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Mondteufel

von Astrid Korten (Autor:in)
349 Seiten

Zusammenfassung

+++NEUERSCHEINUNG+++NEUERSCHEINUNG VOLLMOND: Zeit für Angst, für Verlogenheit, für Lügen, für Mord. Zeit für den Mondteufel. Stellas Bruder Jordi wird im Alter von acht Jahren ermordet. Kurz nach dem Mord werden drei Jugendliche verhaftet und aufgrund eines Indizienprozesses zu zehn und acht Jahren Haft verurteilt. Dreißig Jahre später erleidet die 42-jährige Stella eine Hirnblutung und wird in die Rehabilitationsklinik Euphoria verlegt. Wochen vergehen, an die sich Stella nach dem „Aufwachen“ nicht erinnern kann. Sie erfährt, dass ihre Mutter gestorben ist und ihr Mann sie urplötzlich verlassen hat. Auch geschehen seltsame Dinge in der Klinik. Sie fragt sich, wem sie noch trauen kann, seitdem ihr Gedächtnis sie im Stich lässt. Langsam beschleicht Stella das ungute Gefühl, dass nicht alle Veränderungen auf ihre Hirnblutung zurückzuführen sind …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vollmond

Eine endlose Leere

hat Tausend Gedanken,

mit Mängeln behaftet.

Vollmond

Zeit für Angst,

für Verlogenheit,

für Lügen, für Mord.

Zeit für den Mondteufel.

Über das Buch: MONDTEUFEL

Stellas Bruder Jordi wird im Alter von acht Jahren ermordet. Kurz nach dem Mord werden drei Jugendliche verhaftet und aufgrund eines Indizienprozesses zu zehn und acht Jahren Haft verurteilt.

Dreißig Jahre später erleidet die 42-jährige Stella eine Hirnblutung und wird in die Rehabilitationsklinik Euphoria verlegt. Wochen vergehen, an die sich Stella nach dem „Aufwachen“ nicht erinnern kann. Sie erfährt, dass ihre Mutter gestorben ist und ihr Mann sie urplötzlich verlassen hat. Auch geschehen seltsame Dinge in der Klinik.

Sie fragt sich, wem sie noch trauen kann, seitdem ihr Gedächtnis sie im Stich lässt.

Langsam beschleicht Stella das ungute Gefühl, dass nicht alle Veränderungen auf ihre Hirnblutung zurückzuführen sind …

MONDTEUFEL

Sternzeichen Schütze

Das silberne Licht des Mondes umhüllt mich mit einem geheimnisvollen Schleier. Die Dächer, die sein Licht widerspiegeln, schimmern weiß. Ähnlich gespenstisch sehen auch die Bäume aus, die Zweige erinnern mich an die knöchernen Finger einer alten Frau.

Dem Vollmond werden besonders Kräfte nachgesagt. Er entflamme Liebende und sorge für Fruchtbarkeit, doch seine Macht soll Menschen auch unruhig und aggressiv machen. Möglich, dass daraus der Mythos vom wütenden Werwolf entstand. Immer wieder wird das Phänomen des Vollmondes auf unterschiedliche Weise beschrieben, von der Mondkrankheit über jaulende Wölfe im Wald, deren spitze Nasen auf die leuchtende Kugel am Himmel gerichtet sind, bis hin zum unruhigen Verhalten von Kindern und Erwachsenen. Einige nennen es Aberglaube, andere nehmen es ernst und treffen auf dieser Grundlage weitreichende Entscheidungen.

Seit meiner frühesten Kindheit habe ich mich bei Vollmond wohl gefühlt. Schon immer übte der Mond in seiner vollen Pracht eine ganz besondere Faszination auf mich aus. Ich bin bei Vollmond ausgeglichener, selbstbewusster, ruhiger, ich habe eine Mondseele. Ich möchte die ganze Nacht draußen verbringen und endlos auf dieses besondere Licht blicken, welches mit keinem anderen Leuchten verglichen werden kann. Ich lasse sein Licht tief auf mich einwirken, ein Licht, das mich wach hält, mir Ehrfurcht einflößt, mich tröstet, wärmt und mir Mut gibt. Manchmal mache ich einen Vollmondspaziergang durch die Straßen und die anfangs eher gespenstisch anmutende Stimmung wechselt innerhalb kurzer Zeit durch die tiefe Verbundenheit mit dem Mond. Eine solche Gelegenheit eignet sich wunderbar, um einen Plan in die Tat umzusetzen. Auch dazu dient die Kraft des Mondes. Was ich mir vorgenommen habe, kann also nur bei Vollmond gelingen.

Heute Nacht ist Vollmond.

Aber heute Nacht ist es dafür noch zu früh.

Ich stecke voller Marotten, da bin ich mir sicher. Aber was sind schon Marotten? Tierkreiszeichen finde ich beispielsweise schon mein ganzes Leben lang interessant. Faszinierend. Fesselnd. Dabei sollte ich besser an anderen Dingen Gefallen finden. Aber es ist, wie es ist.

Ich verabscheue Schmutz und hasse unsaubere Gedanken. Mir wird übel beim Anblick von fettigen Fingerabdrücken an Türen, einer Explosion aus silbrigen Staubpartikeln auf dem Fernseher oder Essensresten in einem Kochtopf. Ich hasse den Unrat, den Hausmüll, faulendes Obst oder den Schimmel im Keller.

Ich liebe die Farbe Weiß. Weiß ist die Farbe des Todes.

Der Tod ist rein, weshalb ich mich auch nicht vor Leichen ekle. Ein toter Körper ist nur eine Hülle. Ich kümmere mich stets sehr sorgfältig um einen Toten und lasse mir Zeit. Ich spreche mit ihm, schaue ihn mir genau an, atme den Duft des Todes ein oder schnuppere das köstliche Leben, bevor ich es auslösche. Selbst, wenn ich junges Leben vor mir habe, verspüre ich diesen verräterischen Drang zu töten. Es ist eine zwanghafte, heimtückische Begierde, die mich erfasst, sobald sich mir jemand in den Weg stellt. Diese Lust zwingt mich zu Taten, über die ich später nicht mehr nachdenken möchte.

Mein neues Opfer wird ein im neunten Tierkreis Geborener sein: ein Schütze. In diesem Jahr stand der Mond der Schützen bis Oktober im Jupiter, was Wohlstand, Erfolg und Anerkennung bedeutet. Und zu allem Überfluss hat sich die finanzielle Situation der Schützen in der zweiten Jahreshälfte auch erheblich verbessert. Ich hatte nicht so viel Glück wie die Schützen dieser Welt. Der Schütze glaubt, ihm könne nichts passieren …

Ich hätte gern den Mut eines Schützen, sein Leben-macht-Spaß-Talent, sein unbesiegbares Charisma, seine optimistische Lebenseinstellung und sein unerschütterliches Selbstvertrauen. Der Schütze nimmt sein Ziel ins Visier, spannt den Bogen und schießt den Pfeil geradewegs dorthin. Treffer! Ja, so sind sie: stets treffsicher, zielstrebig und feurig.

Ich hasse angeberische, realitätsfremde Schützen.

Diese Woche wird es passieren. Schließlich haben wir Vollmond. Ich habe eine Schützin im Visier und mir unzählige Szenarien ausgedacht, aber sie alle verworfen, wegen Nichtdurchführbarkeit, zu hohem Risiko, falschem Zeitpunkt und idiotischer Angst.

Ich hatte nicht den Mut, war nicht in der richtigen Stimmung. Und es sollte eine saubere Angelegenheit werden. Es muss sauber sein, kein Tropfen Blut darf fließen bei Vollmond.

Am Mittwoch wird es geschehen. Am Mittwoch nehme ich mir die alte Frau vor. Ihr Mond steht im Jupiter, hat sie gesagt und behauptet, 2020 sei ihr Glücksjahr. Doch das Jahr ist fast vorbei, das Glück verbraucht.

Ich sehne mich wieder nach der Ruhe in meinem Kopf.

Kapitel 1

Jeder Mensch erhält nach seiner Geburt einen Namen und mit ihm fängt eine Geschichte an. Der Name ist der erste Hinweis auf unsere Identität. Er sagt uns, ob wir ein Mann oder eine Frau sind, woher wir kommen und welche Richtung wir einschlagen sollen. Wir verbinden Namen mit gewissen Eigenschaften. Geben wir einer Person den Namen „Leo“ oder „Lion“ verbinden wir ihn mit der Macht und der Stärke eines Löwen. Selbst das Böse hat zahlreiche Namen, wie Satan, Luzifer oder Mephisto. In meinem Fall hat das Böse viele Namen: Lüge, Betrug, Rache, Mord.

Ein Name gibt aber niemals Auskunft darüber, wer wir sind. Nur der Mensch ist zu einer narrativen Geschichte fähig. Nur er denkt in Ursache und Wirkung, wir sehen komplexe Zusammenhänge und haben unsere Gesellschaft auf der Grundlage dieser Gesetze aufgebaut. Wir gehen zur Schule, lassen uns ausbilden, um zu einer Person zu werden, die wir sein möchten. Ein Mensch wird durch eine Geschichte geprägt, die mit ihm erzählt wird, die er selbst erzählen will. Er reflektiert seine Existenz in sie und eines Tages fügt sich alles zusammen. Aber es kann auch anders kommen und das Kartenhaus seiner Geschichte stürzt ein.

Die Geschichte, die mit unserer Geburt beginnt, nimmt ihren Verlauf in unserem Geburtsort. Wir werden von Menschen geprägt, die uns geboren haben, und zu welcher Zeit. Vor allem aber werden wir von den Menschen geprägt und angespornt, die in unser Leben treten. Unsere Familie, unsere Freunde, unsere Feinde. Menschen, die wir beeindrucken und von denen wir geliebt werden wollen. Und jene Menschen, die wir lieben. Sie ändern unseren Weg und wir tun es für sie. Sie sind Passanten oder immerwährende Begleiter.

Wir passen unsere Persönlichkeit ständig der Geschichte an, die wir erzählen wollen. Wir alle leben mit erfundenen und geträumten Identitäten. Diese fiktive Identität treibt uns voran, hält uns wach und macht uns hungrig. Denn morgen beginnt ein neues Leben, weil wir jeden Tag hoffen, dass aus uns eine neue Person wird – jemand, der wir wahrscheinlich nie sein werden. Morgen wird es geschehen, morgen beginnt ein neues Kapitel.

Es geschah plötzlich. Von einem Tag auf den anderen wurde ich ein anderer Mensch. Und von einem Tag auf den anderen wurde ich durch eine Hirnblutung aus dem Leben gerissen, und als ich wieder aufwachte, fegte das Böse wie ein heftiger Sturm durch mein Leben.

Ich will nicht behaupten, dass es keine Vorzeichen gegeben hätte. Ich habe sie nur nicht gesehen. Ähnlich erging es mir bei meiner Erkrankung. Ich erinnere mich, dass ich einige Tage zuvor manchmal ratlos mitten im Wohnzimmer stehenblieb, als wüsste ich nicht mehr, was ich als Nächstes tun sollte, als wäre mir plötzlich etwas entfallen. Manchmal stockte ich auch mitten im Satz und verlor meine Gedanken. Dann suchte ich nach einem Wort und traf auf ein anderes. Oder traf auf nichts als Leere, auf eine Falle, die ich umgehen musste. Sekunden später waren die Welt und mein Leben wieder in Ordnung.

Und dann kam jener Herbsttag, der sich durch nichts Ungewöhnliches ankündigte. Vorher ging es. Danach ging nichts mehr. Ich erinnere mich an mehrere Pieptöne, die plötzlich die Stille in meinem Kopf störten, dann hörte ich den Klang einer Trommel. Die Paukenschläge lösten den Tinnitus ab und wurden ohrenbetäubend laut. Ich begriff, dass ich die Kellertreppe im Haus meiner Mutter nicht hinuntergehen durfte und die Blumenvase immer noch holen konnte, wenn sich in meinem Kopf wieder Ruhe eingestellt hatte. Doch in der nächsten Sekunden löste sich meine Welt in nichts auf, und jetzt bin ich offenbar aufgewacht.

Meine Augen sind starr auf die gegenüberliegende weiße Wand gerichtet, aber meine Gedanken sind weit jenseits der Helligkeit.

Ich sehe große bunte Kreise auf weißem Hintergrund, mein Blick hinter einem unsichtbaren Schleier, in dem mein Verstand sich als Gefangener wiederfindet.

Ich atme ein, aber mein Zwerchfell blockiert. Ich schließe die Augen und konzentriere mich auf meine Umgebung, zwinge mich, aus dem Nebel hervorzutreten, der parasitäre Gedanken in meinen Geist gewebt hat. Ausatmen. Den Gedankennebel vertreiben.

Als Erstes nehme ich Pieptöne wahr. Dann ist da das leise Surren eines anderen Gerätes. Schließlich dringt der Duft von Tee in meine Nase. Ausatmen. Den Gedankennebel vertreiben. Ich öffne die Augen. Es hat funktioniert. Die bunten Kreise auf der weißen Wand haben die Form eines Bildes angenommen: Eine zarte Blumenwiese, die den Frühling ankündigt.

Ich blicke zur Seite. Der Monitor neben meinem Bett zeigt die ruhige Verlaufskurve meiner Herzfrequenz, kein hektisches Stakkato.

Ich bin nicht mehr im Haus meiner Mutter. Ich sitze auf einer Bettkante und eine junge Frau in hellblauer Schwesterntracht fragt mich, ob ich noch eine Tasse Tee möchte. Ein zarter Duft umgibt sie, der mich an Maiglöckchen erinnert. Ich glaube, ich mag Maiglöckchen, aber sicher bin ich mir nicht.

Ich schaue mich um und entdecke neben meinem Bett eine Gehhilfe. Offenbar bin ich in einem Krankenhaus und die junge, dunkelhaarige Frau an meinem Bett ist vermutlich eine Krankenschwester. Aber wieso bin ich hier? Ist Julian in der Nähe? Hat meine Mutter mich hierher gebracht? Ich schlucke.

„Möchten Sie noch eine Tasse Tee, Stella?“, fragt die junge Frau noch einmal und legt ihre Hand auf meine Schulter.

Unsere Blicke kreuzen sich. „Ich mag keinen Tee“, antworte ich.

Jetzt legt sie ihre Hand vor den Mund und lächelt spitzbübisch. „Sie mögen keinen Tee mehr? Aber wie ist das nur möglich?“

Vielleicht träume ich nur?

„Sie meinen es ernst, nicht wahr? Ich bin überrascht, denn seit Sie hier sind, haben Sie jeden Tag Tee getrunken.“ Wieder ein verschmitztes Lächeln.

Ich blicke mich nervös um. Rechts von mir ist ein großes Fenster, links eine Tür. Habe ich tatsächlich jeden Tag in diesem Zimmer Tee getrunken? Um wie viele Tage geht es denn hier? Vielleicht sollte ich das einfach nicht alles für bare Münze nehmen.

Die hübsche Krankenschwester schenkt mir eine weitere Tasse Tee ein.

Ich mag wirklich keinen Tee! Ich möchte einen Kaffee!

Aber ich sollte mich jetzt wohl besser beherrschen. Irgendetwas ist passiert, und ich werde schon herausfinden, was es sein könnte. Ich fange von vorne an. Das machen Julian und ich auch immer, wenn wir miteinander streiten. Dann kappt einer von uns den Streit und schlägt vor, von vorn anzufangen. Für gewöhnlich bin ich das.

Noch einmal, los geht's! Vielleicht hilft es, wenn ich eine Geste mache, während ich sie um etwas bitte. Dieses junge Ding im gestreiften Blauweiß hat vermutlich wenig Erfahrung mit Menschen, die nach längerer Zeit wieder aufwachen. Mir fehlen ein paar Stunden, das ist mir jetzt klar, und währenddessen wurde ich offenbar hierher gebracht. Ob in meinem Kopf etwas passiert ist? Ich taste vorsichtig meinen Hinterkopf, dort, wo jene Trommelschläge waren. Keine kahlen Stellen, auch keine Verbände. Also keine Wunde am Kopf. Glück gehabt. Dennoch herrscht Chaos im Oberstübchen.

