Lade Inhalt...

Emmi in Korea 4: Herbstferien mit Nervenkitzel

von Stephanie Auten (Autor:in)
124 Seiten
Reihe: Emmi in Korea, Band 4

Zusammenfassung

Zwischen Kimchi und K-Pop: "Emmi in Korea" - Über das Leben einer deutschen Schülerin im fernen Asien

Endlich Herbstferien!

Emmi hatte sich so sehr auf den Trip nach Deutschland gefreut! Aber dann muss Papa plötzlich doch in Seoul arbeiten. Kurzerhand beschließt Mama, anstatt nach Hause auf die kleine koreanische Insel Jeju zu fliegen.
Angeblich soll Jeju das Hawaii Koreas sein, doch das kann Emmi nicht trösten. Alle kennen Hawaii! Aber wer hat bitteschön schonmal von Jeju gehört?
Zu allem Überfluss soll Emmi ihre Ferien nur mit Mama und ihrem kleinen Bruder Benno verbringen, anstatt mit Opa, Sina und Timo. Das kann doch nur stinklangweilig werden! Oder etwa nicht?
Teil 4 der etwas anderen Buchreihe „Emmi in Korea“ über große Veränderungen, Freundschaft, Eltern und natürlich… Liebe!
Insgesamt sind sechs Bände erschienen:
Band 1: Emmi in Korea - Urlaub mit Folgen
Band 2: Emmi in Korea - Umzug mit Hindernissen
Band 3: Emmi in Korea - Schulstart mit Herzklopfen
Band 4: Emmi in Korea - Herbstferien mit Nervenkitzel
Band 5: Emmi in Korea - Weihnachtszeit mit Pferdefuß
Band 6: Emmi in Korea - Neujahr auf Koreanisch

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Impressum

©/Copyright: Berlin, 2020 - Stephanie Auten

Anschrift:

Stephanie Auten

c/o AutorenServices.de

Birkenallee 24

36037 Fulda

E-Mail: stephanieauten@posteo.net

Korrektorat: Gitte Riedel

Umschlaggestaltung und -illustration: Katharina Netolitzky,

https://katharina-netolitzky.jimdo.com/

Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt.

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Kapitel 1 – Morgenroutine

„Sina? Sina, kannst du mich hören?“

Emmi steht, wie fast jeden Nachmittag nach der Schule, mit dem Handy in der Hand und Kopfhörern im Ohr vor dem Kühlregal in dem winzigen Laden neben ihrem Seouler Wohnhaus. Sie greift nach einem weiß-braunen Schokomilchpäckchen mit dem Snoopy-Motiv. Es gibt noch andere Marken, aber Emmi kauft immer nur die Snoopy-Milch. Wahrscheinlich, weil sie den kleinen Comic-Hund schon vorher aus Deutschland kannte, während die anderen Milch-Packungen mit den koreanischen Schriftzeichen am Anfang ganz fremd aussahen. Es gibt auch Erdbeer-, Bananen- und Vanillemilch, aber Snoopy-Schoko mag Emmi mit Abstand am liebsten.

„Sina? Sina, was machst du denn?“

Während auf Emmis Handydisplay nur ein Teil des Geimersheim’schen Badezimmers, aber keine Sina Geimersheim zu erkennen ist, wandert Emmi gedankenverloren an den vollgestopften Regalen vorbei und überlegt, wie viel ihres koreanischen Taschengeldes sie wohl schon in dem kleinen Laden gelassen hat, der sich direkt neben dem Erdgeschoss ihres Hochhauses befindet. Trotzdem fast immer ein älterer, sehr dünner koreanischer Mann mit einer Vorliebe für klassische Musik vor Ort ist, nennen Mama und Papa das kleine Geschäft konsequent Tante-Emma-Laden. Obwohl er doch eher Onkel-Han-Laden oder so ähnlich heißen müsste. Und außerdem kennen Mama und Papa überhaupt keine Emma. Also zumindest keine, die älter als zehn ist.

Dieser Laden ist nicht der einzige Tante- oder Onkel-Laden seiner Art, es gibt tausende, wenn nicht sogar zehntausende in ganz Seoul. Und das ist bestimmt nicht übertrieben, überlegt Emmi, denn die südkoreanische Hauptstadt hat über zehn Millionen Einwohner.

Im Gegensatz zu den Ladenöffnungszeiten in Deutschland haben die manchmal winzig kleinen Mini-Supermärkte immer auf. Auch am Sonntag und auch nachts.

Das hat Emmi zumindest gehört, denn bisher hatte sie nie die Gelegenheit nachzuschauen, ob ihr Laden tatsächlich nachts durchgehend geöffnet hat. Obwohl sie nun schon dreizehneinhalb ist, muss Emmi unter der Woche immer noch rechtzeitig zum Abendessen und an den Wochenenden spätestens um 21 Uhr zu Hause sein.

Daran hat sich auch in Korea nichts geändert.

Im Gegenteil: Wehe, Emmi kommt zehn Minuten zu spät und meldet sich nicht! Dann bringt es Mama fertig, einen Notruf in den Klassenchat abzusetzen.

Superpeinlich!

Aber Emmi ist auch selbst schuld: Gleich in den ersten Tagen nach ihrer Ankunft in einer völlig neuen Stadt auf einem völlig fremden Kontinent hatte sie es nicht nur fertiggebracht, sich hoffnungslos zu verlaufen, sie war auch noch so blöd gewesen, in einen Bus zu steigen! Einfach so. Ohne Ticket und ohne Ahnung, wo der Bus überhaupt hinfährt. Zuhause hatte Emmi immer ein Schülerticket gehabt und nie auch nur einen Gedanken an so etwas Banales wie Fahrkarten verschwendet. Und außerdem kennt sie daheim fast jede Ecke. Emmi konnte sich schlichtweg überhaupt nicht vorstellen, dass es hier in Korea anders ist. Dabei ist Seoul, hatte Emmi später nachgerechnet, hundert Mal so groß wie ihre Heimatstadt!

Unglaublich, wie naiv sie damals noch war!

Also damals vor zwei Monaten.

„Zwei Monate!“, murmelt Emmi leise vor sich hin. Also noch ein Jahr und zehn Monate in Korea. Plusminus. Damit rechnet Emmi fest. Aber hat ihr Anne nicht vor ein paar Wochen von einem Mädchen aus ihrer Zeit in Shanghai erzählt, deren Vater immer wieder seinen Arbeitsvertrag verlängert hat, so dass sie letztendlich sechs Jahre dort waren.

Unglaubliche sechs Jahre!

Da wäre Emmi ja mit der Schule fertig und würde ihr Abitur in Korea machen, wenn sie es denn soweit schafft. Ob sie…

„Em? Hast du was gesagt?“ Sinas Stimme lässt Emmi aus ihren Gedanken hochschrecken. Sie bleibt mitten in dem schmalen Gang mit den unzähligen Chipspackungen und den zum Teil äußert gewöhnungsbedürftigen Geschmacksrichtungen stehen. In acht von zehn Fällen schmecken sie nach Fisch.

„Na endlich, du…?“ Emmi runzelt die Stirn. Der Gedanke, nicht nur zwei, sondern viele, viele Jahre in Asien zu verbringen, hat sie verwirrt. Und Sinas Anblick verwirrt sie nochmal mehr. Irgendwie sieht ihre allerbeste Freundin heute komisch aus. Emmi kneift die Augen zusammen, um Sina besser erkennen zu können.

„Emmi, ich hab keine Zeit mehr“, ruft die ihr hektisch zu. „Ich habe immer noch meinen Schlafanzug an und ich muss zur Schule in…“ Sinas Auge schnellt in Richtung Kamera, um die Uhrzeit am oberen, rechten Rand des Handys erkennen zu können.

Emmi zuckt für den Bruchteil einer Sekunde zurück. Dann erkennt sie, was an Sina heute so komisch aussieht und grinst: „Äh, Sina… ich glaube, du musst noch…“

„Scheiße!“, kräht Sina dazwischen. „In fünf Minuten kommt der Bus!“ Ihre sowieso schon hohe Stimme überschlägt sich fast. „Emmi, wir sprechen später, okay? Küsschen!“

Und schwupp, hat sie aufgelegt.

