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Liebe für immer

Die Ennbergs 3

von Annmarie Wallandt (Autor:in)
251 Seiten
Reihe: Die Ennbergs, Band 3

Zusammenfassung

Die liebenswerte Rosa, das Restaurant und eine neue unerwartete Liebe ... Rosa Ennberg hat den Heiratsantrag des erfolgreichen Geschäftsmanns Richard Felsinger angenommen. Beide sind entschlossen, ihre zweite Lebenshälfte miteinander zu verbringen. Doch wie finden zwei so starke Persönlichkeiten einen gemeinsamen Nenner? Richard ist zusätzlich mit Problemen aus seiner Firma Communicate belastet. Sein bester Freund und Geschäftspartner Helmut steckt mitten in einem Rosenkrieg, den er fast nicht verkraftet. Er sucht ausgerechnet bei Richards Exfrau Verena Trost und setzt damit seine Freundschaft mit Richard aufs Spiel. Am Ende hält nur mehr Helmuts Arbeitskollegin Silvia Breitenegg zu ihm und Helmut nimmt sie das erste Mal richtig wahr ...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Impressum

Besuchen Sie uns im Internet: www.annmariewallandt.com

mail@annmariewallandt.com

1. Auflage – Copyright © 2020 Annmarie Wallandt mit freundlicher Unterstützung von editio historiae, Leopoldauerplatz 42, A-1210 Wien

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf nur mit Genehmigung der Autorin wiedergegeben werden – das gilt auch für Teile daraus.

Redaktion und Layoutgestaltung: MMag. DDr. Marianne Acquarelli

Titelbild: pixabay– Pexels

Alle Ereignisse und Charaktere sind frei erfunden. Sämtliche Ähnlichkeiten mit Personen, Handlungen und Vorkommnissen sind reiner Zufall.

1

Richard ließ dem alten Labrador seiner Eltern Zeit, um sich an den herrlichen Düften der frisch gemähten Wiese zu erfreuen. Er hatte Neptun von der Leine gelassen und der Hund wälzte sich, soweit es seine alten Knochen zuließen, selig im Gras. Da es mitten unter der Woche war, trug der CEO von Communicate einen hellgrauen Anzug von Brioni, ein Maßhemd und eine Seidenkrawatte im Pattern Style. Seine graumelierten Haare waren vom besten Herrenfriseur der Stadt in einen perfekten, aber nicht zu akkuraten Seitenscheitel getrimmt worden. Sein dichtes Deckhaar war etwas länger und schräg links nach hinten gestrichen. An den Seiten und im Nacken trug Richard die Haare in der richtigen Proportion kürzer. Vom Scheitel bis zur Sohle verkörperte er den erfolgreichen Unternehmer für Kommunikationstechnik. Nur, wer ihn näher kannte, wusste von seinem Spleen um seine Manschettenknöpfe und hätte heute zwei Miniaturmodelle des Raumschiffs Enterprise der Sternenflotte an seinen Ärmeln entdeckt.

Richard hielt die aufgerollte Leine Neptuns in der linken Hand und steckte seine rechte in die Hosentasche. Er ließ den Blick schweifen und blieb beim Ententeich des städtischen Parks hängen. Der Anblick der Bank, die er sich mit Rosa häufig teilte, ließ ihn lächeln. Seine Gedanken waren sofort bei ihr und der unglaublichen Wendung, die sein Leben in den vergangenen Monaten genommen hatte. Das Schicksal hatte ihm doch tatsächlich in seiner zweiten Lebenshälfte die liebenswerteste, schönste und manchmal auch zornigste Frau der Welt als Partnerin geschenkt. Für Richard war es fast so etwas wie Liebe auf den ersten Blick gewesen und er hatte nicht lange gezögert, Rosa Ennberg einen Heiratsantrag zu machen. Das war allerdings der leichteste Teil der Übung gewesen. Nun mussten sie täglich an der Feinabstimmung ihrer Beziehung arbeiten.

Rosa hatte seit dem Unfalltod ihres Mannes fünfzehn Jahre lang allein mit den Einkünften aus ihrem kleinen Restaurant namens Mittagstisch für ihre drei mittlerweile erwachsenen Kinder gesorgt. Richard war der erste Mann, dem sie Zutritt zu ihrem Leben gestattet hatte. Ein Umstand, den Richard aber nur seiner Hartnäckigkeit zu verdanken hatte. Seine Lieblingsfrau hatte ihm nicht nur an ihrem ersten gemeinsamen Abend einen Korb gegeben, sondern ihn bei ziemlich vielen Gelegenheiten wissen lassen, dass sie sehr gut ohne ihn zurechtkam. Und es stimmte auch. Während er vor seiner Ehe daran gewöhnt war und nach der Scheidung darunter gelitten hatte, von heiratswütigen Frauen belagert zu werden, musste er sich nun gewaltig anstrengen, um Rosa von seinen Qualitäten zu überzeugen. Er konnte aber weder mit seinem beruflichen Erfolg noch mit seinem hart erarbeiteten Vermögen bei ihr punkten. Das war neu und eine echte Herausforderung. Aber auch der Grund, aus dem er sie abgöttisch liebte.

Sein Mobiltelefon läutete. Er kannte die Nummer nicht, hob aber trotzdem ab. „Richard Felsinger.“ „Hallo, Richard. Hier ist Evelyn. Ich habe mein Telefon vergessen. Die Arzthelferin ist so nett und lässt mich kurz das Ordinationstelefon benutzen. Ich werde mich leider um fünfzehn Minuten verspäten. Es ist viel los im Labor. Geht das noch für dich?“ „Ja, Evi, kein Problem. Ich habe meinen ersten Termin erst um zehn und Neptun ist über jede Minute an der frischen Luft glücklich.“ „Gut, bis nachher.“

Mit einem Lächeln steckte Richard sein Telefon wieder ein. Die liebe Evelyn. Die ältere Nachbarin, beste Freundin von Rosa und auserkorene Wahloma von Rosas Kindern war auch zu einem echten Gewinn in seinem Leben geworden. Richard warf einen kontrollierenden Blick auf Neptun, doch er hatte sich seitlich ausgestreckt und döste in der Sonne. Im Augenwinkel fiel Richard ein Jogger auf, der den Ententeich mit einer beachtlichen Geschwindigkeit umrundete. Als er näherkam, erkannte Richard bei der Sportskanone Rosas älteren Sohn Johannes, der sich seit dem Ende seiner freiwilligen Militärzeit weiter fit hielt. Zum Glück, dachte Richard. Sonst wäre die Sache mit Fedotow nicht so gut ausgegangen.

Johannes hatte Richard entdeckt und steuerte auf ihn zu. Dann hielt er außer Atem bei ihm an. „Guten Morgen, Richard.“ Er stützte die Hände auf seine Oberschenkel und zeigte mit dem Kopf auf Neptun. „Versteht er das unter Gassigehen?“ Richard lachte leise. „Guten Morgen, Jonki. Ja, dreimal ausrinnen und zweimal hinlegen gehören mittlerweile fix dazu.“ „Bleibt er bei dir?“ Jonki richtete sich auf.

„Ja.“ Richard nickte. „Meinem Vater geht es zwar besser und er ist ja auch wieder zu Hause. Der Arzt, der ihn operierte, warnte meine Eltern aber ausdrücklich vor Sturzgefahr. Und du kennst ja Neptuns Angewohnheit, ständig im Weg oder auf jemandes Füßen herumzuliegen. Das geht auf keinen Fall.“ Er lächelte den jungen Mann vor sich an. „Wie geht es bei euch?“ Jonki grinste. „Danke, sehr gut. Seit heute weiß ich, dass Maria genauso wütend werden kann wie Mama. Das hätte ich ihr gar nicht zugetraut.“ Er zeigte über seinen Kopf. „Ich konnte die Zornwolke über ihrer blonden Mähne richtiggehend sehen. Sehr schnuckelig.“ „Warum war sie böse?“ „Sie war zu spät dran für irgendeine Vorlesung und das ist ihr immer furchtbar peinlich.“ Jonki zuckte mit den Schultern. Sein zukünftiger Stiefvater hob die rechte Augenbraue und ließ den Blick aus seinen saphirblauen Augen abwartend auf Johannes ruhen. „Na, ja. Ich war der Grund für ihre Verspätung, aber irgendwie trägt sie auch die Mitverantwortung.“ Johannes grinste wie ein Kater, der den Sahnetopf entdeckt hatte. „Heute war Maria mit dem Frühstückmachen dran. An meinen Tagen gibt es ja meistens ein Brot mit Schinken, Marmelade oder so etwas. Meine holde Maid hingegen kocht mit Hingabe Haferbrei mit frischen Früchten und Mandeln. Es schmeckt lecker, aber jetzt gibt sie auch noch Brombeeren dazu.“ Der Schalk funkelte in Jonkis grauen Augen. „Ich versuchte, ihr zu erklären, was sie mir mit dem ganzen testosteron- und libidosteigernden Zeugs eigentlich antut. Bei der Truppe wurden wir ja auch mit Hafergerichten zum Frühstück abgefüllt, damit wir beim Training nicht schlapp machten.“

„Sie hat das als Unsinn abgetan?“, fragte Richard leise und schmunzelte dabei. „Ja.“ Jonki grinste breit. „Das konnte ich so nicht auf mir sitzen lassen.“ Richard lachte laut und genoss die lockere Art, die Johannes im Umgang mit ihm an den Tag legte. Eine Beziehung dieser Art hätte sich Richard wohl auch mit seinem Sohn gewünscht, aber aus einer Laune des Schicksals heraus, hatte er keine eigenen Kinder haben können. Nun hatte er durch Rosa wenigstens einen sehr guten Ersatz bekommen. „Ich bin mit Evelyn verabredet. Sie kommt in zehn Minuten“, erklärte Richard. „Was heckt ihr aus?“, wollte Jonki sofort wissen. „Ich möchte Rosa eine Freude machen. Sobald wir die Sache mit dem knuffigen Haus hinbekommen haben, darf ich deine Mutter ja endlich heiraten. Ich weiß zwar immer noch nicht, was sie sich eigentlich wünscht.“ Richard verdrehte kurz die Augen. „Da ich aber davon ausgehe, dass wir auch diese Hürde bewältigen werden, habe ich angefangen zu überlegen, was ich ihr als Morgengabe schenken kann.“ „Ich weiß auch nur, was das ist, weil Herr von Boden angefangen hat, uns in den ganzen Stiftungskram einzuweihen. Das meiste ist über Marias Großtante hineingeflossen, darum auch der Name Winkelhausen. Aber irgendein Landgut hat Amalia als ebenso eine Morgengabe direkt von der Familie Vils-Taufenberg erhalten.“ Er schüttelte den Kopf. „Zur Versorgung im Witwenfall. So etwas Mittelalterliches.“ „Deine Mutter bekommt zwar keinen Bauernhof von mir, aber ich werde auf andere Weise für sie sorgen.“ „Ja, ich weiß“, sagte Jonki leise.

