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Die Mausetür

von Philipp Nathanael Stubbs (Autor:in)
50 Seiten
Reihe: Weird Tales, Band 1

Zusammenfassung

Dass die Brüder Ben und Finn weder Neil Gaimans Buch kennen, noch das Ballett von Tschaikowsky je gesehen haben, hält diese Geschichte nicht davon ab, sie durch eine geheimnisvolle Tür in einem alten, halb verfallenen Haus zu schicken, auf deren anderen Seite zumindest Finn plötzlich alles aus einer anderen Perspektive sieht. Denn dann wird die von Ben sehnlichst als Haustier gewünschte Katze zu einer Killerbestie und die Zeit, um alles wieder zurückzudrehen, viel zu schnell knapp, wenn man statt Händen und Füßen nur noch Mäusepfötchen hat.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Die Mausetür

»Euer Papa ist waaaaaas?« Das Mädchen hatte eine nervige Stimme und es war viel zu lockig, viel zu blond und viel zu aufdringlich.
»Architekt«, brummte Ben.
»Coooooooooool!« Und es neigte zu einem Übermaß an Vokalen. Aber es war der erste Tag in der neuen Stadt, in der neuen Schule, in der neuen Klasse. Und obwohl man ein Buch nicht nach seinem Umschlag beurteilen sollte, waren manchmal die ersten Eindrücke die richtigen. Es war ja nicht von Dauer. Bisher war Familie McAllister jedes Jahr mindestens einmal umgezogen.
»Was macht denn ein Architeeeeeekt?«
»Er sitzt den ganzen Tag am Schreibtisch und hat keine Zeit für Kinder«, antwortete Ben. Er und Finn waren Zwillinge, doch Ben sah sich als den Älteren — um drei Minuten und siebenundvierzig Sekunden älter, um exakt zu sein — und Vernünftigeren.
»Und wir ziehen dauernd in alte Bruchbuden, die er renoviert und verkauft, sobald man vernünftig drin leben könnte«, sagte Finn. Ben hatte den Verdacht, dass Finn die Bruchbuden insgeheim gefielen, auch wenn es in den meisten schweinekalt, das Dach undicht und die Zimmer feucht waren.
»Das ist ja auuuufregend!« Ben musste hier weg. Das Mädchen war nervtötend. »Und wo wohnt ihr?« Ben legte einen Schritt zu.
»In dem alten Haus auf dem Hügel, die Allee da runter.« Die Augen des Mädchens wurden riesig.
»In der Spukvilla?« rief sie. Und rannte weg.

»Die hatte ja voll einen Schuss!« bemerkte Ben, als er mit Finn die Allee lang nach Hause lief. Oder zu dem Haus, in dem sie heute Nacht schlafen würden. Denn ein Zuhause sah anders aus. Und es war wärmer.
»Was ist, wenn sie recht hat?« fragte Finn. Ben verdrehte auf Älterer-Bruder-muss-Kleinkind-ertragen-Art die Augen.
»Fang du jetzt nicht auch noch an.«
Finn schaute hinter sich.
»Sie läuft uns hinterher.« Ben zuckte mit den Schultern.
»Soll sie.«
»Und wenn es da wirklich spukt?« Ben seufzte und blieb stehen. Er winkte das Mädchen zu sich und wartete, bis sie endlich vor ihnen stand.
»Wie heißt du?«
»Cora.«
»Gut Cora. Was genau spukt in dem Haus? Ein Gespenst?« Cora schüttelte den Kopf.
»Nein, kein Gespenst.«
»Was dann?«
»Gar nichts.« Ben lachte.
»Eine Spukvilla, in der es nicht spukt. Das ist toll! Komm Finn, lass uns gehen.«
»Aber Kinder verschwinden da!« rief Cora ihnen hinterher. Die Jungs hatten es genau gehört, taten aber so, als nicht.