„Du musst noch dein linkes Auge schminken“, murmelt Emmi ihren angefangenen Satz zu Ende. Sie seufzt und geht mit ihrer Snoopymilch zur Kasse. Kurz überlegt sie, ob sie noch Geld für einen Schokoriegel übrighat, ist dann aber doch zu geizig.

So geht das schon seit Wochen mit Sina. Ihre beste Freundin war schon immer eine Langschläferin. Die Snooze-Taste ihres Weckers findet Sina im Schlaf und ohne hinzugucken. Und früher hat Emmi das auch nie gestört. Wenn sie beieinander übernachtet haben, konnten sie ja meist am nächsten Tag ausschlafen.

Doch seit Emmi in Korea lebt, müssen sie ihre Telefonate planen. Und das ist mit einer Chaos-Queen wie Sina gar nicht so einfach: Bei sieben Stunden Zeitverschiebung, zumindest in der Sommerzeit, ist ihre beste Freundin gerade erst aufgestanden, wenn Emmi mit der Schule fertig ist. In diesem kurzen Zeitfenster hatten sie sich anfangs zum Chatten verabredet. Doch es hat sich schnell herausgestellt, dass das nur dienstags und freitags funktioniert, wenn Emmi keinen Unterricht oder AGs am Nachmittag hat. Im Unterricht und in den Pausen sind Handys an der Deutschen Schule Seoul verboten, genauso wie in ihrer alten Schule in Deutschland. Zwar können sie sich den Rest der Zeit schreiben oder süße Videos von Hunden oder Pferden hin- und herschicken, aber irgendwie ist das doch nicht dasselbe wie jeden Tag zusammen in derselben Schule zu sein.

Zweimal miteinander zu sprechen unter der Woche ist schon extrem wenig, findet Emmi. Wo sie und Sina doch früher jeden Tag stundenlang gequatscht haben. Aber zweimal wäre besser als nichts, würde Sina nicht regelmäßig so spät aufstehen, dass sie nicht mal mehr ein paar Minuten haben.

Wenn Sina wenigstens in der Lage wäre, zwei Dinge gleichzeitig zu tun! Oft ist sie so konzentriert darauf, sich morgens im Bad mit aufgerissenem Mund die Wimpern zu tuschen, dass sie nicht in der Lage ist, aufzunehmen, was Emmi ihr gerade erzählt. Geschweige denn, selbst etwas zu erzählen. Im Endeffekt sieht Emmi Sina also zwei Mal pro Woche, wenn überhaupt, dabei zu, wie die sich für die Schule fertigmacht. Als würde Emmi ein Video auf Youtube schauen – Sinas Morgenroutine oder so.

Die wirklich wichtigen Dinge können sie oft nur am Wochenende bequatschen. Und das ist dann immer so viel, dass Emmi auch nach anderthalb Stunden Chat mit Sina nicht das Gefühl hat, hundertprozentig zu wissen, was in ihrer alten Schule gerade so passiert.

Und das passt Emmi ganz und gar nicht.

„Kamsahamnida.“ Gedankenverloren nickt Emmi dem Laden-Onkel zu und tritt ins Freie. Sofort schlägt ihr die immer noch schwüle Wärme wie eine Wand entgegen, obwohl es bereits Anfang Oktober ist und damit nicht mehr ansatzweise so heiß und feucht wie im August, als Emmi mit ihrer Familie in Seoul angekommen ist. Doch mittlerweile machen ihr die Temperaturen kaum noch etwas aus. Wie so vieles, was ihr noch vor ein paar Monaten unvorstellbar erschien – zum Beispiel in einem Land, dessen Sprache sie nicht spricht, in einen Laden zu gehen, um etwas zu kaufen. Und zwar allein, ganz ohne Mama und Papa im Schlepptau!

Vom Onkel-Han-Laden sind es exakt fünf Schritte zu der großen Glasschiebetür ihres Wohnhauses, die sich automatisch öffnet, wie in einem Kaufhaus. Hier im Eingangsbereich ist es genauso kalt wie im Onkel-Laden. Die Klimaanlage läuft auch hier auf Hochtouren. Wie lang die wohl noch an sein werden? Es ist zwar noch warm, viel wärmer als in Deutschland, aber immerhin ist es Oktober.

Herbstferienzeit.

Die Emmi supergern mit Sina verbracht hätte.

Wie auf Kommando vibriert ihr Handy.

Der Bus ist heute eine Minute später gekommen. YES!!!

Emmis Lippen ringen sich zu einem kleinen Schmunzeln durch. Ob sie Sina noch schreiben soll, dass sie mit nur einem geschminkten Auge das Haus verlassen hat? Nein, besser nicht. Am Ende muss sie sich noch Vorwürfe anhören, wie Emmi sie in solch einem Aufzug aus dem Haus lassen konnte.

Glückwunsch! Dann kannst du mich doch jetzt anrufen, schreibt Emmi zurück, während sie den Fahrstuhl betritt und auf den Knopf mit der Zahl 18 drückt.

Kopfhörer vergessen, antwortet Sina prompt.

Emmi verdreht die Augen.

Sie muss an ihren alten Klassenlehrer Herrn Althaus denken, der vor ein paar Jahren mal zu Sina gesagt hat, dass die wohl ihren Kopf vergessen würde, wenn der nicht angewachsen wäre. Damals hat Emmi überhaupt nicht verstanden, was ihr Lehrer damit gemeint haben könnte, außer einem äußerst gruseligen Anblick einer kopflosen Sina, aber heute weiß Emmi zu einhundert Prozent, was Herr Althaus Sina damit sagen wollte.

Außerdem hat sich schon wieder dieser Wurm aus der 6c neben mich gesetzt!!!, liest Emmi weiter. Sie weiß nicht genau, welcher Wurm aus der sechsten Klasse genau gemeint ist. Letztes Schuljahr, als Emmi noch in Deutschland war, hatte der Wurm anscheinend noch kein Interesse an ihrer besten Freundin.

Mach mal unauffällig ein Foto von ihm, schreibt Emmi zurück und muss nun doch kichern.

Es dauert keine drei Sekunden, bis sie eine Antwort von Sina erhält:

Bist du noch ganz dicht? Am Ende denkt der noch, ich schau mir sein Bild abends im Bett an.

Emmi kann sich bildlich vorstellen, wie Sina bei dem Gedanken ihre Kringellocken schüttelt und die Nase krauszieht. Sie sucht nach einem passenden Smiley und sendet es an Sina.

Morgen fällt Sport in der Ersten aus. Lass uns dann reden, schreibt Sina weiter. Ich verspreche dir auch, dass ich morgen nicht snoozen werde! Tausendprozentiges Ehrenwort!

Es macht bing und die Fahrstuhltür geht auf.

Emmi tritt in den 18. Stock hinaus, mit hochgezogener Augenbraue. Ich kann nicht, schreibt sie. Ich hab doch morgen meine Prüfung in Taekwondo.

Emmi wundert sich, dass Sina die Prüfung vergessen zu haben scheint. Schließlich hat sie ihr bestimmt schon fünf Mal davon erzählt: Es ist Emmis erste Gürtelprüfung – angeblich pupseinfach und normalerweise von Grundschulkindern durchgeführt. Trotzdem ist Emmi supernervös.

Ach ja, stimmt. Dann halt nicht. Schade.

Emmi seufzt und schaut von ihrem Telefon auf. Ohne noch darüber nachdenken zu müssen, tippt sie den Türcode zur Wohnungstür ein. Emmi kennt niemanden in Korea, der noch einen Schlüssel für seine Haustür hat. Alle haben ein digitales Schloss und einen Code. Und ihren hat Emmi sich so fest ins Gedächtnis gehämmert, dass sie ihn wohl nie wieder vergessen wird: 0208. Der Tag, an dem sie in diese Wohnung gezogen sind.

Emmi weiß nicht so recht, was sie von Sinas Antwort halten soll. Ist Sina jetzt eingeschnappt, weil Emmi morgen keine Zeit für sie hat? Dabei ist Sina doch diejenige, die ständig verschläft. Emmi hat immerhin morgen etwas Wichtiges vor!

Ja, schade, antwortet sie genauso knapp zurück, während sie mit hängenden Schultern die Wohnung betritt. Es ist ungewöhnlich still in der Mayerschen Hochhauswohnung – kein Poltern, kein Klimpern, kein Kleinkindergeschrei. Anscheinend holt Mama Benno gerade vom Kindergarten ab.

