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Er ist es, er ist es nicht...

von Stephanie van Outen (Autor:in)
89 Seiten

Zusammenfassung

Marianne hat eigentlich keine Zeit für einen Mann. Zu sehr ist sie neben der Arbeit mit der Betreuung ihrer alten Mutter eingespannt. Dann lernt sie Carl kennen und hat zum ersten Mal seit Langem das Gefühl, dass aus ihnen etwas werden könnte.
Doch dann verschwindet ihre Mutter - und Marianne sieht sich mit einem alten Familiengeheimnis konfrontiert.

Für Fans der Kategorie Surprise, Suspense & Mystery!

Ebenfalls von der Autorin erschienen: "Du bist dran..." Als ihre Eltern außer Haus sind, lädt die 16-jährige Emily ihren Schwarm Eric zu sich ein. Doch dieser Besuch entwickelt sich zum Alptraum - nicht nur für Emily.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1. Kapitel – Er ist es

Ich habe einen Mann kennengelernt. Sein Name ist Carl und er ist ungefähr Mitte fünfzig. Genau weiß ich es nicht, er hat es mir noch nicht verraten, als ob ihm sein Alter peinlich wäre. Dabei bin ich mindestens genauso alt wie er, wahrscheinlich sogar zwei, drei Jahre älter. Ich habe ihm, um ihn aus der Reserve zu locken, sogar verraten, dass ich nächste Woche Dienstag Geburtstag habe und 58 Jahre alt werde. Das würden wahrscheinlich nicht viele Frauen freiwillig machen.

Ich habe ihn über eine dieser Webseiten im Internet kennengelernt. Zum Glück ist das heutzutage nichts Ungewöhnliches mehr, auch nicht für so eine alte Schachtel wie mich. Ich schätze diese erste, anonyme Art der Kontaktaufnahme sehr, denn ich gehöre bei Weitem nicht mehr zu den Geübtesten, wenn es ums Flirten geht. Ach, machen wir uns nichts vor, diese Zeit ist schon verdammt lange her. Anscheinend geht es vielen anderen ähnlich, denn ich habe im Internet haufenweise solcher Plattformen zur Partnersuche gefunden. Ich kenne sie mittlerweile alle, also zumindest die, die für meine Altersgruppe relevant sind. Ich suche diese Seiten regelmäßig nach neuen Inseraten ab. Sehr regelmäßig. Ich vergleiche das gern mit der Suche nach dem Knüllerangebot der Woche – ich bin geradezu süchtig danach, abends nach einem langen Tag mit einem Glas Rotwein in der Hand vor dem Computer zu sitzen und durch die Angebote zu klicken – immer auf der Suche nach dem einen Superschnäppchen, auf das ich die ganze Zeit gewartet habe. Und auch wenn ich es nur sehr ungern zugebe, ich habe abends meist nichts Anderes vor. Wenn ich mich dann an den Computer setze und nach neuen Bekanntschaften suche, habe ich nicht mehr das Gefühl, so allein zu sein.

Ich habe sehr schnell herausgefunden, wie Männer in ihren besten Jahren heutzutage bei der Partnersuche ticken und bei wem es sich eventuell lohnen könnte, dran zu bleiben - oder wer nur auf einen Seitensprung aus ist. Was nicht heißt, dass die Männer, bei denen es so weit kam, dass ich sie getroffen habe, sich tatsächlich als Superknüller entpuppt hätten. Im Gegenteil, wir reden hier eher vom Restpostenmarkt – mit den ganz staubigen Ladenhütern hinten in der Ecke. Es tut mir leid, ich sollte Männer nicht mit Waren vergleichen und sicherlich tue ich dem ein oder anderen Unrecht. Aber ich habe in den letzten zwei Jahren keinen getroffen, der nicht einen Knall von seiner Mutter, Ex-Frau, Kindern oder von seinem Job davongetragen hat - sofern überhaupt vorhanden, von der Mutter vielleicht einmal abgesehen. Es tummeln sich erstaunlich viele Männer im Netz, die noch nie, oder das letzte Mal vor zwanzig Jahren, eine Freundin hatten. Das erzählen sie mir natürlich nicht gerade heraus, aber ich habe dafür eine Antenne. Ein, zwei gezielte Fragen in diese Richtung und schon weiß ich, wie der Hase läuft.

Und nun habe ich Carl kennengelernt. Er hat mir geschrieben, dass seine letzte Beziehung 5 Jahre her ist, also etwas länger als bei mir und dass sie unschön zu Ende gegangen ist. Dito. Meinen Ex-Mann habe ich, seitdem die Scheidung durch ist, nicht mehr gesehen. Muss ich auch nicht. Ich weiß, dass er immer noch in derselben Firma in derselben Position arbeitet. Daran wird sich auch bis zur Rente nichts mehr ändern, da bin ich mir sicher. Ehrgeiz war ja nie seine Stärke – außer beim Biertrinken vielleicht. Mir unverständlich, wie diese Person, wegen der er mich damals verlassen hat, es immer noch mit ihm aushält. Ich bin ihr mittlerweile geradezu dankbar, dass sie ihn mir weggeschnappt hat. Wahrscheinlich braucht sie jemanden, den sie ordentlich rumkommandieren kann, da ist sie bei ihm genau an der richtigen Stelle. Leider habe ich viel zu spät gemerkt, dass er nicht in der Lage ist, eigene Entscheidungen zu treffen. Ich für meinen Teil möchte endlich jemanden, der sich auf einem Level mit mir bewegt. Mit Humor, Intellekt und Niveau. Das ist doch wohl nicht zu viel verlangt. Ich suche einen ganz normalen Mann: ohne Macke, ungebunden (was nicht selbstverständlich zu sein scheint, deswegen erwähne ich es) und ohne verrückte Mutter, denn die habe ich selbst.

Apropos Mutter – meine ist natürlich der Meinung, dass ich gar keinen neuen Mann brauche, denn dann hätte ich ja gar keine Zeit mehr für sie. Dann wäre sie ganz einsam und könne auch gleich sterben, sie habe ja sowieso nicht mehr lang. Bla, bla, bla. Ich weiß, es klingt gemein, aber ich ertrage diese Leier nun schon seit 4 Jahren - praktisch seit sie erfahren hat, dass mein Ex-Mann und ich getrennte Wege gehen.

