst, die ihm das Gefühl vermittelte, jeden Moment durchzudrehen. Dann vernahm er ein klopfendes Geräusch. Zunächst klang es dumpf und entfernt, doch schon nach kurzer Zeit wurde es lauter. Er glaubte zu spüren, wie die Erde über ihm verdrängt wurde und sich ihm mit jedem Klopfen etwas näherte.

Plötzlich stöhnte er auf, als er etwas an seinem Bauch spürte. Und mit beinahe erlösender Gewissheit wurde ihm klar, dass er nicht langsam und qualvoll sterben würde.

Mit dem nächsten Klopfen durchstieß eine Woge brennenden Schmerzes seine Körpermitte. Nowaks Schrei drang durch das Rohr nach oben, wo das Klopfen seinen erbarmungslosen Takt einhielt. Noch drei Mal erklang das Geräusch, bis der Schrei zu einem Röcheln erstarb und schließlich endgültig verstummte.

KAPITEL 5

 

 

 


Als Chris am frühen Morgen die Wohnung von Rebecca verließ, war seinen Augen anzusehen, dass er die Nacht nicht ausschließlich zum Schlafen genutzt hatte. Gleichwohl fühlte er sich so beschwingt und glücklich wie schon lange nicht mehr. Er hatte nach dem Aufstehen geduscht und ausgiebig gefrühstückt und ertappte sich auf dem Weg zu seinem Auto dabei, wie er fröhlich pfeifend die Straße entlangging. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal so unbeschwert gewesen war. Diese Beziehung tat ihm gut, blendete die negativen Aspekte seines Berufes aus, in dem Gefühle und Schwächen eher hinderlich waren. Rebecca hatte recht, man musste diese Emotionen ausblenden, um die Fälle nicht zu sehr an sich heranzulassen, sonst nahm man sie mit nach Hause. Und dort nisteten sie sich ein wie lästige Parasiten, die jeden Winkel des Lebens befielen, bis sie schließlich die Macht übernahmen und man kein Zuhause mehr hatte. All das hatte er am eigenen Leib erfahren, und ihm stand nicht der Sinn nach einer Wiederholung. Aber diese Erkenntnis untergrub seine Unbeschwertheit, denn sie war ein sicheres Zeichen dafür, dass er auf dem besten Weg war, sich in Rebecca zu verlieben. Einerseits freute und überraschte ihn diese Entwicklung, da er schon fast nicht mehr damit gerechnet hatte, noch zu solchen Gefühlen in der Lage zu sein. Andererseits machte es ihn verletzlich, und das wiederum bereitete ihm Unbehagen. Denn Verlust war ein Gefühl, auf das er keinen Wert mehr legte.

Der Verkehr war um diese Zeit wie immer mörderisch, sodass er über zwanzig Minuten bis zum Präsidium benötigte, wo gegen zehn Uhr die nächste Besprechung angesetzt war. Die Papierrolle, auf der der Täter seine Botschaft verfasst hatte, war vom Gesundheitsamt freigegeben worden. Weder an ihr noch an dem toten Vogel konnten Pestbakterien gefunden werden, was einen Terroranschlag weiter entkräftete. Dem Täter schien es nur darum gegangen zu sein, seine Botschaft durch die Tat zu untermauern. Daraufhin gab das Gesundheitsamt erst einmal Entwarnung. Dennoch blieben alle Beteiligten weiter unter Beobachtung. Besonders der Stadtführer und der verständigte Notarzt, die beide direkten körperlichen Kontakt zu dem Opfer hatten, würden nach wie vor unter verschärfter Quarantäne stehen, teilte Dr. Kolb ihnen mit.

Die vorläufige kriminaltechnische Untersuchung der Botschaft brachte zwar einige Teilabdrücke zu Tage, wobei sie davon ausgehen mussten, dass diese von dem Stadtführer stammten, der das Papier mit bloßen Händen berührt hatte, wie deutlich auf dem Video zu sehen war. Die Botschaft war handschriftlich, in altdeutschen Buchstaben und mit roter Tinte verfasst worden. Eine genauere Untersuchung würde jedoch einige Zeit in Anspruch nehmen.

»Was ist mit den Leuten von diesem Heimatverein?«, fragte Chris in die Runde.

»Der Vorsitzende ist ein gewisser Rolf Klose«, las Rokko von seinen Notizen ab. »63 Jahre, pensionierter Geschichtsprofessor. Nach den Aussagen einiger Vorstandsmitglieder soll er eine Art Experte für die Historie dieser Gegend sein. Seine Frau teilte mir am Telefon mit, dass er sich momentan auf einem Seminar in Süddeutschland aufhalte. Sie gab mir seine Handynummer. Klose war kurz angebunden, hat mir aber für morgen einen Termin auf der Dienststelle zugesichert.«

»Wir sollten auch die Möglichkeit miteinbeziehen, dass unser Mann sich unter den Touristen aufgehalten hat«, warf Gerlach ein. »Der Täter will mit seiner Tat prahlen. Da liegt es im Bereich des Möglichen, dass er vor Ort sein wollte, um alles mitzubekommen.«

»Nur ist an diese Leute im Moment kein Rankommen, wie du weißt.« Chris stand auf und goss Kaffee aus einer der Thermoskannen nach. »Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass er es darauf angelegt hat, eine Woche lang unter Beobachtung zu stehen. Ich denke nicht, dass er den Rummel verpassen will.« Er nippte an seiner Tasse und verzog das Gesicht. »Was ist mit dem Vogel? Hat sich da was ergeben?«

»Es gibt 32 Tierheime in Rheinland-Pfalz«, sagte Gerlach. »Die meisten davon nehmen keine Wildtiere auf. Es gibt aber einige Auffangstationen, die schwache oder verletzte Wildvögel versorgen. Mit zweien davon habe ich vorhin telefoniert. Die hatten jedoch seit Monaten keinen Raben mehr und vermissen daher auch keinen.«

»Gut«, seufzte Chris. »Bleib trotzdem weiter dran, obwohl ich nicht glaube, dass uns das weiterbringt. Laut Bericht handelt es sich bei dem Vogel um ein Jungtier, das – bis auf die tödliche Wunde durch den Nagel – keinerlei weitere Verletzungen aufweist. Dennoch sollten wir sichergehen.« Er setzte sich, stellte die Tasse ab und rieb sich den Nasensattel, während er seufzte. »Irgendwie hab ich das Gefühl, wir laufen permanent gegen eine Wand.«

»Wir sollten an diesem Bakterium dranbleiben«, meinte Rokko. »Das ist meiner Meinung nach der vielversprechendste Ansatz. Es kann nicht viele Wege geben, da ranzukommen.«

Chris schüttelte den Kopf. »Das Gesundheitsamt ermittelt bereits in diese Richtung. Die sind auf diesem Gebiet kompetenter als wir. Außerdem glaube ich nicht, dass es so einfach ist. Der Täter spielt mit uns. Und er macht das so gut, dass er sich dabei ziemlich sicher fühlt. Möglicherweise ist der Kerl ein verkappter Biologe oder Chemiker und züchtet das Zeug selbst, wer weiß.«

»Ich denke nicht, dass das so einfach ist.«

»Warten wir ab, was Kolb und seine Leute herausfinden«, beharrte Chris. »Für uns wäre es viel wichtiger zu wissen, wer das Opfer war.«

»Die Identifizierung kann noch Tage, vielleicht sogar Wochen dauern. Wenn der Tote ein Obdachloser war, den niemand vermisst, werden wir es vielleicht nie herausfinden.«

»Ich weiß«, stimmte Chris ihm zu. »Wir sollten uns auf jeden Fall an die Medien wenden und ein Foto des Toten veröffentlichen. Die rennen unserer Pressestelle ohnehin seit gestern die Bude ein. Vielleicht kommen wir so auf seine Identität und dementsprechend über sein Umfeld an den Täter und sein Motiv heran. Ich denke nicht, dass er sich bei einer solchen Vorgehensweise sein Opfer willkürlich aussucht. Er will uns etwas mitteilen.«

»Du meinst also, wir sollen einfach dasitzen und Däumchen drehen?«, sagte Gerlach. »Ich dachte wir sind uns darüber einig, dass der Kerl weitermorden wird.«

Eine kurze Melodie erklang von Chris' Schreibtisch aus, die den Eingang einer Kurznachricht auf seinem Handy verkündete. Das Display zeigte eine fremde Nummer an. Und was die anhängende Nachricht offenbarte, ließ Chris' Magen schlagartig verkrampfen.

»Ich fürchte, er hat es bereits getan«, sagte er, während er auf sein Mobiltelefon starrte.

»Was meinst du?«, fragte Gerlach.

Chris hielt ihnen das Handy entgegen. Gebannt sahen die beiden auf die Botschaft, die auf dem Display prangte:

 


Selig Tag
kein Mondenschein.
Muss auf ewig
begraben sein.