„Der Brauch der Morgengabe wurde in unsere modernen Zeiten als ein sehr persönliches Geschenk des Ehemannes an seine Frau am Morgen nach der Hochzeitsnacht übernommen.“

„Ein Geschenk für Mama? Oh, Mann!“ Johannes stöhnte gequält auf. „Da nimmst du ein echtes Kreuz auf dich.“ Er fuhr sich übers Kinn. „Mama hat die ganzen Jahre immer nur etwas Selbstgebasteltes oder irgendeinen Liebesdienst von uns gewollt. Aber ich nehme an, dass du nicht von einer Halskette aus aufgefädelten Makkaroni sprichst.“ Er sah Richard an. „Was ist mit Schmuck? Du hast ja mit dem Verlobungsring Liebe-Treu-Ewiglich und der dazu passenden Halskette den Vogel abgeschossen.“ Richard lächelte schwach und seufzte. „Der Ring war kein Problem. Als ich ihn sah, wusste ich, dass er wie für Rosa gemacht war. Und die Halskette hat sie sich selbst gewünscht.“ „Ja, den Ring muss sie bei der Arbeit in der Küche abnehmen. Die Halskette schleppt sie die ganze Zeit mit sich rum. Damit hat es sich dann wahrscheinlich mit dem Schmuck.“

„Ja, leider. Das wäre, wie man so schön sagt, eine gemähte Wiese für mich gewesen.“ Richards Blick wurde ernst. „Wir verbringen wirklich viel Zeit miteinander. Ich hätte das früher nie für möglich gehalten und bin jetzt aber doppelt froh darüber. Deine Mutter erzählt viel von euch, vom Mittagstisch und manchmal auch etwas von sich ...“

„Das beschränkt sich aber auf die letzten fünfzehn Jahre“, fuhr Johannes leise fort. Richard nickte. „Ich konnte gerade einmal aus ihr herausbekommen, dass ihr Geburtsname Franzin war.“

„Ja, das ist ein alter Familienname langobardischen Ursprungs.“ Richard hob die Augenbrauen. „Ah, deshalb der Name Rosalind.“ Er musste schmunzeln. „Unseren PR-Berater Pietro traf fast der Schlag, als sie ihm sagte, dass Rosa nicht auf Rose, sondern auf Hrod für Pferd zurückgeht. Er war echt entsetzt.“ Jonki lachte. „Dabei mag sie die Viecher überhaupt nicht.“ Er wurde ernst und schüttelte den Kopf. „Viel mehr weiß ich auch nicht. Mama hat uns nur sehr sporadisch etwas von ihrer Kindheit erzählt. Dann waren es eigentlich auch nur lustige Episoden aus ihrer Schulzeit.“ Er hob die Schultern. „Von meinen Großeltern weiß ich gar nichts. Mama meinte nur, dass sie leider keinen Opa und keine Oma für uns hätte und, dass wir mit Evelyn die beste Großmutter hätten, die uns passieren konnte. Damit hat sie auch recht.“ Johannes ging einen Schritt zu einer freien Parkbank und ließ sich fallen. Richard setzte sich zu ihm und stützte die Unterarme auf seine Knie. Johannes hatte seine volle Aufmerksamkeit. „An meinen Vater denke ich mit sehr gemischten Gefühlen zurück. Er war ständig geschäftlich unterwegs, doch wie ich nun weiß, mit wenig brauchbaren Ergebnissen. Wenn er da war, dann hat er manchmal recht coole Dinge mit mir unternommen. Es stellt sich nur die Frage, ob er tatsächlich mit mir etwas unternahm oder mich nur zu seinen Freizeitaktivitäten mitschleifte.“ Jonki runzelte die Stirn. „Und er war ein grauenvoller Autofahrer. Die ganze Welt war seine persönliche Ralleybahn. Wie das endete, wissen wir ja.“ Jonki streifte sich mit der Hand durch die fast schwarzen Haare und verharrte in dieser Position. „Als einzige Verwandte gab es von dieser Seite nur meine Großmutter. So eine grässliche Frau! Mama konnte ihr nie etwas recht machen. Als ich älter war, kapierte ich, dass meine Großmutter Mama direkt und indirekt für Guidos Autounfall verantwortlich machte. So ein Quatsch.“ Er ließ die Hand sinken und schüttelte energisch den Kopf. „Sie meinte wohl, dass sich ihr armer Sohn so abrackern musste, damit Mama bequem zu Hause bleiben konnte.“ Er sah Richard an. „Du kennst Mama. Sie nahm das nie besonders gut auf. Es stimmte ja nicht.“ Jonki blies die Luft aus. „Wir waren alle froh, als meine Großmutter vor sieben Jahren starb.“ Für eine Weile schwiegen beide und jeder hing seinen Gedanken nach. Richard merkte, dass sich Johannes über seine vor Kurzem verheilte Narbe strich. Er deutete auf Jonkis Stirn. „Wie geht es euch damit?“, fragte er leise. Johannes ließ die Hand sinken. „Gut, denke ich. Maria nimmt die Sache recht tapfer hin. Ich merke es nur in der Nacht, dass sie sich immer noch fürchtet. Sie vergräbt sich an meiner Seite und wird ganz unruhig, wenn ich früh aufstehen muss. Für mich war die Sache erledigt, als die Polizei Ludwig mitnahm. Er hat mir zwar mit seinen russischen Mafiageschichten ziemlich übel mitgespielt, aber ich hatte meine Rache. Maria hat er nicht nur mächtig an der Nase herumgeführt, sondern auch zweimal fast vergewaltigt. Zum Glück hat deine Anwältin sie zu diesem Betreuungszentrum geschickt. Das tut ihr gut.“ Er lächelte. „Und du weißt ja selbst, dass sie jeden Tag im Mittagstisch ist. Mama hat mir zwar anvertraut, dass sie ihre Hand nach der Schnittverletzung wieder voll einsetzen kann, aber sie freut sich über Marias Unterstützung. Für Maria scheinen ihre und Evis Gesellschaft sehr wichtig zu sein. Endlich ist sie von normalen Frauen umgeben. Ihre weiblichen Familienmitglieder hatten ja alle schwer einen an der Waffel. Ihre Schwester Sabine mit ihrem Magerwahn und die Mutter mit diesem Frömmigkeitstick. Und alle beide haben Maria nur als Pflege- und Haussklaven geduldet. Zum Glück ist Amalia ganz anders gestrickt. Sie betüdelt ihre Großnichte hingebungsvoll.“

„Gestern wollte ich mit meiner Leiterin der Rechtsabteilung sprechen und ich erfuhr von meiner Assistentin Elfriede, dass sie dich zu einer Anhörung begleitet hat“, bemerkte Richard. Johannes presste kurz die Lippen aufeinander. „Ja, es stimmt.“ Dann lächelte er. „Ich hoffte, dass ich es vor dir geheimhalten könne. Mama weiß ja bis heute nichts von Ludwigs Rückkehr von den Toten.“ Er tippte auf seine Narbe. „Zum Glück war sie mit meiner Erklärung, dass es beim Möbelumstellen passiert ist, zufrieden. Maria war damit einverstanden. Sie hat ja aus erster Hand mitbekommen, wie Mama allein auf Ludwigs Namen reagiert. Von dir erfährt sie auch nichts und so soll es bleiben.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich würde die Sache ja gerne schon ganz vergessen, aber die rechtlichen Geschichten sind noch nicht abgeschlossen. Der Staatsanwalt hätte mir am liebsten gleich einen Orden an die Brust geheftet. Ich habe immerhin eines der meistgesuchten Mitglieder einer ziemlich mächtigen russischen Bruderschaft aus dem Verkehr gezogen. Interpol konnte Ludwig Fedotow endlich von seiner Liste streichen.“ Johannes lächelte schwach. „Aber als anerkannte Pestbeule hat Ludwig einen passenden Anwalt. Dieser Schnösel wollte doch glatt meine Rechtfertigung durch Nothilfe für Maria und Herrn von Boden auseinandernehmen. Er versuchte tatsächlich, mir eine schwere Körperverletzung ans Leder zu flicken. Er meinte, dass ich als Soldat der Reserve mit Nahkampfausbildung den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit außer Acht ließ.“ Richards Augenbrauen schossen nach oben. „Weil du deinem Gegner den letzten Schlag verpasstest, als die Polizei schon da war?“ „Ja, so etwas in der Art. Er hat sich furchtbar über die schweren Verletzungen seines Klienten aufgeregt. Aber ich stehe dazu. Ich habe diesem Schwein seinen Kiefer nur allzu gern zertrümmert. Schon allein dafür, was er Maria angetan hatte.“ Richard lächelte. „Das kann ich gut verstehen. Und ich nehme an, dass Silvia mit dem Anwalt der Gegenseite Schlitten gefahren ist.“