Das Schlimme ist, dass sie Recht hat. Sie hat seit letztem Sommer so stark abgebaut, dass ich es an manchen Tagen kaum wage, zur Arbeit zu gehen. Natürlich muss ich gehen, und genau dann rennt sie prompt im Nachthemd aus der Wohnung und schreit den Postboten an. Ist tatsächlich passiert, ihre Nachbarin hat es mir erzählt. Die arme Frau muss wirklich einiges aushalten, von dem Postboten mal ganz zu schweigen. Einmal, als sie frisch eingezogen war, hat sie sogar die Polizei gerufen, weil aus der Wohnung meiner Mutter lautes Geschrei kam. Dabei brüllte die nur das Gurkenglas an, das sie partout nicht aufbekommen hatte. Die Polizei hat meine werte Frau Mutter dann wohl mit einem Brotmesser in der Hand am Küchentisch gefunden, auf dem Tisch das Gurkenglas. Sie hatte das Klingeln nicht gehört, so dass die Polizei die Tür aufbrechen musste. Als sie sich wieder beruhigt hatte, hatte sie doch tatsächlich den Nerv, einen der anwesenden Männer zu fragen, ob er ihr das Glas aufmachen würde. Hat er natürlich gemacht, die Polizei ist doch schließlich dein Freund und Helfer. Diesen Leitsatz hat sich meine Mutter sehr zu Herzen genommen, denn sie rief danach noch einige Male bei der Polizei an, wenn sie wieder Hilfe im Haushalt brauchte.

Dann gibt es wieder Tage, an denen sie völlig normal ist, an denen es ihr peinlich wäre, wenn sie wüsste, dass sie tags zuvor jemanden angebrüllt oder die Polizei gerufen hat. Und das auch noch unter den Augen der Nachbarn. Es scheinen Phasen zu sein und jeden Morgen, wenn ich vor der Arbeit zu ihr komme, um sie zu versorgen, weiß ich nicht, ob sie einen guten oder einen schlechten Tag erwischt hat.

Aber nun bin ich schon wieder abgeschweift. Vielleicht hat meine Mutter sogar Recht, vielleicht habe ich nicht den Kopf frei für einen neuen Mann. Aber nun ist er, Carl, nun einmal plötzlich in mein Leben getreten und dagegen kann sie nichts machen. Und ich will nichts dagegen machen. Ich muss ihr ja erstmal gar nichts von ihm erzählen. Es bleibt mein kleines Geheimnis, wie bei Romeo und Julia - aber ohne den Selbstmord am Ende. Ach, so ein Quatsch! Ich bin eine erwachsene Frau. Ich habe ein Recht darauf, glücklich zu sein und es in die Welt hinauszuposaunen! Ob meiner Mutter das jetzt passt oder nicht.

***

Heute treffe ich mich das erste Mal mit Carl. Richtig, das erste Mal. Ich weiß, ich habe so euphorisch geklungen, dass man denken könnte, wir wären viel weiter. Tatsächlich haben wir uns bisher nur geschrieben – sehr viel geschrieben. Ich hätte ihn gerne angerufen, aber er wollte das nicht. Er telefoniere nicht gern, vor allem wenn er die Leute nicht kenne. Das hat mich ein wenig vor den Kopf gestoßen, denn ich habe das Gefühl, ich würde ihn schon ewig kennen, aber de facto hat er ja Recht. Ich bin wieder viel zu vorschnell und male mir nach ein paar netten, grammatikalisch korrekten Sätzen gleich das ganz große Ding aus. Und dann treffe ich mich mit Mr. Right und er zeigt mir Bilder von seinen Pudeln im Matrosenanzug. Alles schon passiert.

Ich sollte mich also zusammenreißen, einmal tief durchatmen und mich daran erinnern, dass ich eine starke, unabhängige Frau bin, die keinen Mann braucht, um sich vollwertig zu fühlen. Jetzt, wo ich das klargestellt habe, muss ich aber trotzdem gestehen, dass ich vor diesem Treffen tierisch aufgeregt bin. Ich habe bisher keinen Mann mehr als dreimal getroffen, bevor ich die Flucht ergriffen habe. Ich mache mir langsam Sorgen, dass ich viel zu anspruchsvoll bin. Aber bei Carl habe ich das Gefühl, dass sich daraus mehr entwickeln könnte.

***

Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was ich von ihm halten soll. Ich finde ihn interessant, aber irgendwie auch… distanziert. Und das finde ich wiederum interessant. Wir hatten uns im Stadtpark zu einem Spaziergang verabredet. Er wirkte sehr angespannt am Anfang, wusste nicht so recht, was er sagen sollte. Er konnte mir kaum in die Augen sehen. Ich halte das in dem Alter für etwas übertrieben, aber wahrscheinlich war er noch nervöser als ich und wahrscheinlich wollte er alles richtigmachen. Das finde ich süß. Aber er wirkte irgendwie auch – komisch. Ich finde gerade nicht das passende Wort, um seine Art und Weise zu beschreiben. Ich habe ihn zum Beispiel gefragt, ob er Geschwister hat und darauf hat er sehr merkwürdig und abweisend reagiert, als ob das ein Thema wäre, über das man nicht spricht. Ich habe mich nicht getraut, weiter nachzubohren. Das hebe ich mir für später auf. Und dann hat er mich zehn Minuten später doch tatsächlich nach meiner Familie gefragt und fand das anscheinend überhaupt nicht komisch.

