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Emmi in Korea 3: Schulstart mit Herzklopfen

von Stephanie Auten (Autor:in)
121 Seiten
Reihe: Emmi in Korea, Band 3

Zusammenfassung

Zwischen Kimchi und K-Pop:
"Emmi in Korea" - Über das Leben einer deutschen Schülerin im fernen Asien

Der erste Schultag an der Deutschen Schule Seoul wird der aufregendste Tag in Emmis Leben werden! Zumindest hat die 13-Jährige sich das so vorgestellt…
Doch erstens kommt es anders und zweitens, als man als deutsches Provinz-Ei denkt. Denn am anderen Ende der Welt ticken die Uhren ein wenig anders: Dort reden schon 11-Jährige über die Uni und 13-Jährige über Schönheitsoperationen! Und die Jungs? Auch die verhalten sich ganz und gar nicht so, wie sie sollen.
Teil 3 der etwas anderen Buchreihe „Emmi in Korea“ über große Veränderungen, Freundschaft, Eltern und natürlich… Liebe!
Alle sechs Bände erhältlich als E-Book:
Band 1: Emmi in Korea - Urlaub mit Folgen
Band 2: Emmi in Korea - Umzug mit Hindernissen
Band 3: Emmi in Korea - Schulstart mit Herzklopfen
Band 4: Emmi in Korea - Herbstferien mit Nervenkitzel
Band 5: Emmi in Korea - Weihnachtszeit mit Pferdefuß
Band 6: Emmi in Korea - Neujahr auf Koreanisch
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Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Impressum

© / Copyright: 2019 - Stephanie Auten

Anschrift:

Stephanie Auten

c/o AutorenServices.de

Birkenallee 24

36037 Fulda

E-Mail: stephanieauten@posteo.net

Korrektorat: Gitte Riedel

Umschlaggestaltung und -Illustration: Katharina Netolitzky,

https://katharina-netolitzky.jimdo.com/

Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt.

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Kapitel 1 – Aller Anfang…

„Ich wusste ja gar nicht, dass Jan eine Freundin hat.“

Emmis Stimme zittert. Sie muss sich extrem konzentrieren, nicht sofort loszuheulen – hier, mitten auf dem Schulhof.

Der erste Tag an ihrer neuen Schule, der Deutschen Schule Seoul, der so neu, so anders, so unglaublich aufregend hätte werden sollen, ist nur wenige Minuten alt. Und Emmi ist sich sicher, dass ein Weltuntergang sich nicht schlimmer anfühlen kann.

Nicht weil ihre neue Schule tausende Kilometer weit weg von Emmis alter Heimat ist. Nicht weil sie sich in einem Land befindet, in dem sie kein Wort versteht, geschweige denn die Schrift lesen kann. Und auch nicht, weil es so unerträglich heiß und schwül ist, dass Emmi befürchtet, jeden Moment in einem Meer aus Schweiß davonzufließen. Ihrem Schweiß und dem ihrer Mitschüler. Und Lehrer.

Emmi verzieht angeekelt das Gesicht und presst ihre Augenlider fest aufeinander.

Nein, es ist viel, viel schlimmer.

Jan. Hat. Eine. Freundin.

Der Jan, in den sie sich auf den allerersten Blick verknallt hatte, als sie ihn vor ein paar Monaten das erste Mal hier in Seoul an dieser Schule gesehen hatte.

Der Jan, von dem Emmi insgeheim gehofft hatte, dass er sie auch mag.

Nur ein bisschen.

Der Jan, den Emmi fast geküsst hatte. Ihr erster Kuss.

Der Jan, der zwei Jahre älter ist als sie, der schon in Shanghai gelebt hat, der viel zu cool ist für sie, und sich selbstverständlich nicht in ein naives 13-jähriges Kleinstadtmädchen verliebt, das gerade frisch aus Deutschland angekommen ist und überhaupt keine Ahnung von der Welt hat.

Der Jan, der sich gerade den Arm um die Hüfte eines wunderschönen koreanischen Models mit seidigschwarzen Haaren und mandelförmigen Augen legt, und die ihn anlächelt wie eine exotische Prinzessin.

Emmi hasst sie schon jetzt.

Ihr Kinn zuckt. Sie presst ihr Lippen zusammen, fassungslos über ihre eigene Dummheit, und dreht sich demonstrativ weg. Auch wenn sie weiß, dass sie diesen Anblick nie wieder aus ihrem Kopf bekommen wird.

Anne, die nicht nur Emmis erste Freundin in Südkorea ist, sondern ausgerechnet auch noch die kleine Schwester von Jan, bleibt mitten auf der steinernen Treppe stehen, auf der sie sich gerade mit den ganzen anderen Schülern ins Schulhaus drängeln. Sie schaut Emmi aus skeptischen, hellbraunen Augen und einem runden Mondgesicht an, um das sich wilde blonde Locken kringeln.

„Was denn?“ Emmi versucht so zu tun, als würde sie die Antwort nur am Rande interessieren. Kann man doch mal fragen, seit wann ihr Bruder eine neue Freundin hat.

Und warum verdammt noch mal es Anne nicht für nötig gehalten hat, Emmi auch nur ein Sterbenswörtchen davon zu erzählen.

Anne zieht ihre Augenbrauen so weit nach oben, dass ihre Stirn in Falten liegt, obwohl Anne ja noch gar keine Falten haben kann.

„Du stehst also doch auf meinen Bruder!“, sagt sie trocken. Und so laut, dass ein Ruck durch Emmis Arm fährt. Am liebsten möchte sie Anne sofort den Mund zuhalten.

Ein paar Köpfe drehen sich nach ihnen um. Emmi schaut für ein, zwei Augenblicke in Gesichter, die sie nicht zuordnen kann. Emmi spürt, wie ihr das Blut in die Wangen schießt. Ihr Kopf fühlt sich mit einem Mal noch heißer an, als er bei den hiesigen Temperaturen von fast 35 Grad sowieso schon ist.

„Ich? Auf deinen Bruder?“ Emmi versucht, das übliche, aufgeregte Gequieke der kleineren Klassen zu übertönen und tippt sich an die Brust. „Ach Quatsch! Ich??“

Aufgeregt tappt sie an Anne vorbei in das Schulgebäude hinein, nur um kurz darauf festzustellen, dass sie keine Ahnung hat, wo ihr Klassenzimmer ist. Kein Wunder, sie war erst einmal in diesem Gebäude. Und das ist schon vier Monate her. Und damals hatte sie keinen blassen Schimmer, dass diese Schule in der Hauptstadt Südkoreas bald ihre neue Schule sein würde.

Emmi schaut sich um. Sie sieht das kleine Treppenhaus, das sich über drei Etagen erstreckt, sieht Gänge, die mit den üblichen Bildern aus dem Kunstunterricht behangen sind sowie Zimmertüren, von denen Emmi nicht weiß, ob sich dahinter ihr Klassenzimmer oder der Physikraum oder die Kantine befindet.

Alles wirkt eine Nummer kleiner als in ihrer alten Schule. Dabei kommt Emmi aus einer minikleinen Stadt und manche ihrer alten Mitschüler wohnen sogar kilometerweitweg in den umliegenden Dörfern. Trotzdem ist die Deutsche Schule in der 10-Millionen-Stadt Seoul mit knapp 200 Schülern nicht mal halb so groß wie Emmis alte Schule.

Hilflos bleibt sie stehen und dreht sich zu Anne um.

Die ist direkt hinter ihr und hat immer noch ein großes Fragezeichen im Gesicht: „Was finden nur alle an meinem Bruder?“

Emmi atmet scharf durch die Nase aus. Kann sie es nicht gut sein lassen? Emmi will überhaupt nicht mehr an Jan denken.

Anne breitet ratlos die Arme aus. „Mein Bruder ist faul, furzt, rülpst, stinkt…“

Nun muss Emmi doch gegen ihren Willen lachen.

„Und trotzdem rennen ihm die Mädels die Bude ein, als gäbe es die letzten Karten für ein BTS-Konzert.“

Auf die Information, dass Annes Bruder sich auch bei anderen Mädchen äußerster Beliebtheit erfreut, hätte Emmi getrost verzichten können. „Was für ein Konzert?“, fragt sie abwesend, obwohl sie das gerade eigentlich gar nicht interessiert.