 


Darunter war ein Foto angehängt. Es zeigte einen von Gras umgebenen Erdhügel, der einem Grab erschreckend ähnlichsah. Aus dem oberen Teil des Hügels ragte das Ende eines Kupferrohres. Etwa in der Mitte war ein runder Holzpfahl in die Erde getrieben worden. Die Ränder waren ausgefranst, was auf eine ziemliche Wucht der Schläge schließen ließ. Am oberen Ende des Pfahls war ein Nagel eingeschlagen. Daran hing ein toter Rabe.

»Verdammt«, flüsterte Rokko. »Glaubst du, wer immer da drin liegt, lebt womöglich noch?«

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, erwiderte Chris.

»Aber wozu dann das Rohr?«

»Ihr solltet euch lieber fragen, ob ihr irgendetwas auf diesem Foto erkennen könnt, das uns sagt, wo sich dieses Grab befindet.«

Beide betrachteten die Aufnahme ausgiebig.

»Nein, unmöglich.« Gerlach schüttelte den Kopf. »Viel zu wenig Anhaltspunkte. Das könnte in meinem Garten sein.«

»Es muss einen Hinweis geben«, fauchte Chris. »Er will uns etwas mitteilen. Also will er auch, dass wir dieses Grab finden!«

»Moment«, meinte Rokko und deutete auf das Display. »Die Handynummer des Absenders ist nicht unterdrückt.« Er sah zu Chris auf.

Der nickte ihm zu. »Trommel sofort Meißners Leute zusammen. Ich veranlasse augenblicklich eine Handyortung.«

 


Die Koordinaten führten sie zu einem Wiesengrundstück, nahe der Bundesstraße 327, im oberen Teil des Koblenzer Stadtwaldes. Das Handy, mit dem die Nachricht gesendet worden war, lag lose auf dem Pfahl, an dem auch der Vogel angebracht war. Mittlerweile hatte die Spurensicherung das Gelände weitläufig abgesperrt. Dienstfahrzeuge säumten die holprige Zufahrt zu beiden Seiten, und Meißners Leute suchten in ihren weißen Schutzanzügen den Boden um die ausgehobene Fundstelle ab. Als sie damit fertig waren, traten Chris und Rokko an den Rand des Grabes. Der Leichnam darin wurde ausgiebig fotografiert. Das Kupferrohr und der Pfahl waren mittlerweile entfernt worden, und die mit Erde verdreckten Augen des Toten starrten den wolkenlosen Himmel an, als wäre dort der Schrecken abgemalt, den er in seinen letzten Minuten durchlebt haben musste. In seiner Körpermitte klaffte ein durchgehendes, faustgroßes Loch. Darunter wurde das Dornenbett sichtbar, auf dem der Körper ruhte.

»Mein Gott, wer ist zu so etwas fähig?«, sagte Rokko.

»Ein ziemlich kranker Mann, würde ich sagen.« Uwe Meißner erhob sich, streifte sich die Latexhandschuhe von seinen zierlichen Händen und begrüßte die beiden Ermittler. »Und noch dabei ein verdammt kräftiger«, fügte er hinzu. »Selbst bei dem lockeren Boden dürfte es ihn einiges an Kraft gekostet haben, einen solchen Pfahl über einen Meter tief in die Erde und durch einen menschlichen Körper zu treiben. Allein das Ausheben der Grube muss ihn einige Zeit beschäftigt haben. Wir haben über eine halbe Stunde gebraucht, um den Leichnam freizulegen. Das alles spricht meiner Meinung nach für eine ziemliche Besessenheit des Täters.«

»Was hat Thielmann gesagt?«

Doktor Johann Thielmann war der örtliche Mediziner, der für ihre Behörde bei Tötungsdelikten zuständig war.

»Männliche Leiche, etwa einsachtzig, schätzungsweise Ende zwanzig. Thielmann hat in Anbetracht der Leichenflecke, der Körpertemperatur und unter der Berücksichtigung, dass der Körper unter der Erde gelegen hat, den Eintritt des Todes zwischen Mitternacht und zwei Uhr morgens festgelegt. Die Todesursache dürfte eindeutig sein.« Er deutete auf das Loch in dem Körper. »Der Pfahl ist im Bereich des Zwerchfells eingedrungen und hat einen Teil des Magens und das Rückgrat durchdrungen. Es dürfte ziemlich schnell gegangen sein, in Anbetracht der Todesangst, die das Opfer im Vorfeld verspürt haben muss. Es mutet beinahe wie ein Gnadenakt an.«

»Demnach war der Mann noch am Leben, als er begraben wurde«, schlussfolgerte Rokko.

»Davon können wir ausgehen«, meinte Meißner. »Der Arzt konnte keinerlei Anzeichen von Erstickung oder anderer Gewalteinwirkung feststellen. Bis auf das hier.« Er deutete auf einen rötlichen Fleck am Hals des Toten.

»Was ist das?«, fragte Chris, während er neben der Leiche in die Knie ging und die Stelle genauer betrachtete.

»Das sind leichte Verbrennungen, wie sie entstehen können, wenn Strom in den Körper eindringt.«

»Ein Elektroschocker?«

»Wäre möglich.«

Chris hielt einen Moment nachdenklich inne, während er die Grube musterte. »Das dürfte ihn nicht lange genug außer Gefecht gesetzt haben, um ihn hierher zu bringen und all das zu inszenieren«, schlussfolgerte er.

Meißner nickte. »Da Hände und Füße nicht gefesselt sind, ist er vermutlich anderweitig ruhiggestellt worden.«

»Mit K.o.-Tropfen?«

»Genaueres kann ich erst nach der Laboruntersuchung sagen. Auf jeden Fall war er bei Bewusstsein, als man ihn begraben hat. Die reichhaltigen Wunden, die die Dornen an seinem Rücken verursacht haben, deuten darauf hin, dass er zumindest versucht hat, sich aus dieser Lage zu befreien.«

Chris erhob sich und betrachtete Meißner. »Ist dir schon jemals etwas Vergleichbares untergekommen?«, fragte er.

Meißner spitzte nachdenklich die Lippen. Dann schüttelte er den Kopf »Nein. Und wenn ihr mich fragt, ist es völlig abwegig, einen Menschen auf solch eine Weise zu töten. Wisst ihr denn schon etwas über die Identität des Opfers?«

»Die Handynummer ist auf einen Daniel Nowak registriert, 27 Jahre, wohnhaft in Koblenz. Gerlach prüft den Namen in unserer Datenbank und durchsucht alle gängigen sozialen Netzwerke. Ich bin mir aber sicher, dass die besagte Person hier vor uns liegt.« Chris ging ein paar Schritte und sah sich um. »Du hast gesagt, der Tod sei zwischen Mitternacht und zwei Uhr morgens eingetreten«, wandte er sich an Meißner.

Der nickte.

»Das Foto, das der Täter mir vom Tatort geschickt hat, wurde aber bei Tageslicht aufgenommen.«

»Du meinst, der Kerl ist nochmal hierher zurückgekommen?«, fragte Rokko.

»Entweder das, oder er hat sich die ganze Nacht über hier aufgehalten.«

Meißner zuckte mit den Schultern. »Dazu kann ich euch noch nichts sagen. Aber wir untersuchen das Gebiet weiträumig. Sollten wir irgendwelche Spuren diesbezüglich finden, lasse ich es euch wissen.«

»Aber das ist doch verrückt«, sagte Rokko und zog einen Streifen Kaugummi aus der Jacke. »Weshalb sollte er das tun? Niemand hält sich unnötig lange an einem Tatort auf, schon gar nicht, wenn er so offen einsehbar ist.«

»Erstens«, entgegnete Chris, »haben wir es hier nicht mit einem gewöhnlichen Tätertyp zu tun. Und zweitens, wer hält schon Ausschau nach einem Erdhügel auf einer Wiese? Nachts verirrt sich niemand in diese Gegend, und der angrenzende Wald bietet genügend Deckung. Er hätte im Schutz der Dunkelheit durchaus die ganze Nacht hier verbringen können, ohne jemandem aufzufallen.«

Rokko schob sich den Kaugummi in den Mund und schüttelte den Kopf. »Das ergibt für mich keinen Sinn«, nuschelte er.