»Ihr könnt die zwei nebeneinander liegenden Zimmer im oberen Flur haben«, sagte Mr. McAllister, als sie ein paar Minuten später das alte Haus erreicht und die quietschende Tür passiert hatten.
»Tür ölen«, hatte er gemurmelt und etwas auf seinen Notizblock gekritzelt, als die Jungen ihre Ranzen zur Seite stellten und die Jacken auszogen.
»Klang wie eine Maus«, sagte Finn.
»Ja. Eine, die zwischen zwei Metallplatten zerquetscht wird«, ergänzte Ben.
»Abmarsch nach oben. Ich habe die Umzugsfirma eure Kisten schon in die Zimmer bringen lassen. Hausaufgaben machen, die Schränke einräumen und dann kommt zum Abendessen.«
»Das wird ja ein unglaublich aufregender Nachmittag«, murmelte Ben, sodass sein Vater ihn nicht hören konnte. Finn grinste. Die Brüder hatten nicht vor, sich an seine Anweisungen zu halten.

Zum Teil taten sie es doch. Denn ein Nachmittag wird überhaupt nicht aufregend, wenn die besten Spielsachen irgendwo tief und gut verpackt in Kisten lagerten. Die waren in Rekordzeit entleert — wenn auch nicht ganz so ordentlich, wie sich ihr Vater das wohl vorgestellt hatte — und Finn und Ben mit der Erforschung ihrer neuen Zimmer und des Hauses beschäftigt.

Im Vergleich zu den Ruinen, in denen sie schon gelebt hatten, war diese Villa ein Schloss! Der pure Luxus! Vor allem, wenn Luxus ein dichtes Dach, aber nicht unbedingt eine funktionierende Heizung hieß. Dafür waren die Zimmer riesig. Wirklich riesig. Man konnte darin Fußball spielen (von Ben getestet), sich so verstecken, dass der eigene Bruder nach fast einer halben Stunde suchen aufgab (von Finn getestet) und man konnte sein Lieblingsauto verlieren, wenn es nach einem rasanten Stunt unter einem schweren Eichenschrank verschwand, der so schwer war, dass selbst der stärkste Mensch der Welt ihn nicht um einen Millimeter hätte verrücken können. Wahrscheinlich war das der Grund, warum die Villa möbliert verkauft wurde. Finn lugte unter den Schrank, denn das Auto war etwas Besonderes. Es hatte einen kleinen Knopf und wenn man den drückte, dann ertönte das Geräusch einer Polizeisirene. Ben liebte dieses Auto. Und obwohl Ben behauptete, der größere, vernünftigere und erwachsenere von beiden zu sein, konnte er doch ohne sein Auto keine Minute überleben.

Sagte er nicht, war aber so.