Anne verdreht die Augen. „Au weia, Emmi. Wenn du in Korea überleben willst, musst du echt noch eine Menge lernen!“ Sie wedelt unwirsch mit der Hand. „Aber ist ja auch egal. Hier ist unser Klassenzimmer“, sagt Anne bevor Emmi nachfragen kann und zeigt auf eine blaue Tür.

Auch das Zimmer interessiert Emmi gerade nicht die Bohne, aber trotzdem wirft sie einen Blick hinein. Es ist hier deutlich kleiner, als Emmi es von zuhause gewohnt ist. Aber es sind ja auch deutlich weniger Leute in ihrer neuen Klasse. Gerade mal elf Mitschüler, hat Anne ihr berichtet, wird Emmi haben. Inklusive Anne.

Elf!

In ihrer alten Klasse waren sie fast dreißig.

In dem kleinen Raum im dritten Stock ist es stickig, obwohl Emmi eine Klimaanlage rauschen hören kann. Das Geräusch ist ihr mittlerweile vertraut. Klimaanlagen gibt es in Seoul einfach überall, und diese wurde wohl gerade erst angeschaltet, denn es ist alles andere als kühl in dem Raum. Und das heißt Schweißflecken-Alarm!

Emmi wirft einen kurzen, unauffälligen Blick unter ihre Achseln.

Okay, schon zu spät.

„Wir haben noch Zeit, lass uns wieder rausgehen. Hier schwitzt man sich ja tot“, sagt Anne passenderweise und dreht sich um. „Ich hasse den Schulanfang in Korea. In allen anderen Ländern, in denen es so heiß ist wie hier, haben die Schüler mindestens zwei oder sogar drei Monate Ferien. Nur wir müssen bei dieser Affenhitze in der Schule hocken.“

„Drei Monate?“ Emmi ist verblüfft. Das hieße ja frei von Juni bis August.

„Ja, aber dafür haben die nicht so viele Ferien zwischendurch“, räumt Anne ein, während sie die Treppe ansteuert.

„Ich komme gleich nach. Ich muss aufs Klo.“ Emmi geht ein paar Schritte, dann bleibt sie erneut stehen und seufzt. „Anne, kannst du mir zeigen, wo die Toilette ist?“

Anne grinst und nickt.

Emmi trabt hinter ihr die Treppe hinunter. Es ist laut im Schulhaus, obwohl von hier oben kaum Kinder zu sehen sind. Im ersten Stock zeigt Anne auf eine Tür. „Aufgeregt?“, fragt sie und dreht sich zu Emmi um.

„Ich?“, sagt Emmi mit hoher Stimme. Es klingt genauso wie eben, als Anne sie gefragt hat, ob sie auf Jan steht.

„Ja, schon ein bisschen“, gibt Emmi zu und lässt die Schultern sinken.

Anne legt Emmi die Hand auf die Schulter und lächelt sie aufmunternd an. „Mach dir keine Sorgen. Hier war fast jeder von uns irgendwann mal neu. Sogar die meisten Lehrer. Jeder weiß, wie du dich gerade fühlst.“

Emmi nickt und atmet tief durch. „Danke“, haucht sie und versucht zurückzulächeln, auch wenn es wahrscheinlich etwas gequält wirkt.

„Keine Ursache!“ Anne ist schon auf dem nächsten Treppenabsatz. „Wir sehen uns gleich draußen.“

Emmi drückt die Tür zur Mädchentoilette auf und stellt erleichtert fest, dass sie leer ist. Schnell hebt sie erst einen Arm, dann den anderen, um festzustellen, dass sie richtig vermutet hat – tennisballgroße, dunkle Flecken zeichnen sich unter den Achseln ihres roten T-Shirts ab.

Mit einem flappenden Geräusch lässt Emmi die Arme fallen und schaut sich eine Sekunde ratlos im Spiegel an. Ausgerechnet am ersten Schultag! Sie wollte doch einen guten Eindruck machen vor ihren neuen Mitschülern und hat sich ewig überlegt, was sie anziehen soll. Warum hat sie nicht daran gedacht, dass es nicht nur heiß, sondern auch ekelhaft schwül draußen ist? Warum hat sie etwas Dunkelrotes angezogen und nichts Helles? Warum hat sie kein Wechselshirt mitgenommen? Sie lebt doch nun immerhin schon seit fast zwei Wochen in diesem Land und hat bereits so viel geschwitzt, wie in Deutschland im ganzen Jahr nicht!

Alarmiert dreht Emmi ihrem Spiegelbild den Rücken zu. Wenigstens scheint sie nur unter den Achseln Schweißflecken zu haben. Noch.

Sie schnappt sich eine Rolle Klopapier aus einer der Kabinen, umwickelt ihre Hände mit ein paar Blättern und klemmt sie unter ihren Achseln fest, in der Hoffnung, damit die dunkelroten Flecken in Windeseile trocken zu können. Dann nimmt sie ein weiteres, einzelnes Blatt und tupft sich die Nasenflügel und die Oberlippe ab.

Der Anblick, den sie im Spiegel bietet, erinnert sie prompt an ihren besten Freund Timo zuhause und seine berühmte Walross-Achselfurz-Imitation, bei der sie und Sina sich immer gekugelt haben vor Lachen. Das war zu einer Zeit vor der Pubertät, als ihm noch nicht alles hochnotpeinlich war. Also vor ungefähr acht Wochen.

Emmi muss kichern bei dem Gedanken. Das Toilettenpapier um ihre Nase wird aufgewirbelt, so dass die Ähnlichkeit zum Walross noch frappierender wird. In der hohen gekachelten Toilette wirkt ihr Lachen wie ein Echo.

Natürlich wird genau in diesem Moment die Tür aufgerissen.

Und natürlich steht da genau in diesem Moment nicht irgendein kleines Mädchen aus der Grundschule oder so, das Emmi erstaunt anschaut, während sie mit Klopapier unter den Achseln und auf der Oberlippe irre vor sich hinkichert.

Nein, es ist natürlich SIE – die neue Freundin von Jan. Ausgerechnet sie. Von allen Schülerinnen dieser Schule.

In weniger als einer Sekunde zieht Emmi das Klopapier von ihrer Oberlippe und knüllt es zusammen. Ihr Kichern hört abrupt auf, ihr Gesicht gefriert zu einer Grimasse, während sie Jans Modelfreundin erschrocken anstarrt. Oder besser gesagt ihr Spiegelbild.

Irgendetwas muss Emmi tun, um nicht wie eine komplette Vollidiotin dazustehen.

Ichu, ichu, hustet sie kurzentschlossen in ihre offene Handfläche. Wenn Mama das jetzt sehen würde – wo sie Emmi doch jahrelang eingebläut hat, in die Armbeuge zu husten und nicht in die offene Hand.

„Ähm, geht’s dir gut?“, fragt die Modelfreundin zu allem Überfluss. Aus der Nähe sind ihre dunklen, mandelförmigen Augen noch schöner. Ihre makellose Haut hat wahrscheinlich noch nie einen Pickel gesehen. Ihre Haare glänzen, als ob sie sie drei Stunden gebürstet hätte.

Emmi hasst sie noch abgrundtiefer als noch vor ein paar Minuten.

„Alles gut. Hab mich nur verschluckt“, krächzt sie abweisend und hustet noch einmal demonstrativ hinterher, um auch wirklich klarzumachen, dass Emmi in keinstem Fall ihr eigenes Spiegelbild angekichert hat. Dann entdeckt sie einen Rest Klopapier an ihrem Kinn, wird puterrot und fummelt es weg.

Die Modelfreundin nickt. Dann lächelt sie Emmi an und legt den Kopf schief. „Du bist neu, oder?“

Emmi ist irritiert. Was soll das werden? Will sie hier auf dem Klo Smalltalk mit ihr betreiben? Und warum ausgerechnet mit ihr? Emmi ist mindestens zwei Klassen unter ihr.

„Hm“, grunzt Emmi knapp.

Das Model lächelt wieder. Und macht keine Anstalten, in der Toilettenkabine zu verschwinden. Emmi wird ungeduldig. Sie hält das Klopapier so fest unter ihren Achseln gepresst, dass ihre Arme wehtun. Warum tut sie nicht endlich das, was sie vorhatte zu tun?

„Du bist mir vorhin auf dem Schulhof schon aufgefallen. Du bist in Annes Klasse, oder?“

Emmi schaut in ihr überraschtes Spiegelbild und stellt fest, dass es ganz schön dämlich aussieht. Sie fängt direkt wieder an zu schwitzen.