»Und genau deshalb passt es in das Schema des Täters«, sagte Chris. »Der Kerl spielt sein abartiges Spiel mit uns, und er kann sich durch unsere Ratlosigkeit dabei absolut sicher fühlen.« Chris ließ seinen Blick über das weitläufige Gelände gleiten. »Warum hier?«, ging er laut seinen Gedanken nach. »Ihm muss klar gewesen sein, dass es Tage hätte dauern können, bis jemand sich hierher verirrt. Genau das war der Grund, weshalb er uns mit der Nase darauf gestoßen hat. Er wollte, dass wir den Leichnam schnellstmöglich finden. Aber wieso dann hier?«

»Er brauchte Abgeschiedenheit, um das hier zu bewältigen.«

»Ja, aber das ist nicht der einzige Grund. So wie bei dieser Pestkapelle muss es auch zu diesem Tatort einen Bezug geben.«

»An deiner Stelle würde ich mich lieber fragen, weshalb er dir diese Botschaft geschickt hat?«

Chris verharrte einen Moment. In der Aufregung hatte er noch nicht darüber nachgedacht. »Mein Name ist während der Entführungssache vor zwei Jahren mehrfach in der Presse aufgetaucht, wie du weißt. Da dürfte es nicht schwer gewesen sein, eine Verbindung zu ziehen.«

»Und woher hat der Kerl deine Nummer?«

Chris schwieg einige Sekunden, in denen sich ein unbehaglicher Druck in seinem Magen aufbaute. »Die Nummer steht auf jeder meiner dienstlichen Visitenkarten«, sagte er.

»Dann solltest du gut überlegen, wem du die in letzter Zeit gegeben hast.«

Uwe Meißner trat einen Schritt auf die beiden Ermittler zu. Eine aufkommende Windböe ließ den weißen Overall wie ein loses Segel um seinen schlaksigen Körper flattern. »Das hier macht mir Angst«, sagte er und senkte dabei seine Stimme, als dürfe es niemand anderes hören. »Zwei Tote in zwei Tagen. Wenn das eine Art Schema ist, dürften wir es bald schwer haben, mit unserer Arbeit hinterherzukommen.«

Chris fuhr sich durch seine Haare, die über der Stirn deutliche Geheimratsecken aufwiesen. »Glaub mir, wir ermitteln in alle Richtungen, aber ich kann nun mal keine Ergebnisse erzwingen. Wir brauchen mehr Zeit.«

»Die wird dieser Irre euch nicht geben«, beharrte Meißner. »Ich will euch nicht in eure Arbeit pfuschen, aber ich finde, ihr solltet euch allmählich über die Gründung einer Sonderkommission Gedanken machen. Das hier wird nicht aufhören.«

Chris nickte. »Ich werde nachher mit dem Alten darüber reden, obwohl Deckert sicher nicht begeistert sein wird. Ihm fehlt jetzt schon an jeder Ecke Personal.«

»Ihm wird keine andere Wahl bleiben«, sagte Meißner. »Der öffentliche Druck ist jetzt schon ziemlich groß, und die Medien werden ihr Übriges dazu beitragen.«

Mit beiden Punkten kannte Chris sich bestens aus. Und er konnte nicht von sich behaupten, dass sie ihm sonderlich behagten.

»Wir lassen den Leichnam jetzt abtransportieren«, sagte Meißner. »Meinen Bericht bekommt ihr morgen.«

Chris nickte. »Danke, Uwe.«

Nachdem Meißner sich entfernt hatte, gingen auch Chris und Rokko in Richtung ihres Dienstfahrzeugs.

»Er hat recht, und das weißt du«, sagte Rokko.

Chris kommentierte diese Aussage mit Schweigen.

»Wir sollten uns schnellstens an die Presse wenden und um Hinweise aus der Bevölkerung bitten. Vielleicht hat doch jemand irgendetwas gesehen.«

»Ja«, erwiderte Chris nachdenklich. »Ich weiß auch schon, wer dafür infrage kommt.«

KAPITEL 6

 

 

 


Marc Bondek saß in der Redaktion des Rheinanzeigers, als ihn die Anforderung erreichte. Bereits am Vortag hatte er versucht, sich an die Story mit dem Pesttoten zu hängen. Doch die Polizei hatte eine Nachrichtensperre verhängt, sodass Bondek nur die offiziellen Presseinformationen zur Verfügung standen, die nur vage auf die Ereignisse eingingen. Umso mehr erfreute ihn das Gespräch mit seinem Chefredakteur Rainer Klemens, in dessen Verlauf er ihm mitteilte, dass die zuständige Kripo ihn angefordert hatte. Offensichtlich brauchten sie Hinweise, und er sollte sie ihnen beschaffen, indem er über den Fall berichtete, was ihm vermutlich eine Schlagzeile auf der Titelseite garantierte. Keine halbe Stunde nach dem Anruf klopfte Bondek an Chris' Bürotür im Präsidium.

»Kommissar Bertram? Marc Bondek vom Rheinanzeiger.«

Chris erhob sich von seinem Schreibtisch und schüttelte Bondek die Hand. »Es freut mich, dass Sie meiner Bitte so schnell nachkommen konnten.«

»Es liegt in der Natur meines Berufes, neugierig zu sein. Und in diesem Fall ist meine Neugier ziemlich groß.«

Chris musterte den Mann. Er hatte auffallend dunkle Haare und ein breites, markantes Gesicht. Chris schätzte ihn auf Mitte dreißig. In Bondeks wöchentlicher Kolumne hatte er einmal gelesen, dass sein Vater polnischer Abstammung war. Seine Mutter hatte amerikanische Wurzeln. Eine ungewöhnliche Mischung.

»Nehmen Sie Platz«, sagte Chris. »Meine Kollegen ermitteln momentan auswärts in dem Fall. Wir sind also ungestört.«

Bondek ließ seinen Blick über Chris‘ Schreibtisch gleiten, der unter einer Schicht aus Berichtsmappen und Fotos begraben war, bevor er sich auf einen der Stühle setzte.

»Bitte entschuldigen Sie das Durcheinander«, sagte Chris, »aber wie Sie sich vorstellen können, bricht im Moment einiges auf uns ein, und unsere Abteilung ist ziemlich unterbesetzt. Anscheinend hält die Obrigkeit es nicht für nötig, unser Personal aufzustocken.«

»Vermutlich müssen sie Steuergelder einsparen, um den Flughafen in Berlin fertigzustellen«, meinte Bondek trocken.

Chris musste schmunzeln. Anscheinend hatte er sich in Bondek nicht getäuscht.

»Darf ich fragen, warum Sie ausgerechnet mich angefordert haben?«

Chris lehnte sich in seinen Stuhl zurück. »Mir hat Ihre Berichterstattung über diesen Entführungsfall sehr gut gefallen.«

Bondek überlegte einen Moment. »Die Tochter dieses reichen Unternehmers? Das muss schon über ein Jahr zurückliegen.«

»Fast zwei, um genau zu sein«, sagte Chris.

»Tragische Geschichte.«

»Ja. Sie haben damals kritisch, aber sachlich darüber berichtet. Im Gegensatz zu einigen Ihrer Kollegen, die uns Versagen vorgeworfen haben, weil die Täter nicht gefasst werden konnten.«

»Die Chancen dafür standen ja auch denkbar schlecht, da der Vater des Entführungsopfers sich erst nach der Geldübergabe an Sie gewandt hat.«

»Dennoch erwartet die Öffentlichkeit von uns, dass wir derartige Verbrechen aufklären.«

Bondeks Lippen verkrümmten sich zu einem Grinsen. »Sie wissen so gut wie ich, dass die Öffentlichkeit sich im Grunde einen Dreck dafür interessiert. Dafür ist sie viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Die Leute haben es doch längst verlernt, sich für ihre eigenen Überzeugungen starkzumachen. Niemand geht heute mehr auf die Straße, um für etwas einzustehen. Dafür haben die meisten es sich viel zu bequem in ihren Designersesseln und Mittelklassewagen gemacht.«

»Das klingt nicht sehr optimistisch.«

»Ich habe durch meine Arbeit den Anspruch, Realist zu sein. Ansonsten würde ich Romane schreiben.«

Chris nickte. Er hätte keine bessere Wahl treffen können. »Wie viel wissen Sie über die Sache?«

»Nur das, was alle wissen«, erwiderte Bondek. »Es gab jemanden, der an der Pest gestorben ist. Und dass die Behörden Entwarnung für die Bevölkerung gegeben haben.«

»Das stimmt auch soweit. Nur ist der Sachverhalt leider ein wenig komplizierter.«

»Das ist mir klar, sonst wäre ich wohl kaum hier.« Bondek zog einen Stift und einen Notizblock aus der Tasche seiner Jeansjacke und legte beides vor sich auf den Tisch. »Was genau ist denn nun da unten in Sayn passiert?«

 


Nachdem Chris die Ereignisse in knappen Worten erläutert hatte, legte Bondek den Stift beiseite, der die ganze Zeit hektisch über seinen Notizblock gekreist war.