Jonki grinste breit. „Ja, Frau Dr. Breitenegg ist top. Sie hat ihm so richtig den A...“ Johannes bremste sich ein. „Bald ist auch das vom Tisch.“ Er wechselte abrupt das Thema. „Du erwähntest vorhin euren PR-Berater.“ „Pietro? Ja.“ „Er hat bei Mama einen echt tollen Job geleistet. Sie stellt jedes Model aus dem Damenkatalog für die Frau über vierzig in den Schatten.“ Jonki sah Richard von der Seite an. „Und du bist der passende Herr dazu.“ Richard lächelte breit. „Ist alles Pietros Werk.“ Jonki holte genervt Luft. „Kann ich dich um einen Termin bei ihm bitten? Für Maria auch gleich. Sie ist zwar nicht ganz so überfordert wie ich, aber sie hasst es, Kleidung einkaufen zu gehen. Ganz habe ich die Sache noch nicht durchschaut, aber es hat irgendetwas damit zu tun, dass sie ihrer Meinung nach etliche Galaxien von Größe 34 entfernt ist.“ Richard verzog das Gesicht als hätte er in eine saure Zitrone gebissen. Jonki lachte herzlich. „Ja, so sehe ich das auch. Meine Prinzessin ist perfekt. Ich kann mit ihr so richtig schön knuddeln.“ Richard lächelte wissend, denn Jonkis Freundin hatte recht ähnliche Proportionen wie Rosa. „Was braucht ihr denn?“ „Alles“, seufzte Jonki. „Marias Großtante geht es nicht besonders gut. Ihre größte Freude war ja schon die unerwartete Zusammenkunft mit Maria, ihrer einzigen Erbin. Was für ein Schlamassel in dieser Familie! Marias Großmutter wurde verstoßen, weil sie sich im Krieg einen einfachen Wehrmann angelacht hatte.“ Er schüttelte verständnislos den Kopf. „Na, gut. Auf jeden Fall meinte Herr von Boden, dass wir Amalia einen Großteil der repräsentativen Verpflichtungen der Stiftung abnehmen sollten. Das ist schon okay und war von Anfang an Teil der Abmachungen. Jetzt kommt das große ABER. Herr von Boden zeigte uns ein paar Einladungskarten und für mich ist das alles nur Chinesisch.“ Er schüttelte den Kopf. „Bei einer Sache stand black tie.“ „Smoking“, kam es von Richard. „Und Maria muss ein Cocktailkleid tragen.“ „White tie?“ „Frack für dich, bodenlanges Abendkleid für Maria.“ „Oje!“, stöhnte Jonki wie unter Folterqualen auf. „Herr von Boden laberte dann auch noch etwas von Benefizveranstaltungen am Nachmittag. Da habe ich ihm aber nicht mehr zugehört.“ Richard lachte leise. „Vor 18 Uhr genügt ein dunkler Anzug und die Damen können ein elegantes Ensemble tragen. Nach 18 Uhr nimmst du den Smoking und Maria wählt ein elegantes Kleid.“ „Mmh“, brummte Jonki unzufrieden. „Es ist ja nicht nur das. Der Herr Sekretär winkte mir zusätzlich mit dem Zaunpfahl. Mir war schon selbst klar, dass ich mein Dasein nicht weiter in Jeans und Pullover fristen kann, aber ... Himmel! Wie es scheint, muss ich mir eine ganze Auswahl von Anzügen, Hemden und Krawatten zulegen und am Friseur komme ich auch nicht vorbei. Pfff!“ Johannes fuhr sich wieder durch die struwweligen Haare. „Herr von Boden hatte auch etwas an meinem Firmennamen auszusetzen und mein Logo passt ihm auch nicht.“ Er sah seinen zukünftigen Stiefvater genervt an. „Wie hältst du das alles aus?“ „Was meinst du genau?“

„Ja, alles.“ Johannes Hand sauste durch die Luft und machte eine allumfassende Geste. Richard setzte sich gerade hin. „Leicht machst du es mir nicht. Also gut. Fangen wir bei der Kleidung an. Ich halte meine Anzüge aus, um deine Worte zu verwenden, weil sie mir genau passen. Ich lernte von Pietro, dass du dich nur in Teilen wohlfühlen kannst, die deinem Körperbau perfekt gerecht werden. Jeder Mann ist anders. Dasselbe gilt für die Hemden. Ich könnte auch sehr gut ohne Maßhemden leben, aber ein Hemd ist nur bequem, wenn die Kragenweite, der Sattel und die Ärmellänge wirklich passen.“ „Du trägst die Sachen wirklich gerne?“, fragte Jonki ehrlich erstaunt. Richard lachte leise. „Ja, aber es gehört auch ein gerütteltes Maß an Eitelkeit und Selbstbewusstsein dazu.“ Das Gesicht von Johannes war ein einziges Fragezeichen. „Ich kann mich nicht vor zweitausend Leute hinstellen und ihnen erklären, was sie bei ihrer täglichen Kommunikation alles falsch machen, wenn ich ihnen gleichzeitig vermittle, dass ich mich in meiner Haut selbst nicht wohlfühle und eigentlich nicht angeschaut werden möchte.“ Johannes nickte beeindruckt. Richard fuhr fort: „Der Effekt stellt sich ganz von selbst ein. Du bist richtig angezogen, die Leute hören dir zu, du kannst deine Anliegen durchbringen und hast Erfolg. Mir würde im Geschäftsalltag gar nicht mehr einfallen, andere Sachen anzuziehen, weil es Teil meines Selbst geworden ist.“ „Ist das die Eitelkeit?“ Richard lachte herzlich. „Die war vorher auch schon da.“ Er fixierte den jungen Mann mit seinem Saphirblick. „Johannes, du musst dir ziemlich bald im Klaren darüber sein, welche Aufgabe ihr geschultert habt. Ihr werdet in mehr oder weniger naher Zukunft die Verantwortung für eine 200 Millionen schwere Stiftung tragen, die sich in der gehobenen Gesellschaft durch solide karitative Projekte einen Namen gemacht hat. Du weißt selbst von deinem Datenbankprojekt, über das Maria ja erst mit ihrer Großtante in Kontakt kam, mit wem du es zu tun haben wirst.“ „Ein Haufen hochnäsiger Blaublütiger?“ „Ja, und dem musst du etwas entgegensetzen können. Herr von Boden kennt das Geschäft und er hat in allen Punkten recht. Es ist höchste Zeit, dass du den Planet Dagobah verlässt und dir deinen Platz auf der Erde schaffst.“

„Kein Yoda mehr?“ „Nein, kein Yoda mehr. Aber du kriegst ihn in Form von Manschettenknöpfen von mir geschenkt.“ Johannes lachte schallend und spürte, dass viel Anspannung von ihm abfiel. Er entdeckte eine bekannte Person am Gehweg. „Schau, da kommt Evelyn.“ Er stand auf und Richard tat es ihm nach. Sogar Neptun erwachte aus seinem Koma und ging freundlich wedelnd auf die adrette Mittsiebzigerin zu. Sie strahlte die beiden Männer an und ihr grauer Bob schwang fröhlich mit ihren letzten Schritten mit. Jonki zog sie in eine Umarmung. „Hallo, mein Großer. Bist du auch mit Richard verabredet?“ „Nein, wir sind einander nur zufällig begegnet.“

Richard gab Evi einen Begrüßungskuss auf die Wange. „Danke für deine Zeit, meine treueste Verbündete.“ „Gerne.“ Sie beugte sich zu Neptun. „Ja, hallo, ich weiß, du möchtest auch beachtet werden. Guten Morgen.“ Evi lächelte. „Also, was kann ich für dich tun?“ „Ich möchte Rosa gerne ein Geschenk machen, das ihr wirklich Freude bereitet. Aber das ist ein gordischer Knoten. Ich kenne Rosa und dann auch wieder nicht.“ Er zeigte auf den Gehweg. „Gehen wir ein paar Schritte?“ „Möchtest du das mit Evi allein besprechen?“, fragte Johannes. „Nein, wenn du Zeit hast, dann bleib bitte da.“ Jonki schlenderte an Evelyns freie Seite und sie hängte sich bei ihm ein.