„Erinnern Sie sich, was passiert ist?“, fragt sie freundlich und lächelt mich wieder an. In ihrem Gesichtsausdruck liegt echte Zärtlichkeit. Nicht das übliche gespielte Mitgefühl oder der eine peinlich berührte Blick einer Pflegekraft.

Ich zögere. Sie spricht weiter, aber ich habe mich längst geistig ausgeklinkt, einen unsichtbaren Punkt gesetzt. Irgendwann komme ich wieder aus meiner Gedankenblase. Ich senke den Blick und frage mich, wie wohl ihr Name ist.

„Ich werde jetzt Dr. Bremen rufen.“ Sie schaut auf ihre Uhr. „Ich glaube, er hat seine Visite auf Station E beendet. Warten Sie bitte einen Moment.“ An der Tür dreht sie sich noch einmal um. „Sie wissen doch noch, wer ich bin?“

Ich zucke mit den Schultern.

„Leonie, Ihre Betreuerin. Bis gleich, Stella.“

Sie kennt meinen Namen.

Schwer atmend strecke ich die Hand nach der Wand aus. Keine großen bunten Kreise. Nur das leuchtende Weiß des Todes, dem ich entkommen bin.

Kapitel 2

Ich erinnere mich. Mein Name ist Stella Hoffmann. Vor fast 42 Jahren gaben ihn mir meine Eltern: Ida und Erik Hoffmann. Sie hatten sich den Namen ein paar Monate vor meiner Geburt überlegt, als sie erfuhren, dass ich ein Mädchen war.

„Wenn du ein Junge gewesen wärst“, sagte meine Mutter, als ob es eine echte Option gewesen wäre, „wenn du ein Junge gewesen wärst, hätten wir dich Thomas genannt. Oder Alexander.“

Leonie kennt also meinen Namen. Was weiß sie sonst noch? Habe ich mich bei ihr bedankt? Danke für den Tee, obwohl ich ihn nicht mag. Danke für ihr Sich-um-mich-kümmern. Ein echtes Danke. Als Ausdruck meiner Anerkennung. Ich habe es ihr gewiss schon gesagt.

Betreuerin? Warum sagt sie nicht einfach Krankenschwester? Wie lange bin ich denn schon hier? Welches Datum haben wir heute? In welchem Krankenhaus bin ich untergebracht? Alles ist hier so unwirklich. Ich sehe mich um. Auf der Fensterbank liegt eine Zeitschrift. Wenn ich mich nicht täusche, ist es ein Klatschblatt, das Titelblatt ist ein Hochglanzfoto von Meghan und Harry und Baby Archie.

Beim Aufstehen wird mir sofort schwindelig. Ich halte mich am Bett fest und gehe ganz langsam zum Fenster, was sich nicht als einfach erweist. Der Schwindel zwingt mich, mich wieder aufs Bett zu setzen. Mein Kopf hämmert, dröhnende Kopfschmerzen foltern mich. Ich schließe kurz die Augen und versuche, meine Atmung zu beruhigen.

Eine frühe Erinnerung blitzt auf. Ich höre die Stimme meines achtjährigen Bruders Jordi: ‚Darf ich bei dir schlafen, Stella? Lässt du das Licht wieder an? Bleibst du bei mir? Kannst du die Tür offenlassen? Bitte?‘

Ich lächle. Jordis Stimme ist eine zugleich schöne und eine traurige, schmerzliche Erinnerung. ‚Können wir beide zusammen frühstücken? Stella, hast du Angst? Weißt du, wo mein Kindergarten ist? Und du lässt bestimmt das Licht an? Bringst du mich ins Bett? Mami ist krank.‘

Oh Jordi …

Leonie betritt in Begleitung eines kleinen Mannes mein Zimmer, sie holen mich in die Gegenwart zurück. „Hey Stella, da bin ich wieder“, sagt sie.

Wieso wieder?

Der Mann kommt mit ausgestreckter Hand auf mich zu. „Ich denke, dass Sie soweit sind und wissen wollen, was mit Ihnen passiert ist. Ich bin Felix Bremen. Wir haben uns schon einmal gesehen, aber bis zum heutigen Tag haben sie mir noch keine Fragen gestellt. Ich fand es sinnvoller zu warten, bis Sie ganz bei uns sind. Übrigens nennen mich alle hier beim Vornamen. So fällt es etwas leichter, sich weniger förmlich zu unterhalten. Sind Sie einverstanden?“

Ich nicke. Bremen … Zwerg würde zu ihm passen. Felix Zwerg. Das hätte mir gefallen.

„Gut. Es hat eine Weile gedauert, aber jetzt sind Sie ja wieder da, Stella. Seit Sie hier sind, haben Sie praktisch wie ein Autopilot reagiert. Jetzt scheinen Sie Ihre Umgebung und das Geschehen um Sie herum wieder bewusst wahrzunehmen.“

Wovon spricht dieser Mann? Ich frage mich, was ich in einer Autopilotphase wohl angestellt haben könnte.

„Wissen Sie, wo Sie sind, Stella?“, fragt Felix.

„In … in einem Krankenhaus?“, antworte ich zögerlich.

Felix beugt sich zu mir herüber. „Sie wurden vor fünf Wochen in der Universitätsklinik operiert und haben dort zwei Wochen verbracht. Sie hatten nach einem Aneurysma eine Hirnblutung. Das Aneurysma wurde durch eine Vene aus Ihrer Leiste behoben. Nach der Operation waren Sie schnell wieder bei Bewusstsein. Sie reagierten zwar auf Anweisungen, aber Sie schienen nicht wirklich aufzuwachen. Sie konnten mit Stimulationen nicht gut umgehen und lehnten alles ab, was mit fester Nahrung zu tun hatte. Sie wollten nur trinken und infolgedessen bekamen sie flüssige Nahrung. Deshalb sind Sie körperlich auch jetzt noch sehr schwach. Ihr behandelnder Arzt hat entschieden Sie für eine Weile in einem Pflegeheim unterzubringen. Und hier sind Sie nun, in der Rehabilitationsabteilung des Pflegeheims Euphoria. Verstehen Sie, was ich Ihnen sage, Stella?“

Lastendes Schweigen breitet sich aus.

Felix sieht mich an. „Was bedrückt Sie, Stella?“

„Ich weiß nicht. Das alles macht mir Angst“, antworte ich leise.

„Verstehe. Können Sie sich an irgendetwas erinnern?“

Ich lege meine linke Hand auf die Stelle am Kopf, wo das Poltern zum ersten Mal auftrat.

„Ah, Sie erinnern sich also an den Moment, als es passierte. Hatten Sie Kopfschmerzen?“

„Ja … Aber Freddy war damals noch nicht da.“ Ich klammere mich noch fester an das Bett, als würde es unter meinem Gewicht schwanken, aber vielleicht verliere ich auch gerade den Boden unter den Füßen. „Da waren zuerst Paukenschläge.“

Felix nickt zufrieden. „Freddy?“

„Dieses Hämmern vergleiche ich mit einem Straßenarbeiter, der mit einem Schlagbohrer mein Hirn bearbeitet. Ich nenne ihn Freddy.“

Er schmunzelt. „Sie haben also ein Hämmern wahrgenommen. Und wissen Sie, wo Sie in diesem Moment waren?“

„Bei meiner Mutter. Ich wollte eine Vase aus dem Keller holen. Ich habe etwas fallen lassen, wollte meine Mutter rufen, aber mein Kiefer war angespannt. Die Worte weigerten sich zu kommen. Das Hämmern in meinem Kopf hielt mich davon ab, die Treppe hinunter zu gehen.“

„Eine weise Entscheidung“, lobt Felix. „Sind Sie danach sofort gestürzt?“

„Ich weiß es nicht mehr genau. Aber da war plötzlich ein Gedanke: Ich habe einen Schlaganfall. Ich versuchte aufzustehen, aber meine Beine knickten ein und dann … Ab da ist alles weg.“

Er nickt. „Sie haben damals das Bewusstsein verloren. Ihre Mutter wählte sofort den Notruf und ein Krankenwagen brachte Sie in die Universitätsklinik, wo ein Scan ein Aneurysma zeigte.“

Ich schließe die Augen ganz fest.

Felix berührt meinen Arm. „Sind es zu viele Informationen auf einmal?“

Ich öffne meine Augen wieder. „Ja.“

Er geht auf die Fensterbank zu und nimmt die Zeitschrift in die Hand. „Können Sie lesen, was hier geschrieben steht, Stella?“

„GALA. Das Foto zeigt die abtrünnigen Sprösslinge des britischen Königshauses.“

Felix grinst und legt das Magazin wieder beiseite. „Ich habe mich vorhin vorgestellt. Sagte ich, dass mein Name Paul sei?“

Ich bin nicht in der Stimmung für irgendwelche dämlichen Spielchen.

Felix hört nicht auf. „Oder habe ich gesagt, mein Name sei Felix?“

Ich nicke brav. Noch bestimmen Sie, Doktor Zwerg.

„Sie verstehen mich, Sie können also Informationen speichern. Sie sind wirklich wach, Sie sprechen zusammenhängend, wir können also anfangen“, sagt Felix.

„Ich habe es verloren.“

Warum sage ich das?

„Was haben Sie verloren, Stella?“

„Irgendeine Erinnerung. Irgendetwas. Ich kann es noch nicht sehen. Aber ich spüre es. Es zerreißt sich … Es entzieht sich. Ich musste vorhin daran denken.“

„Sie werden sich wieder erinnern, Stella. Nach einer solchen Operation muss sich das Gehirn mit seinen Erinnerungen neu sortieren. Machen Sie sich keine Gedanken. Das Verlorene kommt zurück.“

„Aber ich weiß nicht, ob ich das unbedingt möchte.“

Ich sehe, dass der Zwerg seine Ohren spitzt. „Warum nicht?“, fragt er.

„Weil es nichts Gutes ist. Ich glaube, es ist böse und das macht mir Angst.“

„Haben Sie heute zu Mittag gegessen?“

„Nicht so richtig.“ Ich kann nicht anders, ich muss gähnen. Wie mache ich ihm klar, dass ich nur erschöpft bin und nicht unhöflich sein will?

Felix lächelt. „Ich sehe, Sie sind müde. Ruhen Sie sich ein bisschen aus.“ Er schaut auf die Armbanduhr. „Ich bin für ein paar Stunden außer Haus, aber ich komme später wieder. Dann erzählen Sie mir von dem Verlorenen. Leonie wird bei Ihnen bleiben.“ Er hebt zum Abschied die Hand und verlässt das Zimmer.

Leonie schüttelt die Kissen auf meinem Bett. „Legen Sie sich jetzt bitte hin, Stella. Sie brauchen ein Päuschen. Ich bin ganz in Ihrer Nähe. Wenn Sie sich nicht gut fühlen, dann drücken Sie den Knopf, und dann bin ich sofort bei Ihnen, okay? Ich sehe in einer halben Stunde wieder nach Ihnen, Stella.“

Ich gehorche und lege mich brav ins Bett.

Stella …

Als feststand, dass die Frucht im Mutterleib weiblich war, sollte ich nur einen Namen bekommen: Stella. Stella bedeutet ‚Stern‘, das wurde mir schon früh erklärt.

„Wolltest du, dass ich ein ‚Star‘ werde“, habe ich Mom einmal gefragt, als ich sechzehn war und bei weitem kein Star, sondern eine zurückgezogene, lahme Jugendliche, und voller Wut. Mein bester Freund war der Videorekorder, den ich mir als Aushilfe im Supermarkt verdient hatte.

„Natürlich nicht“, hatte Mom geantwortet. „Dein Vater suchte nach einem Namen, der schön klang.“

Ja, das hatte Mom gesagt, daran erinnere ich mich.

Meine Gedanken verlieren sich, jene, die Widerstand leisten, die urteilen, die vergiften. Wohin gehen die Gedanken nur, die aufbauen und zerstören, wenn die Welt zerfließt?

Wo oder was ist dieses Böse, an das ich mich nicht erinnere?

Ich würde liebend gern das Böse seinem Schicksal überlassen. Kann ich das? Muss man sich dem nicht widersetzen? Der Gedanke ist wie ein Schlag in den Magen.

Warum gehen mir diese Dinge durch den Kopf?

Meine Augenlider werden schwer.

Kapitel 3

Mein Handy klingelt, ich angle es aus meiner Handtasche. Es ist meine Mutter, sie will bestimmt wissen, wo ich bleibe. Ich drücke die grüne Hörertaste.

„Mom, ich bin fast da.“

„Du bist die liebenswerteste Verspätung, die ich kenne, Stella“, erwidert Mom. „Übrigens habe ich mir vor ein paar Tagen einige Fotos von Jordi angesehen und etwas entdeckt, das mich beschäftigt und mich beunruhigt, etwas, das mir Angst macht. Du darfst es aber niemandem sagen. Ich möchte es zuerst mit dir besprechen. Und dann habe ich noch eine Überraschung für dich. Hast du auch an die Sahnetorte gedacht?“

„Ja, Mom, mit zusätzlichen Schokoladenflocken, die der Konditor höchstpersönlich für Dich auf den Kuchen gestreut hat. Was beschäftigt dich, Mom? Und was ist das für eine Überraschung?“, bohre ich weiter.

Ich höre ihr Lachen.

„Du warst schon als Kind sehr neugierig. Wenn ich es dir sagen würde, wäre es doch keine Überraschung mehr. Und am Telefon kann ich dir schon mal gar nicht sagen, was mich beunruhigt. Wer weiß, wer da alles mithört …“

Etwas stimmt nicht mit meinem Gesicht. Ich gebe mir einen Klaps auf die Wange.

„Hey, ganz ruhig“, sagt Julian leise.

Ich öffne meine Augen und blicke suchend nach meinem Handy.

„Das kann kein schöner Traum gewesen sein, vermute ich mal“, sagt Julian. „Hallo, mein Schatz. Leonie sagte mir, dass du aufgewacht bist, da musste ich sofort zu dir kommen.“ Er streckt seine Arme nach mir aus.

Ich kuschele mich an ihn, spüre seine Lippen auf meiner Stirn. „Ich träumte, dass meine Mutter mich gerade angerufen hat“, sage ich. „Ich möchte Mom gerne sehen.“

Er antwortet nicht, reibt seinen Dreitagebart. Die Geste löst in mir ein ungutes Gefühl aus.

Ich blicke aus dem Fenster, um mich für einen Augenblick in den grauen, von Tropfen gepeitschten Windungen zu verlieren. „Ich möchte meine Mutter sehen, Julian!“, wiederhole ich wie ein ungezogenes Kind.

Plötzlich schluchzt Julian. „Ich hatte solche Angst um dich, Stella, solche Angst! Es sah aus, als würdest du zwar jeden von uns erkennen, aber du bist wie ein Zombie herumgelaufen. Und dann wolltest du nichts essen, deshalb hast du auch so stark abgenommen.“

Und ich dachte, meine Hose wäre mir zu eng. Hm … Gewichtsverlust. Nun, dann hat das Ganze hier auch eine gute Seite.

Julian streicht mir eine Haarlocke aus dem Gesicht. „Ich habe Karamell-Mousse für dich gemacht, aber ohne Rum, das verkraftet dein Magen im Moment noch nicht. Möchtest du?“ Er hält mir den Plastikbecher mit der Mousse unter die Nase.

Ich schiebe seine Hand weg. Hat er nicht gehört, dass ich meine Mutter sehen will? Wieso redet er wie ein Wasserfall?

„Okay, ich werde die Mousse in den Kühlschrank stellen“, sagt er irritiert und reibt sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. „Vielleicht magst du sie ja später.“

Ich möchte etwas Nettes sagen. „Lieb von dir, danke dir.“ Mehr fällt mir nicht ein.

Dank dir. Danke für alles. Tausend Dank. Habe ich Mom für ihre Liebe genug gedankt? Was ist mit meinem kleinen Bruder Jordi? War ich ihm nah genug, war ich präsent und beständig genug? Ich weiß es nicht. Ich möchte mich auch an die vergangenen Tage und Wochen in Euphoria erinnern, aber ich habe sie verloren wie meine letzten Tage mit Jordi. Ich erinnere mich nur an unsere Gespräche, unser Lächeln und unser Schweigen. Schon vor dem Aneurysma kamen mir gemeinsam erlebte Momente stets in den Sinn. Manche habe ich vergessen. Die, die ich verpasst habe, wurden erfunden. Daran erinnere ich mich. Aber ich habe die Tage verloren, als mir klar wurde, dass etwas mit Jordi passiert sein musste, und dass unsere Zeit von nun an bemessen sein würde. Die Tage habe ich verloren.