»Das ist die abgefahrenste Geschichte, die ich je gehört habe«, kommentierte er die Ausführungen. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, da will mich jemand verschaukeln.«

»Nein, die Sache ist leider sehr ernst. Wir müssen schnellstens die Identität des Opfers herausfinden, um an weitere Ermittlungsansätze zu gelangen.« Chris wühlte in der Schicht auf seinem Schreibtisch und zog eine Mappe daraus hervor, die er aufgeklappt vor Bondek ablegte. »Denn es gibt bereits einen zweiten Toten. Wir haben seine Leiche heute Morgen auf einem Feld am Rande des Stadtwaldes gefunden.«

Bondek blätterte die Mappe durch, in der sich Tatortfotos von dem Grab und der freigelegten Leiche befanden. Er schluckte, als er die Aufnahmen betrachtete.

»Ich habe vorhin mit meinem Chef gesprochen. Die Gründung einer Sonderkommission steht kurz bevor. Ohne Frage haben wir es mit einem sadistischen Killer zu tun, der nicht davor zurückschreckt, seine Opfer zu quälen. Und er legt dabei ein Tempo vor, das uns zu denken gibt. Zwei Tote in zwei Tagen. Wenn das so weitergeht, könnte das die Bevölkerung auch trotz ihrer Trägheit in Aufruhr versetzen.«

»Was wissen Sie über den Kerl?«

»Leider so gut wie nichts«, erwiderte Chris. »Wir haben zwar Ansatzpunkte für unsere Ermittlungen, aber die bringen uns im Moment nicht weiter. Wir sind auf Hilfe angewiesen.«

»Was kann ich tun?«, fragte Bondek, dessen Augen noch immer auf die Bilder gerichtet waren.

»In erster Linie nicht detailliert über das berichten, was Sie gerade sehen. Ich will nicht, dass zum jetzigen Zeitpunkt Einzelheiten über die beiden Fälle an die Öffentlichkeit dringen. Ebenso wenig möchte ich, dass eine Verbindung zu den beiden Morden hergestellt wird, jedenfalls noch nicht.«

»Wenn der Kerl tatsächlich weitermordet, wird sich das kaum verhindern lassen«, gab Bondek zu bedenken.

»Das ist mir klar«, sagte Chris, »aber im Moment würde der Begriff Serientäter die Leute nur verängstigen. Wir haben bis jetzt kein gesichertes Motiv für die Morde. Daher können wir nicht einmal vermuten, nach welchen Kriterien der Mörder sich seine Opfer aussucht.«

»Dennoch finde ich, man sollte die Menschen warnen.«

»Ist es Ihre Ansicht als Realist, die Sie dazu veranlasst?«

»Es ist mehr die Ansicht meines Gewissens«, beharrte Bondek.

»Also gut«, gab Chris sich geschlagen. »Meinetwegen schreiben Sie etwas darüber, dass wir die beiden Fälle auf Gemeinsamkeiten überprüfen, und rufen Sie die Leute zur Vorsicht auf, solange wir nichts Genaueres wissen.« Er tippte auf eines der Fotos. »Aber ich will nichts über geheimnisvolle Botschaften oder einen irren Vogelmann lesen, klar?«

Bondek nickte. »Das ist aber nicht alles, oder?«

»Nein.« Chris lehnte sich in seinen Stuhl zurück. »Was den zweiten Mord angeht, hoffen wir dringend auf Hinweise aus der Bevölkerung. Der Todeszeitpunkt liegt zwischen Mitternacht und zwei Uhr morgens. Aufgrund der Spurenlage muss der Mörder sich längere Zeit am Tatort aufgehalten haben. Dieser liegt zwar abseits der normalen Wege, ist aber auf eine gewisse Entfernung gut einsehbar. Daher erhoffen wir uns, dass dort jemand etwas gesehen hat, zumal der Täter zumindest kurzfristig mit Licht gearbeitet haben muss.«

Chris machte eine Pause, in der er beobachtete, wie Bondek eifrig Notizen machte.

»Da wäre noch etwas«, meinte er.

Bondek sah erwartungsvoll von seinen Notizen auf.

»Wir haben an beiden Tatorten einen toten Vogel gefunden.«

»Einen Vogel?« Die Haut an Bondeks Stirn wölbte sich. »Läuft der Kerl deshalb in einem Kostüm herum?«

»Darüber können wir noch nichts sagen. Bei den Tieren handelt es sich um Raben. Sie scheinen für den Täter von Bedeutung zu sein. Da Raben unter die Wildtiere fallen, und nicht ohne Genehmigung gehalten oder aufgezogen werden dürfen, wäre es für uns wichtig zu erfahren, wer auf irgendeine Art Kontakt mit diesen Tieren hat.«

Bondek schrieb erneut auf seinem Notizblock. »Das dürfte es schwierig machen, die beiden Fälle auseinanderzuhalten.«

»Deshalb möchte ich, dass Sie sich mit diesem Detail vorerst ausschließlich auf den zweiten Mord konzentrieren, von dem wir wissen, wer das Opfer ist.«

»Ich höre«, meinte Bondek, dessen Stift über einem neuen Blatt in Stellung ging.

»Der Mann heißt Daniel Nowak, 27 Jahre und vorbestraft. Hat fünf Jahre wegen schwerer Vergewaltigung abgesessen und während der Zeit einen Drogenentzug gemacht. Ist vor drei Monaten rausgekommen. Seitdem hat er in einem Restaurant als Kellner gearbeitet. Der Besitzer und ein weiterer Angestellter haben uns bestätigt, dass Nowak am gestrigen Abend das Restaurant um kurz vor Mitternacht verlassen hat. Sein Auto stand noch auf dem angrenzenden Parkplatz. Er muss also dort seinem Mörder begegnet sein.«

Nachdem Bondek die Daten notiert hatte, betrachtete er den topographischen Ausdruck, der den Bildern in der Mappe beilag und die landschaftlichen Begebenheiten um den Fundort des Leichnams abbildete. »Wenn er so schnell mordet, muss ihm daran liegen, dass man seine Taten möglichst zeitnah entdeckt.«

»Davon gehen wir auch aus. Zumal er uns am Morgen nach der Tat selbst zu der Stelle geführt hat.« Chris erzählte ihm von der Nachricht und der darauf erfolgten Handyortung, die sie schließlich zu dem Grab geführt hatte.

»Es scheint Sie nicht zu beunruhigen, dass Ihnen ein sadistischer Killer eine Nachricht auf Ihr Handy schickt.«

»Dieses Verhalten beweist mir, dass dieser Kerl auf eine Konfrontation mit uns aus ist. Er will uns auf diesem Weg herausfordern. Dabei fühlt er sich in jeder Hinsicht überlegen und will uns dies demonstrieren, indem er mit seinen Taten prahlt. Aus diesem Grund bitte ich Sie, nur über das Nötigste in diesem Fall zu berichten, da ich diesem Mistkerl nicht auch noch eine öffentliche Plattform für sein krankes Ego zur Verfügung stellen will.«

Bondek nickte verhalten. »Dann haben die Orte und Taten eine Bedeutung für ihn?«

»Das haben sie für einen Mörder meistens«, sagte Chris. »Im simpelsten Fall ist es nur der Hass auf das Opfer, den seine Tat widerspiegeln soll. Hier scheint es zumindest so, als will der Täter uns noch auf andere Aspekte seiner Motive hinweisen. Zumindest haben wir seit heute einen ersten Anhaltspunkt, was das betrifft.«

»Und der wäre?«

Chris tippte auf die Stelle des Ausdrucks, die den Fundort der zweiten Leiche markierte. »Genau an dieser Stelle hat Nowak vor fünf Jahren die achtzehnjährige Lara Neuroth vergewaltigt. Meine beiden Kollegen befragen in diesem Moment die Eltern des damaligen Opfers.«

KAPITEL 7

 

 

 


»Sie werden verstehen, dass ich nicht allzu viel Mitleid für diesen Abschaum empfinde«, erwiderte Werner Neuroth, nachdem Rokko ihn von Nowaks Tod unterrichtet hatte. »Dieser Mann hat das Leben meiner Tochter zerstört.«

»Das können wir nachempfinden«, meinte Rokko und warf einen kurzen Blick zu Gerlach, der neben ihm im Wohnzimmer der Neuroths stand. »Dennoch werden Sie verstehen, dass wir Ihnen aufgrund der Umstände seines Todes ein paar Fragen stellen müssen.«

»Nein, das verstehe ich nicht!«, schnaufte Werner Neuroth erbost. Er war Anfang fünfzig. Unter seinem lichten Haar zeichnete sich die Röte auf seiner Kopfhaut ab, die der Zorn über diese Befragung dort verursachte. Seine Frau Heike ergriff vorsorglich seine Hand und versuchte, ihn mit dieser Geste zu besänftigen, was ihr jedoch nicht gelang. »Ich will nicht, dass meine Tochter noch einmal mit dieser abscheulichen Sache konfrontiert wird. Haben Sie eine Ahnung, was sie durchgemacht hat?«

»Wir haben zuvor die Akte zu dem Fall studiert«, antwortete Rokko zurückhaltend.