»Gib mir die Angel! Ich seh deinen Flitzer.« Finns Zunge blitzte zwischen seinen Lippen hervor, als er sich konzentriert auf die Jagd nach Bens blauem Auto machte. Er hatte es nicht wirklich gesehen, sondern nur ein blaues Funkeln, das er sich vielleicht nur eingebildet hatte. Denn unter dem Schrank war es dunkel. Richtig dunkel. Pechschwarz. So schwarz, dass Finn das Gefühl hatte, dass die Angel, die er in die Dunkelheit stieß, von ihr verschluckt wurde. Finn achtete sorgfältig darauf, dass seine Finger nicht in die Dunkelheit kamen.
»Hier, nimm die Taschenlampe!« Ben gab ihm die kleine LED-Leuchte, die er für das letzte Zeugnis bekommen hatte. Mr. McAllister neigte zu praktischen Geschenken — warme Pullover, Socken und so — aber diese Leuchte war richtig cool. Finn war der Einzige außer Ben, der sie berühren durfte. Und das auch nur in Ausnahmefällen. Finn leuchtete unter den Schrank und hatte die eigenartige Vorstellung, die Dunkelheit würde vor dem Licht weglaufen. Auf unzählig vielen Trippelfüßchen.
Das Auto hatte Finn einen Augenblick später. Aber dann sah er aus den Augenwinkeln heraus etwas, was einen halben Lidschlag vorher nicht da gewesen war: eine Tür.
»Da ist eine Tür hinter dem Schrank«, sagte Finn.
»Spinn nicht«, sagte Ben mit seiner vernünftiger-älterer-Bruder-Stimme. »Niemand stellt einen Schrank vor eine Tür. Das würde überhaupt keinen Sinn machen. Weil dann kann man die Tür nämlich gar nicht mehr benutzen.«
»Aber da ist eine Tür!« Finn schaute noch einmal unter den Schrank. »Und sie ist winzig«, ergänzte er. Die Tür war wirklich winzig. So als hätte eine Maus mit einer fipsigen Säge ein klimperkleines Loch in die Wand gesägt und daran eine reich verzierte Holztür befestigt.
Ben war stehengeblieben. »Das geht gar nicht«, verkündete er von oben herab. »Das ist die Wand zu meinem Zimmer und auf meiner Seite ist keine Tür. Das weiß ich ganz genau.« Und um zu bestätigen, dass er recht hatte und Finn nur der kleine Bruder war, fügte er hinzu: »Dummbatz!«
»Kuck selbst!« sagte Finn. Ben kniete sich hin und verdrehte dabei die Augen, nur um zu zeigen, was er nicht alles für seinen kleinen, dummen Bruder tat. Er bückte sich, um mit einem Auge unter den Schrank zu schielen und streckte eine Hand aus.
»Lampe!« sagte er mit der Autorität eines Chirurgen, der bei einer schwierigen Gehirnoperation von der Schwester ein Skalpell fordert. Finn gab ihm die Lampe und Ben leuchtete unter den Schrank. Diesmal glaubte Finn zu hören, wie die Dunkelheit vor dem Licht weglief. Ben richtete sich auf. »Da ist wirklich eine Tür!« sagte er.
»Hab ich doch gesagt!« antwortete Finn. Und dann vergaßen sie die Tür.