Julian ist fast auf dem Flur, als er sich plötzlich umdreht. „Es wird schon wieder“, sagt er und abermals ist Erschütterung und Trauer in seiner Stimme zu hören. Die Traurigkeit lässt sein Gesicht ein wenig welken. Dann ist er fort. Ich kann mich nicht erinnern, dass er gesagt hat, er müsse irgendwohin. Warum verschwindet er einfach so? Egal, es ist ohnehin alles zu anstrengend für mich.

Ich habe gemischte Gefühle. Eine Hirnblutung bedeutet demnach verlieren und von vorn zu beginnen, jede oder fast jede Stunde ein Defizit, eine Beeinträchtigung, einen Schaden verkraften zu müssen. So habe ich es zumindest vor Augen. Auf der Einnahmenseite steht erst einmal gar nichts mehr.

Aber von vorn beginnen besagt: Eines Tages wieder laufen können oder gehen, mich bücken und etwas aufheben, einen klaren Gedanken fassen, das Gedächtnis wiedererlangen, sprechen lernen, die Worte wiederfinden wie das Gleichgewicht, das Zeitgefühl, den Schlaf, das Gehör und bei alldem nicht den Verstand zu verlieren. Ein ständiger Kampf sich neu anzupassen, sich neu zu organisieren, ohne Hilfe zurechtzukommen, über Rückschläge hinwegzugehen, weil ich nichts zu verlieren habe.

Nichts mehr zu verlieren haben? Warum denke ich das? Und woher weiß ich, was die Folgen einer Hirnblutung sind? Ein Teil von mir spürt, wie die Flamme für das Leben gerade wieder entfacht, aber der andere Teil ist voller Zweifel. Dieser lebt isoliert in diesem Krankenzimmer, voller Erinnerungslücken. Ich stehe auf, aber setze mich gleich wieder hin. Es ist, als ob ein Teil meines Körpers nicht teilnimmt. Aber ich will mich nicht im Strom treiben lassen, der mich manchmal gewaltig, dann wieder sanft mit sich zieht. Der Arzt sprach von Kraftverlust. Ich denke, der Zwerg und ich sollten bald etwas dagegen unternehmen. Ich fühle mich wie eine alte Hündin als ich in Richtung Waschbecken schlurfe, Schritt für Schritt, während ich mich an der Gehhilfe festklammere. Ich kenne das Zimmer auswendig. Jede Möglichkeit mich abzustützen. Rechte Hand, linke Hand.

Zuerst muss ich das Waschbecken erreichen, mich am Rand festhalten und einen Blick in den Spiegel werfen, um zu sehen, ob ich auch aussehe wie ein Zombie und ob noch etwas an mir dran ist.

Als ich das Badezimmer betrete, überfällt mich eine heftige Migräne. Ich presse eine Hand an meinen Kopf, taumle und krümme mich vor Schmerzen.

„Nein … Bitte nicht … Nicht jetzt, ich bitte dich …“, flüstere ich. Meine Stimme hallt wie ein fernes Echo. Ich schluchze laut und zwinge mich, meinen Atem zu beruhigen. Unterdrücke meine Übelkeit. Schlagartig bin ich wieder ganz ruhig und richte mich auf, brauche ein paar Sekunden, um mich von dem Schock zu erholen. Das Hämmern in meinem Kopf lässt nach, der Anfall ist vorüber.

Ich starre in mein Gesicht, sehe deutlich die Kontur meiner Wangenknochen, das stachelige Haar. Die dunklen Ränder unter den Augen, die fahle Gesichtsfarbe. Gestern sah ich definitiv besser aus. Oder vorgestern. Oder irgendwann einmal. Zeit ist plötzlich ein seltsamer Begriff. Ich drehe den Wasserhahn auf, warte, höre das Wasser laufen und betrachte mich weiter. Drehe mich nach links, nach rechts. Das Nachthemd hängt an meinem Oberkörper herunter. Mein Bauch ist flach wie mein Po. Keine Rundungen. Ich kann mich nicht erinnern, jemals so dünn gewesen zu sein. Da ist nichts Leuchtendes mehr an mir. Die Kopfschmerzen lassen sich an meinem Gesicht ablesen und in meiner Stimme hören: „Oh mein Gott“. Mit bloßem Auge sehe ich die Folgen des Aneurysmas, an meinem Körper, höre sie in meinen Adern pochen. In einem geschlossenen Kreislauf. Meine Augen weiten sich, mein Körper fühlt sich taub an. Ich sitze in der Falle. Erbreche mich und starre weiter wie hypnotisiert den Spiegel an.

Die Tür schwingt wieder auf, Julian und Leonie betreten gemeinsam das Zimmer. Um mich herum winden und dehnen sich die Geräusche. Das pulsierende Summen verstärkt sich und bringt einen Tinnitus hervor, der wie die Flöte einer Teekanne in meinen Ohren pfeift. Meine Mundwinkel zucken. Ich lasse meinen Unterkiefer spielen, um die Geräusche zu bändigen, die in meinen Schädel dringen. Vergeblich.

Tränen treten mir vor Anstrengung in die Augen. Ich greife nach einem Papiertaschentuch und wische die Galle in den Mundwinkeln weg. Danach hebe ich langsam den Kopf und stütze mich auf die Gehhilfe, suche festen Stand, schlurfe zurück ins Zimmer und lege mich ins Bett. Der Tinnitus wird leiser und verabschiedet sich nach einigen Minuten ganz. Ich juble innerlich, bin in letzter Sekunde wieder aus dem Abgrund aufgetaucht.

Leonie trägt ein Tablett und stellt es auf den Nachttisch. „Frischer Orangensaft, eine Flasche Proteine und Kekse“, flötet sie.

„Und ich habe dir die Kokosnuss-Kekse mitgebracht“, murmelt Julian. „Die magst du doch so gern.“

Ich schaue auf die Kekse, dann zu dem Mann, der behauptet, dass sie mir schmecken. Er ist wunderschön, ein jugendlicher Typ, seine grau-blauen Paul-Newman-Augen funkeln wie Scheinwerfer. Ich spüre die Wärme in meine Wangen aufsteigen und glaube, dass meine Gedanken mich erröten lassen. Meine Freundinnen halten es für ziemlich fragwürdig, dass ich mit einem elf Jahre jüngeren Mann verheiratet bin. Julian glaubt, dass sie selber gerne einen jungen Adonis in ihrem Bett hätten. Ich vermisse meine Freundinnen und möchte auch sie sehen, aber zuerst soll meine Mutter mich besuchen. „Ich würde Mom gerne sehen, Julian.“ Einen Augenblick lang versinke ich in Gedanken. Denke über das Ungesagte zwischen uns nach.

„Ist dir eigentlich bewusst, dass du fast gestorben wärst, Stella?“

Er ist wütend. Diese Feststellung sagt mir, dass ich Emotionen erkennen kann. Gut.

„Das wird schon wieder.“ Ich lächle ihn an.

„Dann darf ich dich doch wohl auch hier besuchen, wenn ich das möchte. Um mich davon zu überzeugen, dass es dir gutgeht!“

In meinem Unterbewusstsein regt sich etwas. Wo ist Mom? Ich schaudere.

„Alles ist gut, Julian. Ich finde mich ja gerade erst wieder.“

„Okay.“ Er schweigt eine Weile, in seine Überlegungen verloren. Dann verscheucht er offensichtlich die Enttäuschung wie einen bösen Gedanken.

„Mach dir bitte keine Sorgen, Julian. Mom hat einmal gesagt: Wenn der Mond dich liebt, was macht es dann, wenn die Sterne verblassen?“

Er hebt fragend die Augenbrauen.

„Das war eine Anspielung auf mein momentanes Äußeres.“

Er betrachtet mich einen Moment lang. „Möchtest du zum Friseur? Es gibt hier im Haus einen. Ich könnte dort einen Termin vereinbaren, wenn du möchtest.“

„Ja, später vielleicht. Das alles überfordert mich noch.“ Ich lasse ein gedankenvolles Schweigen eintreten. Und dann beugt er sich zu mir vor, starrt mich an. Er spricht leise, als wollte er mir ein Geheimnis mitteilen. „Weißt du, Stella, es wird alles gut werden“, sagt er. Wieder sind da Tränen in seinen Augen.

Einige Sekunden lang sehe ich ihn an, versuche zu ermessen, was das Gesagte bedeutet. Was es mir jetzt bedeutet. Ich sehe das leichte Zittern seines Kinns, das neu an ihm ist. Ein Zeichen für Angst, für Verlogenheit oder aufsteigende Gefühle? Es ist ihm wahrscheinlich gar nicht bewusst und ich kann es nicht richtig deuten. Noch nicht, obwohl ich Fortschritte mache und mein Kopf ist klar. Ich werde es herausfinden. Die Wahrheit liegt stets im Detail. Und wieder verschiebt sich etwas in mir, etwas trudelt an die Oberfläche, etwas Böses.

Irgendetwas stimmt hier nicht. Etwas ist oberfaul.

Kapitel 4

Ich träume von einem Dorf, seelenlos. Umgeben von dichten Wäldern. Ich schwebe.

Da ist ein sprudelnder Bach, eine Straße, eine Schule. Kinder. Eine mit Blumen gesprenkelte Wiese, nahe am Wald. Ein dunkler Fluss. Nebelschwaden.

Die Nacht schärft dort die Sinne, die Schatten und die Geräusche kommen, die Geheimnisse vertiefen sich.

Ein Wäldchen.

Kinder stehen dort dicht nebeneinander. Lockige Haare umrahmen ihre jungen Gesichter. Ihre Augen funkeln in der Finsternis. Ihre Haltung verspricht nichts Gutes.

Ich kann sie trotz des Nebels sehen. Schwach treibt die Nacht das Echo ihrer Flüsterstimmen bis zum Wald.

Später höre ich ein Wimmern.

„Das muss aufhören“, sagen die Kinder.

Ein Schrei. Undurchdringlich.

Ich halte mir die Ohren zu.

Dann ist es still.

Jemand steht neben meinem Bett. Ich spüre ihn, nehme den zarten Hauch von Desinfektionsmittel wahr und öffne die Augen. Es ist Dr. Zwerg.

„Sie haben geträumt.“

„Woher wissen Sie das?“

„Sie haben Jordi gerufen und sich die Ohren zugehalten. Wer ist Jordi?“

„Mein kleiner Bruder. Er starb im Alter von acht Jahren.“

„Oh, das tut mir leid. War er krank?“

Ich zögere. In mir ist plötzlich eine Unruhe, die ich mir nicht erklären kann. „Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich nicht.“ Mein Kopf dröhnt. „Ist das normal?“

„War das schon immer so, Stella? Dass die Erinnerung an Jordis Tod lückenhaft war?“

Ich zucke die Schultern. „Keine Ahnung. Vermutlich“, antworte ich.

Ein Blick aus dem Fenster zeigt mir die Dämmerung. Kann es sein, dass ich den Tag verschlafen habe? Welchen Wochentag haben wir heute? Welchen Monat?

Es ist November, ich erinnere mich. Obwohl …

Felix hat gesagt, dass ich zwei Wochen in der Universitätsklinik verbracht hätte und danach in unser Pflegeheim Euphoria verlegt wurde. Ich war am 15. November bei meiner Mutter, hatte eine große Sahnetorte dabei, weil Mom mit mir etwas feiern wollte. Und sie wollte mir sagen, was sie beschäftigt. Sie wollte nicht, dass ich mit jemandem über ihre Überraschung spreche, nicht einmal mit Julian. Ich habe mein Wort gehalten. Mir gefällt es, dass ich wieder in der Lage bin, zumindest meine Gedanken einigermaßen zu ordnen.

Zwei Wochen in der Universitätsklinik? Dann war ich bis Ende November dort. Dann müsste es jetzt Dezember sein?

Ich verkrampfe, meine Hände zittern und mein Puls beschleunigt sich.

„Ich sehe, dass Sie noch über etwas grübeln“, sagt Felix.

„Habe ich den ganz Tag verschlafen?“

Er nickt. „Lassen Sie uns versuchen, jene Fragen, die Sie auf dem Herzen haben, ein wenig zu ordnen. Ein urplötzliches Zuviel an Informationen wird Ihnen zusätzlich Kopfschmerzen verursachen und damit werden Sie bestimmt nicht einverstanden sein. Ich kann mir vorstellen, dass Sie wissen möchten, welcher Tag heute ist, oder?“

Hm … Felix kann also auch noch Gedanken lesen.

„Heute ist der neunzehnte Dezember“, fährt er fort. „Ihre Hirnblutung ist fast auf den Tag fünf Wochen her. Es geschah um halb sechs nachmittags im Haus Ihrer Mutter, die sofort den Notruf wählte. Kurz darauf wurden Sie in der Uniklinik operiert. Erinnern Sie sich?“

Ich habe demnach fünf Wochen meines Lebens verloren. Einfach so! Weg! Verloren wie die Gedanken und die Erinnerungen der vergangenen drei Wochen. Aber zumindest sind die Worte da.

„Als Sie aufwachten, war klar, dass Sie aufnahmefähig waren und alles verstanden, was wir Ihnen sagten, Stella. Sie hatten zwar einige Wortfindungsstörungen, aber die waren von kurzer Dauer. Sie reagierten angemessen und schienen jeden Besucher zu erkennen.“

Jeden? Wer hat mich denn dort besucht?

„Es ist gut möglich, dass Sie sich an nichts mehr von all dem erinnern.“ Felix lächelt, er versucht mich zu beruhigen. „Jeder Gedanke ist wie ein ins Wasser fallender Tropfen, der die Oberfläche wellt. Zu viele Fragen, zu viele Gedanken, zu viele Kreise im Wasser. Wenn das Gehirn solche Schläge einsteckt, reagiert der Mensch ferngesteuert wie ein Autopilot. Was vertraut ist, dringt zu ihnen durch, aber Ihr Gehirn hat es nicht gespeichert. Das ist zu anstrengend, diese Energie steht vorübergehend nicht zu Verfügung. Das ist auch der Grund, warum man keine Fragen stellt. Zu anstrengend.“

Etwas stimmt hier nicht. Ich bin ein viel zu neugieriger Mensch.

„Wollte ich denn gar nicht wissen, was passiert ist?“

Felix sieht mich nachdenklich an. „Das war nicht eindeutig. Sie waren zeitweise aus unbegreiflichen Gründen ohne Sprache, später haben Sie kaum gesprochen, aber Sie schienen zu verstehen, was Ihnen gesagt wurde. In der Uniklinik hatten Sie nach der Operation starke Kopfschmerzen. Als Sie hier aufgenommen wurden, begannen wir sofort mit der Physiotherapie, soweit es die Kopfschmerzen erlaubten. Manchmal hielten sie völlig desorientiert mitten im Satz inne und verzichteten auf ein fehlendes Wort und gingen direkt zum nächsten über. Aber ich lernte, ihren Gedanken zu folgen. Und dann kamen die Worte und die Sprache wurde wieder flüssig. Sie haben um jedes Wort gekämpft. Um jeden Schritt. Jeden Zentimeter. Sie sagten immer wieder: Von vorne beginnen. Nichts aufgeben. Keine Silbe, keinen Konsonanten. Und schon gar nicht den Körper. Wir machten zehn Minuten lang Übungen, bis Sie Ihren Sättigungspunkt erreicht hatten. Sie haben noch viel geschlafen und Sie wurden regelmäßig zum Essen und Trinken aufgeweckt. Mit dem Trinken lief es gut, das Essen war und ist immer noch ein Problem. Deshalb bekommen sie hier auch proteinreiche Flüssignahrung.“

Übungen, viel geschlafen, zum Essen und Trinken aufgewacht, mit der Physiotherapie begonnen?

„Ich weiß nicht, wovon Sie da reden. Mein Verstand war also wie trübe Flüssigkeit, dann wieder wie ein klares Gewässer. Ich kann mich an nichts erinnern von dem, was Sie da gerade behaupten.“

Jemand klopft an der Tür.

„Ich glaube, Ihr Mann möchte Sie besuchen“, sagt Felix. „Er wartet schon eine Weile und möchte Ihnen etwas sagen.“

Mein Kopf schmerzt, füllt sich mit Nebel.