„Ihr kennt sie ja viel länger als ich. Rosa summt beispielsweise hin und wieder ein paar Melodien vor sich hin. Das eine ist die Moldau von Smetana und die anderen kommen mir vage bekannt vor.“ „Walzer Nr. 2 von Dimitri Schostakowitsch, der 2. Satz aus der 7. Symphonie von Beethoven und die Sonate in G-Dur von Carl Philipp Emanuel Bach“, sagte Evi leise. „Ihre Lieblingsstücke.“ „Ich dachte, Bach war ein Johannes so wie ich?“ „Ja, das stimmt. Johann Sebastian war der Vater von Carl Philipp Emanuel, der auch komponierte.“ Evi drehte den Kopf wieder zu Richard, der weiterredete: „Ich sprach sie einmal darauf an und wollte wissen, ob sie klassische Musik besonders mag. Ihre Antwort war etwas ausweichend und sie begründete ihre Ohrwürmer mit dieser Morgensendung, die sie immer im Radio hört.“ Richard fuhr sich ratlos über die Stirn. „Das Thema Kleidung habe ich mit ihr durch. Das neue Haus darf ich nur auf meinen Namen kaufen, sonst hätte ich ihr das geschenkt. Und irgendeine Sammlung hat sie keine. Diese Frau ist nicht zu beschenken“, schloss er genervt. „Doch, ich weiß etwas, das Rosa Freude macht.“ Evi blieb stehen und ihre beiden Begleiter sahen sie gespannt an. „Eine Konzertharfe.“ „Eine WAS?“, kam es von beiden Männern gleichzeitig. Evelyn entschied sich dafür, den Sohn ihrer Freundin zuerst anzuschauen. „Deine Mutter ist ausgebildete Konzertharfinistin, Meisterklasse 1993.“ „Sie ist eine was?“ „Eine Musikerin auf höchsten Niveau, Johannes. Das erklärt ihren Sinn für Perfektion. Eine große Musikbegabung geht oft mit einem Talent für Sprachen einher. Das hat deine Schwester Tina geerbt.“ Richard steckte seine rechte Hand wieder in die Hosentasche und schaute auf den Boden. Ein Zeichen, dass er sich eine Sache durch den Kopf gehen ließ. Dann sah er auf und schaute Jonki an. „Du bist ein Jahrgang 1994?“ Johannes nickte. „Mama war bei meiner Geburt einundzwanzig Jahre alt. Was wollte sie mit einer Harfe?“, fragte er immer noch völlig baff. Richard hob die Augenbrauen. „Ich kann nur raten: Sie hat mindestens zehn Jahre auf dieses Ziel hingearbeitet. Dann kamen ihr irgendwie Mann und Kinder dazwischen.“ Evelyn nickte verzagt und nahm den Spaziergang wieder auf. Sie fühlte sich im Gehen weniger von Richards Scharfsichtigkeit und seiner autoritären Präsenz erdrückt.

„Wo fange ich an?“, murmelte sie. „Ich kenne Rosa seit dem Tag, als Guido und sie in die Wohnung neben mir einzogen. Sie war blutjung und schon ziemlich rund. Sie erzählte mir, dass sie Guido auf einem Adventkonzert kennengelernt hatte. Er hatte irgendeinen Spruch über graue Augen draufgehabt. Die Farbe sei so selten und es sei bestimmt Schicksal, dass beide graue Augen hätten.“ Evi verdrehte ihre braunen Augen und schüttelte den Kopf.

Jonki hatte nachgerechnet. „War das im Advent 1993?“ Evi nickte. „Ich bin im September 1994 auf die Welt gekommen“, stellte Johannes matt fest. „Ja, es ging alles ziemlich schnell. Rosa hatte gleich nach ihrer Abschlussprüfung einen Vertrag bei einem bekannten Orchester bekommen. Den musste sie dann ablehnen.“ Evelyn holte Luft. „Sie hatte trotzdem noch Pläne. Sie gab Unterricht und übte jeden Vormittag. Es war herrlich für mich. Ich konnte bei Mozart, Bach, Händel und eben Schostakowitsch frühstücken. Um die Uhrzeit war niemand im Haus. Ich hatte in der Bank zu dieser Zeit häufige Abenddienste mit dem Amerikahandel und mich störte sie überhaupt nicht.“ Evis Gesicht hatte beim Erzählen dieser schönen Erinnerung zu leuchten begonnen. Doch der nächste Gedanke ließ sie traurig werden. „Dann hatte Guido seinen ersten Autounfall. Ein paar Tage später war Rosas Harfe weg. Er hatte sie bekniet, die Harfe im Pfandhaus zu versetzen. Guido war damals schon als Vertreter für Krankenhausausstattungen unterwegs gewesen und brauchte für seine Arbeit dringend einen fahrbaren Untersatz. Er versprach ihr jahrelang, das Instrument auszulösen. Er tat es nie und am Schluss wurde die sehr wertvolle Harfe für einen Pappenstiel versteigert. Grisu war gerade unterwegs.“ Johannes stieß einen heftigen Fluch aus und seine Zähne knirschten vor Wut. Richard ging es nicht viel besser. Evi holte Luft, denn das Ende der Geschichte war noch nicht erzählt. „Das führte zum endgültigen Bruch mit Rosas Vater, deinem Großvater, Johannes. Ich lernte Tassilo noch kennen. Er war ein rührender Vater, doch auch sehr bestimmend. Rosas Mutter, ich kenne ihren Vornamen nicht, ließ ihn im Stich als Rosa zwei Jahre alt war. Von da an drehte sich Tassilos Welt nur mehr um sein kleines Mädchen. Rosa fing in der Volksschule mit dem Musikunterricht an und schon bald stellte sich ihr Talent für die Pedalharfe heraus. Rosas Vater nahm viele Entbehrungen auf sich, um seiner Tochter parallel zur Schule die Ausbildung am Konservatorium zu ermöglichen und er hatte sogar einen Kredit für den Kauf ihrer Harfe aufgenommen.“ „Wieso?“, wollte Jonki wissen. „Was kostet so ein Instrument?“ Evelyn seufzte. „Wie viel es damals war, das weiß ich nicht, aber heute muss man für eine wirklich gute Pedalharfe ungefähr 100.000 Euro zahlen und für die teuerste namens Horngacher sogar 200.000 Euro.“ „Dafür kriege ich ja schon eine Wohnung“, rief Jonki entsetzt aus. „Ja, das stimmt schon, Jonki“, kam es von Richard. „Aber die Einstiegsgehälter für Konzertmusiker in dieser Kategorie liegen ja auch deutlich höher als in anderen Branchen. Rosas Vater wollte ihr eine gute Zukunft ermöglichen und hatte alles auf diese Karte gesetzt.“ Er runzelte die Stirn. „Woher kann Rosa denn eigentlich so gut kochen?“ „Nur aus Kochbüchern. Die Konzession für das Restaurant war am Anfang gepachtet, solange bis Rosa genügend Praxisjahre angesammelt hatte und ein eigenes Gewerbe anmelden konnte.“ Evelyn nahm den Gesprächsfaden wieder auf. „Tassilo hat Rosa die Hölle heiß gemacht. Er hatte Guido schon dafür verantwortlich gemacht, dass er Rosas Karriere zerstört hatte, aber den Verlust der Harfe nahm er allen beiden sehr übel. Er brach jeden Kontakt ab, kündigte seine Wohnung und heuerte auf irgendeiner Rinderfarm in Südafrika an.“ „Du meinst, dass meine Großeltern beide noch leben?“, hakte Johannes leise nach und verschränkte die Arme. Evi legte ihm die Hand auf den Unterarm. „Wie ich schon sagte: Von Rosas Mutter weiß ich nichts, aber ja, dein Großvater lebt vermutlich noch. Er müsste in meinem Alter sein.“ Jonki drehte seinen Kopf weg, weil er mit den Tränen kämpfte. Richard ahnte den Grund. „Er war nicht einmal mehr für Rosa da, als Guido starb“, stellte er fest.

Johannes atmete heftig ein. „Wenn Evelyn nicht gewesen wäre, hätten wir sogar unser Dach über dem Kopf verloren. Heute kann davon keine Rede mehr sein, aber ich erinnere mich an jedes einzelne Mal, als Mama vor Verzweiflung weinte, wenn der nächste Monatserste näherrückte.“ Er zog seine wundervolle Wahloma in eine Umarmung. „Danke, Evi.“ „He, mein Großer, ist schon gut. Ich habe dafür die liebste Familie bekommen, die man sich nur wünschen kann.“ „Evelyn, bitte verzeihe mir die Frage“, sagte Richard. „Weißt du denn ganz sicher, dass sie wieder Harfe spielen möchte? Ich möchte mit meinem Geschenk keine Gespenster aus der Vergangenheit auferstehen lassen.“ Evelyn legte ihm ihre Hand auf die Wange. „Nein, keine Sorge. Seit einigen Jahren hat Rosa eine kleine Spardose mit einer Harfe drauf. Ich weiß es mit Sicherheit.“ Sie zog ihre Hand wieder zurück. „Die steht neben den Autos, in denen Mama für unsere Führerscheine gespart hatte. Ich gestehe, dass ich dem Ding nie viel Bedeutung beimaß.“ „Wie hättest du auch? Sobald Rosa etwas erübrigen kann, gibt sie es hinein. Und ich schenke ihr zu den diversen Gelegenheiten auch immer einen kleinen Beitrag.“ Sie hob die Schultern. „Viel ist es noch nicht, weil zuerst mussten sämtliche Zahnspangen, Auslandsfahrten mit der Schule und Studienbücher bezahlt werden. Aber sie sagte, dass sie sich einmal auch sehr über ein preiswerteres Modell freuen würde.“ Richard nahm Neptun, der auch so die ganze Zeit brav neben ihm hergetrottet war, wieder an die Leine. Er beugte sich zu Evelyn vor und gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Vielen Dank, dass du diese Geschichte mit uns geteilt hast. Ich hoffe, dass Rosa mir eines Tages so sehr vertraut und es von sich aus erzählt. Ihr müsst mich leider entschuldigen. Ich muss ins Büro zurück.“ Er hob verschmitzt die Augenbrauen. „Rosa bekommt von mir die beste und die schönste Horngacher, die sich auftreiben lässt.“

2

Am nächsten Morgen stand Richard bei Sonnenaufgang auf und ging leise in den Ankleidebereich neben dem Schlafzimmer. Er zog die Schiebetür vorsichtig zu, damit er Rosa nicht aufweckte. Die wenigen Morgen, an denen sie nicht so früh aufstehen musste, wollte er ihr gerne lassen. Das Jahr steuerte auf den Sommer zu, doch in der Früh war es noch ziemlich kühl. Richard nahm eine frische lange Jogginghose aus einem Fach in seiner begehbaren Garderobe und zog sich an. Im Hinausgehen streifte er einen Sweater über. Um Rosa nicht zu stören, nutzte er den Abstecher ins Bad, um dann gleich ins Wohnzimmer weiterzugehen.