Normalerweise genießt Emmi diese Stille sehr, denn sie hat selten Ruhe vor Benno. Oft vergehen nur ein paar Minuten, bis ihr kleiner Bruder weint oder zehnmal hintereinander nach Mama ruft.

Aber gerade fühlt sich die Stille bedrückend an. Irgendwie… einsam.

Anne hat da viel mehr Verständnis für Emmi – für ihre Prüfung, für ihre Nervosität – aber Anne macht ja schließlich selbst Taekwondo, und das schon viel länger als Emmi. Überhaupt ist Anne extrem ehrgeizig, wenn es um Sport geht. Sina hingegen ist keine Ausrede zu blöd, um nicht am Sportunterricht teilnehmen zu müssen. Im letzten Schuljahr hat sie einmal sogar ihre Periode vorgeschoben, obwohl sie die zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht hatte!

Emmi seufzt tief. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten.

Ob der Taekwondo-Gürtel wenigstens Jan beeindrucken wird?

Wahrscheinlich nicht.

Denn der ist immer noch mit Sora zusammen. Obwohl er Emmi doch zu Beginn des Schuljahres seine Liebe gestanden hat – irgendwie. Erst ihr Fast-Kuss am Schultor, dann der Zettel mit dem Herz…

Es muss einen Zusammenhang geben, davon ist Emmi nach wie vor fest überzeugt! Obwohl Jan ihr seitdem keinen Zettel mehr geschrieben hat und auch sonst sehr gut zu verstecken weiß, dass er in Emmi verliebt ist. Vor Sora und vor allen anderen auch. Nur manchmal, wenn er sich unbeobachtet fühlt, dann sucht sein Blick nach ihr: Auf dem Schulhof. Oder im Schulgebäude. Oder bei Anne zuhause. Das kann doch nicht immer ein Zufall sein!

Anne sieht das natürlich ganz anders: Vielleicht liegt es daran, dass du ihn ständig anglotzt. Irgendwann muss ihm das ja auffallen. Und dann kuckt er halt zurück, hatte sie Emmi einmal völlig genervt an den Kopf geknallt.

Emmi hatte es ihr nicht übelgenommen. Klar will Anne sich nicht vorstellen, dass ihr Bruder in eine ihrer Freundinnen verliebt ist. Und sie in ihn. Jan ist Annes großer Bruder. Und den findet sie offensichtlich genauso blöd wie Schwestern ihre Brüder, egal ob groß oder klein, nun mal finden.

Seitdem versucht Emmi, das Thema Jan ihr gegenüber zu vermeiden, auch wenn es ihr unheimlich schwerfällt. Immerhin könnte Anne ihr alles über Jan erzählen! Wirklich absolut alles! Und in seinem Zimmer spionieren, ob Jan vielleicht heimlich genauso kleine Herzchen in seine Hefte malt wie Emmi. Nur mit J, nicht mit E. Und nicht ganz so verschnörkelt.

Emmi lächelt bei dem Gedanken. Nein, so ein Typ ist Jan bestimmt nicht. Aber wie schafft er es nur, sich Emmi gegenüber so neutral zu verhalten? Und wieso trennt er sich nicht endlich von Sora?

Weil er sie nicht verletzen will?

Weil sie das beliebteste Mädchen der Schule ist?

Weil sie in ihrer Freizeit als Model arbeitet?

Weil es ihm peinlich vor seinen Freunden wäre, sich von Sora zu trennen und mit ihr zusammenzukommen, weil sie eben… Sora ist?

Ein Schauer läuft Emmi über den Rücken, obwohl die Klimaanlage auf 25 Grad eingestellt ist, und damit mindestens 7 Grad wärmer als in dem koreanischen Tante-Emma-Laden.

Dieses Gedankenkarussell dreht sich nun schon seit mehreren Wochen in Emmis Kopf. Immer und immer wieder. Emmi weiß längst, dass ihr diese Gedanken nicht guttun. Immer wieder versucht sie sich in ihrem Kopf vorzustellen, wie sie endlich den Mut aufbringt, Jan zur Rede zu stellen. Ein für alle Mal mit ihm zu klären, ob er Emmi nun gut findet oder nicht oder ob er das alles für ein lustiges Spiel hält oder…

Emmis Telefon brummt erneut auf. Missmutig grapscht sie danach und erwartet, dass es Sina ist, weil sie ihr vielleicht doch noch Glück für die Prüfung wünschen möchte.

Aber es ist Anne: Wann fliegt ihr nochmal genau nach Jeju?

Gleich am Montag. Warum?, antwortet Emmi auf Annes Frage.

Emmi reibt sich mit Daumen und Zeigefinger über ihre müden Augen.

Der Urlaub! Der hat ihr gerade noch gefehlt!

In einer Woche beginnen Emmis erste Ferien in Südkorea. Gleichzeitig sind es wohl die ersten Ferien überhaupt, auf die Emmi so gar keinen Bock hat!

Vor wenigen Tagen sah das noch ganz anders aus: Da wäre Emmi mit ihrer Familie nämlich nach Hause geflogen, weil Papa genau in der Ferienzeit in Deutschland hätte arbeiten sollen.

Emmi hatte sich riesig gefreut – auf Sina, auf Timo, auf Opa, auf ihr altes Haus. Sie hatte bereits begonnen, mit Sina Pläne für die Ferien zu spinnen.

Doch dann hatte der bescheuerte Chef von Papa, mit dem er sowieso ständig noch nach der Arbeit bis spätabends essen gehen muss, plötzlich seine Meinung geändert: Papa soll nun doch in Korea bleiben. Und weil so ein früher Heimflug sowieso nicht geplant war, hatten ihre Eltern kurzerhand beschlossen, den Deutschlandbesuch auf die Weihnachtsferien „zu verschieben“. So wollten sie es Emmi zumindest weismachen. Obwohl Familie Mayer so oder so fest geplant hat, Weihnachten in Deutschland zu verbringen. Der Urlaub ist also gar nicht verschoben.

Er ist einfach futsch.

Emmi hatte natürlich niemand nach ihrer Meinung gefragt.

Wie immer.

Sie hatte vor Wut geweint und Papa angebettelt, dass er nochmal mit seinem Chef reden möge, doch es hat alles nichts genützt: Papa bleibt über die Herbstferien in Seoul. Er und Mama hatten dann beschlossen, dass wenigstens der Rest der Familie in den Urlaub fahren soll – Mama, Benno und sie. Vielleicht nur um Emmi ein wenig zu besänftigen. Nur halt nicht ganz so weit wie nach Deutschland.

Emmi hatte einige Tage gebraucht zu akzeptieren, dass ihr Heimatbesuch gestrichen ist. Aber dann waren ihr durchaus einige, nette Ziele eingefallen – Australien, Hawaii, Bali – alles deutlich näher an Seoul als an Deutschland. Das hatte Emmi extra im Internet recherchiert.

Doch Mama hatte beschlossen, nach Jeju zu fliegen.

Nicht nach Sydney oder Oahu.

Nein, nach Jeju.

War das nicht diese komische Insel von der Mama ihr vor ein paar Monaten mitten im Umzug erzählt hat? Die Insel, auf der sie Schweine essen, die vorher die Kacke der Menschen gefressen haben?

Also zumindest früher mal.

Heute wohl nicht mehr.

Das hatte Mama ihr versichert.

Aber was weiß Mama schon?

Nun könnte Emmi ja vollkommen egal sein, was die Schweine auf Jeju essen, schließlich isst sie nach wie vor kein Fleisch, auch wenn das in Korea deutlich schwieriger ist als in Deutschland. Schon mehr als einmal hat sie kleine Fleisch- oder Wurststückchen in ihrem Essen gefunden, obwohl das so überhaupt nicht auf der Speisekarte stand.

Aber was ist Jeju bitte für ein Urlaubsziel?

Emmi war mehr als eingeschnappt gewesen, dass Mama sich nicht für etwas Cooleres entschieden hatte.

Jeju – wer von ihren Mitschülern in Deutschland kennt schon Jeju?

Sydney hingegen – das hätte richtig Eindruck bei ihrer alten Klasse gemacht. Dort war noch niemand von denen gewesen. Selbst Mina nicht, die einen Vater hat, der beim Flughafen arbeitet und deswegen immer umsonst fliegen darf. Und Mina dadurch auch.