Emmi ist ihr aufgefallen? Dem Model? Was will sie ihr denn bitte damit sagen? Hat sie etwa einen siebten Sinn für Konkurrentinnen? Hat sie mitbekommen, dass Emmi Jan zugewunken hat und jetzt hat sie sie aufs Klo verfolgt?

So ein Quatsch! Warum sollte jemand wie sie ausgerechnet Emmi als Konkurrenz ansehen?

Unbehaglich tritt sie von einem Fuß auf den anderen und weiß nicht, wo sie hinschauen soll.

„Das erste Mal in Südkorea?“, bohrt das Model weiter.

„Hmhm“, macht Emmi erneut und hofft, dass sich das Gespräch damit nun endlich erledigt hat und sie aufs Klo verschwindet. Wenn nicht, dann scheint sie ja noch blöder…

„Die Jungs werden dir in Scharen hinterherrennen“, sagt das Model und zwinkert Emmis Spiegelbild über den Toilettenspiegel zu.

Emmi ist perplex.

Bitte was?

Wer?

Sie?

„Wie meinst du das?“, rutscht es Emmi heraus, obwohl sie doch kein Wort mit ihr wechseln wollte.

Sofort bereut sie es.

Bestimmt will dieses Möchtegern-Model Emmi nur verarschen und sagt gleich etwas ganz Fieses zu ihr. So wie die dumme Kuh Clarissa damals an ihrer alten Schule.

Emmi schluckt.

Sofort kommen die Erinnerungen an den Tag auf dem Schulhof hoch, als Clarissa ihr aufgrund ihrer dünnen Beine den Spitznamen Spinnenbein verpasst hat und Emmi ihn sich über Monate hinweg jedes einzelne Mal von Clarissa und ihren Freundinnen anhören durfte, wenn sie an ihnen vorbeilief. So dass es Emmi irgendwann vermied, ihnen über den Weg zu laufen.

Wie kann sie nur so doof sein und jetzt schon wieder auf so eine fiese Nummer hereinfallen? Emmi bekommt Gänsehaut und spannt sich innerlich an, als das Model den Mund öffnet:

„Du hast blaue Augen, du hast lange blonde Haare, du hast superhelle Haut. Und groß für dein Alter bist du auch. Du bist das genaue Gegenteil von mir. Bis auf die Größe vielleicht.“ Das Model lacht, und so sehr sich Emmi anstrengt, kann sie beim besten Willen keinen fiesen Unterton feststellen.

Emmi sucht die versteckte Kamera in der Toilette. Hat sie das gerade richtig verstanden? Hat das Schulmodel ihr gerade etwa so etwas wie ein Kompliment gemacht? Über ihr Aussehen? Ihr? Emmi mit den Spinnenbeinen und den plattesten Spaghettihaaren, die die Welt je gesehen hat?

„Ähm…“ Emmi weiß nicht, was sie sagen soll. Sie wartet immer noch darauf, dass die Modelfreundin ihr eine Falle stellt, die gleich zuschnappen wird.

„Aussehen ist wichtig hier in Korea“, fügt sie hinzu, als Emmi nicht weiterspricht. „Und so blonde Mädchen wie du kommen hier im Land der natürlichen Schwarzhaarigen besonders gut an.“

„Ist das so, ja?“ Emmi Stimme klingt heiser. Sie versucht immer noch, so uninteressiert wie möglich rüberzukommen. Nur für den Fall, dass das Model doch noch vorhat, sie auszulachen.

Doch stattdessen gibt die einen Ton von sich, den Emmi irgendwo zwischen Seufzen und einem traurigen Lachen einordnen würde. Dazu lässt sie ihren Blick über blank geputzten, weißen Fliesen der kleinen Mädchentoilette schweifen, als würde sie sich am liebsten ganz weit weg wünschen.

Es klingelt.

„Wir müssen“, sagt Emmi, froh darüber, dieser merkwürdigen Situation entfliehen zu können.

Das Model nickt. „Ich bin übrigens Sora“, sagt sie und verschwindet in der Toilettenkabine. Sie spricht ihren Namen merkwürdig aus – sie betont das S stark und spricht die zweite Silbe kurz und abgehackt aus.

„Emmi“, sagt Emmi verwirrt in Richtung der geschlossenen Tür. Keine Ahnung, ob sie das jetzt mitbekommen hat.

Hastig zieht Emmi das feuchte Toilettenpapier hervor, wobei weiße Fusseln unter den Achseln kleben bleiben, aber sie hat es zu eilig, aus der Toilette herauszukommen. Fluchtartig verschwindet sie aus der Tür.

****

Nach dieser unerwarteten und irgendwie verwirrenden Begegnung will Emmi sich am liebsten direkt in ihr neues Klassenzimmer verziehen, sich auf ihren Platz setzen und den Tag endlich vorbeigehen lassen, obwohl die erste Stunde noch nicht mal angefangen hat. Doch dann sieht sie, dass Anne noch draußen auf dem Schulhof steht. Und da sie keine Ahnung hat, auf welchem Platz Anne sitzt, läuft sie kurzerhand zurück hinaus auf den Hof.

Ein anderes, deutlich kleineres Mädchen mit halblangen, schwarzen Haaren läuft neben Anne her und redet auf sie ein. Vielleicht eine weitere neue Mitschülerin von Emmi? Wenn sie auch nur halb so nett ist wie Anne, dann ist dieser erste Schultag ja vielleicht doch noch irgendwie zu retten.

„Hi!“ Emmi hebt die Hand und versucht, so freundlich wie möglich zu lächeln, als beide ihr entgegenkommen, in der Hoffnung, einen sympathischen ersten Eindruck zu machen.

„Hallo“, sagt das koreanische Mädchen zurück, doch sie lächelt nicht. Im Gegenteil, sie wirkt als wäre sie irgendwie… eingeschnappt.

Und noch etwas anderes irritiert Emmi: Sie sieht sehr jung aus. Höchstens zehn. Und sie wirkt nun noch kleiner als vorhin. Klein und zierlich. Emmi kommt sich wie eine Riesin neben ihr vor, und sogar Anne ist mindestens einen Kopf größer.

Okay, dann kann sie doch keine Mitschülerin von ihnen sein. Wahrscheinlich ist die Kleine sogar noch in der Grundschule. Emmi ist etwas überrascht, dass Anne sich überhaupt mit ihr abgibt.

„Das ist Emmi. Sie ist neu“, beginnt Anne und zeigt dann auf das Mädchen. „Und das ist Jeon-Kyeong“, sagt Anne so schnell und so selbstverständlich, als ob sie gerade eine Lena oder eine Charlotte vorgestellt hätte.

In der Tat braucht Emmi einen Moment, um überhaupt zu begreifen, dass diese zwei fast gleichklingenden Silben, die in Emmis Ohren irgendwie klangen wie Jonkjong, ein Name sein sollen.

„Hä wie?“, rutscht es Emmi raus, doch sie bereut es sofort, als sie Jonkjongs – oder wie auch immer sie heißt – Blick sieht.

„Wohl noch nie einen koreanischen Namen gehört?“, sagt die Kleine schnippisch.

Spätestens in diesem Augenblick weiß Emmi, dass dieses kleine Biest mit dem unaussprechlichen Namen nicht Emmis Freundin werden wird.

„Ich… ich bin noch nicht so lange hier“, versucht Emmi sich zu verteidigen. Ihre Stirn prickelt. „Ich kann noch kein Koreanisch.“

Die Kleine mustert sie so, dass Emmi sich unwohl fühlt. „Merkwürdig. Anne hat erzählt, dass du im April schon hier warst“, antwortet sie arrogant, als sie bei Emmis Gesicht angekommen ist.

Emmi fühlt, wie Wut in ihr hochsteigt. Was bildet sich dieser Zwerg eigentlich ein? Als ob Emmi mit der Einreise automatisch Koreanisch können müsse. Sie will etwas entgegnen, aber ihr fällt nichts ein. Irgendwie hat sie ja auch recht. Emmi hat in Deutschland tatsächlich kein Koreanisch gelernt, obwohl sie ein paar Monate Zeit gehabt hätte. Mama hat sogar einen Sprachkurs belegt und Emmi immer mal wieder ein paar Sachen beigebracht, die sie aber bald wieder vergessen hatte. Es war einfach so viel zu tun: Die ganzen Klassenarbeiten und Projekte vor Schuljahresende, die letzte Klassenfahrt mit ihrer alten Klasse. Und die ersten und zugleich letzten Sommerferienwochen in Deutschland hatte Emmi ganz bestimmt nicht mit Lernen verbringen wollen.