„Guten Morgen, Neptun“, sagte er leise. „Heute kein Malheur? Braver Junge.“ Richard schaltete die Kaffeemaschine ein, ging zur Terrassentür und deaktivierte den Riegel. Neptun hatte das Signal sofort verstanden und wartete neben Richard, bis er ins Freie konnte. Da er Neptun draußen lassen konnte, bis er wieder vom Laufen zurück war, schloss Richard die Tür wieder. Vor dem Haus wählte er den Weg Richtung Elisabethinnenviertel, denn der Wald, der hinter dem letzten Straßenzug begann, war seine bevorzugte Laufstrecke. Während er lief, ließ er sich alles, was ihn beschäftigte, durch den Kopf gehen. Die letzten Monate waren mehr als turbulent gewesen. Zuerst hatte er Rosa zufällig bei einem Mittagessen in ihrem Restaurant kennengelernt. Richard hatte zusammen mit seinem Head Office Manager Gerhard Landsknecht um die Mittagszeit einen Termin wahrgenommen. Dann war ihnen bis zur nächsten Verpflichtung nicht mehr viel Zeit geblieben und Gerhard hatte ein frisch gekochtes, aber rasch serviertes Mittagessen im Mittagstisch vorgeschlagen. Keine zwei Tage später hatte Richard Rosa gebeten, mit ihm auszugehen, weil sie ihm nicht nur mit ihrer netten und patenten Art gefallen, sondern ihn auch auf der körperlichen Ebene angezogen hatte. Richard mochte Frauen, mit denen man, um bei dem Ausdruck zu bleiben, den Johannes benutzt hatte, so richtig schön knuddeln konnte. Leider war diese Spezies in der Welt, in der er sich normalerweise bewegte, rar bis nicht vorhanden. Nun konnte er sämtlichen himmlischen Kräften nur danken, dass er seiner wundervollen Rosa begegnet war. Während er mit seiner Werbung um sie langsam vorangekommen war, hatte sich bei Communicate eine Katastrophe an die andere gereiht. Seine persönliche Assistentin Sabine Hellwag hatte Gefühle für ihn entwickelt, die über ein teindre weit hinausgegangen waren. Als sie gemerkt hatte, dass sie für den CEO von Communicate nie infrage gekommen wäre, hatte sie sich mit einem Mann namens Theodor Theodostos eingelassen. Später hatte sich herausgestellt, dass er in Wirklichkeit Fjodor Fedotow hieß und ein ranghohes Mitglied einer russischen Bruderschaft war. Zusätzlich war er der Onkel von Ludwig Fedotow, dem ehemaligen WG-Kollegen von Johannes, gewesen. Ludwig hatte sein Dasein als Student nur als Fassade benutzt, um mit diversen kriminellen Aktivitäten besser voranzukommen. Ein Punkt auf seiner Liste waren sichere Kommunikationssysteme gewesen – das High End-Produkt von Communicate. Die erforderliche Hardware dafür hatte sich Ludwig ausgerechnet von Johannes‘ kleiner Einmann-Informatikfirma liefern lassen. Die Situation war derart verstrickt gewesen, dass am Ende die Frontlinien kaum mehr definierbar gewesen waren. Die schlechte Seite der Bilanz: Johannes war der Justiz ins Kreuzfeuer geraten und hatte einige Tage im Gefängnis gesessen, Theodor hatte Sabine getötet und der Verkaufsleiter von Communicate, Severin Jester, hatte sich in die Machenschaften der Fedotows hineinziehen lassen. Es hatte nicht viel gefehlt und Communicate wäre ruiniert gewesen. Die gute Seite der Bilanz: Richard hatte Rosa für sich gewinnen können, seine neue Assistentin Elfriede Stanek hatte sich als veritabler Glücksgriff herausgestellt und für Johannes war nicht nur alles gut ausgegangen, sondern es war auch Sabines wesentliche jüngere Schwester Maria als wirklich entzückende Freundin in sein Leben getreten. Das Aufräumen der Nebengeräusche war noch nicht beendet, aber der Lichtstreif am Horizont strahlte bereits so hell wie die aufgehende Morgensonne.

Am Hauseingang legte Richard seinen Finger auf den Zugangsleser und stand wenige Minuten später unter der Dusche. Während des Rasierens rekapitulierte er den Tag, der auf ihn wartete. Er musste mehrere wichtige Telefonate sowie zwei Kundentermine wahrnehmen und einige firmeninterne Sachen erledigen. Richard zog seinen Bademantel aus und beförderte ihn zusammen mit dem Handtuch zum Abtrocknen in den Wäschekorb. Das Handtuch, das er beim Rasieren und Zähneputzen benutzt hatte, wanderte in hohem Bogen hinterher. Dann ging er so wie Gott in geschaffen hatte in den Ankleidebereich. Er wählte einen hellgrauen Anzug mit einem leichten Karo im Stoff. Anschließend fischte er ein blitzblaues Hemd, das sein guter Hausgeist Lou gewaschen und gebügelt hatte, von der Kastenstange und hängte es neben dem Anzug auf einem zweiten Garderobehaken bereit. Nach einem Griff in das Fach, in dem seine Unterwäsche und die Socken lagen, machte er die Lade auf, in der er seine Sammlung von Manschettenknöpfen hatte. Er entschied sich für das Modell mit dem kleinen Roboter R2-D2 aus der Filmserie Star Wars. Eine weitere Lade enthielt seinen Krawattenbestand. Richard wählte eine unifarbene rote Seidenkrawatte aus und legte sie auf die Ablage, die als Insel in seinem Ankleideraum stand. In den Fächern dieses Möbels standen seine von Lou geputzten Schuhe bereit. Nach zehn Minuten war er fertig und setzte sich, um seine Oxforder anzuziehen. Dann stand er auf und kontrollierte den Sitz der Krawatte im raumhohen Spiegel. Im Hinausgehen band er seine Tag Heuer um.

In der Küche holte Richard zuerst den Hundenapf und nahm eine angefangene Futterdose aus dem Eiskasten. Er putzte sie aus und spülte sie kurz ab. Lou würde sich um den Rest kümmern. Aus einem anderen Behälter gab Richard noch ein paar Hundeflocken in Neptuns Frühstück und stellte den Napf neben das Trinkwasser auf die Plastikunterlage. Der Hund wartete schon wedelnd vor der schweren Glastür. Richard deaktivierte den Riegel und ließ Neptun herein. „Alles erledigt, alter Junge?“ Während sich der alte Labrador über sein Frühstück hermachte, wusch sich Richard die Hände und nahm den eigenen Milchtank für seine Kaffeemaschine aus dem Eiskasten. Tasse, Untertasse, Cappuccino groß, fertig. Die Dose mit den Frühstückskeksen stand neben der Kaffeemaschine und Richard nahm sich eine Handvoll Kekse. Er hörte, dass seine Gefährtin aufgewacht war und ins Bad tappte.

Rosa betätigte die Toilettenspülung und stellte sich im Halbschlaf zum Waschbecken. Sie wusch sich die Hände und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Etwas wacher holte sie einen weichen Haargummi aus einer Lade, die sie verwenden konnte und drehte ihre langen Haare zu einem lockeren Knoten zusammen. Sie war langsamer als früher, weil der Schnitt auf ihrer linken Hand zwar verheilt war, aber ihre Nerven bei gewissen Bewegungen immer noch protestierten. Sie wollte sich gerade zur Dusche umdrehen, als ihr Blick auf den Frotteeberg fiel, den Richard wieder hinterlassen hatte. Sie warf sich ihren Morgenmantel über und band ihn im Hinausgehen zu. „Guten Morgen, Lieblingsmann.“ Richard kaute gerade an einem Keks und hob die Hand zum Vulkaniergruß. Rosa lächelte und antwortete ihrerseits korrekt. Richard und Rosa hatten ihre gemeinsame Schwäche für Star Trek recht bald entdeckt. Seitdem war Mr. Spocks Begrüßungsgeste fixer Teil ihres Alltags. Rosa zählte sich ausschließlich zu den Trekkies, während Richard auch den Jedis von Star Wars nicht ganz abgeneigt war. „Kann es sein, dass du einen höheren Handtuchbedarf hast als der Kaiser von China?“ Sie lehnte sich an den Torbogen zwischen Wohnzimmer und Küche. Unbeabsichtigt hatte Rosa mit ihrer Frage ein für Richard heikles Thema angeschnitten. „Nein“, gab er ziemlich knapp zurück. „Mmh, besteht eine geringe Chance, dass du zumindest den Bademantel ein zweites Mal benutzt?“

„Nein.“

„Du weißt, dass ich bei meiner Arbeit auf Umweltschutzmaßnahmen achte. Produkte aus der Region, Wasserverbrauch, Verwertung der Essensreste. Gibt dir dieser Gedanke vielleicht einen Anstoß?“

„Nein.“

Rosa startete einen weiteren Anlauf. „Auf der Internetseite für Verbraucherinformation gibt es einen Beitrag, dass es genügt, die Handtücher zweimal in der Woche zu wechseln.“

„Du wirst im Internet auch den sehr wertvollen Hinweis finden, gleich während des Duschens zu pinkeln. Es gibt sogar eine Berechnung, wie viele Mal Toilettenspülung und anschließendes Händewaschen eingespart wird. Ich würde es trotzdem nicht tun.“ Er nahm einen Schluck Kaffee und sah sie von der Seite her an. Sein Blick war deutlich: War’s das?