Das Vibrieren ihres Handys reißt Emmi aus ihren Gedanken. Es ist wieder Anne. Bestimmt hat sie eine total coole Idee, was man in den Herbstferien in Seoul machen könnte. Und das verpasst Emmi nun auch noch, weil sie mit Mama und Benno nach Jeju fliegen muss.

Wir kommen mit!, murmelt Emmi Annes Nachricht und begreift im ersten Moment gar nicht, wie Anne das meint.

Mein Dad muss auch arbeiten, klärt Anne sie unaufgefordert auf. Also habe ich meiner Mum vorgeschlagen, dass wir doch mit euch nach Jeju fliegen können! Super, oder?

Sofort schießt Emmi eine Frage in den Kopf.

Die einzig wichtige Frage.

Ob das heißt, dass Jan auch mitkommt?

Aber das kann sie Anne ja schlecht aufs Brot schmieren. Zumindest nicht sofort.

Yayyy!, schreibt Emmi sofort zurück. Ich hab schon gedacht, ich muss den langweiligsten Urlaub meines ganzen Lebens auf dieser lahmen Insel verbringen.

Emmi lässt das Handy sinken und beschließt, sich ab jetzt auf ihre ersten Ferien hier in Korea zu freuen.

Mit Anne werden die Herbstferien doch hoffentlich ein ganzes Stück erträglicher als gedacht. Und die Aussicht, dass Jan vielleicht mitkommen könnte – bei diesem Gedanken wird Emmi gleich ganz anders.


Kapitel 2 – Reifeprüfung

Am nächsten Tag hat es bereits zur Mittagspause geklingelt und Emmi hat es immer noch nicht geschafft, Anne unauffällig zu fragen, ob Jan in den Urlaub mitkommt. Alles Mögliche haben sie seit heute Morgen schon bequatscht, nur Jan hat Anne mit noch keinem einzigen Wort erwähnt. Nicht mal einem klitzekleinen. Ob das Absicht von ihr ist?

Dafür weiß Emmi jetzt jede Menge über ihr nächstes Reiseziel, denn zum Glück war Anne schonmal auf Jeju und hat ihr erzählt, dass es dort sogar noch ein bisschen wärmer sein wird als in Seoul, weil die Insel südlich vom koreanischen Festland liegt. Sogar Palmen sollen auf der Insel wachsen.

Das kann sich Emmi gar nicht vorstellen – zwar sind es jetzt, zwischen Anfang und Mitte Oktober, immer noch mindestens 15 bis 20 Grad jeden Tag und die hohe Luftfeuchte bringt sie immer noch zum Schwitzen, aber Palmen hat Emmi in Seoul noch keine wachsen sehen. Zumindest keine, die direkt aus dem Boden wachsen, nur eingetopfte. Außerdem hatte Mama ihr gestern gesagt, dass Jeju nur etwas weniger als eine Stunde Flugzeit von Seoul entfernt ist.

„Wann haben wir nochmal die Prüfung?“, fragt Anne sie plötzlich über Geschirrgeklapper und Stimmengewirr hinweg. In der kleinen Schulkantine gibt es heute Bibimbap – Emmis absolutes Lieblingsessen, seit sie in Korea angekommen ist. Es besteht aus Reis, der viel mehr zusammenklebt als der übliche Reis, den Emmi aus Deutschland kennt, verschiedenen Gemüsen, Ei und Gochujang, der scharfen Chilipaste, deren Namen Emmi erst seit ein paar Wochen kennt und von der sie immer einen großzügigen Esslöffel unter ihren Reis, ihr Gemüse und ihr Ei rührt.

Die Prüfung!

Für ein paar Minuten hatte Emmi nicht an die Prüfung gedacht.

Fast ist sie Anne für den plötzlichen Themawechsel ein bisschen böse. Ihre gemeinsame Taekwondo-Prüfung findet heute Nachmittag statt. Anne hat schon einige Prüfungen absolviert und ist viel weiter als Emmi. Die soll heute ihre erste Prüfung ablegen. Und obwohl Anne ihr schon dutzendmal versichert hat, dass diese Prüfung absolut pillepalle sein wird, ist Emmi sofort wieder supernervös.

„15 Uhr“, sagt Emmi knapp und schiebt schnell ein „Aber jetzt lenk nicht vom Thema ab“ hinterher. Erstens hat sie überhaupt keine Lust, an die Prüfung denken zu müssen, und zweitens sucht sie im Kopf immer noch nach einem Weg, Anne nach Jan zu fragen.

„Wie hat… euch… denn Jeju gefallen, als ihr vor ein paar Jahren da wart?“, hakt Emmi umständlich nach.

„Mir hat es gut gefallen“, antwortet Anne und setzt sich an den langen Esstisch.

Emmi schnauft ganz leise aus. Will Anne sie nicht verstehen?

„Und die Koreaner lieben Jeju!“, fährt die fort. „Sie bezeichnen es als das Hawaii Koreas.“ Das letzte Wort vernuschelt Anne, denn sie steckt sich bereits mit dem Löffel einen kleinen Berg Bibimbap in den Mund.

„Wer?“, fragt Emmi verwirrt.

„Na, die Koreaner“, antwortet Anne verständnislos.

„Ach so.“ Emmi zuckt unbeeindruckt mit den Schultern. „Das richtige Hawaii wäre mir trotzdem lieber!“

„Hawaii? Redet ihr gerade über Hawaii?“, mischt sich plötzlich eine dritte, kindlich klingende Stimme in das Gespräch.

Emmi schnauft noch einmal aus. Diesmal deutlich lauter.

Doch ihr lautes Schnaufen geht unter, denn Jeon-Kyeong schiebt den Stuhl neben Anne extra geräuschvoll zurück und setzt sich beschwingt.

Obwohl sie nun schon seit zwei knapp zwei Monaten Emmis Mitschülerin ist, wirkt Jeon-Kyeong mit ihrer geringen Körpergröße, der zarten Statur und dem immer gleichen kinnlangen Bobschnitt auf Emmi immer noch wie ein Grundschulkind.

„Also ich finde Hawaii ja total gehypt“, fährt Jeon-Kyeong ungefragt fort und vermischt mit schnellen gekonnten Bewegungen die fein säuberlich getrennten Gemüsesorten des Bibimbaps mit dem Reis und dem Ei in der runden Schüssel. „Zumindest die Hauptinseln. Viel zu viele Touristen. Aber wenn man sich noch nicht so gut auskennt…“ Sie schaut Emmi an, zuckt mit den Schultern und rührt mit gespitzten Lippen weiter in ihrem Bibimbap, so dass Emmi sich schon fragt, ob man eine gewisse Mindestrührzahl erreichen muss, bevor man sein Bibimbap endlich essen darf.

„Wir haben über das koreanische Hawaii gesprochen“, klärt Anne Jeon-Kyeong auf.

Emmi hätte sie ja gern noch ein wenig weiter schwafeln lassen. Aber Anne kann wohl nicht aus ihrer Haut. Sie muss einfach immer nett zu Jeon-Kyeong sein, egal wie doof die sich gerade benimmt.

Emmi glaubt, eine leichte Röte in Jeon-Kyeongs Gesicht zu erkennen und grinst unauffällig und mit ihren langen, blonden Haaren über dem Gesicht in ihre Bibimbapschüssel.

Entsetzt stellt sie fest, dass da kaum noch etwas drin ist. Hat sie nicht gerade erst angefangen zu essen? Emmi hat in letzter Zeit immer so einen Hunger, sie könnte locker die doppelte Portion verschlingen. Wahrscheinlich hast du gerade wieder einen Wachstumsschub, hat Mama bestimmt schon dreimal in den letzten paar Wochen zu ihr gesagt. Emmi möchte sich dann am liebsten immer die Ohren zuhalten und lalala singen.

Noch mehr wachsen.

Immer weiter wachsen.

Nicht mehr viel und sie hat die 1,70 Meter geknackt. Dabei ist sie doch erst dreizehneinhalb und hat, wenn sie Pech hat, noch einige Wachstumsschübe vor sich!

Missmutig schaut Emmi unter ihrem Haarvorhang hervor und blickt direkt in Min-Juns Gesicht, der eben die Kantine betreten hat.

Emmi versucht, sich ein Lächeln abzuringen, aber es nützt nichts. Min-Jun schaut sich noch eine weitere Sekunde im Raum um, als ob er jemanden suchen würde, dann dreht er sich auf der Stelle um und stapft zurück in die Richtung, aus der er gekommen ist.