Und dann habe ich ihn darauf angesprochen, dass er mir wohl schon mal einen Besuch abgestattet hat. Ja, ich kannte ihn bereits, das habe ich ganz vergessen, am Anfang zu erwähnen! Also kennen ist übertrieben - er ist mein Postbote! Er stand vor drei Tagen vor meiner Tür und hat mir einen Brief überreicht. Angeblich war der Brief irgendwo runtergefallen und hatte eine Weile rumgelegen. Er hatte ihn gefunden und wollte ihn mir noch nachträglich bringen, für den Fall, dass es etwas Wichtiges war. Im ersten Moment fand ich das nett, habe mich bei ihm bedankt und meine Tür wieder zugemacht. Als ich später darüber nachdachte, fand ich diese Aktion zunehmend merkwürdig. Warum sollte der Postbote extra nochmal vorbeikommen? Er wäre mir doch gar nicht aufgefallen, wenn der Brief am nächsten Tag einfach im Briefkasten gelegen hätte. Nun ja, ich hatte diese Geschichte schon wieder abgehakt, aber als Carl dann am Eingang des Parks vor mir stand, war mir gleich klar, dass er der Postbote von vor ein paar Tagen war, auch wenn er keine Arbeitskleidung trug, sondern ein blaues Leinenhemd und eine helle Hose. Ich habe kurz überlegt, ob ich es wagen soll, ihn darauf anzusprechen, aber als unser Gespräch nach dem ersten Geplänkel über das schöne Wetter und den schönen Park recht schnell ins Stocken geriet, hatte ich das Gefühl, etwas sagen zu müssen und entschloss mich spontan, mit der Tür ins Haus zu fallen:

„Irgendwie habe ich das Gefühl, ich bin Ihnen schon einmal begegnet.“ Ich wollte ihm die Chance geben, sich zu outen, aber er tat ahnungslos. Lügen ist also schon mal nicht seine Stärke – nicht, dass das etwas Schlechtes wäre. Ich bohrte also weiter: „Sind Sie sicher, dass wir uns nicht schon einmal über den Weg gelaufen sind? Ich habe das Gefühl, das ist noch gar nicht so lange her.“

Er sagte wieder nichts und schaute mich gespielt ahnungslos an. Ich gab auf und ließ die Bombe platzen, indem ich betont so tat, als ob es mir gerade erst wieder eingefallen wäre: „Jetzt weiß ich, Sie sind der Postbote! Sie haben mir vor ein paar Tagen persönlich einen Brief vorbeigebracht.“

Ich schaute ihn demonstrativ an und beobachtete genau seine Reaktion. Er zuckte leicht zusammen und zog den Kopf ein wie eine Schildkröte, die einen Schlag auf den Panzer bekommen hatte. Er straffte sich dann gleich wieder, blickte auf den Boden und sagte erstmal nichts. Ich habe auch auf den Boden geblickt und genau in dem Moment fiel mir übrigens auf, dass er nicht auf die Linien des Gehwegs treten wollte, denn er war durch meine Enthüllung kurz aus dem Takt geraten und berichtigte nun seinen Schritt. Er tat dann so, als ob es ihm wieder einfallen würde, also zumindest glaube ich, dass er so tat. Es kann ja wirklich sein, dass das Zufall war. Aber er schien mir vom ersten Eindruck her nicht der Typ zu sein, der in seinem Leben besonders viel Raum für Zufälle lässt. Zumindest hatte dieses Nicht-auf-die-Linien-treten diesen Eindruck bei mir hinterlassen.

Er tat also so, als ob ihm unsere Begegnung wieder eingefallen wäre und sagte betont überrascht: „Oh, das waren Sie.“ Wobei das „Oh“ sich so echt anhörte wie in einer schlechten Schulaufführung. „Stimmt, jetzt wo Sie es sagen.“

Er lächelte mich etwas verunglückt an und das war, glaube ich, der Moment, in dem mein Herz das erste Mal an diesem Tag einen kleinen Hüpfer gemacht hat.

„Sie wollten wohl sichergehen, dass Sie es nicht mit irgendeiner verrückten Alten zu tun bekommen.“ Unwillkürlich dachte ich an meine Mutter. Ich schob das Bild von ihr in meinem Kopf demonstrativ zur Seite. Nicht jetzt. Ich wollte betont lässig über meinen Kommentar lachen, aber es kam etwas zu laut aus mir heraus. Und da war sie doch schon, die hysterisch kichernde Hexe. Fehlte nur noch, dass ich als Nächstes den Fettanteil seiner Finger überprüfte.

Ich wollte Carl keine Zeit lassen, dieselben verschrobenen Gedanken zu denken, daher schob ich schnell nach, dass ich froh war, dass er heute trotzdem den Weg in den Park gefunden hat. Erst dann dachte ich einige Sekunden nach: Hatte ich mir gerade selbst zugestimmt, dass ich eine verrückte alte Hexe war? Das wurde ja immer besser. Ich war versucht, mir an den Kopf zu klatschen. Es macht wirklich keinen Unterschied, ob man 17 oder 57 ist.

Der Rest des Gesprächs verlief dann zum Glück normal. Wir unterhielten uns nett, wir lachten ein bisschen, aber nicht ausgelassen, wir schafften es, Gesprächspausen zu überbrücken und Themen zu finden, über die wir reden konnten. Vielleicht habe ich ein bisschen zu viel über meine Mutter geredet. Ich hoffe, das hat ihn nicht abgeschreckt. Wir verabschiedeten uns eher zurückhaltend. Wir gaben uns nicht die Hand, das wäre zu förmlich gewesen, aber auch keinen Abschiedskuss. Ein solides, erstes Treffen, aber nicht der Superknüller des Monats, um diesen Vergleich noch einmal zu bemühen. Will ich ihn wiedersehen? Vielleicht. Keine Ahnung. Ach doch. Man weiß ja nie.

***

Ich bin auf dem Weg nach Hause, will aber vorher nochmal nach meiner Mutter sehen. Unter der Woche fahre ich morgens vor der Arbeit zu ihr, um ihr beim Anziehen und bei der Morgentoilette zu helfen und um mit ihr zu frühstücken. Nach der Arbeit mache ich meist ein paar kurze Besorgungen und fahre wieder zu ihr, um das gleiche Spiel am Abend noch einmal zu wiederholen. Mittags kommt dann ein Menü-Bringdienst, außer wie jetzt am Wochenende, da kümmere ich mich komplett um die Verpflegung.