„Dann fangen wir doch mit Lektion 1 an“, versucht Anne die angespannte Stimmung zu unterbrechen. „In Korea ist es üblich, dass die Vornamen aus zwei Silben zusammengesetzt werden.“

Ah, deswegen hat Sora ihren Namen vorhin so komisch ausgesprochen, kommt es Emmi in den Sinn.

„Und manche koreanischen Namen sind für uns wirklich sehr gewöhnungsbedürftig. Ich habe auch eine Weile gebraucht“, fügt Anne hinzu, lacht und gibt … Jon-Jon – oder so ähnlich, Emmi hat den Namen schon wieder vergessen - einen Klaps auf die Schulter.

„Und ich dachte schon, es läge an mir“, murmelt Emmi und lächelt angestrengt. Irgendwie war Sora ihr vorhin auf Anhieb und gegen ihren Willen wesentlich sympathischer als dieser kleine Giftzwerg, der nichts Besseres zu tun hat, als neue Schülerinnen gleich am ersten Schultag herunterzuputzen.

Hatte Anne nicht behauptet, alle hier seien freundlich und offen? Vor allem zu neuen Schülern?

„Und in welche Klasse musst du?“, wagt Emmi einen allerletzten Versuch, nett zu sein, auch wenn sich alles in ihr dagegen sträubt. „Fünfte?“

Anne räuspert sich.

Der Giftzwerg schaut irritiert zu ihr hoch. „Wen meinst du? Mich?“

„Sechste?“, fragt Emmi ungläubig.

Anne räuspert sich noch ein wenig lauter und Emmi ahnt, dass sie gerade mit Anlauf in das nächste Fettnäpfchen gesprungen ist.

Ich“, sagt der Giftzwerg betont, „bin in derselben Klasse wie Anne.“ Dann dreht sie sich beleidigt um, so dass ihre schwarzen Haare fliegen, und springt mit ihren kurzen Beinen die Stufen der Steintreppe zum Schulgebäude hinauf.

Nun fühlt sich Emmi doch ein wenig schlecht. Sie hätte es besser wissen müssen. Schließlich ist sie nicht erst seit gestern hier und weiß, dass Koreaner im Durchschnitt deutlich kleiner sind als Deutsche.

Emmi schaut Anne zum zweiten Mal heute hilflos an, doch die scheint das alles eher lustig zu finden und zuckt nur grinsend mit den Schultern: „Jeon-Kyeong ist… ein wenig speziell“, sagt sie, als ob das irgendwas erklären würde. „Aber eigentlich ist sie sehr nett und auch sehr hilfsbereit. Du wirst schon sehen.“

Aber Emmi ist sich gar nicht sicher, ob sie überhaupt etwas davon sehen will.

Kapitel 2 – Puh-Puh-Land?

Als Emmi das kleine Klassenzimmer betritt, bekommt sie gerade noch mit, dass es genau eine freie Zweierbank gibt. Auf die sich der Giftzwerg prompt setzt.

Emmi lässt ihren Blick schweifen. Nur noch zwei freie Sitzplätze sind jetzt in der ganzen Klasse übrig – einer neben dem Giftzwerg und einer neben einem ebenfalls koreanisch aussehenden Jungen, der genauso missmutig dreinschaut, wie Emmi sich gerade fühlt.

Der Giftzwerg winkt Anne überschwänglich zu. Die wirft Emmi einen entschuldigenden Blick zu und nimmt Platz. Dabei hatte Anne Emmi vor ein paar Wochen gefragt, ob sie im neuen Schuljahr nebeneinander sitzen wollen und Emmi hatte sich so darüber gefreut.

Und nun?

Unschlüssig bleibt Emmi neben der Tafel stehen. So hat sie sich ihren ersten Schultag ganz und gar nicht vorgestellt.

„Du bist Emilie, richtig? Du kannst gleich hier vorn bleiben.“ Emmis neuer Klassenlehrer hat gerade das Zimmer betreten und schließt die Tür hinter sich, durch die Emmi am liebsten flüchten würde. Jetzt sofort.

„Bitte – Emmi!“, sagt sie schnell, in der Hoffnung, dass ihr neuer Lehrer sich nicht angewöhnt, Emmi mit ihrem ungeliebten und furchtbar altmodischen Namen anzusprechen. Sie hat ihren neuen Lehrer vor ein paar Monaten schon einmal gesehen, und auch heute fällt ihr wieder auf, dass er eine nicht von der Hand zu weisende Ähnlichkeit mit Herrn Althos hat. Er hat lediglich ein wenig mehr Haare auf dem Kopf und ist nicht Emmis Physik-, sondern ihr Biolehrer. Und seine Hosen sehen sogar recht neu aus.

„Ich bin Herr Sommer“, fährt der neue Herr Althos fort, „Sommer wie Winter“. Er lacht, als ob ihm dieser Witz zum ersten Mal eingefallen wäre.

Emmi verdreht innerlich die Augen. Denselben komischen Humor wie Herr Althos hat er also auch.

Auffordernd schaut Herr Sommer in die Klasse, doch die begeisterten Lacher bleiben aus. Es scheint ihn nicht zu stören, denn er lacht immer noch, als er sich erneut Emmi zuwendet.

Schnell zieht sie die Mundwinkel nach oben zu etwas, das hoffentlich irgendwie amüsiert aussieht.

„Wir begrüßen dieses Schuljahr drei neue Schüler.“ Herr Sommer dreht sich wieder zur Klasse, so dass Emmi ihre Mundwinkel wieder fallenlassen kann.

„Und wir würden uns freuen, wenn ihr euch mit ein paar Sätzen vorstellt. Emmi, magst du anfangen?“

Damit hatte Emmi gerechnet. Trotzdem fühlt sich ihr Kopf in diesem Moment an wie ein schwarzes Loch. Sie hat keine Ahnung, was sie sagen soll. Schließlich hat sie doch alles, was es über sie zu erzählen gibt, schon vor ein paar Monaten gesagt. „Ich… ich heiße Emmi, also eigentlich Emilie, aber bitte nennt mich Emmi.“ Unsicher schaut sie in den Raum. Ihr Herz pocht. Sie kommt sich vor wie in einer Prüfung.

Anne lächelt ihr aufmunternd zu und Emmi versucht, zurückzulächeln. Doch dann fällt ihr Blick auf den Giftzwerg neben Anne und Emmis Lächeln friert ein.

„Wo kommst du denn her, Emmi?“, fragt Herr Sommer nach, als Emmi nichts weiter sagt.

„Oh, nur aus einer Kleinstadt, kennt hier bestimmt keiner“, murmelt sie und blinzelt erneut in den Raum. Der Schüler, neben dem der einzige noch freie Platz der ganzen Klasse ist, sieht so aus, als ob er jedes Referat spannender fände als das, was Emmi da gerade vor sich hin stammelt. Und nun schaut er auch noch gelangweilt aus dem Fenster!

Emmi schluckt.

Da würde sie lieber allein sitzen.

„Keine Sorge, Emmi!“ Herr Sommer gibt ihr einen Klaps auf die Schulter und beugt sich mit einem kleinen Knicks zu ihr herunter wie zu einem kleinen Kind. „Am ersten Tag sind wir alle immer ganz aufgeregt.“

Wahrscheinlich soll Emmi das aufmuntern. Tut es aber nicht. Im Gegenteil. Sie fühlt sich nur noch elender. Ihre Hände sind schweißnass. An ihre Achseln will sie gar nicht mal denken.

„Hast du vielleicht irgendwelche… Hobbys?“

Emmi schnauft verzweifelt aus. Wie kann Herr Sommer nur so unbarmherzig sein? Hobbys? Emmis Gedanken rasen und doch ist ihr Kopf leer. „Ich…“, stottert sie vor sich hin. Am liebsten würde sie sich etwas ausdenken, etwas Mega-Ausgefallenes. Aber ihr fällt so auf die Schnelle einfach nichts ein. „Ich habe keine… Hobbys“, sagt sie mit gepresster Stimme.

„Gut. Sehr schön!“

Emmi schaut ihren neuen Lehrer irritiert an und auch Herr Sommer scheint für einen Moment nicht zu wissen, was er tun soll. Hoffentlich denkt er sich jetzt nicht noch mehr Fragen zur Ermutigung aus.