Emmi schluckt und starrt ihm nach. So geht das schon seit Wochen. Zwischen ihnen herrscht absolute Funkstille. Und das obwohl Min-Jun nach wie vor ihr Banknachbar ist.

Betreten senkt sie den Blick. Es tut Emmi immer noch leid, dass sie ihn bei ihrem ersten Klassenausflug in diesem durchgeknallten Kacke-Museum direkt zu Schulbeginn so abserviert hat. Und wenn sie nicht wüsste, dass Jan auch heimlich in sie verliebt ist, Emmi hätte sich bestimmt sofort in Min-Jun verknallt. Nicht ohne Grund ist er innerhalb von den wenigen Wochen, die Emmi und er neu an der Schule sind, zu einem der meist angehimmeltsten Jungs der Unterstufe geworden: Gutaussehend, süß schüchtern und irgendwie geheimnisvoll.

Sogar Jeon-Kyeong findet ihn toll.

Emmi schaut zu ihr rüber. Die hat Min-Jun ebenso bemerkt und schaut ihm sehnsüchtig nach.

„Jeon-Kyeong? Hallo? Jemand zu Hause?“ Im Gegensatz zu Emmi und der kleinen Koreanerin scheint Anne von Min-Jun überhaupt keine Notiz genommen zu haben.

„Hm?“ Abwesend schaut Jeon-Kyeong ihre beiden Mitschülerinnen an. Sie bleibt an Emmis Gesicht hängen. „Was grinst du denn so?“, fragt Jeon-Kyeong angriffslustig. Eine leichte Min-Jun-Röte hat sich auf ihre porzellanweiße Haut gelegt, eine Haut, wie sie nur Koreanerinnen haben können. Nicht einen Pickel sieht Emmi in Jeon-Kyeongs Gesicht. Nicht mal einen Mitesser kann sie auf ihrer Nase entdecken. Aber Jeon-Kyeong ist auch ein Jahr jünger und gefühlt drei Köpfe kleiner als Emmi. Wahrscheinlich ist sie noch nicht mal in der Pubertät, auch wenn sie oft daherredet, als ob sie bereits volljährig sei.

„Nur so“, sagt Emmi, stützt ihren Kopf auf ihre Hand auf und grinst Jeon-Kyeong süffisant an. Zwar hat sich ihr Verhältnis seit den Startschwierigkeiten zu Schuljahresbeginn gebessert, aber beste Freundinnen – das sind sie nicht und das werden sie wohl auch nie werden.

Prompt spürt Emmi einen leichten Fußtritt unter dem Tisch. Dazu ein strenger Blick von Anne.

Emmi versucht, sich einen Ruck zu geben. „Ich habe mich gefragt, ob du schonmal in Jeju warst, Jeon-Kyeong?“, fragt sie betont friedlich, während sie den letzten Rest Reis aus ihrer Schüssel kratzt.

Emmi kann Anne verstehen. Sie hat ihr sogar bereits versprochen, freundlicher zu Jeon-Kyeong zu sein. Nur leider vergisst Emmi diesen Vorsatz immer wieder, sobald Jeon-Kyeong die erste Spitze loslässt. Und die lässt nie lange auf sich warten…

„Auf Jeju“, antwortet Jeon-Kyeong prompt. „Jeju ist eine Insel, deswegen sagt man auf. Ich wundere mich, dass du das nicht weißt, Emmi. Es ist doch deine Muttersprache, nicht meine.“

Emmis Puls macht Hochsprung.

Leider ist Jeon-Kyeong nicht nur eine Angeberin, sie ist auch verdammt schlau. Schließlich ist Deutsch erst die dritte Sprache, die Jeon-Kyeong gelernt hat, nach ihrer Muttersprache Koreanisch und Englisch, als ihre Familie in Melbourne gelebt hat. Und trotzdem beherrscht sie Deutsch so gut, dass sie Emmi korrigieren kann.

Emmis Puls hüpft nochmal um ein paar Schläge nach oben – ob vor Wut oder vor Neid, Emmi kann ihre Gefühle manchmal gar nicht so richtig einordnen. Ihre Hand ist fest um ihren Löffel gekrallt, obwohl sie ihr Bibimbap bereits restlos aufgegessen hat.

„Also warst du nun schon dort oder nicht?“ Selbst Anne klingt jetzt ein wenig schnippisch. Emmi wirft ihr einen Seitenblick zu und verkneift sich ein Augenrollen.

„Klar“, antwortet Jeon-Kyeong knapp. „Ich glaube, es gibt kaum einen Koreaner, der noch nicht dort war. Ich finde es ja eher langweilig. Warum?“

„Weil Anne und ich in den Herbstferien zusammen dort Urlaub machen werden“, platzt es hämischer aus Emmi heraus, als sie beabsichtigt hat.

Jeon-Kyeong antwortet nicht. Stattdessen bringt sie nur etwas heraus, dass wie hmhm klingt und widmet sich konzentriert ihrem Essen, das sie bisher kaum angerührt hat.

Nun hat Emmi fast ein schlechtes Gewissen.

Aber hätte Jeon-Kyeong nicht so blöd hochnäsig auf Jeju gesagt, dann hätte Emmi sich vielleicht etwas mehr Mühe gegeben, ihre Gefühle nicht zu verletzen. Ihr ist klar, dass Jeon-Kyeong eigentlich einfach nur eifersüchtig auf Emmi ist, seit sie vor ein paar Monaten in Korea aufgetaucht ist.

Und das kann Emmi sogar sehr gut verstehen.

In Emmis alter Klasse in Deutschland gibt es seit diesem Schuljahr nämlich auch eine Neue: Melanie heißt sie wohl. Und ausgerechnet Sina scheint sich äußerst gut mit ihr zu verstehen.

Eigentlich sollte sich Emmi für sie freuen. Sollte froh sein, dass Sina nicht allein ist, jetzt, wo sie beide tausende Kilometer voneinander entfernt wohnen. Aber eigentlich, ja so ganz eigentlich, passt es Emmi überhaupt nicht in den Kram, dass Sina eine neue Freundin hat.

Auch wenn sie Sina das so niemals sagen würde.

Und genau aus diesem Grund wäre Emmi ja auch so gern in den Herbstferien nach Deutschland geflogen – um diese Melanie kennenzulernen und abzuchecken, wie gut sich Sina und sie wirklich verstehen.

Aber das kann Emmi ja nun vergessen.

In diesem Moment tut Jeon-Kyeong Emmi dann doch leid. Wenn sie mit Sina hier sitzen würde und dann würde diese Melanie kommen, sich zwischen sie setzen und ihr an den Kopf knallen, dass sie zusammen in den Urlaub fahren, Emmi würden wohl raketenartig die Tränen in die Augen steigen.

Tränen vor Wut.

„Aber wenn du sagst, dass es langweilig dort ist... dann verpasst du ja nichts!“, versucht Emmi einen versöhnlicheren Ton anzuschlagen, aber irgendwie kommt es aus ihrem Mund schon wieder nicht so heraus, wie es in ihrem Kopf geklungen hat.

„Wann… habt ihr das denn beschlossen?“ Jeon-Kyeongs Stimme klingt, als wäre in ihrem Bibimbap Sand anstatt Reis gewesen.

„Gestern erst“, antwortet Anne und legt den Kopf schief. „Emmi wollte ja nach Deutschland fliegen, aber daraus wird ja nun nichts.“ Sie schaut in Emmis Richtung.

Emmi zieht eine Schnute. Natürlich freut sie sich, dass sie nun nicht nur mit ihrem quengeligen Bruder Benno und ihrer Mutter die Ferien verbringen muss. Aber sie hätte doch wirklich verdammt gern diese Melanie persönlich kennengelernt!

„Und da habe ich Mitleid mit Emmi gehabt und meine Mutter überredet, auch mit nach Jeju zu kommen.“

Emmi schießt ein Gedanke in den Kopf: Ob jetzt ein guter Zeitpunkt wäre, die Sprache auf Jan zu bringen?

„Komm‘ doch auch mit“, sagt Anne zu Jeon-Kyeong.

Emmi erblasst schlagartig und vergisst sofort die Frage nach Jan, die sie sich noch vor einer Sekunde in ihrem Kopf zurechtgestrickt hatte.