Rosa hatte die Arme verschränkt und war noch lange nicht zur Aufgabe bereit. Doch Richard kam ihr zuvor und sprach mehr mit dem nächsten Keks als mit Rosa. „Communicate zahlt jährlich einen sechsstelligen Betrag für Emissionszertifikate. Das hängt mit den Flugmeilen zusammen, die wir alle verbrauchen. Das Bürogebäude ist auf dem modernsten Stand der Technik und wir können 70 % unseres Energiebedarfs mit Photovoltaikanlagen am Dach decken. Die Anzahl und die Art der Pflanzen wurden mit dem ganzen Raumklimasystem exakt abgestimmt. Irgendwo hängt sogar ein Umweltpreis für zukunftsweisende Bautechnik an der Wand.“ Er zeigte mit einer Geste um sich. „Dieses nicht knuffige Haus ist als Passivhaus konzipiert und geht in manchen Bereichen sogar in die Kategorie Energie plus. Der ganze Strom wird autonom produziert und das Warmwasser mittels Sonnenenergie gewärmt. Die Heizung rennt über eine Wärmepumpe. Selbst die Wasserversorgung ist ein eigener Kreislauf. Das verwendete Nutzwasser geht nämlich nicht in den Gulli, sondern wird in unterirdischen Tanks so weit aufbereitet, dass es im Außenbereich und in den Toilettenspülungen zum Einsatz kommen kann. Diesen letzten Weg nimmt es dann allerdings tatsächlich in die städtische Kanalisation, weil ein wasseraufbereitendes Biotop im Garten ging sogar mir zu weit.“ Richard holte Luft. „Lässt du mich bitte mit meinem Handtuchverbrauch in Ruhe?“ Rosa hob beide Hände und verschwand wortlos im Bad. Richard sah ihr ehrlich erstaunt nach. Seine Auserwählte hatte tatsächlich den Rückzug angetreten?

Kurz vor Mittag wollte Richard sein Headset vom Kopf ziehen, das er für alle wichtigen Telefonate benutzte, doch eine der Empfangsdamen von Communicate meldete sich. „Herr Dr. Felsinger? Herr Dr. Furth aus London auf Leitung 3.“ „Danke, Hemma.“ Richard drückte die Taste am Telefon und schlenderte dann zum Fenster. „Helmut, was gibt‘s?“ „Hi, Kumpel, alles bestens. Ich wollte dich nur informieren und mich dann mit deinen Plänen abstimmen. Kralow ist endlich eingeknickt. Du hast ihn ja schon vor einigen Wochen samt seiner schwachsinnigen Forderungen vor die Tür gesetzt.“ Richard hörte Helmut zufrieden lachen. „Wie es Fortuna so will, ist Kralows aktuelle Flamme die Nichte von Irina Ivanova. Der liebe Onkel dazu ist niemand geringerer als Alexej Borissowitsch Petrow, Aufsichtsratsmitglied bei Rostelecom.“ Richard lachte leise. „Wie schön für uns.“ „Ja, wenn wir die Russen an Land ziehen, kannst du in deinen heißersehnten Ruhestand gehen.“ „Von Ruhestand habe ich nie etwas gesagt. Ich wollte nur kürzertreten. Ist dir dein Wechsel zum Leiter der Verkaufsabteilung schon zu Kopf gestiegen?“ „Nein. Ich wollte dich nur ärgern.“ Richards ältester Freund und Geschäftspartner lachte fröhlich. „Hör zu, ich möchte jetzt auf jeden Fall an ihm dranbleiben. Er hat mich nicht nur zu einem Empfang in die russische Botschaft eingeladen, sondern auch zu einem Segeltörn am Wochenende. Kannst du meine Termine morgen und übermorgen übernehmen?“ „Warte kurz.“ Richard ging zu seinem Laptop und rief die Terminplaner von Communicate auf. „Mmh, ja, das geht sich aus. Ich bitte Elfriede, den Termin mit dem Makler zu verschieben und sage Rosa Bescheid.“ „Wie kommt ihr voran?“, fragte Helmut interessiert. „Frage lieber nicht. Sie treibt mich etwas in den Wahnsinn. Wir haben schon mehr als zwanzig Häuser angesehen, aber keines ist der Dame knuffig genug.“ „Mmh, hast du schon überlegt, ob du den Makler einfach auf die falschen Sachen angesetzt hast?“ „Was meinst du mit den falschen Sachen?“ „Na ja, du bist ziemlich weit oben in den Markt eingestiegen. Es kann gut sein, dass sich deine Rosa damit nicht wohlfühlt.“ Helmut lachte. „Stopp. Ich weiß genau, dass du gerade die Palme hochkletterst. Bleib unten und lass dir die Sache wirklich durch den Kopf gehen. Vergiss nicht, warum du Rosa so magst. Sie lässt sich sicher nicht in deine Höhen mitschleifen. Bei ihr rennst du mit deiner manchmal etwas arroganten Art gegen Felsmauern. Sie hat dir ja auch die Kreditkarte, diese Centurion, um die Ohren gehauen.“ „Vielen Dank, Herr Eheberater“, knurrte Richard ungehalten. „Aber, wenn wir schon dabei sind. Wie geht‘s dir mit Ester?“ Helmut blies die Luft aus. „Wie es scheint, haben sich die Wogen wieder etwas geglättet. Du weißt ja, dass sie jedes unserer 23 Ehejahre auf die Waagschale legte und zu meinen Gunsten schaute dabei herzlich wenig heraus.“ „Mmh“, brummte sein bester Freund unzufrieden. „An der Messskala stimmt aber einiges nicht.“ „Ja, Richard. Ich weiß. In ein paar Punkten kann ich ihr schon recht geben. Die Idee mit dem Haus, dem Garten und dem Pool gefiel mir ja auch und Angie hatte dadurch eine wirklich schöne Kindheit. Das ist für mich Lohn genug.“ „Der Spagat zwischen Esters sonstigen Wünschen und einem eventuell geringeren Verdienst deinerseits geht sich aber etwas schwer aus“, warf Richard ein. Sein Freund holte Luft. „Richard, bitte, lass nicht außer Acht, dass du einen Riesenzorn auf Verena hast. Deine Ex war schon ein ganz besonderer Fall. Glaub mir, es macht einen sehr großen Unterschied, dass ihr euch kennenlerntet, als du schon erfolgreich warst. Ester und ich haben uns am Anfang 30 m² geteilt.“ „Gut, Botschaft angekommen. Was willst du unternehmen?“ „Sobald wir unser Gespräch beendet haben, rufe ich Ester an und frage sie, ob sie am Freitag zu mir nach London kommen möchte. Der Segeltörn ist sicher auch etwas für sie. Es ist längst überfällig, dass wir wieder ein Wochenende miteinander verbringen.“ „Mmh, das klingt gut. Ich drücke dir die Daumen.“