„Danke, Emmi!“, sagt er plötzlich sehr schnell und bedeutet ihr mit einer Handbewegung, dass sie sich setzen kann.

Das lässt sich Emmi nicht zweimal sagen und trabt in die letzte Reihe. Ihr egal, ob sie sich jetzt neben diesen Typen setzen muss. Hauptsache, sie sitzt.

„Hallo“, flüstert Emmi ihm zu, als sie ihren Rucksack von der Schulter und sich selbst auf den Stuhl fallen lässt. Er sieht gut aus, geht es ihr durch den Kopf. Doch ihr neuer Banknachbar schaut sie nur kurz an. Und dann auf die Platte ihres gemeinsamen Tisches. Er sagt nichts. Nicht mal ein Hallo zurück.

Emmi verschränkt empört die Arme vor der Brust und richtet ihren Blick starr nach vorn.

So ein arroganter Arsch.

„Unsere zweite neue Schülerin…“, fährt Herr Sommer fort und deutet zu Emmis Verwirrung direkt auf den Giftzwerg, stockt, schaut in sein Klassenbuch und kratzt sich kurz am Kopf, „… ist Ion-Kiong.“

Emmi muss grinsen. Sofort ist ihr Herr Sommer wieder sympathisch.

Der Giftzwerg räuspert sich. „Jeon-Kyeong“, berichtigt sie ihn mit säuerlichem Gesichtsausdruck.

Emmi hat noch einmal ganz genau hingehört, obwohl sie sich doch vorgenommen hatte, sich den Namen nicht merken zu wollen. Dieses kleine Mädchen, von dem Emmi immer noch nicht fassen kann, dass sie in ihrer Klasse ist, hat ihren Namen wie Jon-Kjong ausgesprochen, dessen ist sich Emmi mittlerweile einigermaßen sicher. Aber wie man den Namen schreibt…

„Natürlich! Entschuldige, Jong-Gong.“

Emmi muss noch mehr grinsen.

Herr Sommer hält inne und schaut verwirrt, als habe er über diese unerwartete Unterbrechung vergessen, was er sagen wollte. „Ach ja!“, setzt er erneut an. „Wie ihr wisst, hat… eure zweite neue Mitschülerin eine Klasse übersprungen.“

Emmis Grinsen friert ein.

Eine Klasse übersprungen? Ernsthaft?

Emmi könnte sich nicht erinnern, dass das jemals ein Schüler auf ihrem alten Gymnasium geschafft hätte.

„Und das ist umso beeindruckender“, Herrn Sommers Stimme klingt nun regelrecht begeistert, „da Jong-Kong…“, ein paar in der Klasse kichern, aber Herr Sommer lässt sich diesmal nicht aus dem Konzept bringen, „vor drei Jahren an unsere Schule gekommen ist, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen.“

Emmi ist platt. Kein Wort Deutsch und trotzdem eine Klasse übersprungen? Wie schafft man sowas?

„Möchtest du uns vielleicht ein paar Worte über dich sagen?“

Emmi hebt die Augenbraue. Soll das etwa eine Spitze in ihre Richtung sein?

„Aber natürlich“, antwortet der Giftzwerg prompt. „Ich heiße Jeon-Kyeong.“ Sie spricht ihren Namen extralangsam und betont aus und es scheint ihr völlig egal zu sein, ob sie ihren Klassenlehrer damit vorführt oder nicht. „Ich bin in Melbourne geboren und aufgewachsen. Meine Muttersprachen sind also Koreanisch und Englisch.“

Emmi verdreht die Augen. Ist sie eigentlich die Einzige hier, die nicht schon in zig anderen Ländern gelebt hat? „Deutsch spreche ich nur als dritte Sprache.“ Jeon-Kyeong wirft einen Blick hinter sich in die Klasse und lacht gekünstelt.

Emmi rümpft die Nase und schaut zu Herrn Sommer. Selbst der verzieht für eine Millisekunde das Gesicht.

„In meiner Freizeit spiele ich Geige und ich turne. Zurzeit trainiere ich für die Ostasienmeisterschaften.“

Emmi versucht, nicht beeindruckt zu sein. Aber alles was sie gerade trainiert, ist, sich von der Schule wieder nach Hause zu finden. Und das gelingt ihr nicht einmal gut.

„Aber am liebsten verbringe ich Zeit mit meiner besten Freundin Anne.“ Sie klammert sich an Annes Arm und lächelt glücklich in die Klasse. Und dann direkt in Emmis Gesicht.

Emmi hebt die Augenbrauen und legt den Kopf schief. Merkwürdig, dass Anne ihre ach so beste Freundin noch nie erwähnt hat.

„Danke, sehr beeindruckend“, bügelt Herr Sommer die Theatervorstellung des Kampfzwergs ab.

„Bleibt noch der Dritte in der Runde.“ Und damit nickt Herr Sommer Emmis neuem Banknachbarn zu.

Ah, er ist also auch neu, denkt Emmi. Ob das seine schlechte Laune erklärt? Aber so unhöflich muss er deswegen ja trotzdem nicht zu ihr sein!

Emmi lehnt sich zurück, verschränkt die Arme und wartet, dass er ebenso damit angibt, wo er überall schon war und was er alles Tolles kann. Doch anstatt den Mund aufzumachen, ignoriert er komplett, was Herr Sommer gerade gesagt hat, sondern schaut ihn nur unverwandt an. Fast als würde er ihn nicht verstehen. Und dann schaut er sogar wieder aus dem Fenster! Einfach so!

Verwundert mustert Emmi den dunklen Hinterkopf von der Seite, wie er in sich zusammengesunken dasitzt, mit langen Klamotten, die völlig unpassend für diese heiße Jahreszeit erscheinen. Offensichtlich hat er noch viel weniger Bock an dieser neuen Schule zu sein als Emmi gerade. Und das zeigt er auch.

Emmi macht sich auf eine Ansage von Herrn Sommer gefasst.

Doch der scheint von seinem Verhalten überhaupt nicht überrascht zu sein.

Emmi versteht immer weniger, was hier vor sich geht.

„Min-Jung…“, beginnt Herr Sommer langgezogen, fast seufzend.

Emmi runzelt die Stirn. Min Jung? Kommt Herr Sommer etwa aus Norddeutschland? Und selbst wenn, glaubt er etwa ernsthaft, dass ein Koreaner diesen Akzent versteht?

Der Giftzwerg meldet sich.

Es ist Herrn Sommer bis auf die Nasenspitze anzusehen, dass er keine Lust hat sich anzuhören, was Jeon-Kyeong zu sagen hat. Doch dann nickt er.

„Er heißt Min-Jun, nicht Min-Jung“, sagt sie mit starker Betonung auf der zweiten Silbe. „Das ist einer der beliebtesten Namen in Korea“, erklärt sie.

Herr Sommer schaut mit starrem Blick durch Jeon-Kyeong hindurch, als würde sie sich in Luft auflösen, wenn er sie nur lang genug ignoriert.

Min-Jun blickt abwechselnd zwischen Herrn Sommer und dem Giftzwerg hin und her und sagt kein Wort. Als würde es gar nicht um ihn gehen, sondern um jemand ganz anderen.

Ungläubig starrt Emmi ihn von der Seite an. Was hat sie nur für komische Leute in ihrer neuen Klasse?

„Danke. Also gut. Min-Jung… Jun“, Herr Sommer räuspert sich betont, „ist in einer ähnlichen Situation wie…“, er stockt wieder, doch anstatt sich noch einmal die Blöße zu geben, fängt er an, demonstrativ zu husten. Er wendet sich von der Klasse ab und der Tafel zu. „Wie einige von euch vor ihm“, beendet er seinen Satz und wendet sich mit zufriedenem Blick der Klasse zu.

Emmi hat keine Ahnung, wovon er spricht. Sie wirft Min-Jun erneut einen Blick von der Seite zu, aber der schaut Herrn Sommer ausdruckslos an. Seine Haut ist ungewöhnlich glatt, fast glänzend. Emmi hat noch nie so eine reine Haut bei einem Jungen gesehen. Keinen Mitesser kann sie entdecken.

Min-Jun scheint bemerkt zu haben, dass Emmi ihn anstarrt, denn plötzlich sieht er sie aus sehr dunklen Augen an. Er wirkt, als habe er erst jetzt bemerkt, dass überhaupt jemand neben ihm sitzt.