Die Tür wird geöffnet, Julian bleibt im Türrahmen stehen. Er ist blass und schaut an mir vorbei.

„Es fällt Julian schwer, ihnen etwas mitzuteilen“, fährt Felix fort und nimmt einen Stuhl. Setzt sich neben mich. „In der Uniklinik waren Sie noch zu schwach. Deshalb riet Ihr behandelnder Arzt Ihrem Mann, den Vorfall nicht zur Sprache zu bringen.“

Vorfall?

Julian legt eine Hand vor den Mund. Tränen rinnen ihm über die Wangen.

Meine Kopfschmerzen sind jetzt kaum zu ertragen und bereiten mir Übelkeit. „Was für ein Vorfall? Was ist los, Julian?“

„Wir sind der Meinung, dass es an der Zeit ist, Ihnen zu sagen, was mit Ihrer Mutter passiert ist“, sagt Felix.

Plötzlich kann ich kaum noch atmen. Die Stille, die in das Zimmer eingezogen ist, macht mir Angst. Ich sehe Julian an.

„M … Möchtest du es wissen, Stella?“, stammelt er.

Was muss ich wissen? Was machen sie mit mir?

„Es ist schrecklich, aber du musst es ja einmal erfahren. Deine Mutter verstarb sechs Tage nach deiner Hirnblutung. Sie war wegen dir sehr aufgewühlt und hat vermutlich ihre Medikamente nicht mehr eingenommen.“ Seine Stimme zittert. „Ich war so sehr mit dir beschäftigt, dass sie mir einfach nicht in den Sinn kam. Ich mache mir schwere Vorwürfe und hätte ihr mehr Aufmerksamkeit schenken sollen. Als Emma mich anrief, weil sie Ihre Mutter nicht erreichen konnte, bin ich sofort zu ihr gefahren. Ich habe deinen Hausschlüssel benutzt. Dort fand ich sie dann.“

Aus Nichtbegreifen wird Fassungslosigkeit, aus Entsetzen Panik. Mom … Ich habe mehrmals von ihr geträumt, es gab Varianten. Entweder weil die Erinnerung an gemeinsame Erlebnisse nach und nach genauer wurde oder weil ich selbst einzelne Details hinzufügte, die ich für bemerkenswert hielt. Ich habe nie von ihrem Tod geträumt, nur von Moms plötzlich aufgetretener Angst, die sie beim Betrachten von Jordis Fotos in Besitz nahm.

Mit der schlichten Wahrheit seiner Worte kommt der Dolch, der mein Herz durchbohrt. Der Schmerz ist kurz und heftig. Ich zittere am ganzen Leib, das Pochen in meinem Körper will nicht aufhören. Ich schüttelte den Kopf, breche in Tränen aus. „Nein! Nein!“ Das heftige Schluchzen lässt mich am ganzen Körper beben. Ich drehte mich auf die Seite und übergebe mich. Meine Wangen stehen in Flammen.

Julian berührt meine Schulter. Er sieht widerlich aus, unappetitlich und schmutzig.

„Du hast nicht auf sie aufgepasst. Du hast saubere Arbeit geleistet“, schreie ich ihn an.

Mom ist … Überraschung … ist tot … Mom … Satzfetzen wirbeln wie Steine auf mich herab. Ich will einen Gedanken festhalten, er fliegt davon. Mein Gehör nimmt Geräusche wahr, das Sinnesorgan lässt sich nicht abschalten. Mein Herz pochte wild.

Ich spüre, wie jemand sich über mich beugt und eine Nadel meine Haut durchbohrt, fühle, wie eine kalte Flüssigkeit durch meine Vene fließt und Sekunden später meinen Körper erwärmte.

Die Dunkelheit umarmt mich.

Kapitel 5

„Sie kommt wieder zu sich“, sagt jemand.

Ich öffne meine Augen.

Felix beugt sich über mich.

Gut.

Ich möchte in mein Haus zurückkehren, in meinem Bett aufwachen und meine Mutter anrufen. Wir werden über den vermeintlich fatalen Herzinfarkt gemeinsam lachen.

„Ich bin seit Ewigkeiten eine vorbildliche Herzpatientin, Stella, und weiß, wie wichtig diese Pillen für mich sind. Außerdem bin ich zu klar im Kopf, um den Überblick zu verlieren“, wird Mom mir sagen. Und dann wird sie mir ihr Geheimnis verraten, mir sagen, was sie beschäftigt. Höchste Zeit für ein klärendes Gespräch.

Ich habe Angst vor einer schlaflosen Nacht in diesem Bett, aus Angst vor dem nächsten Morgen, in dem ich erkennen muss, dass ich mein Leben nie wieder in die alten Bahnen lenken kann, weil Mom fort ist.

Ich befinde mich in einem Traum. Jetzt ist es kein Albtraum, die Farben und Formen der Dinge offenbaren es mir. Ich muss Dr. Zwerg und Leonie davon erzählen, ja, ich werde ihnen sagen, dass ich einen Traum hatte, in dem die Erinnerungen und die verlorenen Wochen plötzlich wieder da waren. Es war so leicht, ich brauchte weder ihre Kärtchen noch ihre Bilder um eine Erinnerung zu wecken.

Es ist so ermüdend, die ganze Zeit nur zu suchen und zu suchen, es schlaucht und erschöpft und zermürbt einen. Ich habe alles, was ich brauche, meine Erinnerungen, die verlorenen Wochen und Leonie, die mir am Abend zur Belohnung eine köstliche Praline bringt. Ich brauche sonst nichts, außer die Erinnerung an Jordi. Ja, das ärgert mich und etwas sagt mir, dass diese Erinnerung existenziell ist. Aber eins nach dem anderen. Nach meiner Entlassung werde ich mich auf die Suche nach meinem kleinen Bruder begeben. Auch diese Erinnerung wird mich einholen.

Felix macht sich bemerkbar und räuspert sich. Vielleicht ist da noch ein kleiner Schimmer im Dunkeln, ein Leuchtturm in einer Nebelwelt. „Es muss ein Schock für Sie sein. Der Tod Ihrer Mutter tut mir sehr leid, Stella. Ihr Mann erwähnte, dass Sie eine sehr enge Bindung hatten?“

Mein Atem stockt. Ich schnappe nach Luft. Ich will das nicht hören und presse meine beiden Hände gegen meine Ohren und kann nur noch schreien. Jemand packt mich, ich stoße die Arme weg und trete gegen eine Wade.

Julian flucht.

„Ihre Frau braucht jetzt Ruhe“, besänftigt ihn Felix.

Ich höre, wie kurz darauf die Zimmertür geschlossen wird und öffne wieder die Augen. Julian ist fort.

Felix reicht mir ein Glas Wasser. „Nehmen Sie bitte einen Schluck. Es wird Ihnen guttun.“

Ich gehorche.

Er nimmt einen Umschlag aus seiner Jackentasche. „Dieser Brief wurde Ihnen aus der Uniklinik nachgesandt“, sagt er und legt das Kuvert auf den Nachttisch. „Es tut mir sehr leid, dass Sie jetzt auch noch den Tod Ihrer Mutter bewältigen müssen, Stella. Fragen Sie mich einfach, wenn Sie etwas wissen wollen. Wir können aber auch später weitermachen, wenn Sie sich etwas beruhigt haben.“

Ich werfe einen Blick auf den Umschlag, erkenne die Handschrift nicht.

Meine Gedanken schweifen ab, eine ferne Erinnerung an ein Gespräch mit Mom kommt auf. Ich blende den Zwerg aus …

„Wenn ich alt bin, Stella, dann werde ich mich fest in einen Sessel schmiegen und die Musik von Tschaikowsky hören. Ich werde die Augen schließen, um das Gefühl eines tanzenden Körpers wiederzufinden, und mir vorstellen, dass ich mit meinem gelösten, biegsamen und mir gehorsamen jungen Körper mit dir im Wohnzimmer tanze. Wenn ich alt bin, werde ich Stunden so zubringen. Aber ich werde bestimmt meine Medikamente nicht vergessen, denn ich möchte unendlich lange solche Momente genießen. Ja, ich werde die Augen schließen und mich mental in den Tanz projizieren. Weißt du noch, wie wir beide immer getanzt haben als du noch klein warst?“

„Ja, Mom. Ich erinnere mich an jede einzelne Bewegung.“

„Der Tanz mit dir hat mich über Jordis Tod hinweggetröstet, Stella.“

„Ich weiß, Mom.“

„Wenn ich alt bin, wenn ich alt werden sollte, dann wird mir das bleiben. Die Erinnerung an den Tanz mit dir, mein Liebling. Du bist mein Stern und eine wunderbare Tochter.“

Ich sehe Felix an. Bin wütend. Ich habe keine Fragen. „Wollen Sie mir weismachen, dass meine Mutter ihre Pillen nicht rechtzeitig eingenommen habe und deswegen gestorben sei? Erzählen Sie das doch dem Papst, aber lassen Sie mich mit dieser Absurdität in Ruhe!“

„Das ist eine deutliche Ansage. Okay, wir unterhalten uns später“, knurrt Felix.

„Ich möchte mit Emma sprechen. Sie ist meine Halbschwester. Und Julian soll mir mein Handy bringen. Wenn Sie meinen Mann irgendwo sehen, sagen Sie ihm, ich möchte den Ort sehen, an dem meine Mutter begraben wurde.“

Felix steht auf. „Ich werde veranlassen, dass Emma Ihre Nachricht erhält. Und ich schaue nach Ihrem Mann. Aber was Ihre Mutter betrifft … Sie wurde eingeäschert, Stella, es gibt keine Grabstelle. Ruhen Sie sich jetzt bitte aus. Sie dürfen sich nicht aufregen.“

Dröhnende Kopfschmerzen. Der Nebel in meinem Kopf formiert sich zu einer dichten Wolke, die mir den Atem raubt und einen Schwindelanfall verursacht. Das Zimmer verwandelt sich urplötzlich in einen kreisenden Tornado. Von allen Seiten stürmen Pflegekräfte ins Zimmer und ich stehe im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit. Mein Blutdruck wird gemessen, ich bekomme mehrmals einen Klaps ins Gesicht, sie fühlen meinen Puls, schauen mir tief in die Augen, blenden mich mit kleinen Lämpchen und stellen mir unzählige Fragen: „Was denken Sie, Stella, was fühlen Sie?“ Und dann ist da Felix, der mir sagt, dass mein Gehirn mal wieder Purzelbäumchen schlägt. Aber immerhin erhalte ich ein schwärmerisches Lob für jede normale Antwort, als würde er ein Baby für ein Bäuerchen loben.

Ich verlange nach Julian, aber niemand weiß, wo er sich aufhält.

„Ihr Mann hatte große Probleme, Sie in diesem Zustand zu sehen. Er hat eine sehr schwere Zeit durchlebt, weil er die Verantwortung für die Beerdigung Ihrer Mutter tragen musste, Stella“, erklärt mir Felix. „Er wusste offenbar nicht, dass Ihre Mutter nicht eingeäschert werden wollte.“

Ich schließe die Augen. Blödsinn, schnauze ich ihn in Gedanken an. Ich habe Mom bereits vor Monaten geraten, ihre Wünsche in einer Willenserklärung festzuhalten. Aber sie hat das immer lächelnd von sich gewiesen und gesagt, dass sie mir das beruhigt überlassen könne. Julian wusste das und ich war mir sicher, dass er Moms Wunsch respektieren würde.

Warum hat er sie dann einäschern lassen?

Felix und sein Gefolge verlassen wieder beruhigt mein Zimmer. An der Tür dreht er sich noch einmal um. „Ich sehe später noch einmal nach Ihnen, Stella.“ Und weg ist er.

Wenig später bringt mir eine Krankenschwester das Stationstelefon. Es ist Julian.

„Bring mir sofort mein Handy, Julian!“, schnauze ich ihn an. „Und Charlotte und Marie möchten mich besuchen. Verdammt, warum verschwindest du immer einfach so?“

In meinem rechten Ohr tobt ein Tinnitus. Julian verspricht mir schluchzend, das Handy vorbeizubringen. Irritiert unterbreche ich die Verbindung.

Ich erinnere mich, dass meine Freundin Charlotte am Anfang meiner Beziehung mit Julian gesagt hat, dass es ihr mitunter etwas seltsam vorkam, dass er so schnell in Tränen ausbrechen würde. Mir macht es nichts aus. Nach einer Ehe mit einem Mann, der seine Emotionen vor mir verbarg, genoss ich einen Partner, der seine Gefühle zeigen konnte.

Felix hat die Dosis der Schmerzmittel erhöht, demnach werde ich vermutlich im Bett einen Dornröschenschlaf halten. Er hat auch angedeutet, dass die Kopfschmerzen langsam nachlassen und dass Freddy sich eines Tages für immer von mir verabschieden wird. „Sie müssen sich keine Sorgen machen“, sagte er und „Alles wird gut.“

Ist das so?

Plötzlich muss ich an Jordi denken. Ferne Erinnerungen durchdringen eine Wolke. Was wollte Mom mir erzählen? Irgendetwas über die Fotos meines kleinen Bruders. Ich erinnere mich nicht genau. Vielleicht die mit Jordi am Hangeweiher, in dem wir oft badeten, oder Jordi im Wäldchen voller Dornengestrüpp hinter dem Haus, Jordi in der riesigen Zinkwanne? Bilder, zu denen mir die Geschichte dahinter jetzt fehlt. Unzählige Male habe ich sie mir nach Jordis Tod angesehen, während mein Herz gegen den Brustkorb hämmerte, aber die Bilder haben mich nie erreicht. In Wahrheit hat mich sein Tod so schockiert, dass ich alles vergessen oder verdrängt habe, und mein Gedächtnis war nie wieder bereit, diese Erinnerungen wiederzufinden. Als hätte Jordi nie existiert.

Ich erinnere mich nur, dass Fragen nach Jordis Tod Schmerz auslösten, und so stellte ich Mom auch keine. Was sich nach seinem Tod in Moms Haus ausbreitete wie ein Tsunami war die Stille. Wir haben Jordis Grab oft gemeinsam besucht, aber auch dort begleitete sie uns. Ich akzeptierte Moms Schweigen. Was mich erstaunte, was mich regelrecht verblüffte und mir schon immer den Atem raubte, war die Langlebigkeit von Moms erlebtem Schmerz. Eine trotz der Jahre brennende, glühende Wunde. Die nie verheilte.

Ich habe Mom vor meinem inneren Auge, die mir von fernen Erinnerungen erzählte, doch der Schmerz um Jordis Tod war immer noch da. Unvermindert. Und jetzt hatte sie nach all den Jahren irgendetwas auf einem Foto entdeckt, etwas, das ihr Angst machte.

Was wolltest du mir sagen, Mom?

Mein Blick fällt auf den Umschlag. Ich hatte ihn vollkommen vergessen. Ich öffne ihn und ziehe eine Karte und ein Blatt Papier heraus. Mit ihnen rieseln rote Rosenblätter aus dem Umschlag.

Die Karte zeigt einen leuchtenden Vollmond über einer dämmrigen Landschaft. Ich drehe sie um. Sie ist leer. Keine Genesungswünsche, keine Unterschrift. Dieses Mal erscheint er mir wie ein böses Omen. Ich lege die seltsame Karte beiseite, hebe die Rosenblätter auf und werfe sie in den Mülleimer. Dann falte das Blatt Papier auseinander. Es ist der Ausschnitt eines Zeitungsartikels.

Aachener Nachrichten, 21. August 1990

Jordi Hoffmann war bis zum 21. August 1990 ein Name auf der Klassenliste seiner Grundschule. Geboren am 7. April 1986 in Aachen, lebte der Junge dort mit seinen Eltern Ida und Erik Hoffmann und der zwölfjährigen Schwester Stella im Stadtteil Brand. Am Donnerstag, den 21. August, einem heißen, stickigen Tag kurz vor Ende der Sommerferien, erscheint Jordis Name gegen Mitternacht im Aachener Polizeiticker. Der achtjährige Junge wird von den Eltern als vermisst gemeldet.

Erinnerst du Dich, Stella?