»Dann wissen Sie ja, was dieser Bastard meinem Mädchen angetan hat. Das Einzige, was sein Ableben in mir auslöst, ist die Möglichkeit, dass ich allmählich wieder an Gott glaube. Denn dieser Kerl hat den Tod verdient, und ich pisse auf sein Grab, hören Sie?«

»Werner, bitte beruhige dich«, ging seine Frau Heike dazwischen. Sie war etwas jünger und hatte schulterlange Haare. »Diese Leute tun nur ihre Arbeit.«

»Ja, und sie reißen damit Wunden wieder auf, die noch immer nicht verheilt sind«, schnaufte Werner Neuroth wütend.

»Wir haben durchaus Verständnis für Ihre Situation«, schaltete sich Gerlach in die Diskussion ein, »aber Sie müssen auch verstehen, dass da draußen ein Verrückter herumläuft, der Menschen bestialisch ermordet und damit noch mehr Familien wie Ihre ins Unglück stürzt. Und wir sind uns ziemlich sicher, dass er damit weitermachen wird, wenn wir ihn nicht daran hindern. Und das können wir nur tun, wenn wir jedem Hinweis nachgehen. Daher würde ich Sie bitten, sich zu beruhigen.«

Werner Neuroth tauschte einen hitzigen Blick mit den beiden Beamten aus. Dann drehte er sich zu seiner Frau, die ihm aufmunternd zunickte. Daraufhin ergriff er ihre Hand, und die Härte, die sich seit dem Eintreffen der beiden Ermittler in sein Gesicht gemeißelt hatte, nahm weichere Züge an. »Na schön«, meinte er. Aus seiner sonoren Stimme war jeglicher Übermut gewichen. »Stellen Sie Ihre Fragen, solange Sie Lara da raushalten.«

Rokko nickte. »Ich denke, das lässt sich einrichten. Wo waren Sie zwischen elf Uhr gestern Abend und zwei Uhr heute Morgen?«

»Glauben Sie mir, ich habe hundert Mal mit dem Gedanken gespielt, diesen Nowak umzubringen. Und egal wie er gestorben ist, meine Methode hätte garantiert länger gedauert. Aber ich habe in den letzten Jahren genug damit zu tun gehabt, diese Familie zusammenzuhalten. Wir haben alles dafür getan, um diesen Mistkerl aus unserem Leben zu verbannen, doch seine Tat verfolgt uns bis heute. Und wer immer ihn auf dem Gewissen hat, den werde ich sicher nicht dafür verdammen. Aber ich bin nicht derjenige, den Sie suchen. Ich wusste ja nicht einmal, dass Nowak wieder draußen war.«

»Dann dürfte es Ihnen ja nichts ausmachen, meine Frage zu beantworten«, beharrte Rokko.

»Ich arbeite jetzt seit dreißig Jahren als Hausmeister in der hiesigen Grundschule«, sagte Neuroth. »Und wie jeder normale Mensch, der einer ehrbaren Arbeit nachgeht, lag ich um diese Zeit im Bett. Wie Sie verstehen, kann das nur meine Frau bezeugen.«

Rokko betrachtete die Wände des Wohnzimmers. Die Tapete wies ein altmodisches Blütenmuster auf, und an einer Stelle unter der Deckenleiste begann sie sich abzulösen. Anscheinend verhielt es sich mit Handwerkern ähnlich wie mit Gastronomen: Zu Hause wurde nur selten gekocht. »Kommen wir auf Ihre Tochter zurück.«

»Sie haben versprochen, sie da rauszuhalten«, fuhr Neuroth ihn an, sodass seine Frau ihm sogleich am Arm zog.

»Das werden wir«, sicherte Rokko erneut zu. »Allerdings bräuchten wir ein paar Angaben über ihren Freundeskreis. Gibt es da jemanden, der sich womöglich rächen wollte, für das, was man Ihrer Tochter angetan hat?«

Werner Neuroth seufzte entmutigt. »Freundeskreis?«, fragte er in einem Tonfall, der vermuten ließ, dass so etwas im Leben seiner Tochter keine Rolle mehr spielte. »Die einzige Person, die seit diesem Abend vor fünf Jahren einem Freund am nächsten käme, ist Laras Psychologe, Doktor Matthias Herrmann, bei dem sie nach wie vor in Behandlung ist. Sie lebt zurückgezogen, ist die meiste Zeit oben in ihrem Zimmer. Vor zwei Jahren hat sie eine Ausbildung zur Tierpflegerin begonnen. Ihre Liebe zu Tieren ist das Einzige, was ihr noch von Bedeutung ist. Ich glaube, sie hat jegliches Vertrauen in die Menschen verloren. Und ich kann es ihr nicht einmal verübeln.«

»Aber es hat doch sicher vor der Tat jemanden in ihrem Leben gegeben.« Rokko war klar, wie abgeklärt sich das anhören musste. Doch so sehr ihn das Schicksal von Lara Neuroth berührte, sie brauchten neue Ermittlungsansätze. Und sie brauchten sie schnell. »Ich meine jemand, dem sie nahe gestanden hat.«

»Das hat es«, erklang eine zarte Stimme im Hintergrund.

Alle Blicke wandten sich in Richtung des Türrahmens. Dort stand eine junge Frau. Sie trug graue Arbeitskleidung über ihrer üppigen Figur. Obwohl sie mindestens zwanzig Kilo mehr wog, als auf dem Foto in ihrer Akte, und sie ihre Erscheinung verändert hatte, erkannte Rokko sofort, dass es sich bei der Frau um Lara Neuroth handelte. Ihre ehemals blonden Haare waren mittlerweile getönt, und sie trug sie auffällig nach vorn gewellt, sodass sie einen Großteil ihres Gesichts verdeckten. Aufgrund der Verletzungen, die durch zahlreiche Aufnahmen in ihrer Akte dokumentiert waren, konnte Rokko sich ausmalen, weshalb sie ihr nach wie vor hübsches Gesicht unter dieser Frisur versteckte. In Laras Augen spiegelte sich etwas Trauriges wider, dennoch wirkten sie gefasst und vermittelten so etwas wie Selbstsicherheit. Und doch war auf den ersten Blick zu erkennen, dass dort ein junger Mensch stand, den das Schicksal viel zu früh ereilt hatte.

»Lara!«, rief ihre Mutter aufgebracht. »Wir haben dich nicht nach Hause kommen hören. Wie lange stehst du schon da?«

»Lange genug«, erwiderte die junge Frau.

»Herrgott«, zischte Werner Neuroth wütend. »Ich hoffe, Sie haben, was Sie wollen.«

»Schon gut, Papa«, schlichtete die junge Frau. »Es ist in Ordnung.« Sie ging auf die beiden Ermittler zu. »Nowak ist also tot«, fasste sie nüchtern zusammen.

Rokko nickte verhalten. »Er wurde vergangene Nacht brutal ermordet.«

»Und Sie glauben, dass jemand, den ich einmal gekannt habe, dafür verantwortlich sein könnte?«

»Es besteht immerhin die Möglichkeit. Vielleicht ein Freund aus dieser Zeit.«

»Ich war damals erst achtzehn und ziemlich naiv, wollte nur meinen Spaß haben.«

Wer in dem Alter will das nicht, dachte Rokko.

»Dementsprechend gestaltete sich auch mein Freundeskreis«, fuhr Lara fort. »Für die meisten war ich nur wichtig, solange ich die lustige Lara war, die für jeden Spaß zu haben ist. Probleme und Ängste sind in diesem Alter nicht besonders angesagt. Die meisten meiner sogenannten Freunde haben mich noch nicht einmal angerufen, nachdem sie gehört hatten, was mir zugestoßen ist.«

»Und der Rest?«

»Es gab da eine Freundin, mit der ich noch regelmäßig Kontakt hatte, aber mit der Zeit hat auch das aufgehört. Und dann war da noch Andy.«

Rokko wurde hellhörig. »Wer?«

»Andreas Hastrich. Ist mit mir zusammen zur Schule gegangen. Ich glaube, er war verknallt in mich, auf seine eigene, ganz spezielle Art. Er hat mich ein paarmal im Krankenhaus und anschließend hier besucht. Eigentlich war er ganz in Ordnung, aber irgendwie komisch drauf.«

»Inwiefern?«

»Na ja, er war ziemlich verschlossen und politisch sehr engagiert. Hing öfter mit ein paar Typen rum. Sie waren alle ein paar Jahre älter und gehörten wohl einer Wählergruppe an. Keine Ahnung, was das für Leute waren. Er hat nicht viel darüber gesprochen.«

Gerlach machte sich Notizen.