Erschrocken schaut Emmi wieder nach vorn, bevor er sich noch etwas darauf einbilden kann. Hoffentlich wird sie nicht rot.

„Euer neuer Mitschüler“, Herr Sommer schlendert durch die Bankreihen auf sie zu, „war vorher an einer koreanischen Schule und spricht noch kein Deutsch. Er wurde deswegen eine Klasse zurückgestuft, um den Stoff auf Deutsch zu wiederholen.“

Emmi bleibt fast der Mund offenstehen.

Kein Wort Deutsch? Nicht ein einziges?

Aber wieso tun ihm seine Eltern das an? Wieso schicken sie ihn in seinem eigenen Land auf eine deutsche Schule, wo er kein Wort versteht, und nicht wenigstens auf eine englische Schule?

Hat er ihr deswegen vorhin nicht geantwortet, als sie sich zu ihm gesetzt hat? Weil er nicht mal weiß, was Hallo bedeutet?

Emmi hat ein ganz klein wenig Mitleid mit ihm. Und sie hat gedacht, für sie wäre das heute ein schwerer Tag.

„Min-Jung wird daher“, fährt Herr Sommer unter erneutem Kichern fort, während Emmis Banknachbar nur wieder aus großen Augen schaut und wahrscheinlich überhaupt nicht begreift, warum seine Mitschüler lachen, „in einigen Fächern wie Deutsch und Geschichte nicht im Unterricht dabei sein. Stattdessen erhält er gezielten Förderunterricht.“

So viel Aufwand nur für einen Schüler? Oder gibt es hier mehrere von der Sorte? Bisher war Emmi davon ausgegangen, dass alle Schüler an einer deutschen Schule selbstverständlich auch Deutsch können. Doch anscheinend ist das gar nicht so selbstverständlich.

„In der restlichen Zeit würde ich mich freuen, wenn ihr Min-Jung alle unterstützt… vor allem du, Emmi.“

Emmi schreckt aus ihren Gedanken hoch. Was soll sie machen?

„Da du in Deutschland ja eine gute Schülerin warst, kannst du deinem neuen Banknachbar sicherlich helfen. Und für dich ist es doch bestimmt auch nett, wenn du gleich einen neuen Freund hast.“

Emmi hört leises Gekichere aus der Klasse und wird knallrot. Herr Sommer ist echt genauso peinlich wie Herr Althos. Muss an der Spezies Lehrer liegen. Zum Glück hat Min-Jun ihn wenigstens nicht verstanden.

Emmi hat plötzlich eine Idee: „Wäre es nicht besser“, sagt sie und versucht so unschuldig zu klingen als hätte keinerlei Hintergedanken im Kopf, „wenn jemand neben ihm sitzt, der Koreanisch spricht? Der ihm auch mal ein Wort übersetzen kann? Jemand, der noch besser in der Schule ist?“

Herr Sommer überlegt und schaut sich in der Klasse um.

Emmi rutscht ungeduldig auf ihrem Sitz hin und her und unterdrückt den Impuls, auf den Giftzwerg zu zeigen.

Muss sich auch nicht. Denn der Giftzwerg hat sehr wohl begriffen, was Emmi vorhat, und sie schaut sie aus zusammengekniffenen Augen an.

Emmi setzt ein zuckersüßes Lächeln auf.

Jeon-Kyeong dreht sich zurück zur Tafel und meldet sich mit ausgestrecktem Arm.

Emmi hebt stutzig die Augenbrauen. Sie wird sich doch nicht etwa freiwillig melden? Das wäre zu einfach.

Herr Sommer schaut sie erfreut an: „Möchtest du neben Min-Jung sitzen, Jeon…“, den Rest nuschelt er in sich hinein.

„Ich bin anderer Meinung“, fällt sie ihm schnell ins Wort.

Emmi schnaubt leise aus und wirft Min-Jun einen unauffälligen Seitenblick zu.

Der schaut verwirrt zwischen Herrn Sommer und dem Giftzwerg hin und her. Wahrscheinlich hört er immer nur seinen Namen und hat keine Ahnung, was über ihn gesprochen wird. Wenn er wüsste, dass gerade sowohl Emmi als auch Jeon-Kyeong versuchen ihn loszuwerden…

Nun tut er Emmi noch ein bisschen mehr leid. Hätte Emmi an eine koreanische Schule gehen müssen, wäre sie genauso hilflos gewesen.

„Ich denke, es hilft ihm mehr“, sagt Jeon-Kyeong bestimmt, „wenn er von Anfang an so viel Deutsch wie möglich zu hören bekommt. Keine Übersetzungen. Das ist am Anfang sehr schwer, aber man lernt die Sprache schneller. Die Erfahrung habe ich selber gemacht.“ Sie blinzelt Herrn Sommer freundlich und in bester Musterschülerinnen-Manier an.

Mist! Emmi rutscht ein bisschen tiefer in ihren Stuhl. Hat sich dieses kleine Biest doch tatsächlich erfolgreich gewehrt. Herr Sommer wird ihr zustimmen, er kann ja gar nicht anders. Schließlich ist sie das beste Beispiel, wenn sie auch kein Deutsch konnte und nun eine Klasse übersprungen hat. Wenn sie nicht weiß, wovon sie spricht, wer dann.

Mit einem Gesicht wie eine saure Zitrone verschränkt Emmi die Arme und grunzt leise in sich hinein.

****

Emmi hofft, dass wenigstens der Rest ihres ersten Schultages so verläuft, wie sie es aus Deutschland gewöhnt ist – die Lehrer erzählen irgendwelchen mäßig interessanten Quark und Emmi versucht, nicht einzuschlafen. Doch während es in ihrer alten Klasse, in der seit Jahren exakt und unverändert 28 Schüler waren, leicht war, in der Masse unterzutauchen, ist das bei zwölf Schülern ganz und gar nicht mehr so einfach. Ständig schweift Herrn Sommers Blick über die wenigen Köpfe seiner siebten Klasse, während er endlos über Belehrungen, Elternabende und Klassensprecherwahl referiert. Ständig läuft er zwischen den wenigen Bänken, die sich in dem kleinen Klassenraum befinden, hin und her. Besonders gern scheint er hinter der letzten Reihe, also direkt hinter Emmi und Min-Jun, stehenzubleiben, so dass Emmi ständig das Gefühl hat, irgendetwas oder besser gesagt irgendjemand hänge ihr buchstäblich im Nacken.

„Und dann machen wir alsbald einen Wandertag“, hört Emmi ihn hinter sich tönen. Sie hat es bereits in der ersten Stunde aufgegeben, sich ständig zu ihm umzudrehen. Ihr tut jetzt schon der Nacken weh, vielleicht auch, weil sie sich letzte Nacht nur hin und her gewälzt hat.

„Dann könnt ihr euch alle ein bisschen besser kennenlernen.“ Er nickt Emmi und Min-Jun zu, während er an ihnen vorbei zurück zur Tafel schlendert, obwohl Min-Jun doch sowieso kein Wort versteht.

Und auch Emmi kann Herrn Sommers Begeisterung nicht so recht teilen. Sie kann sich lebhaft vorstellen, wie dieser Kennenlerntag ablaufen wird: Die Klasse wird in einen Park oder Wald getrieben und dann müssen sie zusammen an einem Seil ziehen und dann sind alle wie von Zauberhand beste Freunde. Oder sich in die Arme von Mitschülern fallen lassen, von denen man sonst lieber drei Meter Abstand hält.

Am besten noch in die kurzen Ärmchen des Giftzwergs.

„Nächste Woche Montag ist es schon so weit.“

Emmi ist überrascht. Heute ist Donnerstag.

Herr Sommer scheint es mit dem Freundewerden äußerst eilig zu haben.

Emmi schaut sich in der Klasse um. Der Großteil ihrer neuen Mitschüler scheint noch nicht aus dem Ferienmodus aufgewacht zu sein. Die meisten lümmeln mit den Ellenbogen und halboffenen Augen auf den Tischen. Der Giftzwerg hingegen strahlt Herrn Sommer an, als habe der ihr gerade angeboten, sich direkt in seine Arme fallen zu lassen.

Emmi überkommt ein leichtes Schütteln.

„Bitte gebt euren Eltern Bescheid“, fährt Herr Sommer fort. „Eine E-Mail mit allen Informationen habe ich vorbereitet und werde sie heute Nachmittag verschicken.“

Anne meldet sich: „Und wo geht es hin, Herr Sommer?“

„Ach ja, das wichtigste Detail habe ich glatt vergessen.“ Herr Sommer lacht erst einmal ausführlich über sich selbst.