Kapitel 6

Ich falte das Blatt Papier sorgfältig zusammen und lege es mit der Karte in meine Nachttischschublade. Dann stehe ich auf und erwarte Leonie in meinem Sessel. Ich rühre mich nicht und gebe nicht vor zu lesen, zu grübeln oder sonst wie beschäftigt zu sein. In den ersten Wochen nach einer Hirnblutung ist das Warten fast eine vollwertige Beschäftigung. Eine von Dr. Zwergs Weisheiten.

Immer wenn Leonie lächelnd das Zimmer betritt, kommt dieser Raum mir nicht mehr so trostlos vor. Sie nimmt meine Hand, erkundigt sich, wie es mir geht und was mein Bauarbeiter im Kopf so treibt. Heute bringt sie mir ein Glas Milch für die Nacht, denn mittlerweile glaubt sie mir, dass ich keinen Tee mag. Außerdem legt sie Wert darauf, mir am Abend als Belohnung für meine Fortschritte eine Praline oder ein Bonbon anzubieten. Auf diese Weise möchte sie mich ein wenig glücklicher machen. Ich weiß das. Wir beide haben unsere kleinen Rituale. Sie liebt den Augenblick, in dem ich ihr zuliebe nach der Praline einen Bissen vom Abendbrot zu mir nehme.

„Haben Sie gerade nachgedacht, Stella?“, fragt sie.

„Ja, über meine Genesung.“ Ich habe mich entschieden, die Karte und den Artikel nicht zu erwähnen.

Sie zeigt mir einen Facebook-Daumen. „Aha, die Therapie der kleinen Schritte. So etwas braucht Zeit.“

„Stimmt. Das lässt sich nicht so leicht bewältigen. Mein Gehirn rotiert und dann ist da Freddy mit seinem Presslufthammer. Ich glaube, er plant wohl einen Tower.“

„Sie können nicht schlafen? Ist es das? Ich werde den Arzt darauf ansprechen. Anscheinend sind Sie am Abend besonders unruhig.“

„Mich beschäftigt da eine Sache ….“

Sie sieht mich betroffen an. „Ist es die Sache mit Ihrer Mutter. Ich bin Ihre Verbündete.“

Ich lasse abrupt die Schultern fallen. „Ja, auch, aber nicht nur. Ich glaube, ich bin in Gefahr.“

„Gefahr …? Sie sind hier sicher Stella. Dies ist der sicherste Ort der Welt.“

Ich winke ab. „Stimmt. Vermutlich hat in meinem Oberstübchen das Zentrum für Einbildung etwas abbekommen. Könnte ich einen Kaffee bekommen?“

„Ich halte es nicht für eine gute Idee, Ihnen einen Kaffee zu bringen, wo Sie doch noch starke Kopfschmerzen haben“, antwortet sie mit einem ernsten Gesichtsausdruck und schüttelt meine Kissen auf. „Darf ich Ihnen das Gesicht ein wenig mit kaltem Wasser kühlen? Das lindert ein wenig den Schmerz.“

Ich nicke. „Ich bin so traurig und habe entsetzliche Angst, Leonie.“

„Ich weiß …“

Wenig später hält Leonie mich. Ich weine so heftig wie noch nie zuvor in meinem Leben. Noch heftiger als damals, als ich begriff, dass mich mein kleiner Bruder nie wieder umarmen würde. Gewaltige, krampfhafte Schluchzer schütteln mich und lassen meinen Körper verkrampfen.

Ich liege in der Dunkelheit des Zimmers, starre mit trockenen Augen in das Schweigen des Raumes und versuche mich zu erinnern. Ein Erinnerungsfetzen ist wie eine heftige, fast greifbare Spannung, die in der Luft hängt, schmerzhaft wie eine Stichwunde. Nichts darf meine Gedanken jetzt stören, denn so verliere ich das Bild, das sich mir in diesem Moment offenbart: Das Lächeln meiner Mutter, die mich liebevoll umarmt, mich küsst.

Ich muss das Geheimnis um Jordi und Mom lüften. Muss an dem Fehlenden arbeiten, verschwundene Erinnerungen zurückholen und solche, die durch einen Namen, ein Bild oder einen Duft wieder geweckt werden. Ich muss die Schmerzen von gestern vergessen und lernen, mit denen von heute umzugehen. Und mit meiner Angst.

Erinnerst du Dich, Stella?

Ich schließe die Augen. Meine Gedanken überschlagen sich. Ich bin erschöpft und verwirrt, in Aufruhr, spüre die Wellen meiner Gedankengänge. Kein Organ verbraucht so viel Energie wie das Gehirn, hat Dr. Zwerg behauptet. Es ist für mich zu anstrengend, konzentriert und hellwach zu sein. Es zehrt an meinen Kräften.

Plötzlich zucke ich zusammen, öffne die Augen wieder. Am Rand meines Gesichtsfeldes schimmert etwas. Mein Herz pocht wild, meine Atmung beschleunigt sich, mein Blut pulsiert in den Adern, meine Fäuste graben sich in die Bettdecke.

Langsam drehe ich den Kopf in die Richtung, doch ich sehe nur wirbelnde Staubkörnchen, die im Licht der Nachtlampe glitzern. Ich bin allein im Zimmer, da ist nur noch Stille.

Und doch war da gerade etwas. Etwas Böses.

Die Nachtschwester ist gut und gerne im siebten Monat schwanger. „Ich kann mich glücklich schätzen, Stella, dass mir heute Nacht ein Praktikant zur Seite steht“, knurrt sie und schüttelt die Kissen auf. „Ab morgen arbeite ich nur halbe Tage, und das auch nur tagsüber. Keine Nachtschichten mehr bis zum Mutterschaftsurlaub.“

Ich bin traurig und enttäuscht. Kein Wort über meine Mom, kein Beileid, dabei wird sie doch wissen, was Julian mir heute Nachmittag gestanden hat. Nur ein ‚Wie geht es uns heute Abend, Stella?‘

Wie es mir geht, weiß ich! Ob sie vielleicht doch nicht weiß, was die anderen heute mit mir besprochen haben? Ich sehe sie an und sie scheint wirklich nett zu sein, obwohl ihr Gesicht nur äußerste Aufmerksamkeit verrät, die sie mir beim Zudecken schenkt.

Mein Kopf ist voller Gedanken und ich wünsche mir sehnlichst ein wenig Ruhe. Ich möchte die Tür meines Zimmers abschließen und mich tief unter die Bettdecke verkriechen. Aber der Bauarbeiter unter meiner Schädeldecke legt den Betonbohrer nicht einmal für ein paar Minuten beiseite. Abermals grüble ich über den heutigen Tag und über die Dinge, die ich nicht verstehe.

Mom ist tot. Ein todbringender Herzinfarkt. Die Einäscherung, obwohl das nicht ihrem Wunsch entsprach. Die Karte mit dem Vollmond. Die Kopie eines Zeitungsartikels, darunter die Worte: Erinnerst du Dich, Stella?

Plötzlich habe ich Angst. Sie verschweigen mir etwas. Es ist eine Intuition, eine Schlussfolgerung, nichts Konkretes, nur ein Gedanke. Ich habe keine Ahnung, in was für einer Schweinerei sie da wühlen.

Ich bin in Gefahr, da bin ich mir sicher.

Kapitel 7

Ich schlurfe mit der Gehhilfe über den Korridor. Der Mann, der mich begleitet, kennt mich offenbar schon eine ganze Weile. Auf dem Namensschild, das an der Brusttasche seines weißen Shirts befestigt ist, steht der Name Hanno. Gefällt mir. Er sieht gut aus. Ich mag eigentlich keine Ohrringe an Männern, aber bei ihm ist das anders, vor allem wenn er diesen winzig kleinen schwarzen Stein trägt, das sieht sehr hübsch aus.

Hanno ist vermutlich Physiotherapeut, aber ich werde ihn nicht fragen, obwohl ich ihn sehr sympathisch finde. Ich weigere mich, Fragen zu stellen.

Achte auf jede Kleinigkeit, denk genau nach, dann wirst du schon erfahren, was du wissen willst, hat meine Mutter mir als Kind gepredigt.

Weiter vorn im Gang steht ein Stuhl. Hanno schlägt vor, dass ich mich einen Moment ausruhe. Als ich mich setze, dreht er den Rollator um und lässt sich auf jenen Teil fallen, der offenbar für eine Sitzposition bestimmt ist, und errät meine Gedanken.

Er lächelt. „Wussten Sie nicht mehr, dass Sie mit diesem Ding nicht nur herumlaufen können, Stella?“

Ich will es mir und ihm nicht eingestehen, dass ich es tatsächlich vergessen habe. Unwillkürlich halte ich die Luft an, um meinen Atem zu beruhigen. „Es ist meine erste Gehhilfe und hoffentlich meine letzte. Nicht, dass mein Mann mir eines Tages sagt: „Spring auf, Puppe, ich fahr dich nach Hause!“

Hanno lacht laut auf. „Keine Sorge, Stella, wir werden dieses Ding hier möglichst kurz einsetzen. Ich möchte mit Ihnen schon bald im großen Physioraum trainieren, dort können wir an Ihrer Kondition arbeiten. Später, wenn Sie wieder fit sind, werden wir auch in unserem wunderschönen Park am See spazieren gehen. Wie fühlen Sie sich jetzt?“

„Ein bisschen wackelig auf den Beinen. Ich habe nebst der Erinnerung wohl auch meine Kondition verloren.“ Meine Hände umklammern die Armlehnen des Stuhls, als droht ein Kentern. „Ist dies das erste Mal, dass wir beide zusammen einen Spaziergang machen, Hanno?“

Jetzt sieht er mich ernst an. „Nein. Kurz nach Ihrer Ankunft in Euphoria haben wir das Aufstehen und ihr Gleichgewicht geübt. Ab dem vierten Tag ließ ich Sie mithilfe des Rollators gehen. Nur eine kleine Strecke. Sie waren durch starke Kopfschmerzen blockiert. Haben diese mittlerweile ein wenig nachgelassen?“

„Ich hatte diese Kopfschmerzen schon vor Wochen? Seltsam, ich erinnere mich nicht daran. Hm … Ich war wohl einige Wochen vollkommen abwesend. Ich habe alles verloren: Gedanken, Worte, Erinnerungen, jedenfalls für kurze Zeit.“

„Das ist mir auch aufgefallen. Es muss seltsam sein, aufzuwachen und festzustellen, dass einige Wochen einfach ausgelöscht sind.“ Er bläst in seine rechte Hand. „Einfach so wie eine Feder im Wind.“

Ich schmunzle innerlich. „Sie sind ja ein Romantiker, Hanno, und ich ein … ein Forrest Gump? Es ist nicht nur dieser Erinnerungsverlust. Ich habe das Gefühl, ich rede, fühle und denke manchmal wie eine Zehnjährige – eine Frau in den besten Jahren mit dem Habitus eines jungen Mädchens. Oder ein junges Mädchen, das versehentlich, durch ein Aneurysma die Welt und sich verloren hat. Bin ich ein Plemmi?“

Er grinst. „Sie sind weit davon entfernt, ein weiblicher Forrest Gump zu werden, Stella. Plemmi können Sie auch aus Ihrem Wortschatz streichen. Ihr Oberstübchen funktioniert einwandfrei. Muss alles nur noch ein wenig sortiert werden.“

Plötzlich durchschneiden mehrere Pieptöne die Stille im Gang. Eine Krankenschwester eilt in ein Zimmer. Ich sehe mich suchend um und betrachte dann das rosa Klinikbändchen an meinem Handgelenk, als könnte dieser hässliche Gegenstand, den ich nach langem Zureden endlich trage, die Ursache meiner Abhängigkeit sein. Ich spüre eine Träne über meine Wange rollen und wische sie schnell weg.

„Meine Mutter ist gestorben, einfach so, und ich habe nichts davon mitbekommen, Hanno. Sie wurde eingeäschert, obwohl sie immer sagte, dass sie begraben werden wolle.“

Hanno ist sichtlich betroffen. „Wirklich? Wie ist das nur möglich? Hatte sie nichts schriftlich hinterlegt? Kein Testament gemacht?“

„Sie hatte es mit mir besprochen, das genügte ihr. Also nein.“

„Waren Sie die Einzige, die den Wunsch ihrer Mutter kannte?“

Plötzlich habe ich das Gefühl, dass ich auf meine Worte achten muss. „Ja.“

„Sind Sie sich dessen sicher?“

„Nur weil ich ein paar Wochen nicht von dieser Welt war, heißt das noch lange nicht, dass ich verwirrt bin.“ Es klingt unfreundlicher als es von mir gewollt war.

„Es tut mir leid, ich zweifle nicht an Ihren geistigen Fähigkeiten. Ich kann mir vorstellen, dass es für Sie schrecklich sein muss, dass dieser Wunsch nicht erfüllt wurde. Haben Sie Geschwister?“

Ich habe wieder das Gefühl, dass ich achtgeben muss, was ich sage. Hanno hat bereits mit mir gearbeitet, er wird doch wissen, was passiert ist? Dann weiß er wohl auch, dass ich einen Ehemann und eine Halbschwester habe. Und er weiß um die Amnesie, die mich davon abhält, mich an die vergangenen Wochen zu erinnern. Hat er irgendwelche Informationen, die er mir vorenthält? Immerhin hat er Zugang zu meiner Krankenakte.

„Lassen sie uns eine kleine Übung machen, Stella, um Ihr Gehirn zu stimulieren und Ihnen zu helfen, Ihren Wortschatz in Schuss zu halten.“

„Mein Wortschatz ist in Ordnung.“

„Es ist sehr spielerisch. Ich sage Ihnen den Anfang eines Sprichworts und Sie müssen das Ende finden. Wir fangen mit etwas Einfachem an, Sie brauchen bloß das letzte Wort des Sprichworts zu erraten. Okay?“

Ich nicke wenig begeistert.

„Alle Wege führen nach…?“, beginnt Hanno.

„Rom.“

„Aller Anfang ist …?“

Ich lache leise. „Wie wahr. Aller Anfang ist schwer!“

„Abends werden die Faulen …?“

„Fleißig.“

„Angst verleiht …?“

Ich zucke erschrocken zusammen. „Flügel. Woher wissen Sie von meiner Angst?“

„Es war mehr oder weniger ein Gefühl. Angst ist oft eine Frage des Selbstschutzes. Möchten Sie mir davon erzählen?“

Ich schüttle den Kopf und sehe ihm fest in die Augen. Ich möchte kein Gespräch über meine Angst führen. Hanno erweckt den Eindruck das zu respektieren.

„Ihre Wortfindungsstörungen sind jedenfalls verschwunden, Stella“, stellt er fest. „Wunderbar. Ein zum Sprechen anhebender Mensch hat stets etwas Magisches. Diese Magie verwandelt sich nur in Tragik, wenn der Betreffende irgendwo ganz für sich allein mit Worten im Gehirn hantiert.“

Ich stehe wieder auf. „Jedenfalls sind hier jede Menge verständnisvoll lauschende Mitmenschen, die dieselbe Sprache sprechen und sich kümmern. Das macht alles leichter. Können wir zurückgehen?“

Er springt vom Rollator auf. „Natürlich. Es tut mir leid, dass es für Sie so gekommen ist.“

„Das kommt doch wieder in Ordnung?“ Meine Stimme zittert leicht. Ich strecke meinen Arm aus. „All das. Meine verlorene Erinnerung, meine verlorene Kraft, all das, was sich in meinem Kopf verflüchtigt hat. Kommt das wieder in Ordnung?“ Tränen trüben meine Augen. „Ich bin es doch immer noch, oder?“

„Ja, wenn wir weiter zusammen daran arbeiten, ist das alles vorübergehend. Sie müssen Geduld aufbringen. Es braucht Zeit.“

Ich würde Hanno gerne etwas Nettes sagen, aber mir fällt nichts ein. Vielleicht bin ich kein netter Mensch. Stopp! Das bin ich und das weiß ich, wenn ich Hanno ansehe. Meine Empathie für andere Menschen habe ich nicht verloren.

Im Zimmer liegen mein Handy und ein großer Umschlag auf dem Nachttisch, aber von Julian fehlt jede Spur. Ich nehme das Kuvert in die Hand und lege es in die Schublade. Ich kann es später öffnen. Dann setze ich mich aufs Bett und drücke den Knopf des Schwesternrufs. Die Tür schwingt sofort auf. Leonie kommt herein.