Ich arbeite seit knapp anderthalb Jahren verkürzt. Das funktioniert nur, weil ich Unterhalt von meinem Ex-Mann erhalte, aber ich denke, lange wird er das nicht mehr mitmachen. Sein Anwalt hat mir - nicht gerade durch die Blume - mitgeteilt, dass mein werter Ex-Mann der Meinung ist, ich würde mich auf seinem Geld ausruhen. Ich habe mich darüber sehr geärgert, auch wenn mich seine Reaktion nicht überrascht. Er kennt meine Mutter, soll er doch täglich fünf Stunden mit ihr verbringen. Der würde mir nach einer Woche sein Geld schenken. Wahrscheinlich lässt er sich absichtlich nicht befördern, damit er nicht mehr Unterhalt zahlen muss. Warum heiratet er nicht seine Trulla, dann wäre er mich los. Na, ich will es nicht beschreien. Aktuell muss ich ihm ja regelrecht dankbar für seinen Unterhalt sein. Das eigentlich Schlimme ist, dass meine Mutter meine täglichen Anstrengungen und die Opfer, die ich bringe, nicht mal zu schätzen weiß: Dass ich für sie weniger arbeite und damit auch auf den Abteilungsleiterposten verzichten musste, auf den ich eigentlich schon lange hingearbeitet hatte. Dass ich kein Privatleben mehr habe, keine Hobbies, keine Verabredungen mit Freundinnen. Trotzdem beschwert sie sich jeden Morgen, warum ich schon wieder gehe und nachmittags, wo ich denn so lang gewesen wäre. Sie scheint mir nicht zu glauben, dass ich tatsächlich arbeite, sie scheint davon auszugehen, dass ich mich tagsüber anstatt mit meinen Kollegen heimlich mit anderen alten Frauen treffe. Anders kann ich mir ihre Eifersucht und ihre ständige Fragerei, wen ich getroffen und mit wem ich zu Mittag gegessen hätte, nicht erklären. Dabei hat sie sogar selbst Geheimnisse! Sie hatte schon mehrfach den Vermieter bei sich zu Gast, ohne, dass ich davon wusste. Der wollte ihr doch tatsächlich die Wohnung abschwatzen und sie davon überzeugen umzuziehen. Fast hatte er sie soweit, den Kündigungsvertrag zu unterschreiben, als ich genau in diesem Moment außer der Reihe bei ihr vorbeigekommen bin. Und das obwohl er genau wusste, dass meine Mutter die Konsequenzen überhaupt nicht absehen kann.

Ich mache mir nichts vor. Es muss etwas mit meiner Mutter passieren. Sie kann nicht mehr lange alleine bleiben und ich habe schon oft versucht, mit ihr über Alternativen zu sprechen. Theoretisch wäre in ihrer Wohnung genug Platz für mich und sicherlich wäre es auch die einfachste Lösung, aber noch lasse ich diesen Gedanken sich nicht in meinem Kopf breitmachen, sie klammeraffenartig jede Minute um mich zu haben. Wenn sie das jetzt hören würde, würde sie zum hundertsten Mal mit dem Mutter-Kind-Vergleich kommen und mir vor die Nase halten, dass sie mich als Kind ja auch ständig an der Backe hatte. Worauf ich dann zum hundertsten Mal entgegnen würde, dass ich als Kind nie grundlos die Polizei gerufen oder fremde Leute auf der Straße als Affenarsch bezeichnet habe.

Meine Mutter weiß, dass ich mir Sorgen mache, aber das ist untertrieben. Ich schrecke oft nachts hoch, weil ich geträumt habe, dass ihre Wohnung in lodernden Flammen steht, weil sie vergessen hat, den Herd auszuschalten. Ein Seniorenheim ist für meine Mutter jedoch schlicht indiskutabel und das kann ich sogar verstehen. Sie lebt seit 33 Jahren in ihrer Wohnung, zahlt gefühlt drei Äpfel Miete monatlich und hat, nachdem mein Vater bereits vor über 15 Jahren gestorben ist, keine Urlaube mehr gemacht. Tatsächlich hat sie diese Wohnung nie mehr länger als einen Tag verlassen. Aber was hilft es denn? Sie wohnt ganz oben und kann kaum noch die vielen Treppen bewältigen. Noch tut sie es ab und an, wenn ich dabei bin um sie zu stützen, aber es wird immer seltener und alsbald wird sie die Wohnung überhaupt nicht mehr verlassen. Von ihrem Kopf ganz zu schweigen. Dass sie neuerdings sogar den Postboten anbrüllt, sagt ja wohl alles. Da fällt mir ein, könnte es nicht sogar Carl gewesen sein, den sie da angebrüllt hat? Ich muss ihn gleich mal fragen, wenn wir uns das nächste Mal treffen. Dann weiß er gleich, worauf er sich einlässt. Obwohl… vielleicht besser doch nicht.

***

Als ich nach oben komme sehe ich schon auf dem Treppenabsatz, dass bei meiner Mutter die Wohnungstür aufsteht. Im ersten Moment denke ich noch: Oh Mann, jetzt muss der Einbrecher sich nicht mal mehr die Mühe machen einzubrechen. Ich trete über die Haustürschwelle und rufe leicht genervt nach meiner Mutter. Einmal, zweimal. Sie antwortet nicht. Ich gehe den Flur entlang, direkt ins Wohnzimmer. Dort ist sie nicht. Die Balkontür ist geschlossen und ausgesperrt hat sie sich auch nicht, das hätte ich sofort gesehen. Ich gehe zurück in den kleinen Flur und klopfe vorsichtig an die Badezimmertür. Es kommt keine Antwort, also drücke ich langsam die Tür auf um hineinzuspähen. Das altmodische Badezimmer ähnelt einem langgezogenen Schlauch, auch hier kann ich sofort sehen, dass sie hier nicht ist. Die Küche hat keine Tür, so dass ich auch hier im Vorbeigehen sehen kann, dass sie leer ist. Auf dem Küchentisch liegen ein paar Brotscheiben verteilt und die dazugehörige Plastikverpackung daneben, ebenso die offene Margarinepackung nebst Deckel. Normalerweise würde ich mich darüber ärgern, dass sie das halbe Brot antrocknen lässt, doch nun überkommt mich ein mehr als ungutes Gefühl. Schließlich stand die Wohnungstür auf! Meine rechte Hand zittert leicht, als ich nach der Türklinke zur Schlafzimmertür greife. Es ist das letzte Zimmer. Diesmal klopfe ich nicht an, sondern mache die Tür direkt, aber sehr langsam auf. Ich habe Angst vor dem, was mich erwarten könnte. Ich versuche, mich gegen die Bilder zu wehren, die mir unwillkürlich in den Sinn kommen: Wie sie daliegt, erschlagen, erwürgt. Vielleicht hat ihr irgendein perverses Schwein sogar das Nachthemd hochgeschoben. Ich schüttele heftig mit dem Kopf, als ob ich so die Gedanken abschütteln könnte und versuche, mich zu konzentrieren.