Jeon-Kyeong soll mitkommen? Also, so leid tut ihr diese kleine koreanische Streberin jetzt auch wieder nicht!

„Oder hast du und deine Familie in den Ferien schon was anderes vor?“, hakt Anne nach.

Emmi würde ihr am liebsten auf die Finger hauen!

Jeon-Kyeong scheint tatsächlich über ihren Vorschlag nachzudenken.

Emmi glotzt Jeon-Kyeong stumm und mit großen Augen an. Warum muss Anne sie denn auf so eine dumme Idee bringen? Bestimmt legt sie sich in ihrem schlauen, kleinen Kopf just in diesem Moment mögliche Varianten zurecht, wie sie ihre Eltern am besten davon überzeugt bekommt, auch nach Jeju zu fliegen.

Und die Vorstellung, dass Familie Park sich ihnen anschließt – das wäre sogar noch gruseliger als Jeon-Kyeong allein! Wenn Emmi nur an diesen von ihrer Mutter aufgezwungenen Besuch bei Familie Park zu Anfang des Schuljahres zurückdenkt, vor allem an diesen lauten, strengen und betrunkenen Vater – ja, wenn es wirklich so weit kommen sollte, dass Familie Park auch noch mit nach Jeju fliegt, dann muss Emmi heute direkt nach der Schule dringend im Internet recherchieren, wie man sich innerhalb von wenigen Tagen todsicher eine Grippe zulegen kann. Oder einen Magen-Darm-Virus oder eine tropische Krankheit. Das dürfte bei diesen Temperaturen doch wirklich nicht allzu schwer sein!

„Ich kann nicht“, sagt Jeon-Kyeong.

Emmi hört förmlich den Stein der Erleichterung auf den bräunlich-grauen Fliesenboden der Kantine plumpsen.

„Ich bin die ganzen Ferien im hagwon.“

„Oh“, sagt Anne und nickt.

Emmi nickt ebenfalls, obwohl sie mal wieder keine Ahnung hat, wovon Jeon-Kyeong spricht. Aber so wie Anne oh gesagt hat, scheint es nichts zu sein, worum Emmi sie beneiden müsste.

„Schon wieder?“, fragt Anne nach. „Du hast doch schon den ganzen Sommer gelernt bis zum Umfallen.“ Sie legt Jeon-Kyeong die Hand auf die Schulter, was sie wahrscheinlich trösten soll.

Doch Jeon-Kyeong scheint gar keinen Trost zu brauchen. „Was sagt ihr Deutschen immer?“, fragt sie schulterzuckend: „Von nichts kommt nichts?“

Emmi hat das zwar noch nie gesagt, aber dafür dämmert ihr so langsam, worum es überhaupt geht: „Ihr redet von diesen Nachhilfeschulen, oder?“

„Ja.“ Jeon-Kyeong rümpft die Nase. Wie immer, wenn Emmi eine in ihren Augen doofe Frage stellt.

Aber Emmi ist das mittlerweile egal: „Und was soll das mit der Nachhilfe in den Ferien? Du hast doch eine Klasse übersprungen! Und du bist doch schon die Beste in der Klasse?“ Emmis Stimme nimmt immer mehr den Ton eines empört zwitschernden Vogels an. „Was in aller Welt will jemand wie du bei der Nachhilfe?“

„Das machen wir in Korea halt so“, antwortet Jeon-Kyeong schulterzuckend. Sie schaut Emmi an, als ob sie nicht im Geringsten nachvollziehen kann, warum Emmi ihre Anwesenheit in einer Nachhilfeschule so merkwürdig findet.

Emmi kann sich erinnern, diese Diskussion vor ein paar Wochen schon mal mit Jeon-Kyeong geführt zu haben. Aber schon damals hat sie von der kleinen Koreanerin keine zufriedenstellende Antwort erhalten.

„Oder bist du etwa die Nachhilfelehrerin?“ Die Frage amüsiert Emmi in dem Moment, in dem sie sie ausspricht. Was soll eine 12-Jährige schon sinnvoll unterrichten?

Aber es geht schließlich um Jeon-Kyeong. Bei ihr scheint alles möglich.

„Erzähl doch keinen Quatsch! Ich?“ So wie Jeon-Kyeong übertrieben belustigt den Kopf schüttelt und sich an die Brust tippt, scheint auch sie diese Idee für gar nicht mal so abwegig zu halten.

Emmi rollt innerlich mit den Augen.

„Vielleicht ist Nachhilfe die falsche Übersetzung für hagwon“, mischt Anne sich ein. „Soweit ich weiß, lernen koreanische Schüler in solchen hagwons vor.“

Emmi versteht nicht, was Anne meint. „Wie vor?“, fragt sie und erntet erneut eine gerümpfte Nase.

„Ja, vor halt“, sagt Jeon-Kyeong. „Wir lernen außerhalb der Schule bereits den Stoff, der erst in der Zukunft drankommen wird.“

Nun ist Emmi völlig verwirrt. „Was soll das denn bringen?“ Ein plötzlicher Gedanke, ja fast eine Art Hoffnungsschimmer, keimt in ihr auf: „Willst du etwa die Schule wechseln? Auf eine Eliteschule oder so? Und lernst deswegen vor?“ Sie versucht, nicht zu enthusiastisch zu klingen.

Jeon-Kyeong wirft ihr einen säuerlichen Blick aus ihren unergründlichen, fast schwarzen Augen zu. Natürlich hat sie sofort durchschaut, worauf Emmi hinauswill. Sie durchschaut immer alles.

„Nein, werde ich nicht!“, sagt sie bestimmt. „Ich bleibe an der Deutschen Schule! Schließlich will ich in Deutschland studieren. Und das geht am besten mit einem deutschen Abitur.“

„Und dafür brauchst du Nachhilfe? Du?“ Emmi kann sich ein Lachen nun wirklich nicht mehr verkneifen. „Wir sind zwar erst in der siebten Klasse, aber ich glaube, ich kann dir jetzt schon zu einhundert Prozent sagen, dass du ganz bestimmt das Abitur schaffen wirst.“

„Selbstverständlich schaffe ich das Abitur, darum geht es doch überhaupt nicht“, entgegnet Jeon-Kyeong selbstbewusst und schiebt die Schüssel mit dem halb aufgegessenen Bibimbap von sich. „Die Frage ist, mit welcher Note. Und außerdem habe ich dir doch schon gesagt, dass es keine Nachhilfe ist, sondern quasi… Vorhilfe.“

Emmi ist vollends verwirrt.

„Bringt dir das überhaupt was, wenn du hier an der Deutschen Schule bist?“, hakt nun auch Anne nach. „„Gehen an solche Nach… Vorhilfeschulen nicht nur Koreaner, die an koreanischen Schulen lernen?“

Jeon-Kyeong zuckt mit den Schultern. „Klar, bringt mir das was. Mathe ist ja überall gleich. Da lerne ich gerade für Klasse 8.“

„Hä?“ Emmi fasst sich mit der flachen Hand an die Stirn. „Du beschäftigst dich jetzt schon mit dem Stoff aus dem nächsten Schuljahr? Aber warum denn?“ Die Vorstellung wird immer bekloppter, je mehr Emmi darüber nachdenkt. „Da langweilst du dich doch jeden Tag in der Schule zu Tode, wenn du das alles schon längst kannst!“

„Ich langweile mich überhaupt nicht“, versucht Jeon-Kyeong sich zu verteidigen, aber ihre Stimme klingt längst nicht mehr so überzeugt wie noch vor ein paar Sekunden.

„Ich glaube, es geht auch gar nicht darum, ob sie dazu Lust oder nicht. Oder ob sie es braucht oder nicht“, schaltet sich Anne wieder ein.

Anne spielt immer die Vermittlerin.

Oder zumindest ist sie so nett und erklärt Emmi Sachen, die sie nicht versteht. Im Gegensatz zu Jeon-Kyeong, die sich regelmäßig köstlich darüber zu amüsieren scheint, wenn Emmi ein dummes Gesicht macht.