„Wissen Sie noch, wer ich bin?“, neckt sie mich mit einem strahlenden Lächeln und zwinkert mir zu.

Ob ich für die richtige Antwort Bonuspunkte bekomme?

„Sie sind Leonie, meine Lieblingsbetreuerin.“

Sie drückt meine rechte Hand. „Schön, dass Sie wieder voll da sind, Stella.“

Ich umarme sie kurz und nehme den süßlichen Duft ihres Shampoos wahr, der seit meinem Aufwachen in diesem Zimmer nichts von seiner Macht Erinnerungen zu wecken, eingebüßt hat. Ich mag ihr Apfelshampoo.

„Hanno hat mir erzählt, dass auch das Gehen im Gang gut vorangeht und dass er bald mit dem Konditionstraining beginnen will. Sie werden sehen, dass Sie sich dadurch besser fühlen werden, und es würde mich nicht wundern, wenn dann auch Ihr Appetit zurückkehrt. Haben Sie jetzt Appetit auf etwas Bestimmtes?“

Ich weiß es nicht. Nach dem Aufwachen habe ich ein Fläschchen Proteine getrunken und ein paar Bissen von dem gemischten Obst genommen, das mich aus einer Art Suppenschüssel anstarrte. Das Käsesandwich liegt in eine Papierserviette eingewickelt in der Schublade, für den Fall, dass ich später hungrig werden sollte. Das war bisher nicht der Fall.

„Seit wann habe ich keinen Appetit, Leonie?“

Eine merkwürdige Frage. Ich habe das Gefühl, dass es hier nicht um mich, sondern um eine andere Person geht. Hat sich auch meine Persönlichkeit verändert?

Leonie setzt sich neben mich. „Schmecken Sie denn was Sie essen und trinken, Stella?“

„Ja, ich denke schon. Die flüssige Nahrung schmeckt chemisch. Heute bekam ich zum Frühstück eine Schale mit Mandarinen. Ich mag Obst. Aber ich weiß nicht, was Appetit ist oder wie sich das anfühlt.“

„Ich glaube, Sie werden wieder hungrig sein, wenn Sie mehr trainieren. Das wird Ihnen gefallen, weil Sie dann auch mit anderen Patienten zusammenarbeiten. Wir haben in einer halben Stunde eine Gruppensitzung. Möchten Sie nicht auch daran teilnehmen?“

Von welcher Gruppe spricht sie da?

„Ich habe die Gruppe noch nicht erwähnt, es tut mir leid, dass ich es nicht zuerst erklärt habe. Jede Woche trifft sich eine Gruppe der Rehabilitationsabteilung und diskutiert darüber, was hier gut und was nicht so gut läuft. Diese Gespräche werden von dem Psychologen der Abteilung und einem Teammitglied begleitet. Sie könnten sich heute Ihrer Gruppe anschließen und die anderen kennenlernen.“

Meine Gruppe?

Ein messerstichartiger Schmerz schießt durch mein Trommelfell ins Mittelohr. Gefolgt von einem pulsierenden Schmerz, der mich zwingt, mich hinzusetzen. Ich klammere mich an die Tischkante und schwanke. Mein Blick ist verschwommen, punktförmige Sterne tanzen mir vor den Augen. Die Kopfschmerzen werden jetzt so stark, dass mir übel wird. Ich muss mich hinlegen.

„Die Teilnahme ist freiwillig“, bedeutet Leonie schnell.

Schau an, ich werde ohne meine Erlaubnis einer Gruppe zugeteilt. Egal.

Mich interessieren andere Dinge. Warum hat mir Julian das Handy gebracht, ohne nach mir zu sehen? Warum schickt mir meine Mutter ohne Genesungswünsche diesen Zeitungsartikel. Die Worte darunter sind eindeutig ihre Handschrift: Erinnerst du dich, Stella? Welche Überraschung hielt Mom für mich bereit? Was wollte sie mir unbedingt anvertrauen? Wovor hatte sie Angst?

„Ich assistiere heute dem Psychologen und muss jetzt gehen, Stella.“ Leonie schenkt mir ein strahlendes Lächeln. „Sehe ich Sie vielleicht später?“

Ich zucke mit den Schultern.

Jemand klopft an die Tür und im nächsten Augenblick betritt meine Halbschwester das Zimmer.

Leonie geht an ihr vorbei. „Hey Emma.“

Ich hebe eine Augenbraue. „Ihr kennt euch?“

Emma kommt mit ausgebreiteten Armen auf mich zu. „Du bist wieder bei uns und hellwach, wie ich sehe. Das gefällt mir. Natürlich kennen Leonie und ich uns, ich bin fast jeden Tag hier gewesen. Und jetzt möchte ich dich ganz fest umarmen.“ Sie packt mich und küsst mich.

„Bis später“, sagt Leonie und schließt leise die Tür hinter sich.

Emma hält mich immer noch fest. „Musst du zur Therapie?“

„Ich muss gar nichts“, antworte ich. Auf meinem Nachtschränkchen vibriert das Smartphone. Ich löse mich aus Emmas Umarmung. Zu spät. Das Display zeigt mir Julians Anruf. Soll er mir doch auf die Mailbox sprechen.

„Wie fühlst du dich?“, erkundigt sich Emma.

Der Schmerz hat nachgelassen, Freddy hat kurz den Schlagbohrer beiseitegelegt. Ich spüre den seelischen Schmerz. Aber noch mehr fühle ich die Wut, die in mir tobt. Ich platze fast vor Wut.

Kapitel 8

Emma hat uns Kaffee geholt. Sie spürt meine Wut und will mehr darüber wissen. Meine Halbschwester ist stets für Klarheit und dafür, die Dinge beim Namen zu nennen. Ich erinnere mich, wie verzweifelt sie meine Mutter manchmal mit ihren direkten Fragen und Äußerungen machen konnte.

„Das hat sie von deinem Vater“, knurrte Mom dann immer, wenn es ihr zu viel wurde. In Wahrheit verhöhnte sie mit ihren Worten Emmas Mutter Greta, jene Frau, die nach Moms Empfinden mit ihrem Ehemann durchgebrannt war und die trotz des Widerstands meiner Mutter an zwei Wochenenden im Monat meine Stiefmutter wurde.

Allerdings sträubte Mom sich nicht als ich sie fragte, ob ich meine Halbschwester zu meinem vierzehnten Geburtstag einladen durfte. Sie wusste, dass sie auch Greta ins Haus lassen musste, die zu diesem Zeitpunkt um meinen Vater trauerte. Dad starb zwei Monate vor meinem vierzehnten Lebensjahr. Ich habe meine Mutter nie mehr als in dieser Zeit weinen sehen.

Emma war damals fünf Jahre alt und ich erinnere mich sehr gut daran, dass sie damals die Bedeutung des Todes noch nicht erfassen konnte. Monatelang fragte sie, wann ihr Vater zurückkommen würde, warum er so lange fortblieb, ob sie ihn verärgert hätte, und mehr als einmal, was „tot“ und „nie“ genau bedeuteten. Sie bekam an vielen Orten Wutanfälle, oft in Läden, in denen viel von dem, was zerschlagen wurde, bezahlt werden musste. Auch wollte sie, dass ich zu ihr zog, weil wir den gleichen Nachnamen hatten. „Wir sind eine Familie“, sagte sie immer wieder. „Du bist Stella Hoffmann, ich bin Emma Hoffmann, Deine Mutter ist Ida Hoffmann, meine Mutter ist Greta Hoffmann und mein Vater war Erik Hoffmann.“

Ich fand Emma manchmal sehr ermüdend, aber ich habe sie nie gemaßregelt. Es war schön, nach Jordi eine kleine Halbschwester zu haben. Ich liebte die Tatsache, dass meine Mutter und Greta immer besser miteinander auskamen je mehr Zeit verging. Es gab aber auch Zeiten, in denen wir plötzlich keinen Kontakt mehr zu Emma und ihrer Mutter hatten. Greta hielt in regelmäßigen Abständen grundlos Distanz und reagierte auch nicht auf unsere Versuche, mit ihr in Kontakt zu treten. Ich wollte Emma immer gern sehen, aber ich kam nicht an ihrer Mutter vorbei. Sie lehnte uns ab und benahm sich unerträglich selbstsüchtig. Greta wollte uns auch nicht den wahren Grund für ihr Verhalten nennen. Nach einigen Monaten stand sie unerwartet wieder vor unserer Haustür und fragte reumütig, ob sie noch willkommen wäre. Wir gewöhnten uns an diese merkwürdigen Stimmungsschwankungen und rechneten jederzeit damit, dass die angenehmen Gespräche und die kleinen, fröhlichen Treffen mit Greta mit einem Mal auch wieder vorbei sein konnten. Mom sagte immer, dass mit Greta etwas nicht in Ordnung sei. Ich hingegen fand sie absolut cool und hatte sie gern.

Emma reicht mir eine Tasse Kaffee. „Auf wen bist du wütend, Stella?“

Ich nehme einen Schluck und stelle die Tasse wieder auf den Nachttisch. „Ekelhaft. Was ist das nur für eine Brühe? Gibt es hier irgendwo auch einen genießbaren Kaffee?“

Emma lacht. „Hey, du bist anscheinend wieder gut drauf. Weiter so, Schwesterherz. Ein wenig Durchsetzungsvermögen wird dir nicht schaden. Im Erdgeschoss ist ein Restaurant, in dem köstlicher Kaffee serviert wird. Soll ich einen Rollstuhl organisieren?“

Ich habe das Gefühl zusammenzubrechen.

Emma berührt meinen Arm. „Habe ich etwas Falsches gesagt, Stella?“

Ich winke ab und versuche zu antworten, bekomme aber kein Wort über die Lippen.

Emma tupft mir die Tränen von den Wangen. „Leonie hat mir gesagt, dass du dich nicht mehr an die letzten Wochen erinnerst.“ Ihre Stimme zittert. „Es … es tut mir so leid, dass deine Mutter nicht mehr da ist.“

„Sie wollte begraben werden und er hat Mom einäschern lassen!“

Emmas Augen weiten sich, sie legt eine Hand vor den Mund. „Ich wusste es! Meine Mutter war schockiert, als ich ihr das erzählte. Sie sagte, dass unser Vater wusste, dass Ida schon immer eine Grabstelle wollte und gegen eine Feuerbestattung war. Danach rief ich sofort Julian an. Er hat mir nicht geglaubt und schien ziemlich irritiert über meine Bemerkung. Ich fühlte mich … Ich fand ihn … Ach was, egal.“

„Nein, nicht egal. Was denkst du?“

„Es machte keinen Sinn. Lass uns über etwas anderes reden.“

„Nein, sag schon!“

„Es kam mir vor, als würde er mir drohen.“

„Hol bitte den Rollstuhl.“

Während Emma sich auf dem Gang nach einem Rollstuhl umsieht, nehme ich das Handy und öffne die zuvor aufgezeichnete Sprachnachricht.

„Ich brauche Zeit für mich“, höre ich Julian sagen. „Ich hätte es dir schon früher sagen sollen, aber ich fand es schwierig. Es ist nicht wegen einer anderen Frau, ich bin einfach nur zu sehr mit mir selbst beschäftigt. Ich brauche Abstand.“

Meine Welt außerhalb Euphoria bricht zusammen. Ich erstarre.

Emma kommt mit dem Rollstuhl ins Zimmer und hält inne. „Was ist denn los, Stella?“

Ich reiche ihr das Handy. „Hör dir das mal an!“

Emma macht keinen Versuch, ihre Abscheu zu verbergen. „Was für ein Freak. Nimmt sich gerade jetzt so wichtig. So ein Arschloch!“, knurrt sie und hilft mir in den Rollstuhl. „Mach dir keine Sorgen, ich werde mich um dich kümmern, Stella.“

Ich wünschte, ich wäre mental in der Lage, mir Sorgen zu machen.

Wir setzen uns an einen Tisch in der Nähe des Buffets. Hübsch dekoriert locken dort belegte Brötchen, Eiersalat, Kuchen, Smoothies und warme Häppchen die Besucher der Cafeteria an.

Ich sollte jetzt Appetit auf Süßigkeiten verspüren, denn das bewirkte früher der Anblick von Kuchen. Aber da ist etwas, das außerhalb meines Willens geschieht. Ich verspüre keinerlei Appetit, nirgendwo in mir ist etwas, was dem auch nur ansatzweise ähnelt, und ich frage mich, wie das nur möglich ist.

„Das sieht alles köstlich aus, findest du nicht auch?“ Emma zeigt auf die Anzeige über dem Buffet. „Was hättest du denn gern? Ein Baguette mit Eiersalat? Das werde ich nehmen. Komm, schließ dich mir an, dann fühle ich mich weniger schuldig.“

Baguettes mit Eiersalat? Ich will hier raus!

„Mit Eiern vom Tortenhuhn?“

Emma grinst. „Was ist ein Tortenhuhn?“

„Keine Ahnung.“ Ich zeige auf den Kuchen in der Auslage. „Die schnöde Wirklichkeit?“

Emma berührt wieder meinen Arm. „Oh je. Du möchtest gar nichts? Noch immer nicht hungrig? Soll ich dir einen Kaffee holen?“

Ich zucke mit den Schultern. „Ja bitte. Entschuldige.“

Sie nimmt mich in den Arm. „Keine Entschuldigung. Werde einfach gesund. Ich unterstütze dich bei allem, was immer es auch sein mag. Alles wird gut, Schwesterherz.“

Ich beobachte, wie sie mit einem Tablett am Buffet vorbeigeht. Mir wird bewusst, wie gern ich sie habe und seufze. Es hat zwar keinen Sinn, mir Julians Nachricht noch einmal anzuhören, aber ich kann nicht anders und tue es dennoch. Vielleicht weil ich hören möchte, was er nicht sagt.

Emma setzt sich wieder und schiebt eine Tasse Kaffee in meine Richtung. „Neue Nachricht?“

„Julian braucht Zeit für sich, es geht nicht um eine andere Frau. Verdammt, worum geht es dann? Hast du auch an der Beerdigung meiner Mutter mitgewirkt? Oder irgendetwas davon mitbekommen?“

Emma rührt in ihrem Kaffee ohne mich anzusehen. „Ich habe mich nicht eingemischt, Stella, und nicht mit Julian über das Wie und Wann diskutiert, er hat das allein abgewickelt. Aber ich war die Erste, die er angerufen hat, nachdem er deine Mutter fand. Ich ging direkt zu ihm und fand ihn völlig erschüttert vor. Er hatte auch Alexander angerufen, der ein paar Minuten später kam. Der Arzt deiner Mutter traf kurz darauf ein. Ich war froh, dass er da war, denn ich wusste nicht, wie ich Julian beruhigen konnte. Alexander ging auf Anraten des Arztes mit ihm an die frische Luft, um ihn ein wenig zu beruhigen.“

Emmas Augen werden feucht. „Wir haben uns nach einem Bestattungsinstitut erkundigt und wurden auch schnell fündig. Julian hat sich allein um alles gekümmert. Er sagte, er sei sich sicher, dass du das gewollt hättest. Wir konnten dich nicht fragen. Sie hatten dich gerade operiert und du hast den größten Teil des Tages geschlafen. Der Neurochirurg hat uns geraten, dir nicht zu sagen was mit deiner Mutter passiert ist, der Schock könnte deine Genesung erschweren.“

„Und war … ist Julian immer noch völlig erschüttert?“

Emma nimmt einen Schluck Kaffee. „Keine Ahnung. Als ich ihn bei der Einäscherung sah, war er der Einzige, der ein paar Worte gesprochen hat. Eine Woche später wollte er dir sagen, dass deine Mutter tot sei, aber es gelang mir, ihn davon abzuhalten. Da wurde er plötzlich sehr unangenehm.“

„Was meinst du mit unangenehm?“

„Lass uns über etwas anderes reden“, antwortet Emma.

„Was verschweigst du mir? Ich will es wissen. Du verheimlichst mir etwas!“

Sie schüttelt langsam den Kopf. „Wirklich nicht. Ich wünschte, ich wüsste, was genau mit deiner Mutter passiert ist. Wieso lag sie ein paar Tage lang tot in ihrem Haus?“

„Ich hatte ja keine Gelegenheit vorbeizuschauen“, spotte ich.