Von der offenen Schlafzimmertür aus sehe ich nur links die wuchtigen, dunklen Kleiderschränke, die meine Mutter seit Jahrzehnten hat. Ihr Bett wird von der offenstehenden Schlafzimmertür verdeckt. Ich mache zögerlich einen Schritt nach vorn und spähe vorsichtig rechts an der Tür vorbei in Richtung Bett. Ich sehe… nichts. Sie ist nicht da. Ich atme schwer aus, für einen kurzen Moment fühle ich mich erleichtert, bis ich mir bewusst werde, was es bedeutet, dass sich meine Mutter nicht in der Wohnung befindet. Ich gehe vollends ins Schlafzimmer und sehe mich um. Mir fällt nichts auf, so lang ich mich auch umblicke. Das Bett ist gemacht - das habe ich heute Morgen erledigt - die Kleiderschränke sind alle geschlossen. Ich öffne eine wuchtige Tür nach der anderen um nachzusehen, ob sie vielleicht drin hockt. Tut sie natürlich nicht. Ich öffne die Schuhschublade des letzten Schrankes und greife nach einer unauffälligen Schatulle aus Holz. Meine Mutter bewahrt in ihr ihren echten Schmuck auf, den sie schon seit Jahren nicht mehr getragen hat. Es ist nicht viel, eine Perlenkette, ein paar angelaufene Ringe, eine Brosche aus Perlmutt, die ich schon als Kind wegen ihrer schillernden Farben geliebt habe. Ich blicke in die Schatulle und überlege, ob etwas fehlt, aber mir fällt nichts ein. Es ist alles da.

Ich schlussfolgere daraus, dass niemand bei meiner Mutter eingebrochen zu haben scheint. Sie muss von sich aus die Wohnung verlassen haben und dabei hat sie wohl vergessen, die Wohnungstür zu schließen. Was soll ich jetzt machen? Nach ihr suchen? Wo könnte sie hingegangen sein? In den Supermarkt? Zum Arzt? Ohne mich? Nein, ich rufe wohl besser die Polizei.

Entschlossen lege ich die Holzschatulle zurück in die Schublade und schließe sie. Ich richte mich schnell auf und drehe mich gleichzeitig um, dabei wird mir kurz schwindlig und ich sehe Blitze vor meinen Augen zucken. Ich schließe die Augen, damit es vorbeigeht. Wo ist sie hin? Ich öffne die Augen und blicke in Richtung des Schlafzimmerfensters. Während ich einige Sekunden warte, bis die Blitze vor meinen Augen nachlassen, fällt mir ein, dass sie im Hof sein könnte. Der Hof ist großzügig angelegt und begrünt. Es gibt einen Grillplatz und einen Sandkasten. Ich gehe ein paar Schritte auf das Fenster zu und schaue runter.

Ich zucke sofort zusammen. Dort ist… sie nicht! Dafür jemand anderes. Ein Mann. Ein Mann lehnt an dem Geländer, das nach unten in den Keller führt. Gerade will ich mich wieder umdrehen, als ich merke, dass dieser Mann hochschaut. Er schaut… zu mir hoch! Mir läuft es eiskalt den Rücken herunter. Woher weiß er, dass ich genau in diesem Moment am Fenster stehe? Ich versuche, sein Gesicht zu erkennen, aber es gelingt mir nicht. Er ist zu weit weg, meine Augen sind zu schlecht und zudem hat er ein Baseballkäppi tief ins Gesicht gezogen. Er trägt ein kariertes Hemd und eine unauffällige Hose. Die Sachen scheinen ihm zu groß zu sein, er verschwindet fast darin. Mehr kann ich nicht erkennen. Ich erwache aus meinem Schockzustand, als ich merke, dass der Mann, den ich seit einigen Sekunden anstarre, die Hand an sein Käppi legt, als ob er mich begrüßen möchte. Alle meine Körperhaare stellen sich mit einem Ruck auf. Meint er wirklich mich? Dann setzt er sich langsam in Bewegung und läuft in Richtung Haustür und damit aus meinem Blickfeld. Ich drücke mein Gesicht ans Fenster, versuche noch einen Blick auf ihn zu erhaschen, versuche zu sehen, ob irgendwo da unten vielleicht meine Mutter steht, aber dann ist der Innenhof wieder leer. Ich merke, dass ich die ganze Zeit die Luft angehalten habe und mir der Sauerstoff ausgeht. Ich schnappe nach Luft, dabei entwischt mir ein langgezogener, rasselnder Seufzer. Was soll das bedeuten? Wer ist dieser Mann? Woher kennt er mich? Wollte er mir mitteilen, dass er meine Mutter gefunden hat und sie nach oben bringt? Vielleicht ist das die Lösung.

Ich wende mich sofort vom Fenster ab, durchquere das Schlafzimmer in Richtung Flur, schaue mich noch einmal kurz um und gehe dann mit großen Schritten zur Wohnungstür. Reflexartig greife ich nach dem Türknauf und knalle die Wohnungstür mit einem lauten Ruck zu. Ich erschrecke mich kurz und taste nach meiner Tasche. Sie ist noch da, ich habe sie nicht abgelegt. Das heißt, selbst wenn meine Mutter keinen Schlüssel bei sich hat, ich habe einen. Ich lauf die Treppen nach unten, so schnell ich kann. Mein linkes Knie beginnt zu schmerzen, so dass ich bald den Schwung abfedern und meine Geschwindigkeit etwas bremsen muss. Trotzdem versuche ich, so schnell zu laufen, wie ich kann. Niemand kommt mir entgegen. Meine Mutter wohnt im vierten Stock, so dass es vielleicht eine halbe Minute dauert, bis ich unten im Hausflur angelangt bin. Ich schaue nach links zur Haustür und dann nach rechts in Richtung Hof. Da ist niemand. Ich bin kurz verwirrt. Ich hatte fest damit gerechnet, dass dieser Mann meine Mutter nach oben begleiten wird.