Richard erledigte einige Sachen, die auf seinem Schreibtisch lagen und ging den letzten Quartalsbericht durch. Ein leises Klopfen ließ ihn aufschauen. Seine persönliche Assistentin stand im Türrahmen und brachte Neptun von einem Spaziergang zurück. „Vielen Dank, Elfriede. Wenn er weiterhin so viel vor die Tür muss, dann muss ich über irgendeinen Plan B nachdenken.“ „Ja, Herr Dr. Felsinger. Wenn Sie es gestatten, dann hätte ich einen Vorschlag. Die Damen vom Empfang schenken mir jedes Mal ganz neidvolle Blicke, wenn ich mit Neptun vorbeikomme.“ Sie sah liebevoll zu dem alten Tier, das sich behäbig auf seine Decke legte. „Es genügen ja nur ein paar Minuten. Hemma, Sarah und Eva wären sogar bereit, mit ihrer Personalkarte unter ‚Freizeit‘ auszuchecken.“ Richard sah die ältere Dame, die sich als die beste Assistentin herausgestellt hatte, die je bei Communicate beschäftigt gewesen war, freundlich an. „Zusammen mit Ihnen, Rosa, den Kindern und mir hätte Neptun dann neun Hundesitter, die ihn betreuen. Der Prinz von Persien hatte wahrscheinlich weniger Personal.“ Er lachte herzlich. „Gut, danke. Ich bin einverstanden, aber ich kann den dreien diese zehn Minuten täglich schon als Arbeitszeit lassen.“ Richard hob verschmitzt die Augenbrauen. „Ich werde Neptun offiziell als Wachhund bei Communicate aufnehmen, dann kann ich sogar sein Futter von der Steuer absetzen.“ Er stand auf. „Geht sich heute ein Mittagessen bei Rosa aus?“ „Ja, ich denke schon. Gerhard hat es jedenfalls fix vor.“ Elfriede lächelte. „Weil heute auch Frau Ennbergs Tochter da ist.“ „Und ich auch. Guten Tag, Elfriede. Hallo, Richard.“ Silvia war hinter Frau Stanek erschienen. Richards Assistentin trat einen Schritt vor und ließ die Leiterin der Rechtsabteilung eintreten. „Guten Tag, Frau Dr. Breitenegg.“ Silvia richtete sich eine tizianrote Locke, die sich ständig aus ihrer Aufsteckfrisur stahl und lächelte Elfriede breit an. „Wir sollten den Mittagstisch zur offiziellen Kantine von Communicate erklären.“ „Kantine? Rosa trifft der Schlag“, murmelte Richard. Die Anwältin, die Richard und Helmut fast schon seit den Anfängen von Communicate begleitete, wedelte mit der Hand. Dabei schien sie ihre Sommersprossen wie Konfetti zu verstreuen. „Dann benennen wir es natürlich anders.“ Sie gab Richard ein Konvolut von Papieren. „Helmut hat seine Mails zu mir weiterleiten lassen. Hier ist eine dringende Anfrage aus dem Wirtschaftsministerium für ein Coaching von dir. Unser werter Herr Minister muss seinen Wählern das aktuelle Nullwachstum als Riesenerfolg verkaufen. Dann findest du unsere Klageschrift gegen Severin wegen Untreue und die Eingabe beim Arbeitsgericht.“ Sie schüttelte verständnislos den Kopf. „Sein Anwalt muss ein echter Trottel sein, wenn er seinem Klienten riet, gegen die Entlassung vorzugehen.“ „Na, ja. Die besten Leute der Stadt arbeiten alle bei Communicate“, sagte Richard. Silvia sah Elfriede verschmitzt an. Ihre dunklen Augen funkelten wie zwei schwarze Diamanten. „Was will der CEO von uns? Unbezahlte Überstunden?“ Richard lachte. „Nein, aber da ich schon zwei sehr vernünftige Damen hier habe, möchte ich um Hilfe bitten.“ Er hob die Augenbrauen. „Meiner herzallerliebsten Rosa ist unser jetziges Heim zu futuristisch und sie hegt den Wunsch nach etwas, das sie knuffig nennt.“ Elfriede griff nach ihrer Kette aus Modeschmuck und spielte damit. „Unser Häuschen kann man als sehr knuffig bezeichnen.“ Sie hob entschuldigend die Schultern. „Aber das liegt in einer Kleingartensiedlung. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie nach etwas in der Art suchen.“ „Die alte Schmiede im Elisabethinnenviertel steht zum Verkauf“, platzte Silvia heraus. „Ich weiß das, weil meine Freundin Margit gerade das Portfolio zusammenstellt. Dieses Haus ist SEHR knuffig.“ Richard sah sie an, als hätte sie ihm ein Quartier auf dem Mond angeboten. „Diese Bruchbude ist ein Museum!“ „Ja, aber der Stadtrat hat sich geweigert, die Mittel für den Weiterbetrieb zu genehmigen. Das Museum ist schon geschlossen, der Garten ist nach wie vor als öffentlicher Park zugänglich. Die Immobilie und das ganze Gelände gehören der Stadt. Der Verkauf soll das nächste Budgetloch stopfen.“ „Aha, und ich soll der glückliche Geldgeber sein und darf mich bei der Renovierung auch noch mit dem Denkmalschutz herumschlagen. Danke, Silvia, aber ich möchte gerne noch vor meinem Pensionsantritt umziehen.“ Silvia lächelte wie die Grinsekatze aus Alice im Wunderland. „Die Denkmalschützer nehme ich dir sehr gerne ab. Ich kann Margit bitten, dass sie das Portfolio noch zurückhält.“

„Nein.“

„Rosa wird begeistert sein.“

„Das ist ja gerade meine Befürchtung.“

„Gib der Sache eine Chance.“

„Nein.“

„Es ist groß genug auf einer Ebene. Es gibt keine Stiegen.“

„Nein.“

„Die ganze Rückfront, wo früher die eigentliche Schmiede war, ist verglast.“

„Nein.“

„Keine direkte Einsicht von der Straßenseite aus.“

„Nein.“

Elfriede folgte der Konversation wie eine Zuschauerin einer Partie Tennis. „Es ist wirklich sehr schön“, sagte sie leise. „Der Garten ist etwas vernachlässigt, aber die grundsätzliche Anlage ist sehr nett. Es gibt diesen hübschen Teich und die alten Bäume sind ein Traum.“ „Ja, mit schönen Grüßen von Schneewittchen und den sieben Zwergen“, murrte Richard. Er ahnte bereits, dass er auf verlorenem Posten stand. Mit einem Seufzer steckte er die Hände in die Hosentaschen und schaute auf den Boden. Silvia tauschte mit Elfriede einen vielsagenden Blick aus. Richard zog die rechte Hand wieder heraus, griff sich auf die Nasenwurzel und atmete tief ein. Nach einer Weile hob er den Kopf und fixierte Silvia mit seinem Saphirblick. „Also gut. Bevor ich das fragliche Objekt in Betracht ziehe, will ich, dass Friedrich es sich ansieht. Er hat mein jetziges Haus gebaut und er weiß, was mir wichtig ist. Wenn ich sein Okay habe, schaue ich es mir zuerst an.“ Er verengte die Augen. „Und erst DANN darf es sich auch Rosa anschauen. Alles klar?“ Silvia nickte begeistert. „Ich rufe Margit gleich an und gebe Elfriede die Nummer deines Architekten.“ Sie klatschte in die Hände. „Silvia?“ Richard klang ähnlich wie Graf Dracula. „Ja?“ „KEIN Wort zu Rosa, selbst wenn du zu zerplatzen drohst.“ Die Anwältin hob die Hände. „Okay, okay.“

Im Mittagstisch war wie immer viel los, doch Gerhard hatte rechtzeitig den größten Tisch mit dem Beinamen Don Giovanni besetzt und verschlang Tina mit seinen Augen. Die sehr hübsche Tochter der Lokalbesitzerin stand an der Theke und arbeitete die Getränkebestellungen ab. Jonkis Freundin Maria eilte an ihr vorbei und servierte zwei Gästen die Hauptspeise. Sie hatten den begehrten Tisch mit der Sitzbank ergattert, die als Schwan gearbeitet war und einem splitternackten Lohengrin zu Diensten gewesen war. Rosa hatte alle Restaurantmöbel mit der Hilfe von Gerhards Vater Friedhelm in einem Theaterlager erstanden. Fried war seit Jahrzehnten mit Leib und Seele Requisiteur und hatte auch den Sohn mit dieser Begeisterung angesteckt. Gerhard war eigentlich gelernter Bühnentechniker, doch Richard hatte ihn nach dem Event eines Mobiltelefonherstellers abgeworben. Im Moment war Gerhard mit seinem Ausflug in die Welt der Privatwirtschaft sehr zufrieden. Vor allem hatte er dadurch die Möglichkeit gehabt, die Frau seiner Träume zu treffen. Seiner Träume, ja. Tina hingegen ging mit ihm fast genauso um, wie sie ihre beiden Brüder behandelte. Dem älteren Johannes ließ sie noch etwas mehr Respekt angedeihen als ihrem jüngeren Bruder Christian. Grisu, wie er von allen genannt wurde, war im Moment nur vor ihren ständigen Neckereien sicher, weil er gerade den Schulabschluss geschafft hatte und in die wohlverdienten Ferien gefahren war.

Die alte Tür mit dem Glaseinsatz ging erneut auf und Elfriede Stanek kam gefolgt von Silvia und Erwin Nowak, dem langgedienten Leiter der EDV-Abteilung herein. Der CEO hatte die Tür aufgehalten und folgte seinen Angestellten. Während sich die ersten drei hinsetzten, verschwand Richard kurz in Richtung Küche. „Hallo, mein Liebling.“

Rosa war gerade über ein Kuchenblech gebeugt und sah auf. Sofort lächelte sie breit. „Ah, der Herr Stammkunde. Können Sie sich Ihre ständigen Besuche hier überhaupt noch leisten? Was sagt eigentlich Ihre Frau dazu, dass Sie ständig im selben Lokal herumhängen?“

Richard machte zwei Schritte auf sie zu und fiel über ihren Mund her. Leider konnte er sie nicht so ausgiebig küssen, wie er es sich gewünscht hätte, denn Maria kam in die Küche geeilt und rief: „Zweimal mit und zweimal ohne für Schlucker.“ Rosa schob Richard von sich. „Wenn du heute wieder für dein Essen bezahlst, musst du mir am Abend Rede und Antwort stehen.“ Zur Antwort bekam sie noch einen schnellen Kuss und Richard war so rasch weg, wie er gekommen war. Rosa holte kurz Luft und rief sich in Erinnerung, was Maria gesagt hatte. Sie holte vier Schalen aus dem Wärmeschrank und stellte sie auf ein Tablett. Zwei Gäste wollten Nudeln mit Zucchinisauce und Schinkenstreifen, die anderen beiden wollten es bei der vegetarischen Variante belassen. Maria kam in die Küche zurück und wollte schon das Tablett schnappen. „Der Kuchen für Doolittle?“ Rosa blinzelte. „Äh, ah ja, da steht er ja. Ich war von meinem Herrnbesuch abgelenkt.“ Tina steckte den Kopf in die Küche. „Einmal Kartoffelcremesuppe, dreimal mit für Goldfuchs. Für Don Giovanni: zweimal ohne für die beiden Damen, dreimal mit für Herrn Nowak, Gerhard und ...“ „Richard“, sagte Rosa, die ihren Fleischtiger schon kannte. „Jonki fällt auch ständig über tote Tiere her. Das muss irgendwas mit den männlichen Genen zu tun haben“, sagte Maria im Vorbeigehen zu Tina und eilte mit den bereits fertigen Gerichten zu den wartenden Gästen.