Die fiel ihnen erst beim Abendessen wieder ein. Mr. McAllister hatte Schnitten geschmiert und eine Dosensuppe erwärmt, was der Gipfel seiner Kochkunst war. Sie saßen auf drei Stühlen nebeneinander um das eine Ende der massiven Holztafel, die in einem Raum stand, den Ben und Finn beim ersten Anblick Rittersaal getauft hatten. Dieses Ende der Tafel wurde von einer einzelnen, trüben Glühbirne beleuchtet, das andere Ende lag im Schatten.
»Die Elektriker kommen nächste Woche, dann wird das alles in Ordnung gebracht«, hatte Mr. McAllister gesagt, als zum wiederholten Male die Birne flackerte und es für ein paar Sekunden überall dunkel war. Ben und Finn sagten nichts dazu. Vielleicht würde der Elektriker nächste Woche kommen, vielleicht auch erst nächsten Monat. Hoffentlich würde er kommen, bevor Mr. McAllister probierte, selbst die Leitungen in Ordnung zu bringen. Nach dem letzten Versuch musste er einige Tage im Krankenhaus verbringen und die Jugendaufsicht hatte angedeutet, dass solch unverantwortliches Verhalten nicht noch einmal toleriert werden würde.
Doch das flackernde Licht erinnerte Finn an den Schatten unter dem Schrank.
»Dad, da ist eine Tür in meinem Zimmer.«
»Natürlich ist da eine Tür in deinem Zimmer«, lautete die Antwort. Mr. McAllister las irgendein Buch, in dem es um Beton ging. Finn konnte sich nichts Langweiligeres vorstellen, als über Beton zu lesen. Ausgenommen vielleicht, Beton beim Trocknen zuzuschauen — und dazu bekamen er und sein Bruder oft genug Gelegenheit. »Wie solltest du sonst in dein Zimmer kommen?«
»Nein, keine richtige Tür. Eine winzige. So klein wie, wie...« Finn überlegte einen Moment, bevor ihm das richtige Tier einfiel. »So klein wie für eine Maus. Eine Mausetür.«
»Wir haben Mäuse?« Mr. McAllister hörte wieder nicht richtig zu. »Keine Angst, das ist normal in alten Häusern. Ich rufe den Kammerjäger an, ich schreib's gleich auf meine Liste.«
»Dad!« wiederholte Finn laut und deutlich. »Da ist eine Tür in meinem Zimmer, die so klein ist, dass nur eine Maus durchpasst!« Für einen Augenblick hob Mr. McAllister seinen Blick vom Buch und runzelte die Stirn.
»Das macht absolut keinen Sinn. Wozu sollte so eine kleine Tür nützlich sein? Außerdem ist da keine Tür. Ich habe die Räume vermessen, als ihr heute Morgen in der Schule wart. Ich bin sicher, dass mir eine Tür aufgefallen wäre.«
»Aber Dad, sie ist winzig! Und du bist so groß, dass du sie leicht hättest übersehen können.« Mr. McAllister seufzte. Das tat er immer, wenn seine Konzentration endgültig hinüber war und er sich seinen Kindern widmen musste.
»Also gut. Diese Tür, die ist wo genau?«
»Hinter dem Schrank an der Wand zu Bens Zimmer.«
»Das kann nicht sein.«
»Sie ist aber da!« sagte Finn eigensinnig. Mr. McAllister rückte seine Brille auf der Nase zurecht und setzte sich in Position. In seine Ich-Habe-Recht-Und-Erkläre-Euch-Jetzt-Warum-Position. Finn fürchtete diese Position, denn sie bedeutete, dass es gleich einen Vortrag gab, der so langweilig war, dass sein Kopf austrocknen und verschrumpeln würde, bis er aussah wie eine Backpflaume.
»Erstens handelt es sich bei der Wand, die du meinst, um eine tragende Wand. Niemand, wirklich niemand, nicht einmal der mittelalterliche Baumeister, der ein Haus wie dieses bauen durfte, ohne je ein Architekturstudium abgeschlossen oder überhaupt eine Universität von innen gesehen zu haben, würde eine Tür in eine tragende Wand einbauen. Denn das würde die strukturelle Integrität des gesamten Gebäudes gefährden.« Mr. McAllister liebte die Wendung strukturelle Integrität. Sie kam in den meisten seiner Ansprachen vor, obwohl Finn nicht wusste, was genau es bedeutete. »Und zweitens«, ging der Vortrag weiter, »und das dürfte der entscheidende Grund sein, ist eine Tür nicht nur auf einer Seite der Wand, sondern geht durch die Wand hindurch. Und auf Bens Seite ist definitiv keine Tür, sondern eine glatte, nahezu makellose Wand. Ich weiß das, denn es ist mir aufgefallen, als ich die Zimmer oben vermessen habe. Stimmt's Ben?« Ben nickte und vermied Augenkontakt, denn das hätte Mr. McAllister zur völlig falschen Annahme verleiten können, dass Ben das Thema interessierte. Denn dann hätte er seine Söhne mit genaueren Erklärungen und Geschichten, die nur Architekten verstanden, zu Tode gelangweilt. Ben fand den Beruf seines Vaters zwar interessant, aber nur in verträglichen Happen.

Etwas später hatte Finn das wieder vergessen. Er hatte alles vergessen, denn er schlief tief und fest, aber etwas weckte ihn. Finn klappte die Augen auf - eine Anstrengung, die er sich hätte sparen können, denn da das Licht in seinem Zimmer nicht funktionierte war es so dunkel, wie es nur dunkel sein konnte. Aber gleich darauf wurde es so hell, wie es nur hell werden konnte, als Ben mit seiner Taschenlampe in Finns Gesicht leuchtete.
»In meinem Zimmer ist eine Tür«, sagte Ben.
»Natürlich ist da eine Tür. Wie wärst du sonst in dein Zimmer rein gekommen? Oder wieder raus, Dummbatz?« Ben machte das, was alle älteren Brüder in so einer Situation tun würden. Er gab Finn einen Klaps.
»Da ist eine Tür. An der Wand zu deinem Zimmer.«
»Spinn nicht!« Jetzt war es an Finn, den Vernünftigen zu spielen.
»Komm mit und sieh sie dir an.« Finn seufzte. Aber nur nach außen hin. Innerlich war er aufgeregt — er hatte schließlich schon immer gewusst, dass da eine Tür war. Er wickelte sich in seine Lieblingskuscheldecke, bis er aussah wie ein kleiner Mönch, und tapste mit nackten Füßen seinem Bruder hinterher.