Ich schaue erneut zur Haustür, sie ist geschlossen. Ich habe die Tür auf dem Weg nach unten auch nicht gehört, normalerweise kracht sie recht laut ins Schloss. Wo sind sie? Wo ist der Mann? Ich laufe nach rechts zum Hof, trete einen Schritt in den Hof hinaus und sehe – nichts. Panikartig schaue ich mich nach allen Seiten um, drehe mich wieder in Richtung Hausflur, drehe mich im Kreis, immer wieder fliegt mein Kopf ruckartig von einer Seite zur anderen, meine Augen fixieren fieberhaft jeden Busch, jede Tonne. Sie sind nicht da. Meine Mutter ist nicht mehr da. Ich drehe mich um und renne durch den Hausflur zur Haustür. Mein Knie schmerzt wieder, aber das ist mir egal. Ich reiße die Haustür auf. Ein Fahrradfahrer, der gerade auf dem Gehweg vorbeifährt, schaut mich erschrocken an, gerät kurz aus dem Tritt und fährt kopfschüttelnd weiter. Ich springe aus der Haustür auf den Gehweg und blicke mich wieder panisch um. Meine Mutter wohnt in einer ruhigen Seitenstraße, auf der nie viel los ist. Vereinzelte Passanten laufen auf beiden Seiten des Gehwegs, sie laufen gemächlich, keiner von ihnen hat eine alte Frau unter den Arm gehakt. Ich suche die parkenden Autos ab. Da! Ein roter Kombi setzt nach hinten um auszuparken. Ich renne zu dem Auto, beuge mich vor und kneife die Augen zusammen, in der Hoffnung, dadurch besser durch die Scheiben sehen zu können. In dem Auto sitzt eine junge Frau mit langen Haaren, die gerade konzentriert nach hinten schaut um auszuparken und mich nicht bemerkt. Keine alte Frau, kein Mann mit Karohemd und Kopfbedeckung befindet sich in dem Auto. Ich mache schnell einen Schritt zurück, irgendwie fände ich es peinlich, wenn die Autofahrerin bemerkt, wie ich frontal in ihr Auto glotze, obwohl mir das doch gerade das Egalste auf der Welt sein müsste. Ich schaue mich wieder auf der Straße um, drehe mich hin und her, um die eigene Achse und wieder zurück. Vielleicht habe ich doch etwas im Hof übersehen? Ich renne zurück, reiße die große, alte Haustür auf. Das Schloss schließt schon seit einigen Tagen nicht mehr richtig, mit etwas Gewalt kann man die Tür aufdrücken. Ich wollte dem Hausmeister Bescheid geben. Scheiße, warum habe ich es nicht gemacht? Warum nicht? Ich gebe einen halb wimmernden, halb keuchenden Laut von mir, während ich erneut durch den kurzen Flur in den Innenhof renne, dann weiter, systematisch an der Hauswand und am Zaun entlang, der das Grundstück begrenzt. Ich schaue hinter jeden Busch, den Fahrradständer, sogar in die Mülltonnen, als ob sich meine Mutter darin versteckt halten würde wie ein kleines Kind. Bald bin ich wieder am Ausgangspunkt angelangt, bis mein Blick auf die alte Treppe fällt, die nach unten führt und an deren Geländer der Mann sich vorhin angelehnt hat. Die Treppe zum Keller.

***

Ich laufe die abgetretenen Steinstufen nach unten. Ich muss aufpassen, nicht zu stolpern. Am Fuße der kurzen Treppe ist eine Tür, die zu den Kellern führt. Sie ist verschlossen, aber ich habe in meiner Handtasche immer einen zweiten Schlüsselbund von meiner Mutter mit Haus- und Wohnungsschlüssel, Briefkasten und Keller dabei. Ich war ewig nicht in ihrem Keller. Nachdem ich sie vor vielen Jahren überredet hatte, ihre Äpfel und Kartoffeln nicht mehr im Keller zu lagern, die ich dann regelmäßig nach oben schleppen durfte, gab es keinen Grund mehr, in den Keller zu gehen.

Ich schließe die Kellertür auf und schalte das Licht an. Es wird nur mäßig hell. Es riecht alt und muffig, es scheint feucht hier unten zu sein. Ich lausche, ob ich etwas höre, Stimmen vielleicht, aber es knackt nur hier und da. Vielleicht das Holz der Kellertüren - oder eine Ratte. Bei dem Gedanken stellen sich kurz meine Nackenhaare auf.

„Ist da jemand?“ Meine Stimme ist zittrig und überschlägt sich ein wenig, als ob ich lange nicht gesprochen habe. Ich merke, wie trocken meine Kehle ist. Ich erhalte keine Antwort, nicht, dass ich eine erwartet hätte. Ich gehe unsicher ein paar Schritte von der Tür in den schummrigen Flur hinein. Das Kellerareal ist in mehreren Gängen verzweigt, es gibt mindestens so viele Keller wie Mietparteien. Die Türen der Keller sehen unterschiedlich aus. Manche sind nicht mehr als Holzverschläge, durch die man durchschauen kann, andere wurden durch massive Türen erneuert. Ich schaue durch die Spalten der alten Holztüren, ob ich etwas sehen kann und rüttle an den Neueren, ob eine davon eventuell offen ist. Die Türen sind geschlossen und viel sehen kann ich auch nicht, da das Licht, dass ich vorhin am Eingang eingeschalten habe, nicht heller geworden ist. Ich komme mir vor wie im Horrorfilm. Nein, ich bin in einem Horrorfilm! Als mir das bewusst wird, muss ich mich einen Moment an der Wand festhalten. Ich habe einen widerlichen Geschmack auf der Zunge. Ich muss weiter. Ich setze vorsichtig einen Fuß vor den anderen, ich schleiche nahezu, als ob ich verhindern möchte, gehört zu werden. Dabei habe ich vorhin das Licht angeschaltet und in den Keller hineingerufen, aber mein Verstand hat wohl schon längst ausgesetzt. Mein Körper ist zum Zerreißen gespannt, meine Augen weit aufgerissen, meine Sinne scharf. Ich versuche mich daran zu erinnern, wo der Keller meiner Mutter ist und es fällt mir erst ein, als sich am Ende des Ganges nach rechts ein weiterer Gang auftut. Am Ende dieses zweiten Ganges ist der Keller meiner Mutter.