Emmi winkt ab: „In Korea gehört Lernen bis zum Umfallen einfach dazu. Egal wie gut man ist. Ja ja, ich weiß schon.“ Kopfschüttelnd steht sie auf, um ihre Bibimbap-Schüssel auf das Abräumtablett zu stellen. Jedes Mal, wenn sie denkt, den koreanischen Lernwahnsinn durchschaut zu haben, wird es noch ein wenig verrückter. Als ob es im Leben nur darum geht, Einsen zu schreiben! Auch wenn es ein paar Lehrer gibt, die einem genau das immer wieder weismachen wollen. Aber zum Glück hat Mama ihr schon ganz früh beigebracht, dass es nicht so ist. Dass gute Noten zwar wichtig sind, aber andere Sachen viel mehr zählen. Dass man das tut, was man liebt – so wie Mama ihren Gesangsunterricht. Dass man ein guter Mensch ist. Dass man Anderen hilft, wenn man sieht, dass sie Hilfe brauchen. Dass man andere nicht fies behandelt, weil man auch nicht fies behandelt werden möchte.

Emmi findet, da könnte Jeon-Kyeong noch so einiges dazulernen. Aber für sie und für ihre Eltern zählt anscheinend nur, dass sie besser ist als alle anderen. Dass sie mehr Vokabeln kann oder schneller eine Matheaufgabe ausrechnet.

„Wer von euch hat heute Taekwondo-Prüfung?“, ruft es plötzlich laut in die kleine Kantine hinein?

Herr Kim, der eigentlich der Schulhausmeister ist, aus irgendwelchen Gründen perfekt Deutsch spricht, außerdem der Vater von einem Grundschulkind und ihr Taekwondolehrer, steht in der Tür.

Emmi zuckt heftig zusammen. Für ein paar Minuten hatte Emmi tatsächlich die Prüfung vergessen. Doch jetzt, wo Herr Kim vor ihr steht und sie zögernd zusammen mit Anne und noch ein, zwei anderen Kindern die Hand hebt, macht sich innerhalb von Millisekunden ein flaues Gefühl in ihrem Magen breit.

„Der blöde Keller ist wieder unter Wasser“, ruft er ihnen sichtlich verärgert zu. „Das wird eine längere Geschichte. Wir ziehen die Prüfungen vor. Alle mitkommen!“, befiehlt er und winkt in Richtung Ausgang.

Emmis Bibimbap, das eben noch für ein wohlig warmes Gefühl in ihrem Bauch gesorgt hat, kommt ihr auf einmal wie ein dicker, riesiger Klumpen vor. Unmöglich, so eine vernünftige Prüfung abzulegen.

„Aber…“, protestiert nicht nur sie, sondern auch die anderen Opfer von Herrn Kims Kellerproblem.

„Keine Widerrede“, ruft der und hat ihnen schon den Rücken zugewandt, um in Richtung Turnhalle zu stapfen. „In fünf Minuten steht ihr alle fertig angezogen da!“

„Vielleicht besser so“, sagt Anne und schnappt ihre Sachen. „Weniger Zeit, um aufgeregt zu sein.“

„Wenn du meinst“, flüstert Emmi mutlos, während sie hinter Anne den Schulflur entlanghetzt.

„Keine Sorge, du schaffst das mit links! Und sieh es mal so – es ist die letzte Prüfung für uns vor den Ferien!“ Anne zwinkert ihr zu, während sie die Tür des kleinen Hauptschulgebäudes in Richtung Hof aufreißt. Die Turnhalle liegt in einem Flachbau direkt gegenüber, auf den Emmi mit schnellen, aber sich plötzlich wackelig anfühlenden Schritten zusteuert.

„Kommt Jan eigentlich auch mit nach Jeju?“, hört sie sich plötzlich selbst fragen.

Anne, die eine halbe Schrittlänge voraus gerade die Hand nach der Eingangstür zum Flachbau ausstreckt, dreht ihr den Kopf zu und schaut sie verwirrt an.

„Keine Ahnung, warum ich das jetzt frage. Ist mir gerade so eingefallen“, versucht Emmi sich herauszureden.

„Ich muss dich enttäuschen“, sagt Anne und wirft ihr einen kurzen Seitenblick zu, den Emmi aber nicht richtig erhaschen kann, weil Anne sich gleich wieder wegdreht.

„Dem ist so ein Family-Urlaub viel zu langweilig.“

****

Emmi kommt nicht mehr dazu, Anne zu fragen, was sie genau mit langweilig meint und ob Jan das wirklich so gesagt hat. In Windeseile ziehen sie sich um und betreten die Turnhalle.

Sobald der Taekwondo-Unterricht beginnt und Hausmeister Kim aus seinen blauen, verwaschenen Arbeitshosen in den dobok, den weißen Taekwondo-Anzug steigt, scheint er gleichzeitig aus seiner Persönlichkeit auszusteigen und sich eine neue anzuziehen: Sonst ist der eher klein geratene Mann mit der für Koreaner eher untypischen, wie glattpoliert glänzenden Glatze eigentlich ein sehr lustiger und entspannter Typ, der Emmi immer vergnügt zuzwinkert, wenn sie ihm in der Schule begegnet. Außer wenn nach einem heftigen Regen der Schulkeller mal wieder unter Wasser steht. Oder in der Grundschule das Klo verstopft ist, weil irgendwelche Grundschüler es witzig finden, Tonnen von Klopapier zu versenken, weil sie genau wissen, dass koreanische Leitungen schneller verstopfen als deutsche. Dann sollte man ihm lieber aus dem Weg gehen.

Und wenn er Taekwondo-Unterricht gibt.

Denn dann wird er vom Hausmeister zum Großmeister, spricht plötzlich sehr laut und streng und akzeptiert weder einen lockeren Spruch noch Geflüster im Taekwondo-Unterricht. Stattdessen fordert er vollste Konzentration und Disziplin.

Eigentlich müsste Emmi das abschrecken. Tut es aber nicht.

Stattdessen empfindet sie das endlose Üben von Fuß- und Handtechniken, Schrittfolgen und dem dazu passenden richtigen Atmen unter dem Kommando von Hausmeister, äh Großmeister Kim irgendwie… entspannend.

Außer heute. Da ist sie alles andere als entspannt.

Nicht nur, weil sie heute ihre erste Gürtelprüfung hat.

Sondern auch, weil es gerade einfach nicht in ihren Kopf will, dass Jan keine Lust hat, mit nach Jeju zu kommen. Das wäre doch die Gelegenheit für ihn, Zeit mit Emmi zu verbringen! Ohne dass alle aus der Schule kucken. Außer Anne vielleicht. Und ohne dass Sora dazwischenfunken kann.

Jetzt ärgert Emmi sich, dass sie Anne gefragt hat. In ihrem Kopf überschlagen sich derart die Gedanken, dass sie das Gefühl hat, sich kaum konzentrieren zu können.

„Noch fünf Liegestütze für jeden zum Abschluss des Aufwärmens“, bellt Herr Kim durch die kleine Turnhalle.

Mit zusammengebissenen Zähnen lässt Emmi sich auf die Knie fallen.

Heute läuft Herr Kim nicht wie üblich zwischen seinen Schützlingen hin und her um den Neigungsgrad der jeweiligen Arme zu kommentieren, sondern er hat sich einen provisorischen Prüfertisch und Stuhl aus einem Bock und einem Sprungkasten gebaut. Beides Sportgeräte, die trotz Emmis Körpergröße ganz und gar keine positiven Gefühle in ihr auslösen.

Auf dem Sprungkasten liegen Blätter und ein Stift bereit.

Die Prüflinge, heute sind es sechs, setzen sich in einer Reihe auf eine der langen, flachen Holzbänke an der Wand, wobei Emmi, die ja gerade erst vor ein paar Monaten angefangen hat, bekleidet in ihrem schneeweißen dobok und ihrem noch schneeweißeren Gürtel mitsamt ein paar Zwergen aus der Grundschule am Ende der Bank Stellung bezieht.

Anne ist als Erste dran. Sie hat bereits in Shanghai Kampfsport gemacht, und das sieht man auch. Ihre Bewegungsabfolgen sind so auf den Punkt, dass Emmi nur staunen kann. Eigentlich wollte sie sich jede einzelne Bewegung der Prüflinge vor ihr, und auch alles was Großhausmeister Kim sagt oder fragt, ja jede Regung seines Gesichts in sich aufsaugen, um besser einschätzen zu können, was in ihrer Prüfung auf sie zukommen wird. Aber in Emmis Kopf herrscht ein völliges Gedankenchaos.