»Da ist tatsächlich eine Tür«, sagte er ein paar Augenblicke später.
»Hab ich doch gesagt.« Die Tür war genau an der Stelle, an der die Tür auch auf Finns Seite war. Aber diese hier war groß. Also nicht außergewöhnlich groß, sondern so groß wie eine normale Tür eben. Nicht so winzig, als wäre sie nur für eine Maus gemacht worden.
»Hast du sie aufgemacht?« Ben ließ ein lang gezogenes Pfffffffft hören.
»Das wäre total unwissenschaftlich. So etwas muss genau untersucht werden.«
»Du hast dich also nicht getraut.«
»Natürlich hätte ich mich getraut!« Ben legte die Hand auf den Türknauf. Und hielt dann inne. »Aber vorher müssen einige Sachen geklärt werden. Warum ist die Tür zum Beispiel jetzt da und vorhin nicht? Und warum ist sie auf meiner Seite groß und auf deiner Seite klein?«
»Vielleicht ist sie auf meiner Seite ja jetzt auch groß.« Erleichtert zog Ben die Hand von der Tür weg.
»Das müssen wir zuerst feststellen. Ganz wissenschaftlich.«
»Du traust dich bloß nicht«, murmelte Finn und gähnte dabei. Aber Ben war schon aus dem Zimmer raus. Finn schlurfte ihm hinterher.

Als Finn wieder in sein Zimmer kam, lag Ben schon auf dem Boden vor dem Schrank und leuchtete in den schmalen Spalt darunter.
»Abgefahren!« rief er leise, denn er wollte Mr. McAllister nicht wecken.
»Was?« fragte Finn und gähnte wieder.
»Die Tür hier ist immer noch klein.«
»Bist du dir sicher, dass sie auch an der gleichen Stelle ist?«
»Natürlich bin ich das! Ich habe es genau ausgemessen.«
»Wie?«
»Mit meinen Schritten.« Dann fiel ihm etwas auf. Ben schob sich weiter unter den Schrank.
»Das ist seltsam.«
»Was ist seltsam?« fragte Finn.
»Die Tür hat keine Klinke auf dieser Seite.«
»Dann ist es eben doch eine andere Tür.« Ben krabbelte unter dem Schrank hervor, richtete sich auf und sagte zu Finn:
»Es gibt nur einen wissenschaftlich korrekten Weg, das herauszufinden.«
»Und der wäre?« fragte Finn und gähnte. Eigentlich war er nur an einem Weg interessiert: dem zurück ins Bett.
»Wir müssen die Tür öffnen und sehen, was dahinter ist.«
»Das hättest du auch schon vorhin machen können.«
»Dann wäre es aber nicht wissenschaftlich korrekt gewesen.«
»Wie auch immer.« Diesmal schlurfte Finn voran. Bens Taschenlampe leuchtete hell genug, um den Weg zu finden, ohne sich die Zehen anzustoßen. Aber Finn hätte nicht wirklich Licht gebraucht, um zu merken, dass in Bens Zimmer etwas anders war als gerade eben noch. Er spürte es, als er über die Schwelle trat. Und als Ben mit seiner Taschenlampe ins Zimmer kam und die Tür anstrahlte, da sahen sie beide es. Auf dem Boden, direkt vor der Tür lag einer gelber Fetzen Stoff. Und als die Kinder näher herangingen, sahen sie darauf fünf, mit dünner, spinnenartiger Schrift geschriebene Worte:

Geht nicht durch die Tür!