„Aber Julian schon, Stella. Als du in der Uniklinik operiert wurdest, rief er mich an und sagte, dass er sich um deine Mutter kümmern würde. Und seitdem sie tot ist, frage ich mich, ob er …“

Ich halte den Atem an. „Ob er was?“

Emma neigt den Kopf. „Ich frage mich, ob er uns etwas verheimlicht hat. Und warum? Sie haben sich doch gut verstanden. Deine Mutter mochte Julian, ich kann mir nicht vorstellen, dass er … Ich muss aufhören, darüber zu grübeln, das alles ergibt keinen Sinn.“ Sie streichelt meine Hand. „Es kann ein großer Schock sein, jemanden tot aufzufinden. Das verstehe ich. Aber ich verstehe nicht, warum er sich jetzt von dir distanzieren will. Es ist schockierend und ich nehme ihm seinen Egoismus verdammt übel.“

Plötzlich riecht es nach Kälte und Leere. Tödliche Gedanken dringen in meinen Kopf. Ich will begraben werden, Stella, höre ich Mom sagen. Ein Flüstern aus dem Jenseits.

Mein Kopf hämmert, der Kaffee, den ich gerade getrunken habe, kommt mir hoch. „Ich muss mich einen Moment hinlegen.“

„Es tut mir leid, dass ich so viel rede“, sagt Emma. „Ich bringe dich zurück.“

Eine Frau geht an uns vorbei, sie trägt einen Pullover mit dem Aufdruck einer Fünfzig-Euro-Note. Ich kann den Blick nicht von ihr abwenden.

„Kennst du sie?“, will Emma wissen.

„Nein“, antworte ich.

Plötzlich erinnere ich mich. Da war auch etwas mit Geld, aber ist es klug, mit Emma darüber zu sprechen? Ich muss lernen, wieder nachzudenken. Ich muss mich neu anpassen, mich neu organisieren und das Verlorene zurückholen. Aber wie ordne ich das Chaos in meinem Kopf?

Wieder in meinem Zimmer lege ich mich sofort hin. Die Vorhänge hinter mir sind zugezogen, durch den Spalt erahne ich das Nachmittagslicht. Die Abbildung auf dem Pullover beherrscht weiterhin meine Gedanken. Es ist, als schwebe ich durch die Langsamkeit. Die Zeit steht still, das Unheil naht.

Ich presse die Hände gegen meine Schläfen und suche die Erinnerung.

„Diese Kopfschmerzen werden nachlassen“, beteuert Emma. „Das haben sie mir in der Uniklinik gesagt.“

„Sagten sie auch, wann das sein wird? Vor Ostern oder nach Weihnachten?“

Emma schenkt mir ein Glas Wasser ein. „Trink einen Schluck und nimm noch eine Schmerztablette. Pillen und Kopfschmerzen sind stille Komplizen.“

Ich lasse mich sanft in die Kissen fallen. „Es ist so seltsam. Du hast mich in der Uniklinik besucht und ich erinnere mich nicht daran. Mein traumatisiertes Gehirn hat mir auch dieses Stückchen Erinnerung genommen. War Julian auch dort?“

„Jeden Tag – weinend.“ Emma seufzt und spielt mit einer Strähne ihrer weizenblonden Haare. „Vielleicht wurde es ihm einfach zu viel. Zuerst wirst du bewusstlos in die Klinik gebracht, dann findet er deine Mutter tot auf. Aber dennoch ist es unverzeihlich, dass er dich jetzt im Stich lässt.“

„Er will sich nur ausruhen“, protestiere ich. „Du tust als wären wir schon geschieden.“

Emma winkt ab. „Nein, nein. Entschuldigung. Entspanne dich, du hast recht. Er ist dein Mann. Ich sollte mich da raushalten.“ Sie erweckt den Eindruck, als würde sie noch über etwas grübeln.

„Raus damit! Sag schon!“, ermutige ich sie.

„In der Uniklinik warst du wie in einer Art Trance. Du hast uns zwar verstanden, aber nichts drang wirklich zu dir durch. Das war echt gruselig.“ Sie geht in Richtung Tür. „Nimm bitte diese Schmerztabletten und versuche, ein wenig zu schlafen.“

Erst jetzt fällt mir auf, wie nervös sie ist. Sie ist schlank, fast mager, ihre knochigen Hände kann sie nicht stillhalten, manchmal spielt sie mit den Fingern als wäre ihr Rock eine Trommel, manchmal kratzt sie sich am Ohrläppchen oder nimmt ihre Nasenspitze zwischen Daumen und Zeigefinger.

„Ich schaue mal nach, ob ich noch einen Kaffee auftreiben kann.“

Bevor ich protestieren kann, ist sie verschwunden. Ich bin völlig erschöpft und wälze mich auf den Rücken. Eine seltsame Frage schwebt plötzlich wie eine graue Wolke in meinem Kopf.

Was geschah mit Jordi?

Ich verstehe den Gedanken nicht. Um mich abzulenken nehme den Umschlag aus der Schublade. Öffne ihn. Mein Kopf hämmert sofort ununterbrochen, ich habe das Gefühl, dass mein Gesicht in zwei Hälften auseinandergerissen wird, wenn ich nicht stillhalte. Eine Welle der Übelkeit überwältigt mich.

Ich sehe verschwommene Buchstaben auf losen Blättern hinter einem unsichtbaren Schleier und atme tief ein, aber mein Zwerchfell blockiert wie so oft, sobald sich parasitäre Gedanken in meinen Geist weben. Ich schließe die Augen und konzentriere mich auf meine Umgebung, zwinge mich, aus dem Nebel hervorzutreten.

Ausatmen. Den Gedankennebel vertreiben. Ich öffne die Augen. Es hat funktioniert. Vor mir liegen einige herausgerissenen Seiten, offensichtlich aus einem Tagebuch meiner Mutter.

Ich zittere, als meine Augen auf die ersten Zeilen treffen.

Kapitel 9

Tagebuch Ida Hoffmann

Samstag, 14. November 2020

Ich erwachte zum ersten Mal seit langer Zeit schweißgebadet und mit einem Schrei hinter den Lippen aus einem Albtraum auf. Die Schleusen meiner Erinnerung an die vergangene Nacht sind offen und ich kann den Fluss von Bildern und Geräuschen, die in meinen Kopf strömen, nicht aufhalten. Ich habe von Jordi geträumt. Ist es meine eigene Erinnerung? Oder einfach nur ein Traum, weil Jordi einst einen Teil meines Lebens einnahm?

Jordi …

Ich habe mir heute einige Fotos von meinem kleinen Jordi angesehen und etwas entdeckt, das mich in höchstem Maße beunruhigt. Ich wusste von Anfang an, dass an der Geschichte der drei Jungen, die Jordi getötet hatten, etwas faul war. Und so hielt ich damals in meinem Tagebuch alles fest, selbst die kleinste Kleinigkeit. Unwichtiges, Wichtiges oder das, was ich für wichtig hielt. Die Fotos und meine Tagebuchaufzeichnungen beweisen es.

Ich hatte sofort ein schlechtes Gefühl, als ich am Abend des 21. August 1990 unsere Wohnung betrat. Ich erwartete, dass Jordi schon zu Hause sein würde, hungrig und schmuddelig, nachdem er draußen gespielt hatte. Aber was bedeuten solche Gefühle schon? Während ich die Tomatensoße rührte und die Nudeln abschreckte, lag sein Körper bereits einen Kilometer entfernt im Fluss. Sein Herz hatte bereits aufgehört zu schlagen, bevor ich überhaupt den vagen Verdacht hatte, dass meinem Jungen etwas passiert sein könnte. Was tat ich, als Jordi starb? Hatte ich einem Patienten seine Medikamente gegeben, mit meinen Kollegen von der Abendschicht die Übergabe besprochen oder mich im Supermarkt an der Kasse angestellt? Was auch immer es war, mein Atem hatte keinen Moment gestockt, ich hatte keine Gänsehaut, fühlte in keiner Weise, dass Jordi in Gefahr wäre, dass etwas nicht stimmte. Ich hatte nicht einmal an meinen Sohn gedacht. Zweifellos war Jordi in meinem Kopf – das war er immer –, aber dann in einer völligen Selbstverständlichkeit.

Während mein Sohn Angst hatte, vielleicht sogar nach mir rief und bewusstlos und schwer verletzt durch den Wald geschleppt wurde, beklagte ich mich innerlich über den Verkehr.

Was genau mit Jordi passiert ist, wurde nie geklärt. Auch sein Skateboard wurde bis heute nicht gefunden. Jordi wurde nach Freigabe seiner Leiche am 30. August 1990 beerdigt. Die gesamte Schule war anwesend, mein Junge war noch nie so beliebt …

Stella kommt mich morgen besuchen, ich werde meine Sorge mit ihr besprechen. Ich glaube, sie schwebt in höchster Gefahr.

Freitag, 22. August 1990

Ich lebe mit meiner Familie in einer Wohnung am Ortsende von Aachen-Brand. Erik und ich sind seit vierzehn Jahre verheiratet. Wir haben eine zwölfjährige Tochter und hatten einen achtjährigen Sohn: Stella und Jordi. Erik arbeitet als kaufmännischer Geschäftsführer in der Universitätsklinik Aachen, er ist ein guter Vater. Er kümmerte sich um seine Kinder. Spielte mit Stella, brachte Jordi regelmäßig zum Sportplatz und ermutigte ihn, Tennis zu lernen, gab ihm Tipps, wie Jordi seine Technik und sein Verständnis für das Spiel verbessern konnte. Er nannte ihn voller Stolz Jordi Becker.

Unsere Wohnung mit Blick auf das Wäldchen mutet idyllischer an, als es in Wahrheit ist. Auf den Balkonen der anderen Wohnungen stapeln sich Bierkästen neben Wäscheständern und Satellitenschüsseln. Der Wald ist ein Zufluchtsort für streunende Pitbulls und herumlungernde Jugendliche. Im Supermarkt um die Ecke pöbelt oft eine Gruppe Alkoholiker die Passanten an. Ich kann damit leben, weil wir in vierzehn Tagen in ein schönes Einfamilienhaus nach Laurensberg ziehen werden.

Am Donnerstagmorgen bin ich um sieben Uhr aufgestanden, Erik schlief noch, er hatte einen Urlaubstag genommen. Um halb neun begann mein Dienst im Pflegeheim Marienstift und davor musste ich Stella zur Schule bringen. Jordi hatte schulfrei und sich für den Nachmittag mit seinem besten Freund Timo verabredet, der aus dem Urlaub zurückgekommen war.

Timos Mutter Betty erzählte mir, dass Jordi gegen zwölf Uhr vor ihrer Tür stand. Timo und Jordi gingen gemeinsam zum Spielplatz, wo er Jordi die Skateboard-Tricks zeigte, die er sich selbst im Laufe der Ferien beigebracht hatte. Die Kinder blieben etwa anderthalb Stunden auf dem Spielplatz, dann gingen sie zurück zu Timos Haus. Um halb vier begleitete Timo seine Mutter zum Arzt und Jordi machte sich auf den Heimweg. So sahen ihn unsere Nachbarn: der kleine Hoffmann mit blondem Lockenkopf, Sneakers und seinem Skateboard unter dem Arm geklemmt.

Gegen halb fünf am Nachmittag wurden Erik und Jordi an der Eisdiele gesehen. Jordi hatte sein Skateboard dabei und rollte es unter seinen Füßen hin und her. Laut Erik wollte Jordi eine Weile auf dem Spielplatz skaten. Nachdem sie ein Eis gegessen hatten, gingen sie gemeinsam zum Waldweg, der hinter den Wohnungen verläuft. Dort trennten sich Erik und Jordi, der zum Spielplatz ging. Es war das letzte Mal, dass Erik unseren Jungen lebend gesehen hat.

Unsere Nachbarn sahen Jordi um fünf Uhr auf dem Spielplatz. Eine halbe Stunde zuvor waren drei pubertierende Jugendliche über den Platz geschlendert. Sie saßen auf dem Klettergerüst, tranken Bier aus Dosen und rauchten Joints und Zigaretten.

Aufgrund der Hitze standen die meisten Fenster und Türen der umliegenden Wohnungen offen. Meine Nachbarin Gisa hing die Wäsche auf dem Balkon auf, mein Nachbar Matthias zündete den Grill an. Er erwartete Besuch. Gisas Freundin Jasmin rauchte eine Zigarette und blätterte in einem Klatschmagazin. Sie alle erzählten mir mehr oder weniger die gleiche Geschichte: Die älteren Jungs kümmerten sich zunächst nicht um Jordi, der mit seinem Skateboard allein trainierte. Dann winkte ihm Elias von Zedlitz zu. Elias ist achtzehn Jahre, sieht gut aus und macht einen überheblichen Eindruck. Im Gegensatz zu den anderen beiden lebt er nicht im Aachener Stadtteil Brand, sondern im Villenviertel Hangeweiher. Er ist mit Jo Daschke befreundet, einem siebzehnjährigen, mageren Jungen, mit schulterlangen roten Haaren. Der dritte Junge, Markus Raabe, achtzehn und Jo‘s Nachbar, ist im zweiten Ausbildungsjahr und macht ein Praktikum in einer Autowerkstatt. Markus hat kurzes braunes Haar, ist kleiner, schlank und athletisch gebaut. Er bewegt sich anmutig, mit dem Gang eines leichtfüßigen Raubtieres, sagte Gisa.

Sie beobachteten, wie Elias Jordi herbeiwinkte. Jordi klemmte sich daraufhin sein Skateboard unter den Arm und ging zögernd auf die Jungen zu. Jordi kannte Elias. Linus, Eliasʼ Bruder, ist in seiner Klasse und Elias bringt Linus oft zur Schule.

Elias sprang vom Klettergerüst. Von den Balkonen aus konnte man nicht hören, was gesprochen wurde. Wenig später beobachtete Jasmin wie Elias und Markus Jordi mit viel Geduld einen Skateboard-Trick beibrachten. Der Junge mit den roten Haaren blieb am Klettergerüst, rauchte und sah den anderen zu. Jasmin hörte die Jungen lachen und setzte sich wieder hin. Als sie ein paar Minuten später wieder von ihrer Zeitschrift aufblickte, war der Platz leer.

Meine Nachbarn gaben zu Protokoll, dass Jordi mit dem Skateboard unterm Arm den Platz gegen Viertel nach fünf verlassen hat. Er winkte Elias und Markus zu als er am Klettergerüst vorbeischlenderte und zum Waldweg hinter dem Spielplatz ging – derselbe Waldweg, den Erik eine Viertelstunde zuvor auf dem Heimweg genommen hatte. Elias und Markus setzten sich wieder auf das Klettergerüst neben Jo.

Matthias kümmerte sich um den Grill. Er erzählte mir, dass er Markus und Jo auf dem Spielplatz gesehen hatte und dass sie oft Ärger machten, aber es war ihm zuwider, die Jungen zur Ordnung zu rufen. Deshalb war er erleichtert, dass Elias, Markus und Jo ebenfalls in Richtung Waldweg schlenderten.

Ich hatte um Viertel vor sechs das Pflegeheim verlassen und geriet in einen Stau. Es war entsetzlich schwül und ich konnte es kaum erwarten, mich zu Hause zu duschen. Gegen halb sieben war ich endlich zu Hause. Erik saß am Küchentisch und löste ein Rätsel. Ich erkundigte mich sofort nach Jordi und Stella. Erik vermutete Jordi noch immer draußen, Stella hörte in ihrem Zimmer Musik.

Als Jordi um 19.30 Uhr noch immer nicht zuhause war, rief ich Timos Mutter an. Aber sie hatte Jordi um vier Uhr nachmittags das letzte Mal gesehen, ebenso Timo. Jordi hatte nicht viele andere Freunde in der Nachbarschaft, dennoch rief ich alle Mütter an, die ich kannte. Niemand hatte Jordi gesehen.

Ich war zutiefst beunruhigt und lief durch die Straßen, rief nach meinem Jungen. Es war schweißtreibend heiß und roch überall nach gebratenem Fleisch, faulendem Abfall und Teer. Stimmen, Gelächter, ein Fußballspiel im Fernsehen, ein weinendes Kind und türkische Musik waren aus den Gärten und von den Balkonen zu hören. Ich hatte mich noch nicht einmal umgezogen. Meine weiße Uniform war schmuddelig, ich konnte meinen Schweiß unter den Achseln riechen.