Ich bleibe kurz vor der Biegung stehen. Ich habe Angst. Ich will nicht weiter. Soll ich zurückgehen? Soll ich die Polizei rufen? Das mache ich sowieso. Aber wenn ich jetzt zurückgehe und sie liegt vielleicht da, dann… ist es vielleicht zu spät. Ich nehme all meinen Mut zusammen, atme tief ein und aus. Ich mache einen halben Schritt nach vorn und blicke rechts um die Ecke. Es scheint hier dunkler zu sein, als im anderen Gang. Trotzdem sehe ich es sofort. Auch wenn sich meine Augen erst an das dürftige Licht gewöhnen müssen. Ganz hinten, am Ende des Flures, dort wo der Keller meiner Mutter auf der linken Seite ist, steht eine Tür offen. Es ist ihre Kellertür, ich bin mir sicher. Mir bricht der Schweiß aus, obwohl es kühl ist und ich fühle, wie er an meinen Achseln hinunterläuft. Mein Herz schlägt heftig gegen meine Brust. Ich stehe da wie erstarrt. Ich weiß nicht, was ich tun soll.

Plötzlich kracht es laut hinter mir. Mein Herz setzt aus. Jetzt muss ich sterben. Ich glaube, ich habe mir in die Hosen gemacht. Ich wage es nicht, mich umzudrehen. Stattdessen warte ich starr vor Angst auf die Schritte, die nun auf mich zukommen werden. Doch da ist nichts. Mechanisch wie ein Roboter drehe ich mich um und schaue zurück. Die Kellertür ist ins Schloss gefallen, aber es ist nach wie vor niemand außer mir in dem Gang. Vielleicht der Wind? Oder der Mann. Ich fange ungewollt an zu wimmern. Ich weiß nicht, was ich tun soll, also schaue ich ein paar Augenblicke einfach nur zurück. Nachdem eine Weile nichts passiert, rede ich mir ein, dass wirklich niemand dort zu sein scheint. Also wage ich es, mich wieder in Richtung der offenen Kellertür zu drehen. Wenn sich dort irgendein Irrer verstecken würde, hätte er doch aufgrund der zugeknallten Tür vielleicht angenommen, dass ich den Keller verlassen hätte und würde rauskommen um nachzusehen? Aber es kommt niemand. Und hören kann ich auch nichts. Ich versuche, mich aus meiner verkrampften Haltung zu lösen, indem ich meine Schultern sinken lasse, die ich vorher fast bis zu den Ohren hochgezogen hatte und einmal bewusst ein- und wieder ausatme. Ich schließe die Augen. Eine Sekunde später öffne ich sie wieder und habe eine Entscheidung getroffen. Ich werde weitergehen. Ich setzte mich in Zeitlupe in Bewegung. Meine Schritte werden immer unsicherer und ich gerate aus dem Takt, aber ich laufe weiter. Kurz vor dem Keller meiner Mutter bleibe ich stehen und starre ungläubig die offene Kellertür an. Ich habe etwas gesehen, ein… Flackern. Was hat das zu bedeuten? Und warum ist mir das nicht schon eher aufgefallen? Mein Erstaunen über dieses geheimnisvolle Flackern hilft mir, den alles entscheidenden Schritt in den Keller meiner Mutter zu machen. Erst ist es sehr dunkel. Ich erkenne schemenhaft Kisten, alte Autoreifen, Möbel, die niemand mehr benutzen wird. Ich versuche mit zusammengekniffenen Augen, aus den Umrissen eine menschliche Gestalt zu erkennen, aber es scheint niemand in dem Keller zu sein. Dafür brennt schwach ein Licht, eine kleine Kerze oder ein Teelicht, auf einem alten Regal. Meine Sinne haben mich also nicht getäuscht. Warum ein Teelicht? Ich schaue noch einmal nach links, um mich zu vergewissern, dass nach wie vor niemand in dem Gang ist und trete in den Keller hinein und auf das Licht zu. Je näher ich komme, desto klarer wird das Bild vor meinen Augen. Ich kann ein paar Einmachgläser neben dem Licht ausmachen. Ich kann mich dunkel an diese Gläser erinnern, sie sind bestimmt 10 Jahre alt. Als ich direkt an das Regal herantrete, sehe ich jedoch, dass hinter dem Teelicht eine Postkarte liegt. Ich nehme sie vorsichtig in die Hand. Sie scheint alt zu sein, mindestens 50 Jahre schätze ich auf den ersten Blick. Das Motiv ist verblichen und zeigt eine Stadtansicht mit einer Stadtmauer, Kirchen, einem Rathaus. Ich erkenne die Stadt nicht auf Anhieb wieder. Es kann meine Stadt sein oder eine andere. Das Motiv war wohl mal von einem weißen Rahmen umgeben, mittlerweile ist er eher gelb, der Rand ist gezackt. Unterhalb der Stadtansicht auf dem Rahmen ist etwas aufgedruckt, was ich nicht mehr entziffern kann. Wahrscheinlich der Name der Stadt. Während ich das Motiv der Karte anschaue, denke ich für einen Moment, dass sie vielleicht zufällig an dieser Stelle liegt. Hingelegt und dann vergessen. Dann drehe ich die Karte um. Ich sehe einen kurzen Text, geschrieben mit schnörkeliger Handschrift und zittrigen Linien. Ist das die Handschrift meiner Mutter? Es könnte sein, aber sicher bin ich mir nicht. Es ist länger her, dass ich meine Mutter etwas habe schreiben sehen, das länger als ihre Unterschrift war. Ich beginne zu lesen. Die Buchstaben sind etwas mühsam zu entziffern, aber schon bei den ersten Worten erstarre ich sofort. Dort steht „Meine liebe Minni“. Steht dort wirklich Minni? Ich schaue mir den Namen ganz genau an, ich zähle die Wellen der Ms und Ns nach. Es gibt keinen Zweifel, dort steht Minni. Ich bin Minni. Eigentlich heiße ich Marianne, aber Minni hat meine Mutter mich früher genannt bis… bis es passiert ist.