»Was ist das für ein Unsinn?« fragte Ben, als er gleich darauf hinter Finn stand und die Notiz gelesen hatte. »Türen sind dazu da, um durchzugehen.«
»Genau!« bestätigte Finn. »Warum hast du das dann geschrieben?«
»Habe ich nicht!«
»Hast du doch! Und wenn Dad rausfindet, dass du dafür einen Vorhang zerrissen hast, dann killt er dich. Die sind historisch, hat er gesagt.«
»Ich hab das nicht geschrieben!«
»Aber wer dann?« Und im selben Augenblick erinnerten sie sich an die Worte des kleinen Mädchens vom Vormittag.
»Denkst du, dass es hier wirklich spukt?« fragte Finn nach einer Weile.
»Unsinn! Es gibt keine Gespenster.«
»Und was ist mit Türen, die mal da sind und mal nicht?«
»Na die ist jetzt jedenfalls da.«

Und ohne weiter nachzudenken, einfach einem inneren Impuls folgend, zog Finn die Tür auf.

Sie knarrte. Also ein wenig. Nicht so unheimlich, wie das Türen in Spukvillen vielleicht tun sollten. Sondern so, als hätte der Zimmermann nicht besonders sorgfältig gearbeitet.

Auf der anderen Seite war Finns Zimmer. Ganz klar. Oder auch nicht, denn es sah seltsam aus. So als würde man durch ein riesiges Vergrößerungsglas in Finns Zimmer schauen.
»Seltsam!« sagte Ben.
»Ich habe keine Holzdecke in meinem Zimmer«, sagte Finn. Ben legte den Kopf schräg. Die Holzdecke war ihm noch gar nicht aufgefallen, sondern, dass das, was man sah, riesig erschien. Die Füße des Bettes, die Rollen von Mr. McAllister ausgedienten Bürostuhl, auf dem Finn immer sitzen sollte, wenn er seine Hausaufgaben machte, Finns Hausschuhe.
»Hast du keine Hausschuhe an?« fragte Ben.
»Nö«, antwortete Finn, der immer noch mit schräg gelegtem Kopf durch die Tür schaute und über die Holzdecke nachdachte.
»Ich hole sie dir«, sagte Ben. »Wenn du dich erkältest, muss ich wieder die ganze Hausarbeit alleine machen.« Ben ging in Finns Zimmer. Nicht durch diese eigenartige Tür, sondern über den Flur. Finn schüttelte den Kopf. Wie hatte Ben gesagt? Türen sind dazu da, um durchzugehen. Finn machte den Schritt nach vorn. Und verschwand, bevor das Krachen der zufallenden Tür verklungen war.

»Finn! Finn!« rief Ben so leise wie möglich. »Finn, wo bist du?« Bei aller Sorge um seinen Bruder wollte er Mr. McAllister nicht wecken, denn die eiserne Regel hieß, dass die Jungs nach Zehn im Bett sein mussten. Und gerade eben hatte eine Kirchturmuhr Mitternacht geschlagen. Dann hatte Ben das Krachen der zuschlagenden Tür gehört, war zusammengezuckt und zurück gerannt. Das sah Finn ähnlich! Ihn so zu erschrecken!
Ben hatte Finns Kuscheldecke vor der Tür gefunden. Ohne Finn. Er hatte auf ihn gewartet, er hatte nach ihm gerufen — ganz leise jedenfalls — und er hatte ihn gesucht. Sie hatten noch nicht alle Verstecke in diesem Haus entdeckt und die wenigsten davon ließen sich in dem fahlen Licht finden, das durch die Flurfenster von der Straßenlaterne vor dem Haus hereinfiel. Aber Finn war in keinem von diesen. Finns Kuscheldecke lag vor der Tür und sah aus, als hätte irgendwas seinen kleinen Bruder aus ihr herausgerissen. Wo war Finn?

Die Welt war eine andere. Sie kam Finn vage bekannt vor, aber das war auch schon alles. Die Holzdecke, die er durch die Tür gesehen hatte, war weit über ihm. Und er stand in einem riesigen Raum voller Schatten und neuer, fremdartiger Gerüche. Die Gerüche — er konnte sie sehen! Sie waberten wie farbige Schleier in der Luft. Manche verheißungsvoll, andere abstoßend (besonders in dem Bereich um etwas herum, das wie riesenhafte Hausschuhe aussah) und viele grau, alt und schal. Er wollte sich umdrehen, da sah er in der Dunkelheit hinter sich etwas Langes, was sich auf ihn zuschlängelte. Panik griff nach Finn und er floh, rannte, schneller als er je in seinem Leben gerannt war und er floh vor dem Geräusch unzähliger Füße, die ihn verfolgten. Sein Herz begann zu rasen, zu puckern, zu schmerzen, als wollte es gleich explodieren. Dann sprang er in den Schatten einer riesigen Säule und stellte sich tot. Er gab keinen Mucks von sich, bewegte keinen Finger, hielt die Luft an und hoffte, dass er seinen Verfolgern entkommen war.