»Haben Sie noch Kontakt zu ihm?«, fragte Rokko.

»Das reicht jetzt!«, schaltete sich Neuroth dazwischen.

»Papa, bitte!«, wehrte Lara diesen erneuten Versuch ihres Vaters ab, sie zu schützen. »Ich muss lernen, damit klarzukommen.«

Missmutig zog er sich zurück.

Lara atmete durch. »Nein, ich habe schon seit Jahren zu niemandem mehr Kontakt«, sagte sie, und ihre Stimme wurde brüchiger. »Ich habe mich immer mehr aus meinem früheren Alltag zurückgezogen, da mir Daniel Nowak mein altes Leben unwiederbringlich zerstört hat.«

Nach kurzem Zögern strich sie sich mit der linken Hand die Haare aus dem Gesicht. Zwei Narben zogen sich durch die Haut ihrer Wange bis an ihr linkes Ohr, das auf den ersten Blick sehr natürlich wirkte. Mit einem Geräusch, das an das Öffnen eines Druckknopfes erinnerte, löste sie die Silikonprothese aus der in der Haut implantierten Halterung. Weitere Narben wurden darunter sichtbar, die sich wie ein Strudel um die schmale Öffnung des Gehörgangs formierten.

»Ich hatte damals noch kürzere Haare und habe mich nicht mehr in die Schule getraut, weil ich die entsetzten Blicke nicht hätte ertragen können. Erst zwei Jahre und einige Operationen später konnte ich mich dazu durchringen, meinen Abschluss nachzuholen. Ich werde für den Rest meines Lebens an das erinnert werden, was Daniel Nowak mir angetan hat. Und an meine naive Dummheit, die mich in dieser Nacht in sein Auto hat einsteigen lassen, nachdem ich ihn in einer Diskothek kennengelernt hatte. Wir waren beide angetrunken, und er ist mit mir zu diesem Waldstück gefahren. Wir haben geredet, Alkohol getrunken und einen Joint geraucht. Irgendwann bekam ich Kopfschmerzen und wollte nach Hause. Doch er grinste nur und sagte, das wäre nicht nötig, denn er habe Schmerztabletten dabei. Er reichte mir eine der Pillen, und ich nahm sie, ohne darüber nachzudenken oder mich darüber zu wundern, weshalb er selbst eine schluckte. Ich ekle mich vor mir selbst, wenn ich darüber nachdenke, wie dumm ich damals gewesen bin. Kurz darauf war ich völlig weggetreten. Ich kann mich kaum daran erinnern, wie er mich das erste Mal vergewaltigt hat. Ich kann nicht einmal sagen, wie lange es gedauert hat.« Eine Träne lief ihre Wange hinab und blieb kurz an einer der Narben hängen, bevor sie zu Boden tropfte. »Es sind nur Bruchstücke, die sich in meinem Kopf festgesetzt haben. Ich bemerkte plötzlich, dass ich nackt war. Und ich erinnere mich an seinen Atem, der nach Alkohol und Zigaretten gerochen hat, während er keuchend auf mir lag. Und an die Schmerzen in meinem Unterleib. Irgendwann ist es mir gelungen, mich von ihm loszureißen und aus dem Auto zu flüchten. Ich erinnere mich an das warme Blut, das mir die Beine hinunterlief, als ich nackt durch die Dunkelheit geirrt bin. Ich war mir sicher, dass er mir nicht gefolgt ist, dass er endlich genug von mir hatte. Doch meine Gegenwehr hat ihn nur noch mehr angestachelt.« Lara schluchzte, und eine weitere Träne floss ihre entstellte Wange herab. »Auf diesem Feld hat er mich schließlich eingeholt.« Ihre Stimme zitterte, und sie kämpfte jetzt um ihre Beherrschung. »Er hat mich zu Boden geworfen und ist wie ein Tier über mich hergefallen. Er hat mich geschlagen, mich gekratzt und mir im Drogenrausch das linke Ohr abgerissen, während er immer wieder in mich eingedrungen ist und mir meine Vagina zerfetzt hat, sodass ich heute keine Kinder mehr bekommen kann. Ich weiß nicht, was er in seinem Wahn alles in mich hineingesteckt hat, aber es war sicher nicht nur sein verdammter Schwanz!«

Ein Wimmern erklang im Hintergrund, und Rokko registrierte aus den Augenwinkeln heraus, dass dieser Laut von Heike Neuroth kam. Sie hatte ihr Gesicht auf die Brust ihres Mannes gedrückt, der ihren schluchzenden Körper umarmte. Auch ihm standen die Tränen in den Augen. Rokko wollte etwas sagen, doch er brachte kein Wort heraus. Er hatte den Tathergang bereits dem Polizeibericht entnommen, doch die Einzelheiten aus der persönlichen Sicht der Betroffenen geschildert zu bekommen, und das Leid des Opfers und der Angehörigen hautnah zu spüren, war eine Erfahrung, auf die einen kein Bericht dieser Welt vorbereiten konnte.

»Irgendwann habe ich das Bewusstsein verloren«, fuhr Lara nach eindringlichen Sekunden des Schweigens fort. »Vermutlich hat mir dieser Umstand das Leben gerettet, denn anscheinend ging Nowak davon aus, dass ich tot war. Ansonsten hätte er mich sicher nicht dort liegenlassen. Obwohl ich nicht glaube, dass er noch rational denken konnte, als er endlich mit mir fertig war. Höchstwahrscheinlich wäre ich verblutet, wenn mich in den Morgenstunden nicht ein verirrter Spaziergänger dort gefunden hätte. Ich habe Jahre gebraucht, um diesem Menschen dafür dankbar sein zu können, dass er den Notarzt verständigt und mir das Leben gerettet hat. Denn ich habe mir immer wieder gewünscht, ich wäre auf dieser Wiese gestorben.« Sie zog ein Taschentuch aus ihrer Arbeitshose, die nach Tiergehege roch, und schnäuzte ihre zierliche Nase. »Ich habe Daniel Nowak irgendwann vergeben, nicht zuletzt, weil es auch meine eigene Schuld und Dummheit war, die dazu geführt hat. Dass er tot ist, tut mir nicht leid, aber ich freue mich auch nicht darüber, denn es ändert nichts an meiner Situation. Ich will das alles nur vergessen, und das hier hilft mir ein wenig dabei.« Sie hielt das künstliche Ohr in die Höhe und atmete durch, als könne sie dadurch diese Erinnerungen abstreifen. Dann befestigte sie die Prothese mit einer gekonnten Bewegung, die verdeutlichte, dass dies eine vertraute Handlung für sie war, wieder in der Verankerung schräg unter ihrer Schläfe und strich sich die Haare nach vorn. »Diese Maskerade erlaubt es mir, mich im Spiegel betrachten zu können, ohne vor mir selbst zu erschrecken. Und sie ermöglicht es mir auch, ein wenig von der lebenslustigen Frau wiederzuentdecken, die ich einmal gewesen bin. Und obwohl ich genau weiß, dass es diese Frau nicht mehr gibt, tue ich mein Bestes, aus ihren Fehlern zu lernen und mich nicht mehr Situationen auszusetzen, die mein eigenes Leben oder das meiner Familie zerstören könnten. Es tut mir leid, dass wir Ihnen nicht helfen konnten, aber Sie müssen Ihren Täter woanders suchen.«

Mit diesen Worten ging sie zu ihren Eltern, die sie weinend in die Arme schlossen.

KAPITEL 8

 

 

 


»Langsam fange ich an zu verstehen, weshalb jemand einen solchen Hass auf Nowak gehabt hat«, kommentierte Chris den Bericht seiner beiden Kollegen.

»Ja«, erwiderte Rokko, der mittlerweile wieder auf einem Kaugummi kaute, »aber ich denke, wir können den Vater oder ein anderes Mitglied der Familie als Täter ausschließen. Diese Leute wollen nur vergessen.«

»Was ist mit diesem Freund, wie heißt er doch gleich?«

»Andreas Hastrich«, las Gerlach von seinen Notizen ab. »In unserer Datenbank taucht der Name nicht auf. Zum Glück hatte Lara Neuroth aber noch ein Klassenfoto, auf dem auch Hastrich abgebildet ist. Ich habe daraufhin die gängigen sozialen Netzwerke durchsucht und ihn auf Facebook gefunden. Laut seinen dortigen Angaben studiert er zurzeit Politikwissenschaft an der Uni in Regensburg.«

»Hast du das überprüft?«

»Natürlich«, sagte Gerlach. »Die Uni hat bestätigt, dass er dort eingeschrieben ist. Auf die offizielle Bestätigung des dortigen Einwohnermeldeamtes warte ich noch. Es scheint allerdings, als könnten wir ihn als direkten Täter ausschließen.«

»Überprüf diesen Hastrich trotzdem, nur um sicherzugehen.«

»Was hat deine Unterredung mit diesem Reporter ergeben?«, fragte Rokko.