Ich lese ungläubig weiter. „Hier ist es wirklich schön. Wann kommst du endlich? Wir warten alle schon ganz sehnsüchtig auf dich. Bis bald, deine Mumi.“ Mumi. Ich habe meine Mutter früher Mumi genannt. Aber ich kann mich an diese Postkarte nicht erinnern. Ich kann mich generell nicht daran erinnern, dass meine Eltern ohne mich fortgefahren wären. Unter dem Gruß meiner Mutter steht noch ein P.S.: „Eddie lässt dich ganz herzlich grüßen. Er kann es kaum erwarten.“

Ich lasse die Karte sinken und starre in das halbdunkle Nichts des Kellers. Eddie ist mein kleiner Bruder. Er war mein kleiner Bruder. Eddie ist tot. Schon sehr lang. Dieses Jahr werden es 52 Jahre. Seitdem hat meine Mutter mich nicht mehr Minni genannt, seit… Ich spüre Stiche in meinem Herz. Mein Magen krampft sich zusammen. Ich schlucke. Meine Kehle fühlt sich trocken an. Mit einem Mal ist alles wieder da, was ich jahrzehntelang verdrängt hatte. Mit voller Wucht kommen all die Gefühle wieder hoch, die ich seit Jahren und mit aller Macht versuche zu unterdrücken: Es sind Schuldgefühle, Trauer und Wut.

Ich stehe eine ganze Weile so da, von den wenigen Worten dieser Postkarte übermannt und unfähig zu denken. Ein schwacher Windhauch bringt das Teelicht zum Flackern. Dadurch erwache ich aus meiner Starre und blicke wieder auf die Karte. Ich lese noch einmal den Text, dann schaue ich, fast automatisch, auf das Adressfeld. Es dauert einen Moment bis ich es kapiere. Mein Herz beginnt zu rasen, meine Gedanken rasen, alles um mich herum dreht sich. Es ist meine Adresse. Nicht die Adresse von der Straße, in der wir gewohnt haben, als ich klein war. Es ist meine aktuelle Adresse.

2. Kapitel – Er ist es nicht

„Lassen Sie mich das nochmal zusammenfassen.“ Der Polizist, der mir gegenübersteht, schaut mit zusammengezogenen Augenbrauen auf seinen Notizblock und kratzt sich gleichzeitig mit dem Stift an der ergrauten Schläfe. Ich hätte gar nicht gedacht, dass Polizisten noch so klassisch mit Stift und Zettel arbeiten. Aber ich bin gerade alles andere als in der Stimmung, ihn darauf anzusprechen.

„Sie wollten Ihre Mutter besuchen. Sie haben eine offene Wohnungstür vorgefunden, haben die Wohnung nach Ihrer Mutter durchsucht und sie nicht angetroffen. Sie haben nachgesehen, ob der Schmuck, den Ihre Mutter besitzt, noch vorhanden ist. Deswegen sind Ihre Fingerabdrücke daran zu finden. Andere Wertsachen oder größere Mengen Bargeld gibt es nicht?“

Ich schüttele den Kopf.

„Sie haben dann aus dem Schlafzimmerfenster geschaut und einen Mann gesehen, der Ihnen scheinbar zugewunken hat und den Sie nicht kannten. Warum haben Sie zu diesem Zeitpunkt nicht direkt die Polizei gerufen?“

„Ich weiß es nicht.“ Ich zucke hilflos mit den Schultern und suche nach einer Erklärung. „Ich hatte gehofft, meine Mutter ist irgendwo da unten und er wollte mir nur bedeuten, dass er sie gefunden hat. Ich habe doch nicht mit… so etwas gerechnet.“ Ich spüre, wie es mir zum wiederholten Male während dieses Gesprächs die Kehle zuschnürt und mir Tränen in die Augen steigen.

Der Polizist - er hat sich vorhin namentlich vorgestellt, aber es war irgendein komplizierter, polnisch-klingender Name - lässt mich ein paar Momente die Tränen aus meinen Augen wischen. Er zeigt keinerlei Reaktion, keinerlei Betroffenheit. So etwas muss für ihn Alltag sein. Was für eine schreckliche Vorstellung.

„Der Mann ist vom Hof dann direkt in Richtung dieser Tür gegangen?“ Er deutet mit einer Hand in Richtung der massiven Haustür, von der wir uns nur wenige Meter weg befinden, als ob er sich versichern müsste, dass es nur diese eine Haustür gibt.

„Ja, aber als ich unten war, war er wie vom Erdboden verschluckt. Ich habe überall nachgesehen, im Hof, draußen auf der Straße und dann…“ Ich mache eine Pause, weil mir bei dem Gedanken schlecht wird. „Und dann im Keller“, sage ich schließlich.

„Eins nach dem anderen. Sie sind aus der Wohnung nach unten gelaufen, weil Sie dachten, der Mann hat Ihre Mutter gefunden und bringt sie wieder nach oben?“

Seine Art, wie er mir diese Frage stellt, gefällt mir nicht.

„Ja. Hätte ich etwa oben bleiben sollen?“

Er sieht mir direkt in die Augen und sagt nichts.

Ich starre den Polizisten nun ebenfalls an. Was soll der Scheiß? Das kann ich natürlich nicht zu ihm sagen. „Wie gesagt, ich habe gehofft, meine Mutter ist hier unten irgendwo. Ich dachte… er könnte Hilfe gebrauchen, weil meine Mutter vielleicht anfängt, ihn anzubrüllen oder zu beschimpfen. Das wäre nicht das erste Mal, dass sie das mit einem Fremden macht, müssen Sie wissen.“

Ich merke selbst, wie verrückt die Geschichte klingt. Der Polizist mustert mich und sagt immer noch nichts. Er glaubt mir nicht. Über diese Erkenntnis werde ich plötzlich wütend. „Ist ja auch egal. Fakt ist, dass nachdem meine Mutter nicht in ihrer Wohnung war, mir dieser Mann von hier unten nach dort oben zugenickt hat. Er muss sie entführt haben. Aus welchem Grund auch immer man eine alte, hilflose Frau entführen sollte.“

Die Wut, die ich eben in mir gespürt habe, schlägt innerhalb von wenigen Sekunden in Verzweiflung um. Ich spüre, wie mir unaufhaltsam Tränen über die Wangen laufen.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739483740
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Februar)
Schlagworte
familie Psychothriller krimi über 50 Spannung Suspense thriller romantischer thriller mystery thriller Dark Romance Liebesroman Krimi Ermittler

Autor

  • Stephanie van Outen (Autor:in)

Die 1983 geborene, studierte Historikerin lebt in Berlin, hat aber auch einige Jahre in Asien verbracht.
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Titel: Er ist es, er ist es nicht...