Ungeduldig trommelt Emmi mit den Fingern auf ihren vor der Brust verschränkten Armen herum. Hoffentlich ist auf die Folter spannen nicht eine seiner Macken.

Doch anstatt endlich mit der Sprache rauszurücken, verschränkt er nun die Arme hinter dem Rücken und setzt ein breites Ich-weiß-was,-was-ihr-nicht-wisst-Grinsen auf.

Emmi schwant nichts Gutes. Wo soll es auf einem Wandertag schon hingehen? In irgendeinen Wald, auf irgendeinen Berg…

„Wir gehen ins Poopoo Land!“, lässt Herr Sommer endlich die Bombe platzen und freut sich wie ein Honigkuchenpferd mit Brille.

„Bitte was?“, murmelt Emmi mit einem großen Fragezeichen im Gesicht. Was hat Herr Sommer gesagt? Puh-Puh-Land? Was soll das sein? So eine Art Freizeitpark? Aber was ist Puh-Puh?

Hatte Anne nicht vorhin gesagt, dass koreanische Namen immer aus zwei Silben bestehen? Also ist es ein koreanischer Name? Vielleicht ist Puh-Puh-Land so etwas wie Disneyland?

Das fände Emmi zwar ziemlich cool für einen Wandertag. Trotzdem runzelt sie die Stirn, denn die Reaktionen ihrer Mitschüler fällt unterschiedlich aus: Bei dem Stichwort puh-puh scheinen plötzlich alle aufgewacht zu sein. Doch während die einen, inklusive Anne, begeistert aufschreien, verziehen andere das Gesicht und rufen iiieeh.

Emmi schaut Min-Jun fragend an. Der überlegt für ein paar Sekunden und sagt etwas, allerdings nur auf Koreanisch, und das hilft Emmi nicht weiter. Dabei fällt ihr auf, dass Min-Juns Stimme schon deutlich tiefer klingt, als sie es erwartet hat. Es ist überhaupt das erste Mal, dass sie ihn sprechen hört.

Doch Emmi hat keine Zeit, sich weiter über Min-Juns Stimme Gedanken zu machen, denn der versucht nun, mit Emmi durch Zeichensprache zu kommunizieren: Mit beiden Händen formt er ein Dreieck mit der Spitze nach oben.

Dreieck? Emmi ist immer verwirrter.

Min-Jun lacht, aber sieht dabei irgendwie gequält aus. Hilflos hebt er die Arme. Er scheint sogar ein wenig rot zu werden.

Emmi winkt ab. Min-Jun kann ihr wohl nicht sinnvoll weiterhelfen. Und Anne sitzt viel zu weit weg.

„Aber natürlich“, fährt Herr Sommer fort, nachdem sich die allgemeine Welle der Begeisterung gelegt hat, „werden wir dort nicht nur unseren Spaß haben und lustige Fotos machen, sondern wir sind natürlich auch dort, um etwas über den menschlichen Körper zu lernen!“

Erneut wird um Emmi herum aufgequiekt. Genervt bläst sie die Backen auf. Das Rätsel wird nicht einfacher, je mehr Puzzleteile sie bekommt: In welchem Freizeitpark lernt man denn etwas über den menschlichen Körper? Und wieso soll das toll sein? Oder ist es gar kein Freizeitpark, sondern ein Museum? Aber dann wären doch nicht alle um sie herum plötzlich so aufgekratzt? Wie gut kann ein Museum schon sein?

„Wusste ich doch, dass ihr noch nicht zu alt dafür seid!“, kommentiert Herr Sommer die erneute Erheiterung.

Menschlicher Körper? Zu alt? Dreieck? Puh-puh?

Emmi gibt auf. Dieses Gefühl wird sie wahrscheinlich die nächsten Monate begleiten – als Einzige keinen blassen Schimmer zu haben.

Selbst Min-Jun hat kapiert, worum es geht.

Toll.

Natürlich könnte sie jetzt einfach die Hand heben und fragen. Schließlich ist sie erst ein paar Wochen in Seoul und es ist bestimmt völlig normal, nicht zu wissen, was ein Puh-Puh-Land sein soll.

Aber was, wenn es eine supereinfache koreanische Vokabel ist, die jeder kennt, nur sie nicht?

Nein, Emmi hat sich genug blamiert in den ersten Stunden. Sie beschließt, Anne bei nächster Gelegenheit zu fragen.

****

In der ersten großen Pause sieht Emmi ihre Chance gekommen, doch der Giftzwerg klebt an Anne und plappert sie zu.

Als sei Anne das einzige Mädchen in der gesamten Schule. Und Anne vor ihr fragen – das kommt gar nicht in Frage!

Missmutig tappt sie hinter den beiden die Treppe hinunter. Und wäre ihr Leben nicht sowieso schon schwer genug, sieht sie Jan in diesem Moment aus einem anderen Klassenzimmer kommen.

Emmi spürt einen kleinen Stich. Irgendwo da, wo wahrscheinlich ihr Herz ist. Demonstrativ schaut sie weg, auch wenn es ihr schwerfällt, ihren Blick von Jan zu lösen. Wahrscheinlich wird sie ihm ab jetzt jeden Tag hundertmal über den Weg laufen, so klein wie diese neue Schule ist. Und jeden Tag wird sie sich hundertmal anschauen dürfen, wie er mit seiner neuen Überfreundin Sora turtelt, mit der er angebandelt hat, während die kleine, dumme Emmi sich eingebildet hat, dass zwischen ihnen etwas wäre.

Emmi kneift fest ihre Augen zusammen, als sie in die blendende, fast weiße Sommersonne tritt. Wie man sich bei diesem Wetter in den Pausen vom Unterricht erholen soll, ist ihr ein Rätsel. Es ist nicht nur mindestens dreißig Grad heiß, es ist auch extrem schwül. Noch schwüler als heute Morgen. Ihre lange Jeans klebt unangenehm an ihren Beinen. Emmi fühlt sich sofort unwohl in ihren langen Klamotten. Nicht dass sie das jemals zugeben würde. Vor allem vor Mama nicht, mit der sie heute Morgen eine erfreuliche Diskussion bezüglich ihrer Klamottenwahl hatte, und die ihr eine kurze Hose aufdrängen wollte.

Eine kurze Hose! Am ersten Schultag!

Emmi schaut sich bewusst um, was die anderen anhaben. Ein Großteil der Mädchen trägt tatsächlich kurze Röcke oder Hosen, dazu leichte Sneaker oder dünne Sandalen. Emmi zieht nie etwas Kurzes an. Zumindest keine kurzen Hosen. Außer im Urlaub am Strand vielleicht, wo sie keiner kennt. Und Röcke schon mal gar nicht. Der koreanische Hanbok, den Anne Emmi vor wenigen Wochen aufgezwungen hatte, reicht Emmi erstmal für die nächsten Jahre.

Früher war ihr egal, was sie anhatte. Aber seit ein, zwei Jahren – nein, seit Clarissa - ist es ihr viel zu unangenehm, ihre langen, dünnen Spinnenbeine zu präsentieren. Vor allem in der Schule.

In Deutschland war das auch nie ein großes Problem. Schließlich ist es dort selten so heiß wie hier. Und wenn, dann in den Ferien. Aber wie soll Emmi hier, in dieser Luftfeuchtigkeit, die nächsten Wochen in langen, schwarzen Jeans überleben?

Emmi ist so in diese Gedanken vertieft, dass sie zunächst nicht mitbekommt, wie Jan direkt neben ihr auf den Hof hinausläuft. Erst als er fast an ihr vorbei ist, erkennt sie seinen blonden Schopf und zuckt so heftig zusammen, dass es ihr sofort peinlich ist. Hoffentlich hat er das jetzt nicht mitbekommen!

Doch Jan schaut sie nicht mal an. Er neigt nur ganz kurz den Kopf in ihre Richtung, so dass Emmi sich zumindest einbilden kann, dass er sie sehr wohl bemerkt hat.

Und dann heult plötzlich ein explosiver Schmerz in Emmis Kopf auf.

Ihr wird schwarz vor Augen. Sie schwankt. Emmi versucht, sich auf den Beinen zu halten, aber es fällt ihr schwer. Jemand greift nach ihr. Sie weiß nicht warum. Weiß nicht, was mit ihr passiert. Der Schmerz scheint so schnell wieder weg, wie er gekommen ist, aber er hallt nach.