»Bondek wird noch heute einen Artikel über die beiden Fälle verfassen, wobei ich ihn gebeten habe, die Morde vorerst unabhängig voneinander zu behandeln. Auch wird er ein Foto des ersten Opfers veröffentlichen und um Hinweise bitten. Der Artikel wird noch in der morgigen Ausgabe erscheinen.«

»Das ist doch schon mal was«, meinte Rokko. »Ich denke, das dürfte uns weiterbringen.«

»Wir werden sehen«, sagte Chris, der Rokkos Optimismus nur bedingt teilte. Erfahrungsgemäß ergaben solche öffentlichen Aufrufe zwar viele Hinweise, die in den meisten Fällen jedoch zu nichts führten und ihnen eine Menge unnötiger Arbeit verschafften, die sie zusätzlich aufhielt. Einzig die Tatsache, dass die Morde nicht schon Wochen oder Monate zurücklagen, stimmte ihn ein wenig hoffnungsvoller. »Vielleicht bringt uns ja die Aussage des Vorsitzenden von diesem Heimatverein weiter. Er wollte doch morgen hierherkommen, richtig?«

Rokko nickte.

»Na schön«, meinte Chris und sah auf die Uhr. »Es ist schon spät, machen wir für heute Feierabend.«

KAPITEL 9

 

 

 


Es war kurz nach 21 Uhr, als Rebecca ihre Wohnungstür im dritten Stock erreichte. Sie stellte die Einkaufstüte ab und kramte den Wohnungsschlüssel aus der Uniformhose, als sie hinter sich auf der Treppe ein Stöhnen hörte. Erschrocken fuhr sie herum und legte ihre Hand instinktiv auf das Halfter der Dienstpistole, bis sie Chris erblickte. Er saß an die Wand gelehnt auf dem Treppenabsatz, der in die oberen Stockwerke führte, und blickte verschlafen in ihre Richtung.

»Himmel nochmal, hast du mich erschreckt«, entfuhr es ihr erleichtert. »Was machst du hier im Treppenhaus?«

Chris strich sich die Müdigkeit aus den Augen und dehnte seinen verspannten Nacken. »Hab auf dich gewartet«, erwiderte er benommen.

»Wie lange sitzt du schon hier?«

Chris schielte auf die Uhr. »Seit etwa einer Stunde«, gähnte er. »Muss eingeschlafen sein. Hatte keine Lust auf meine einsame Wohnung.«

»Ach, und da hast du dir gedacht, du setzt dich stattdessen in mein einsames Treppenhaus.« Sie schüttelte den Kopf. »Männer!«, meinte sie scherzhaft.

»Ich hatte einfach Sehnsucht nach dir.« Er schlang seine Arme um ihre Taille. »Dachte nicht, dass du so spät nach Hause kommst. Hattest du nicht Frühdienst?«

»Schon«, erwiderte sie und strich ihm sanft durch das Haar. »Aber zwei Kollegen sind krank, und wir hatten heute reichlich zu tun. Anschließend war ich noch einkaufen.«

»Was war denn los?«, fragte Chris.

»Nur das Übliche«, meinte sie. »Zwei Verkehrsunfälle, randalierende Jugendliche und diese Einbruchsserie ... Du kennst das ja.«

Ja, er kannte das. Und er wusste auch, wie gefährlich es sein konnte. Er sah zu ihr auf. »Versprich mir, dass du da draußen vorsichtig bist.«

Sie löste sich behutsam aus seiner Umarmung und setzte sich neben ihn auf die Treppe. »Was ist los?«, fragte sie besorgt. »Ist es der Fall, an dem ihr arbeitet?«

Er nickte. »Ich will, dass du auf dich aufpasst, hörst du?«

In diesem Moment schaltete sich das Treppenlicht aus, und die einsetzende Dämmerung warf nur noch Schatten durch die Etagenfenster.

»Komm«, sagte sie und zog ihn hoch, »lass uns reingehen. Dort kannst du mir alles erzählen.«

 


»Es muss schrecklich sein, so zu sterben«, kommentierte Rebecca Chris' Ausführungen zu dem Toten, den sie am Morgen gefunden hatten. Sie standen in der Küche, während Rebecca zwei Weingläser aus einem der Hängeschränke holte und sie auf dem Esstisch abstellte. »Aber wenn ich bedenke, was er dieser Frau angetan hat, empfinde ich seinen Tod beinahe als gerechte Strafe.«

Chris, der dabei war, die Rotweinflasche zu entkorken, hielt plötzlich inne. »Ist das dein Ernst?«

Sie sah ihn mit ihren braunen Augen bestürzt an. »Ich meine damit nicht, dass ich seine Ermordung rechtfertige«, fügte sie hinzu. »Aber du musst zugeben, dass es auch etwas Ausgleichendes hat.«

Chris betrachtete sie stumm.

Sie seufzte, während sie seinen Blick erwiderte. »Ich kenne den Fall Lara Neuroth«, räumte sie ein. »Damals war ich noch in meiner Anfangszeit. Zwei meiner Kollegen haben den Fall bearbeitet. Ich habe den Bericht gelesen und die Fotos der Verletzungen gesehen. Und zum ersten Mal in meinem Leben empfand ich Hass gegen einen Menschen. Ich war dabei, als Nowak kurz darauf verhaftet wurde, hielt meine Dienstpistole auf ihn gerichtet, während zwei meiner Kollegen ihn überwältigt und ihm Handschellen angelegt haben. Und für einen kurzen Moment habe ich mir tatsächlich gewünscht, er würde sich wehren und ich könnte abdrücken.« Sie atmete durch. »Das hat mir Angst gemacht. Und seitdem habe ich beschlossen, solche Dinge nicht mehr an mich heranzulassen.« Unsicher sah sie zu ihm auf. »Bitte entschuldige, wenn ich dich ein wenig schockiere«, meinte sie. »Aber wenn es um Vergewaltigung geht, sehen wir Frauen das vermutlich ein wenig radikaler.«

Chris nickte verhalten. Dann senkte sich sein Blick wieder auf die Flasche in seiner Hand. »Im Grunde gebe ich dir recht«, meinte er und drückte den Hebel des Korkenziehers herunter. »Vermutlich will ich es mir nur nicht so offen eingestehen.«

»Dich bedrückt immer noch dieser Entführungsfall, richtig?«

Chris nickte erneut und füllte die Gläser. »Ich frage mich die ganze Zeit, wie ich mich verhalten hätte, wenn wir diese brutalen Schweine damals gefasst hätten. Vermutlich wäre ich in einer ähnlichen Situation wie du bei Nowak gewesen. Denn nachdem ich den Zustand der jungen Frau gesehen hatte, da verspürte ich einen unbändigen Hass auf die Täter. Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wenn ich ...« Er stellte die Flasche zurück auf den Tisch, als seine Hand zu zittern begann. Rebecca ergriff sie.

»Hey«, sprach sie ihm aufmunternd zu. »Wir sind nicht weniger fehlbar als das Gesetz, das wir vertreten. Und gerade weil wir das tun, haben wir das Recht, es gelegentlich infrage zu stellen.«

Wieder nickte er. »Ich weiß, es ist nur ...« Er überlegte, ob er ihr von der Nachricht auf seinem Handy erzählen sollte.

»Was?«, fragte Rebecca.

Er zögerte. »Nichts. Versprich mir bitte einfach, dass du auf dich aufpasst. Es laufen eine Menge Verrückte da draußen rum, und ich will nicht, dass du bei einem deiner nächsten Einsätze zu viel riskierst. Nicht solange wir diesen Kerl nicht geschnappt haben. Ich möchte mir nicht einmal vorstellen, was wäre, wenn dir etwas passiert.«

Sie drückte ihren Zeigefinger auf seinen Mund. »Hey, ihr seid für die schweren Jungs zuständig, schon vergessen?« Sie reichte ihm das Glas und stieß mit ihm an. »Mach dir keine Sorgen, ich bin ein großes Mädchen.«

Das hat Lara Neuroth auch von sich gedacht, ging es Chris durch den Kopf, als er an seinem Glas nippte.

»Der Wein ist lecker, nicht wahr?«

Chris verzog ein wenig das Gesicht. »Ziemlich trocken, wenn du mich fragst.«

Rebecca seufzte. »Ich dachte mir schon, dass ich dich nicht mehr bekehrt kriege.« Sie stellte das Glas auf der Anrichte ab und wühlte in der Einkaufstüte. Schließlich zog sie ein Sechserpack Bier daraus hervor und stellte es vor Chris auf den Tisch. »Besser?«

Chris strahlte. »Viel besser!« Er öffnete eine der Flaschen und trank einen ausgiebigen Schluck.