Es blieb still. Finn lauschte und konnte kein Geräusch hören. Obwohl, das war nicht richtig. Er hörte das Schnarchen seines Vaters, obwohl der in einem Zimmer im Erdgeschoss schlief. Er hörte, dass jemand in Bens Zimmer umher tapste, als würde er etwas suchen. Er hörte, dass draußen vor dem Haus ein Hase die letzten grünen Überreste des Gartens wegknabberte. Aber er hörte keine Schlange, die sich an ihn heranschlängelte, und keine Füße, die hinter ihm her rannten.

Vorsichtig öffnete Finn die Augen. Er hatte sie nicht gehört. Aber die Schlange war schon da. Sie lag ganz still und bewegte sich nicht. Und sie hatte Haare. Finn wusste nicht viel über Schlangen. Aber er wusste, dass Schlangen keine Haare hatten. Er drehte sich vorsichtig weiter zur Schlange um — und sie bewegte sich vorsichtig von ihm weg, als wollte sie aus seinem Blickfeld verschwinden und immer genau hinter ihm bleiben. Leise wollte Finn von dem gefährlichen Tier wegrobben und setzte die Hände vor sich auf den Boden. Da sah er es. Dort, wo seine Hände sein sollten, waren keine Hände. Sondern Pfoten. Sie waren klein, grau und hatten spitze Krallen.

Zuerst konnte Finn es gar nicht glauben. Er betrachtete die Pfoten, als würden sie nicht zu ihm gehören, als wären es Ausstellungsstücke in einem Museum. Aber sie gehörten zu ihm. Krümmte er einen Finger der rechten Hand, dann krümmte sich eine Kralle der rechten Pfote. Winkte er mit der linken Hand, winkte die linke Pfote. Erschrocken sah er auf seine Füße. Nur, dass da keine Füße waren, sondern auch Pfoten. Und die Schlange war keine Schlange. Das war sein Schwanz.
»Ich hab doch geschrieben, dass du nicht durch die Tür gehen sollst!« wisperte eine Stimme neben ihm.

Ben war verzweifelt. Aber nicht so verzweifelt, Mr. McAllister zu wecken. Denn der war immer grummelig, wenn er zu früh aufstehen musste. Und wahrscheinlich würde er Ben die Schuld an Finns Verschwinden geben und dazu verdonnern, die gesamte Hausarbeit in Zukunft allein zu machen. Es musste einen Weg geben, Finn zu finden. Wahrscheinlich hatte sich sein kleiner Bruder bloß versteckt und war in seinem Versteck eingeschlafen. Ja, das sah ihm ähnlich! Oh, das würde eine Abreibung geben! Noch einmal machte sich Ben daran, alle Verstecke gründlich abzusuchen. Und in Finns Zimmer würde er anfangen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739485584
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Februar)
Schlagworte
Fantasy Fantasie Coraline Märchen Humor Kinderbuch Jugendbuch

Autor

  • Philipp Nathanael Stubbs (Autor:in)

Nach Jobs als Banker, Journalist und Zeitungsbote studierte Philipp Nathanael Stubbs im Vereinigten Königreich Informatik und brachte von dort nebst Abschluss auch seine Vorliebe für Understatement und britischen Humor mit. Heute schreibt er tagsüber Software und nachts Bücher. Er möchte der erste Märchen- und Steampunk-Autor zu werden, der den Literaturnobelpreis bekommt. Den er wegen Schüchternheit ablehnt.
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Titel: Die Mausetür