Ein Gedankenchaos aus Schritt- und Armfolgen, Annes Worten, die wie ein Kommando aus dem Taekwondo in ihrem Kopf widerhallen, Jans Gesicht, dass sie gelangweilt anschaut. So gelangweilt, dass er seinen Mund aufreißt und geräuschvoll gähnt.

„Emmi?“

Erschrocken schaut Emmi Großhausmeister Kim an, als wäre sie gerade eben aufgewacht und hätte laut gegähnt.

Oder hat sie etwa tatsächlich gegähnt?

„Du machst doch auch die erste Prüfung, oder?“, fragt Herr Kim ungeduldig.

„Ja“, sagt Emmi heiser, springt auf wie ein Flummi und macht ein paar hektische Schritte zu dem Grundschulkind hin, das sich bereits in Position gestellt hat und Emmi grimmig ob dieser unverschämten Verzögerung anschaut.

Großhausmeister Kim sagt die erste Kreuzform an, doch Emmi versteht ihn nicht. Wie in Watte gepackt fühlt sich ihr Kopf auf einmal an. Sie will nachfragen, doch sie sieht, wie die Kleine, die eine halbe Schrittlänge vor ihr steht, ihren rechten Arm vorreißt. Emmi macht instinktiv mit und hofft, sich irgendwie hinter ihr verstecken zu können, auch wenn das natürlich totaler Quatsch ist, weil Emmi ungefähr einen halben Meter größer ist als sie.

Emmis Herz klopft heftig. Sie versucht zu atmen, einfach nur zu atmen. Jetzt bloß nicht panisch werden!

Es ist die allererste Prüfung, versucht sie sich in ihren Gedanken gut zuzureden. Die allereinfachste Prüfung! Das kannst du!

Emmi hört zwei, drei weitere Kommandos in ihrem Kopf ankommen und reagiert darauf. Fast instinktiv bewegt sie kraftvoll Arme und Beine, tritt mit dem Fuß nach vorn, macht eine halbe Drehung, einen Ausfallschritt, tritt, schlägt, ruft, dreht sich wieder.

„Und nun zum theoretischen Teil“, sagt Herr Kim endlich und klatscht in die Hände.

Emmi läuft ein Schweißtropfen die Schläfe herunter.

„Nuri“, sagt er und schaut die Kleine an, die ihren Körper sofort strafft, als würde sie bei der Armee antreten.

Emmi atmet erleichtert aus. Für einen Moment hatte sie befürchtet, dass er den Namen einer Übung ansagt, die sie nicht kennt.

„Was ist ein kup?“, fragt Herr Kim und schaut Nuri erwartungsvoll an.

Kup heißt Rang oder Stufe“, piepst die wie aus der Pistole geschossen.

Na toll, das hätte Emmi auch gewusst.

„Man erkennt an der Farbe des Gürtels, welchen Rang der Schüler hat“, fährt die kleine Grundschülerin rasend schnell fort. „Ein kup ist ein halber Gürtel und beginnt mit weiß. Ich habe einen weißen Gürtel und wenn ich die Prüfung heute bestehe“, aufgeregt japst Nuri nach Luft, „bekomme ich einen weißen Gürtel mit gelbem Rand. Und dann einen gelben Gürtel bei der nächsten Prüfung. Und dann…“

„Danke dir, Nuri“, unterbricht Hausgroßmeister Kim sie. „Ich denke, ich habe genug gehört.“ Er lächelt zufrieden.

Ein bisschen erinnert er Emmi in diesem Moment an einen Buddha. Aber nur für einen ganz kurzen Moment. Denn als er sich Emmi zuwendet, setzt er sofort wieder sein Großmeister-Gesicht auf. Eine mündliche Prüfung in Mathe könnte nicht schlimmer sein.

„Emmi“, sagt er, während er etwas in den Prüfungsbogen kritzelt. „Wer oder was ist ein dojang?“

Emmi schluckt. Sie merkt, wie feucht ihre Handflächen sind. Nervös verknotet sie ihre Hände hinter ihrem Rücken.

„Das ist der Ort, wo das Training stattfindet“, sagt sie zögerlich.

„Etwas lauter Emmi, ich habe dich nicht verstanden.“

Emmi schnauft leise aus den Nasenlöchern. Hausmeister Kim ist nicht mal einen Meter von ihr entfernt. Bestimmt hat er sie gehört.

„Der Ort, wo das Training stattfindet“, sagt sie lauter und ein wenig trotzig.

Das scheint auch Herrn Kim aufzufallen, denn sein Blick hebt sich vom Prüfungsbogen, der vor ihm liegt. Er schaut sie aufmerksam an.

Emmi presst ihre Lippen aufeinander. Sofort bereut sie, zickig reagiert zu haben. Aber er wird sie doch jetzt nicht deswegen diese Kinder-Taekwondo-Prüfung nicht bestehen lassen?!

Herr Kim lehnt sich zurück und verschränkt die Arme, obwohl er nur halb auf einem Bock sitzt und überhaupt keine Lehne hat.

„Und welche Grundregeln sollte man beachten, wenn man sich in einem dojang aufhält, Emmi?“

Sie räuspert sich. „Man muss sich verneigen, wenn man den dojang betritt und verlässt. Und vor jeder Übung. Man soll seinen dobok sauberhalten. Man soll nicht dreckig erscheinen, also keine dreckigen Füße oder so.“

Emmi pausiert, um kurz nachzudenken. Es gibt jede Menge Verhaltensregeln, die sie gestern Abend noch alle auswendig gelernt hat und die nun wild in ihrem Kopf herumschwirren. Sie versucht, nach den auswendig gelernten Sätze zu greifen, einem nach dem anderen.

„Man soll keinen Schmuck und keine Uhren tragen, weil das Verletzungsrisiko zu hoch ist. Und man soll sich aufwärmen vor dem Training.“

Herr Kim nickt. Er sagt nichts, sondern schaut sie einfach nur weiter an.

Emmi senkt nervös den Blick.

„Man muss natürlich den Anweisungen des Lehrers folgen. Und…“, sie zögert für einen Augenblick und sucht auf dem Turnhallenboden nach der richtigen Formulierung, „man soll immer freundlich und höflich sein. Und man soll seine Trainingspartner und den Lehrer immer mit Respekt behandeln.“

„Danke, Emmi. Das reicht“, sagt er so abrupt, dass Emmi klar wird, dass er nur auf diese letzten beiden Sätze gewartet hat.

Herr Kim rutscht von dem Bock herunter und kommt auf sie zugelaufen.

Emmi atmet schnell ein und aus, obwohl sie sich seit Minuten nicht bewegt hat.

„Emmi, kannst du dojang auf Koreanisch schreiben?“ Herr Kim hält ihr den umgedrehten Prüfungsbogen und einen Stift hin.

Emmi läuft es auf einmal eiskalt den Rücken runter. Niemand hat etwas von Schreiben gesagt!

„Ich… aber, ich…“

„Ich kann!“, ruft Nuri dazwischen.

Emmi wirft ihr einen ebenso biestigen Blick zu, wie sie ihr vorhin. Natürlich kann die kleine Nuri das schreiben, sie ist ja auch gebürtige Koreanerin!

„Danke Nuri, aber ich habe Emmi gefragt“, antwortet Herr Kim und macht wieder ein Buddha-ähnliches Gesicht.

Nuri hingegen macht ein beleidigtes Gesicht und starrt mit zusammengekniffenen Mundwinkeln auf den abgewetzten Turnhallenboden.

Emmi greift mit zitternden Händen nach dem Stift und dem Blatt.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752115666
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (September)
Schlagworte
BTS Seoul Abenteuer erste Liebe Ferien K-Pop Urlaub Auslandsjahr Insel Südkorea Humor Liebesroman Liebe

Autor

  • Stephanie Auten (Autor:in)

Ich wurde 1983 geboren und habe Anglistik und Mittelalterliche Geschichte studiert. Ich lebe in Berlin und Leipzig, von 2017-2019 aber auch in Seoul, Südkorea.
Natürlich hat Seoul mich zu meiner 6-teiligen Buchreihe "Emmi in Korea" über das Leben einer deutschen Schülerin im Ausland inspiriert.
Außerdem findet ihr das Deutschlern-E-Book "Nino liebt Jörg: Not just another German short story book for intermediate readers" unter dem Namen Stephanie Auten et al. auf dieser Website.

Zurück

Titel: Emmi in Korea 4: Herbstferien mit Nervenkitzel