»Ich hoffe, es ist noch kalt.«

»Perfekt!« Er lehnte sich zufrieden gegen die Anrichte. Einige Sekunden lang beobachtete er Rebecca schweigend dabei, wie sie aus ihrem Glas trank.

»Was ist?«, fragte sie beinahe schüchtern.

»Ich ...«, begann er zögerlich. »Ich liebe dich!«

Einen Moment lang hingen ihm die Worte wie ein trockener Kloß im Hals, während er Rebecca anstarrte und auf eine Reaktion von ihr wartete. Sie erwiderte seinen Blick, ohne eine Emotion preiszugeben.

Zu früh. Das war verdammt nochmal zu früh, du Idiot! Womöglich hast du damit alles zerstört.

Rebecca stellte das Glas beiseite und öffnete eine der Schubladen. Kurz darauf hielt sie den Ersatzschlüssel für die Wohnung in der Hand. »Ich dich doch auch, du liebenswerter Blödmann«, hauchte sie ihm ins Ohr und steckte den Schlüssel in seine Hosentasche. »Damit du nächstes Mal nicht wieder im Treppenhaus warten musst.« Sie lächelte ihn an. Dann küsste sie ihn innig.

Chris umarmte sie und hatte Angst, sie jemals wieder loslassen zu müssen. »Hab ich dir eigentlich schon gesagt, dass Frauen in Uniformen mich tierisch antörnen?«

»Dann sollte ich sie also künftig auch im Bett tragen.«

»Nein«, flüsterte er. »Ohne wärst du mir bedeutend lieber.«

»Tja, dann solltest du jetzt wohl schleunigst dafür sorgen, dass du mich aus diesem Ding herauskriegst.« Sie packte ihn freudig lächelnd am Kragen seines Hemdes und zog ihn in Richtung Schlafzimmer.

 


Es war bereits nach ein Uhr nachts, als Chris auf den Wecker sah. Rebecca schlief neben ihm, während er noch wach lag. Seine Gedanken und die Geschehnisse ließen ihn nicht zur Ruhe kommen. Immer wieder sah er das Grab und die Leiche darin, ging die Fakten durch und suchte nach Ansätzen. Nur das leise Schnarchen von Rebecca durchbrach gelegentlich seine Gedanken. Irgendwie passte es zu ihrer forschen Art. Und während er diese wunderschöne Frau neben sich betrachtete, überkam ihn sogleich wieder die Angst, sie verlieren zu können. Zu seiner geschiedenen Frau hatte er kaum noch Kontakt. Sie war wenige Monate nach der Trennung weggezogen. Wie er gehört hatte, war sie wieder im Begriff zu heiraten. Die letzte Beziehung, die er seitdem mit einer Frau eingegangen war, hatte abrupt geendet, als er eines Abends erneut zu einem Einsatz musste. Sie hatte ihm eine SMS auf sein Handy geschickt, mit der sie ihn zum Teufel wünschte. Anscheinend gehörte es heutzutage zum guten Ton, eine Beziehung auf diese Weise zu beenden. Das altbewährte »Ich muss mit dir reden« hatte scheinbar ausgedient. Es war zu persönlich, zu kompliziert geworden. In der modernen Welt war es nicht nur normal, Beziehungen aus der Ferne zu führen, sie wurden auch auf diese Weise beendet. Eine Welt, mit der Chris nichts anzufangen wusste und in der er sich zunehmend fremd fühlte. Rebecca war da eine Ausnahme. Sie suchte den persönlichen Kontakt, sprühte vor Leben und Optimismus. Und ihr unerschütterlicher Glaube an die Gerechtigkeit hatte beinahe etwas Patriotisches. Es beängstigte ihn, wie sehr er sich zu ihr hingezogen fühlte. Und diese Angst machte ihn wütend. Warum konnte er sich nicht einfach daran erfreuen und es genießen?

Weil du nicht schnelllebig genug für diese Zeit bist.

Er sah aus dem Fenster auf seiner Seite des Bettes. Die Nacht war sternenklar, doch ihre Dunkelheit verursachte eine unterschwellige Bedrohung, die ihn wieder an die Toten denken ließ. Würde er am nächsten Morgen erneut an einen Tatort gerufen?

Es dauerte eine weitere Stunde, bis Chris über diesem Gedanken endlich eingeschlafen war.

KAPITEL 10

 

 

 


In dieser Nacht war das dunkle Auto das einzige auf dem abgelegenen Parkplatz des Aussichtspunkts. Die steinerne Säule der Gedenkstätte reckte sich erhaben in den nächtlichen Himmel. Dahinter tat sich ein fantastischer Ausblick auf das nächtliche Rheinufer von Koblenz auf. Vom Fußballstadion bis zur historischen Festung Ehrenbreitstein schlängelten sich die Lichter der Straßen und Gebäude entlang des Flusses.

Ingo Kretschmer hatte in diesem Moment wenig Sinn für die Schönheit der ihn umgebenden Landschaft. Zu sehr war er damit beschäftigt, mit seiner Hand die Regionen unter der Bluse seiner Kommilitonin Saskia Meurer zu erkunden. Er hatte viel in den heutigen Abend investiert: Essen, Kino, Szenelokal. Und schließlich eine Fahrt an diesen abgelegenen Ort, wo die romantische Aussicht ihn seinem angestrebten Ziel näher bringen sollte. Es war spät geworden, und vermutlich würden sie beide ihren morgigen Studiengang in Computervisualistik verschlafen, doch das störte Ingo nicht weiter. Alles lief perfekt. Auf dem Rücksitz stand eine Kühlbox mit halbgeleertem Sekt und Bier. Aus den Lautsprechern drang die Musik von Linkin Park, und seine Hand arbeitete sich bereits bis zum Gürtel von Saskias Jeans vor. Geschickt führten seine Finger die Schlaufe durch die Schnalle und begannen sogleich damit, die Knopfleiste ihrer Hose zu öffnen, bis Saskia erschrocken zusammenfuhr.

»Was ist?«, fragte Ingo. »Hab ich dir wehgetan?«

»Hast du das gehört?«, erwiderte sie. Sie richtete sich auf und strich ihr rötliches Haar hinters Ohr.

»Was soll ich gehört haben?«, fragte er mit einer gewissen Enttäuschung in seiner Stimme, als sie damit begann, ihre Bluse zuzuknöpfen.

»Es hat sich angehört wie ein Schrei.«

»Komm schon«, meinte er, »außer uns ist niemand hier.«

»Aber ich habe jemanden gehört«, beharrte sie.

»Was immer du gehört hast, es war nur irgendein Tier.« Er ließ seine Hand an ihrem Bein hinaufgleiten. »Entspann dich.«

Energisch stieß sie ihn weg. Ihre klaren Augen funkelten wütend. »Ich weiß, was ich gehört habe! Behandle mich bitte nicht wie ein dummes Schulmädchen.«

»Schon gut«, sagte er und hob beschwörend die Hände, während er sich wieder aufrecht setzte.

»Dreh die Musik leiser!«

Was immer du willst, dachte er genervt. Hier läuft heute sowieso nichts mehr. Er drehte den Knopf des Autoradios zurück, und Chester Benningtons Gesang verstummte.

Fast im selben Moment zerriss ein markerschütternder Schrei die Stille.

»Mein Gott«, entfuhr es ihm. »Du hast recht.«

Sie betrachtete ihn auf eine Art, die ihm zu verstehen gab, dass daran nichts Ungewöhnliches war, verkniff sich jedoch einen Kommentar. In diesem Fall hätte sie sich lieber geirrt. »Was sollen wir jetzt tun?«, fragte sie nervös.

Ingo raufte sich seine kurzen dunklen Haare und überlegte einen Moment, als der Schrei in einiger Entfernung ein weiteres Mal erklang. »Also gut«, meinte er, beugte sich auf Saskias Seite und kramte hektisch im Handschuhfach herum. Kurz darauf lehnte er sich zurück und hielt eine LED-Stablampe in der Hand. »Ich geh nachsehen, was da los ist.«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739398259
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Oktober)
Schlagworte
Stigma Thriller Seelenblut Koblenz Bertram Todesplan Westerwald Mittelalter Krimi Ermittler

Autor

  • Michael Hübner (Autor:in)

Bereits in jungen Jahren hat Michael Hübner Bücher verschlungen, die eigentlich nicht für seine Altersklasse geeignet waren. Das Genre des Thrillers hat es ihm schon immer angetan. So war es nur eine Frage der Zeit, bis daraus eine Leidenschaft wurde, die ihn schließlich selbst zum Schreiben solcher Geschichten animierte. Dabei vermischt er in seinen Büchern gekonnt Fiktion mit aktuellen, brisanten Themen und erzeugt atemberaubend spannende Thriller, die den Leser nachdenklich zurücklassen.