Irritiert öffnet Emmi langsam die Augen. Mit einem Schlag ist sie wieder in der Realität: die drückende Hitze, der Lärm auf dem Schulhof, Kinder, die durcheinanderrennen und schreien, sich Bälle zuwerfen. Grüppchen, die zusammenstehen.

Und Jan, dessen Gesicht plötzlich ganz nah ist.

„Alles okay mit dir?“, hört sie ihn fragen, doch es klingt wie durch Watte.

Emmi weiß nicht, was sie antworten soll. „Was ist los?“, fragt sie stattdessen verwirrt.

„Du hast einen Basketball abgekriegt und zwar volle Kanne“, antwortet Anne an Jans Stelle, die nun plötzlich irgendwie neben ihm steht und Emmi besorgt anschaut.

Ein Basketball. Großartig. Als hätte dieser erste Schultag nicht schon beschissen genug angefangen. Und jetzt hat sie sich nicht nur vor der ganzen Schule zum Idioten gemacht, sondern vor allem vor Jan.

Emmi spürt, wie eine Welle der Verzweiflung in ihr hochschwappt. Sie schließt die Augen und wünscht sich einfach nur auf der Stelle zu verschwinden.

„Komm, setz dich mal hin.“ Emmi spürt, wie Anne nach ihrer Hand greift. Wahrscheinlich denkt sie, dass Emmi schlecht wird. Es ist ihr egal. Bereitwillig lässt sie sich mit Anne als Stütze auf der Steintreppe nieder.

„Geht es dir nicht gut?“, hört Emmi erneut eine Stimme, die sie nicht kennt. Sie schaut auf.

Eine ältere Lehrerin mit grauen, kurzen Haaren hat sich über sie gebeugt.

„Alles gut“, sagt Emmi, immer noch verwirrt darüber, was da gerade passiert ist und warum sie den Ball nicht hat kommen sehen. „Ich bin nur ein bisschen… erschrocken.“ Sie blinzelt nach oben in die Sonne und versucht, zu lächeln.

„Ich kümmere mich um sie, Frau Niederstedt.“ Anne hat Emmi fürsorglich die Hand auf die Schulter gelegt.

„Wenn dir schwindelig wird, sag bitte sofort Bescheid. Dann rufen wir deine Eltern an.“

„Nein, bloß nicht. Alles gut. Wirklich“, sagt Emmi schnell. Das würde dem Ganzen noch die Krone aufsetzen, wenn die kleine Emmi am ersten Schultag von ihrer Mami…

„Emmi!“, ruft eine dritte Stimme nach ihr. Eine Stimme, die Emmi sehr, sehr gut kennt. Mindestens seit dem Tag ihrer Geburt.

„Das ist jetzt nicht wahr!“, murmelt Emmi verzweifelt in sich hinein, vergräbt ihr Gesicht in den Händen und kneift fest die Augen zusammen, in der Hoffnung, dass alles – dieser Tag, diese Situation, dieser Moment – nichts als ein kleiner, dummer Alptraum ist.

„Emmi, was ist mit dir?“, schreit Mama quer über den Schulhof.

Emmi ballt ihre Hände unter ihrem Gesicht zu Fäusten. Würde sie hier in Unterwäsche vor der gesamten Schule sitzen, es wäre bestimmt nicht peinlicher.

Emmi kann hören, wie Mama mit schnellen Schritten angerannt kommt. Schnell hebt sie ihren Kopf, auch wenn ihr das ein paar tanzende Sternchen vor ihrem inneren Auge beschert.

„Mama!“, sagt Emmi abweisend. „Was in aller Welt machst du hier?“

„Das ist doch jetzt egal“, bügelt ihre Mutter ihre Frage ab. „Sag mir lieber, was passiert ist!“

„Halb so schlimm, Mama. Alles gut“, versucht Emmi leise ihre Mutter zu beschwichtigen, die sich mit besorgtem Blick zu ihr runtergebeugt hat. „Ich musste mich nur kurz hinsetzen.“

„Was ist denn passiert?“, fragt Mama aufgeregt. „Die Hitze?“

„Das bestimmt auch“, antwortet Frau Niederstedt an Emmis Stelle. „Sie sind die Mutter?“, hakt sie nach.

Mama nickt.

„Ihre Tochter hat einen Basketball an den Kopf bekommen“, erklärt Frau Niederstedt. Sie trägt rotgemusterte, auffällige Ohrringe, die einen starken Kontrast zu ihrer gebräunten Haut und ihren sehr grauen, fast weißen und raspelkurzen Haaren bilden.

„Oh Gott, hoffentlich ist es keine Gehirnerschütterung“, sagt Mama und fasst Emmi an die Stirn. Als ob man eine Gehirnerschütterung fühlen könnte wie Fieber.

Emmi versucht, ihre Hand wegzuwischen und steht auf, um zu beweisen, dass es ihr gut geht. Dass ihr dabei schwindelig wird und sogar etwas schlecht, verschweigt Emmi in diesem Moment. Hauptsache, Mama hört endlich auf, sie an ihrem ersten Schultag noch mehr zu blamieren.

„Was machst du hier? Ich hab doch gesagt, ich schaff das alleine!“, zischt Emmi ihr zu und schaut sich um. Bis auf Anne und Frau Niederstedt schaut niemand zu ihnen. Jan kann Emmi gerade nicht entdecken.

Mama schaut sie mit einem ulkigen Blick an. „Entschuldige meine Anwesenheit, Emilie.“

„Ich denke, der Umzugswagen kommt heute“, schiebt Emmi ungeduldig nach. Am liebsten würde sie Mama auffordern, sofort zu gehen, aber das kann sie natürlich nicht machen. Mama wäre bestimmt superbeleidigt.

„Das tut er auch, aber er verspätet sich um ein paar Stunden“, erklärt Mama. „Und da Benno sowieso mal raus musste, nutze ich die Zeit, um ihn heute schon beim Kindergarten anzumelden.“

„Und jetzt hast du ihn gleich dort gelassen?“, fragt Emmi abwesend. Gerade eben, während ihrer Bekanntschaft mit dem Basketball, war doch Jan direkt bei ihr. Ist er einfach weggegangen?

„Für ein paar Minuten, weil er gerade so schön gespielt hat.“ Mama schaut Emmi prüfend an. „Und da dachte ich, ich schau mal nach dir.“

„Das musst du nicht.“ Emmi fasst ihre Mutter bei den Schultern und sieht ihr in die Augen. „Es geht mir gut und du kannst jetzt wirklich gehen.“

Doch Mama bewegt sich keinen Zentimeter. „Wer war das denn überhaupt?“, fragt sie stattdessen.

Emmi verleiert die Augen. „Keine Ahnung. Aber ich find’s raus. Okay?“

Mama streicht sich eine blonde Strähne hinters Ohr und seufzt. „In Ordnung. Aber wenn dir irgendwie schlecht wird, dann meldest du dich sofort!“

„Ja, Mama.“ Emmi hofft, dass keiner sie hören kann.

Endlich setzt ihre Mutter sich in Bewegung. Mit viel zu zögerlichen Schritten für Emmis Geschmack. Doch anstatt zu gehen, nickt sie Frau Niederstedt zu und tritt an sie heran.

„Mama!“, murmelt Emmi nachdrücklich, als ob das helfen würde, Mama endlich vom Schulgelände zu bugsieren.

Dann entdeckt Emmi Jan. Er steht in einer Ecke bei drei anderen Jungs und lacht.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739487168
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (März)
Schlagworte
BTS Schule Freundschaft Young adult K-Pop Asien Kawaii Reise Erste Liebe Südkorea Kinderbuch Jugendbuch

Autor

  • Stephanie Auten (Autor:in)

Ich wurde 1983 geboren und habe Anglistik und Mittelalterliche Geschichte studiert. Ich lebe in Berlin und Leipzig, von 2017-2019 aber auch in Seoul, Südkorea.
Natürlich hat Seoul mich zu meiner 6-teiligen Buchreihe "Emmi in Korea" über das Leben einer deutschen Schülerin im Ausland inspiriert.
Außerdem findet ihr das Deutschlern-E-Book "Nino liebt Jörg: Not just another German short story book for intermediate readers" unter dem Namen Stephanie Auten et al. auf dieser Website.

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Titel: Emmi in Korea 3: Schulstart mit Herzklopfen