Gisa hörte mich nach Jordi rufen, als sie die Wäsche von der Leine holte. Wie in der Nacht zuvor lag ein Gewitter in der Luft. Sie erschrak über die Verzweiflung und Angst in meiner Stimme und fragte, ob sie helfen könne und versuchte mich zu beruhigen. Ihr Sohn war neun Jahre alt und er kam auch einmal zu spät nach Hause, weil er Frösche im Wald gefangen hatte. Kinder suchten das Abenteuer und vergaßen dabei die Zeit.

Ich freute mich schon fast darauf, Jordi später den Kopf waschen zu können und wütend zu sein. Aber Jordi fing keine Frösche im Wald, da war ich mir sicher. Mein Sohn war nicht abenteuerlustig, er kletterte nie auf den höchsten Baum und war bei einem Versteckspiel stets der Erste, der gefunden wurde.

Gisa riet mir zur Polizei zu gehen. Nur der Sicherheit halber.

Um 20:22 Uhr erstatteten Erik und ich eine Vermisstenanzeige. Ich war erleichtert, dass die Polizistin die Situation richtig einschätzte und uns sofort ernst nahm, gleichzeitig hatte ich Angst. Es war also ernst.

Die Anwohner waren schockiert und entsetzt, boten ihre Unterstützung an und beschlossen, sich an der Suche nach Jordi zu beteiligen. Gegen zehn Uhr abends brach aber ein heftiges Gewitter aus. Der Regen spülte die Straßen blank und entmutigte einige Anwohner, auf eigene Faust weiter nach Jordi zu suchen.

Um 23:34 Uhr entdeckte die Polizistin Petra Senger etwas im Schilf der Inde in Aachen-Brand, kaum ein Kilometer vom Spielplatz entfernt, wo Jordi zuletzt gesehen wurde. Der Zustand, in dem Jordis Leiche gefunden wurde, machte deutlich, dass er bereits schwer verletzt war, bevor er in die Inde geworfen wurde. Sein Oberkörper war übersät mit blauen Flecken, am Hinterkopf war eine tiefe Wunde. Jordis Hände und Füße waren in Wasserpflanzen verstrickt. Sein Skateboard wurde nicht gefunden. Der Bereich um den Fundort der Leiche wurde weiträumig abgesperrt. Scheinwerfer beleuchteten den Abschnitt in der ansonsten völlig dunklen Landschaft.

In dieser Nacht lotste mich das Böse in der Dunkelheit durch meine Träume.

Kapitel 10

Meine Augen weiten sich. Ich reibe sie mit der freien Hand, als hätte ich mir das soeben Gelesene eingebildet. Aber nein, ich habe nicht halluziniert.

Ich lese noch einmal einen Satz aus dem ersten Abschnitt:

Jordi wurde nach Freigabe seiner Leiche am 30. August 1990 beerdigt. Die gesamte Schule war anwesend, mein Junge war noch nie so beliebt …

Warum erinnere ich mich nicht daran?

Ich nehme den Umschlag noch einmal in die Hand. Mein Name steht in deutlichen Buchstaben und in der Handschrift meiner Mutter auf dem Umschlag: Stella.

Wie ist das nur möglich? Das hier ist keine Nachsendung und erst jetzt wird mir bewusst, dass jemand in meinem Zimmer gewesen sein muss. Vielleicht in der vergangenen Nacht?

Ich lege die Tagebuchseiten in die Schublade. Mein Herz pocht wild, meine Atmung beschleunigt sich, mein Blut pulsiert in den Adern und meine Gedanken überschlagen sich. Ich bin erschöpft. Nicht nur, weil ich seit Tagen unruhig geschlafen habe, sondern vor allem, weil ich mir jetzt sicher bin, dass jemand in der Dunkelheit hier gestanden und mich beobachtet hat. Wie ein Schatten. Wer weiß, wie lange.

Ein paar Momente lang bin ich zu geschockt, um zu reagieren, doch dann bin ich auf den Beinen und an der Tür. Mir schwindelt, ich habe noch nicht alle Sinne beisammen, bin noch ganz benommen vom Schlaf. Ich verlasse humpelnd und mit einem Schluckauf mein Bett und gehe zum Fenster. Ich blicke in den Himmel und sehe keine Sterne, keinen Mond, nur feindselige Schwärze. Auf dem Gehweg ist nichts zu sehen, außer einem kleinen Hund, der unter dem Licht einer kugelrunden Laterne läuft. Sie schwebt über ihm wie ein träger Vollmond.

Ich lege mich wieder hin und nicke sofort ein.

Jemand tätschelt meinen Arm.

„Ich mache mir keine Sorgen. Du wirst sehen, alles wird gut. Sie wacht auf“, höre ich jemanden sagen und öffne die Augen.

Links von meinem Bett sitzt Emma, rechts neben ihr steht Alexander, mein Ex-Mann.

Emma streichelt meine Hand. „Hast du dich ein bisschen erholt? Du hast fast eine Stunde lang geschlafen. Wie geht es deinem Kopf?“

„Freddy hat einen neuen Schlagbohrer, dieser ist ein wenig leiser“, antworte ich.

Emma nimmt die Fernbedienung für das Bett und richtet mich ein wenig auf. „Freddy?“

„So nenne ich meinen Kopfschmerz. Sie sind nicht mehr ganz so heftig“, antworte ich.

Alexander küsst meine Wange. „Gut, dass zu hören, Mädchen. Hier sind wir: deine hübsche Schwester und dein sympathischer, gutaussehender Ex-Mann. Du siehst auch besser aus als vor einer Woche. Ein bisschen wieder wie die alte Stella. Ich bin so froh, dass du jetzt wirklich wach und ansprechbar bist. Alma lässt dich herzlich grüßen, sie hat sich große Sorgen um dich gemacht und wäre gerne gekommen, aber unser Babysitter hat in letzter Minute abgesagt.“ Er schenkt mir ein Lächeln, das perfekte weiße Zähne enthüllt.

Emma hält einen hellblauen Umschlag in der Hand. „Du hast Post bekommen. Soll ich ihn für dich öffnen?“

Nein, nicht schon wieder! Ich strecke meine Hand nach dem Umschlag aus. Mein Herz klopft. Neben dem Stempel fällt mein Blick auf die Abbildung einer Mondsichel.

Alexander sieht es ebenfalls. „Das kommt von jemandem, der weiß wie sehr du den Mond magst.“

Ich öffne den Umschlag und ziehe eine Karte heraus, dieses Mal ohne Rosenblätter. Sie zeigt einen leuchtenden Vollmond über einer dämmrigen Landschaft. Ich möchte die Karte zerreißen, aber behalte die Kontrolle.

Bleib gelassen. Jemand hat sich die Mühe gemacht, mir eine Karte zu schreiben, das sollte ich würdigen. Ich öffne sie. Starre auf die unbeschriebenen Innenseiten. Mich packt plötzlich die Angst.

„Was ist los?“, fragt Emma und versucht, die Karte an sich zu nehmen, aber ich lasse es nicht zu.

Ich sehe wie die Zahnräder in ihrem Kopf rattern, wie ihre Neugierde zum Leben erwacht.

„Was hat dich so erschreckt, mein Schätzchen. Kann ich mal sehen?“ Alexander beugt sich auch zu mir herüber.

Mein Schätzchen? Ich zeige ihnen die leere Karte.

Alexander steht auf und verschränkt die Arme vor der Brust. „Was ist das denn?“

Emma lächelt und zuckt mit den Schultern. „Typisch. Da hat jemand vergessen, seinen Namen zu erwähnen, weil er oder sie in Eile war.“ Sie kichert. „Könnte mir auch passieren.“

Ich bereite mich darauf vor, mich aus der Geborgenheit des Bettes zu befreien. Die Kopfschmerzen werden stärker, ich strecke meine Hand nach Emma aus, erstarre aber in der Bewegung und sehe ich ihr direkt in die Augen. Ich bin misstrauisch. Warum?

„Was machst du jetzt damit, Stella?“, fragt sie und schaut sich die Rückseite der Karte an. „Nichts. Nirgendwo ein Text. Was für ein Trottel.“

„Du hast eine schöne Karte von einem Trottel bekommen“, flachst Alexander. „Aber wenigstens hat der Absender darüber nachgedacht, womit er dir eine Freude machen könnte. Mit dem schlichtweg schönsten Vollmond.“

Ich hasse eine Verharmlosung und werde ihnen nichts von der ersten Karte, dem Zeitungs- und Tagebuchausschnitt erzählen.

Ich will dass sie gehen.

Nachdem sie das Zimmer verlassen haben, stehe ich auf und werfe einen Blick aus dem Fenster. Selbst im Dämmerlicht der langsam untergehenden Nachmittagssonne kann ich gut erkennen, wie Emma und Alexander sich auf dem Gehweg angeregt unterhalten. Ich frage mich, worüber sie so heftig diskutieren. Über meine Situation?

Ich habe stets ein unabhängiges Leben geführt und muss jetzt feststellen, dass ich momentan nicht allein zurechtkomme. Geplagt von Albträumen und seltsamen Nachrichten bin ich auch davon überzeugt, dass ich beobachtet werde, dass mich irgendjemand oder irgendetwas bedroht. Mir fällt es schwer, mich in der neuen Ordnung meines Lebens zurechtzufinden. Auch leide ich unter dem vorübergehenden Verlust meiner Selbstständigkeit und Erinnerung. Die Enge dieses Zimmers und die Monotonie meines momentanen Lebens stehen im kompletten Gegensatz zu meinem früheren Dasein, das von Offenheit und regem Austausch bestimmt war. Mein einziger Lichtblick sind Leonie und der Physiotherapeut Hanno, mit dem ich regelmäßig trainiere. Beide kümmern sich liebevoll um mich. Sie zeigen mir immer wieder, wie wichtig Kommunikation ist und wie sehr man Zuneigung und tiefes Verständnis braucht. Aber da sind auch der Tod meiner Mutter, Julians Distanzierung und die seltsame Post. Ein bisschen viel auf einmal.

In der Nacht wache ich von einem Geräusch auf und fröstele. Draußen tobt ein Sturm, einige feuchte, welke Blätter hat der Wind an die Scheibe geweht. Ich horche in die Stille.

Da! Das Geräusch! Schon wieder. Als würde jemand vor meiner Tür in seiner Bewegung innehalten. Dieses Mal klingt es weniger metallisch als beim letzten Mal, aber es ist wieder da. Aber dieses Mal kommt es nicht vom Gang.

Wer auch immer hier auf sich aufmerksam machen will, steht nicht mehr vor der Tür. Er ist bereits in meinem Zimmer.

Ich schalte das Licht ein und bin so paralysiert, dass ich vor Schreck vergesse aufzuschreien.

Ich weiß nicht, ob ich erleichtert oder wütend sein soll, als ich meine Schwester sehe. Erleichtert darüber, dass der Eindringling Emma ist und kein Mörder. Oder wütend darüber, dass Emma es wagt, meine Nachtruhe zu stören.

„Du hast mich zu Tode erschreckt, Emma! Was machst du um diese Zeit hier?“

„Ich wollte noch einmal nach dir sehen, aber aufwecken wollte ich dich nicht! Ich habe mir Sorgen gemacht, nachdem du uns weggeschickt hast.“

Sie lügt!

„Dass ehrt dich Schwesterherz, aber ich brauche meine Nachtruhe. Ich möchte nicht, dass du hier mitten in der Nacht auftauchst!“ Ich spüre wie sich meine anfängliche Angst in Erschöpfung verwandelt. „Wieso haben sie dich überhaupt zu mir gelassen?“

„Der Pförtner kennt mich. Ich war schon oft in der Nacht bei dir.“

Ich seufze. Schon wieder eine verlorengegangene Erinnerung.

„Entschuldige, Stella, aber mir hat diese leere Karte mit dem Vollmond keine Ruhe gelassen.“

Ich zucke mit den Schultern. „Du hast fünf Minuten!“

„Jemand schickt dir eine Karte, ohne Namen und ohne Gruß. Du bist eine Mondseele, eine Mondfrau. Sie kann dir demnach nur jemand zugeschickt haben, der dich kennt und von deiner Liebe zum Vollmond weiß. Seit der Einäscherung deiner Mutter mache ich mir Gedanken. Ich glaube, dass du in Gefahr bist oder irgendein Unheil droht. Es ist nur so ein Gefühl und deshalb wollte ich heute Abend unbedingt nach dir sehen.“

„Das ist lieb von dir, Emma, aber tue das bitte nie wieder. Du kannst gerne tagsüber zu mir kommen. Hier kümmern sich viele Leute um mich, also mach dir bitte keine Sorgen. Außerdem kann ich ganz gut auf mich selbst aufpassen.“

„Ich habe auch über unser Gespräch gegrübelt. Hätte ich Julian genauer zugehört, wären mir die versteckten Warnsignale aufgefallen. Es war seine Stimme, sie klang anders und hat ihm verraten. Da ist irgendetwas faul und ich schwöre dir, dass ich das herausfinden werde.“

„Nein! Du wirst gar nichts unternehmen. Darum kümmere ich mich, sobald ich hier entlassen werde. Ich bin müde. Komm her, gib mir einen Kuss und geh bitte nach Hause. Die fünf Minuten sind um und ich möchte schlafen.“

„Okay. Entschuldige noch einmal, Stella, aber ich musste nach dir sehen“, sagt Emma leise und umarmt mich fest.

Ich atme erleichtert auf, als sie die Tür hinter sich verschließt. Plötzlich verspüre ich einen Druck auf den Augen. Ein untrügliches Zeichen für zunehmende Kopfschmerzen. Rasch werfe ich zwei Tabletten mit Wasser ein und sinke in die Kissen. Ich bin aufgewühlt, weil Emma erneut Moms Einäscherung erwähnt hat. Warum weckt sie mich mitten in der Nacht auf und stochert in einer frischen Wunde herum?

Meine Gedanken nehme ich mit in einen unruhigen Schlaf.

Kapitel 11

Aus den Trümmern hervor geklettert habe ich mich Stück für Stück wieder zusammengesetzt und mich aus dem Schrecken wieder hochgerappelt. Heute Morgen habe ich mich ohne Hilfe geduscht und angezogen.

Ich habe in der vergangenen Nacht von Jordi und Mom geträumt. Beide haben mir einen Gutenachtkuss auf die Stirn gedrückt. Ich reibe meine von Müdigkeit gereizten Augen und betrachte mich aufmerksam im Badezimmerspiegel. Dunkle Ränder sind unter meinen Augen, die Lider geschwollen; das Stigma einer fast schlaflosen Nacht.

Etwas ist anders. Etwas hat sich verändert. Aber was? Ich schärfe meinen Blick, sehe mich um und schließe meine Augen für einen Moment. Öffne sie wieder und lasse den Blick durch das Badezimmer schweifen. Plötzlich ist es mir klar. Sehe es. Empfinde das gleiche elende Gefühl wie gestern Nacht. Etwas fehlt.

Ich humpele ins Zimmer, schaue in die Nachttischschublade und atme erleichtert auf. Die Tagebuchseiten und die Karten liegen unberührt an gleicher Stelle. Die leere Mondkarte stecke ich in meine Jackentasche und gehe wieder ins Badezimmer in der Hoffnung, dass alles an seinem Platz steht. Aber meine Toilettenartikel sind anders sortiert und meine Nachtcreme fehlt. Vermutlich war es eine demente Patientin, die in der Nacht umherirrte und sich im Zimmer geirrt hat. Allerdings kann ich mir die Nachrichten meiner Mutter nicht erklären und von dem Tagebuch hatte ich bis gestern auch keine Ahnung. Falls mich jemand zu Tode erschrecken will, werde ich es herausfinden.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752135619
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Februar)
Schlagworte
Mord Psychospiele Lügen Betrug Vollmond Wahn Mondteufel Bücherjunkies Büchereulen Psychothriller

Autor

  • Astrid Korten (Autor:in)

Das Spezialgebiet der Bestseller-Autorin sind Thriller, Psychothriller und Romane. Sie schreibt außerdem Kurzgeschichten, Drehbücher und Romane. Ihre Thriller erreichten alle die Top-Ten-Bestsellerlisten vieler Ebook-Plattformen. Die Autorin schreibt für den Verlage und veröffentlicht auch selbst.
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Titel: Mondteufel