3

Jonki stand vor dem Spiegel in einem der Schlafzimmer der 300 m² großen Dachwohnung im Gründerzeithaus der Stiftung Winkelhausen. Der PR- und Modeberater von Communicate Pietro de Angeli hatte eines der freien Zimmer als Umkleideraum für seinen Kunden auserkoren. Nun stand er neben Johannes und verfolgte jede seiner Handbewegungen. „Wissen Sie eigentlich, wie oft ich die Krawatte meiner Ausgehuniform erfolgreich gebunden habe?“, fragte Johannes leicht genervt. „Pff! Ja, aber dort war Geradlinigkeit das oberste Gebot, wir üben hier das gewisse Etwas.“ Er griff in Jonkis Werk. „Außerdem beleidigen Sie diese handgefertigte Krawatte, wenn Sie Vergleiche mit niederen Lebensformen anstellen.“ Er drückte die Seide unter dem Knoten mit dem Daumen leicht nach außen. „Das ist perfekt. Diese kleine Falte und der leichte Bogen nach außen.“ Pietro überprüfte den Sitz des Konfektionshemdes. „Ja, vorerst passt es“, murmelte er und hielt Johannes die Jacke hin. Jonki hatten die Anzüge von Ermengildo Zegna im Regular Fit Style am besten gepasst und Pietro hatte laut Herrn von Bodens Auftrag fünf Stück in verschiedenen kühlen Schattierungen genommen. Seinem Schützling standen die Farben blau, kobaltblau und alle Grautöne. Der Anzug, der genau die Augenfarbe des jungen Mannes traf, begeisterte Pietro am meisten. Als Sohn italienischer Einwanderer musste er hingegen auf seinen olivfarbenen Hautton Rücksicht nehmen – zum gerechten Ausgleich konnte er aus der wesentlich bunteren Palette der eher herbstlichen Farben wählen.

Ein Dutzend Hemden, eine Handvoll Krawatten, Schuhe, Socken und Gürtel hatten Jonkis Erstausstattung abgerundet. „Gut, Giovanni, jetzt noch das Stecktuch. Bitte nehmen Sie immer eines, das ein anderes Muster hat als die Krawatte. Ecco.“ Pietro sah Johannes zufrieden an. Maestro Fabio hatte auf dem Struwwelkopf doch tatsächlich glatte Haare in einem beachtlich dunkel glänzenden Braun entdeckt und in eine Frisur verwandelt, die Jonkis kantigen Gesichtszügen ein jugendlich-männliches Aussehen verlieh. Johannes versuchte sich mit dem Mann im Spiegel anzufreunden. Er wusste gar nicht, dass er so etwas wie einen Seitenscheitel besaß und hegte Zweifel, ob er am nächsten Morgen annähernd ähnliche Ergebnisse erzielen würde. Er drehte sich um und sah zu den aufgehängten Sachen. „Muss ich auf irgendetwas aufpassen? Ich meine mit den Farbkombinationen?“

No, no. Es ist für den Moment alles so aufeinander abgestimmt, dass Sie auch im Halbschlaf hingreifen können. Wenn Sie dann mehr Übung haben, dann können wir Ihre Garderobe ausbauen.“ Johannes sah Pietro an, der für diesen Tag ein hellgelbes Hemd zu einem braunen Anzug kombiniert hatte. Die kontrastreichen Farbtupfer setzten eine petrolfarben-gelb gemusterte Krawatte und ein konträres Stecktuch. „Ja, kommen Sie in zehn Jahren wieder vorbei. Bis dahin habe ich das Anfängerstadium in dieser hohen Kunst vielleicht hinter mir gelassen.“ Der PR-Berater lachte schallend. „Sie haben einen sehr hellen Kopf auf Ihren breiten Schultern sitzen. Sie haben das im Handumdrehen gelernt.“ „Mmh“, brummte Jonki noch immer nicht überzeugt. Er sah an sich herab. „Gut, dann werde ich diese Teile gleich zu meinen Kunden ausführen.“

„Ich habe dich doch gar nicht geküsst, Märchenprinz.“ Maria war von der Universität zurückgekommen und stand in der Tür. Sie lächelte Jonki an und sah dann zu Pietro. „Oder haben Sie ihn geküsst?“, feixte sie. Pietro hob abwehrend beide Hände. „No, no, no. Ich mache das nur bei Männern, von denen ich ganz sicher bin, dass sie nicht vergeben sind.“ Er verbeugte sich. „Pietro de Angeli, bella ragazza, zu Ihren Diensten.“ Maria ging mit einem Lächeln auf ihn zu, reichte ihm die Hand und stellte sich vor. „Maria Hellwag. Sie dürfen bei mir bitte nächste Woche die gute Fee spielen.“ Sie drehte sich zu Jonki und legte ihm die Arme um den Nacken. „Ich weiß zwar nicht, wer Sie sind, aber ich kriege bei Ihrem Anblick so schwache Knie, dass Sie mir bitte gestatten müssen, mich in Ihre Arme zu werfen. Du siehst toll aus“, flüsterte sie ihm zu. Johannes gab ihr einen Kuss und lächelte dann. „Was soll ich denn machen, wenn mir das nicht nur mit Ihnen passiert, schöne Frau?“ Maria verengte die Augen. „Denk nicht einmal dran.“

Pietro klatschte zufrieden in die Hände. „Gut, Giovanni. Für heute sind wir fertig. Maria, ich freue mich schon auf unseren gemeinsamen Tag.“ Er sah sie kurz an. „Ich werde Sie in eine Sommerprinzessin verwandeln.“ Seine Augen flogen zu Johannes. „Auguri, meine Glückwünsche für Sie beide. Fortuna hat zwei perfekt passende Puzzlesteine zu einem sehr hübschen Gesamtbild zusammengesetzt.“

Johannes hätte den Nachmittag lieber mit Maria verbracht, doch Herr von Boden hatte um eine Unterredung gebeten und dann wartete ein Kunde auf ihn, der mit seinem neuen Computer nicht zurechtkam.

„Danke für Ihre Zeit, Herr Ennberg.“ Herr von Boden bat Jonki auf dem Sofa im Büro Platz zu nehmen. Dann machte er etwas für ihn völlig Ungewöhnliches. Er formte seine Hand zum Daumen-Hoch-Zeichen und lächelte breit. „Mein Kompliment, Herr Ennberg. Herr de Angeli hat nicht zu viel versprochen.“ Johannes lächelte, doch das Thema langweilte ihn mittlerweile. „Sie wollten mich sprechen, Herr von Boden?“ Der Sekretär von Marias Großtante setzte sich gegenüber hin. „Sie wissen ja, dass es um die Gesundheit der Gräfin von Vils-Taufenberg nicht gut bestellt ist.“ „Ja.“ Johannes nickte. „Maria sagte etwas von der Lungenkrankheit COPD. Angenehm klang das nicht.“

Herr von Boden schüttelte den Kopf. „Nein, das ist es fürwahr nicht. In mehr oder weniger großen Abständen treten Exazerbationen auf. Das ist eine Art Schub, der den Zustand noch verschlimmert.“ Jonki hob die Augenbrauen. „War die Gräfin deshalb in den letzten Tagen bettlägerig?“ „Ja, und es sieht nicht gut aus.“

Johannes sah einen riesigen Stein zentnerschwerer Verantwortung auf sich zurollen und holte tief Luft. Der Sekretär hatte die Fingerspitzen aneinandergelegt und sah den Hoffnungsträger der Stiftung ernst an. „Es ist ein sehr großer Wunsch der Gräfin, dass sie Marias Hochzeit noch miterleben kann.“ „Wie? Ich soll Maria so schnell wie möglich heiraten?“ „Ja, würde Ihnen der 15. Juli passen?“ „Wie bitte? Das ist ja in wenigen Wochen. Wie soll sich das so schnell ausgehen?“

Herr von Boden legte ein Samtkästchen vor Johannes hin. „Hier ist der Verlobungsring aus der Familie Vils-Traunberg. Ich habe mir erlaubt, den Juwelier schon mit der Anpassung an Fräulein Hellwags Ringgröße zu beauftragen. Die Gräfin hatte ihr diese Information einmal während eines Gespräches entlockt.“ Johannes nahm das Samtkästchen und ließ es aufschnappen. Der Verlobungsring war als wunderschöne silberne Rose gearbeitet. „Die Blütenblätter sind aus Weißgold und zusätzlich mit kleinen Brillanten verziert. In der Mitte wurde zusätzlich ein Einkaräter eingefasst“, erklärte Herr von Boden.

„Dieser Ring passt perfekt zu Maria“, murmelte Jonki. Er sah auf und merkte, dass Herr von Boden noch ein zweites Kästchen über den Glastisch zu ihm geschoben hatte. „Die Eheringe der letzten Freiherren von Winkelhausen, Fräulein Hellwags Urgroßeltern. Der Ring der Braut ist schon fertig, Ihre Maße müssen wir noch anpassen.“ Johannes sah hinein. „Auch Weißgold?“ „Ja, das ist eine Familientradition.“

Der größere Ring war ein schlichter Reif, während der Ehering für die Frau eigentlich zwei zusammengesetzte Ringe waren, wobei der schmälere quer über einen zweiten gearbeitet war. Im breiteren Ring waren fünf Brillanten nebeneinander eingesetzt worden. „Wofür sind die kleinen Steine?“, wollte Jonki wissen, obwohl er es schon ahnte. „Die Kinder.“ „Fünf Kinder? Ist das hoffentlich keine Vorgabe?“ „Nein. Das war damals üblich und es haben ja auch nur die zwei Töchter das Erwachsenenalter erreicht.“ Herr von Boden griff nach einem Zettel. „Hier habe ich einige Vorschläge von möglichen Austragungsorten zusammengestellt, die für den fraglichen Tag noch verfügbar sind.“ Es folgte der nächste Zettel. „Hier sind Menüvorschläge, dann die Adressen von zwei Blumenausstattern. Wollen Sie mit dem Segen der Kirche heiraten?“ „Was immer das heißen mag. Ich habe keine Ahnung. Vielleicht ist es Maria wichtig.“

Er gab Johannes einen weiteren Zettel. „Hier notieren Sie bitte die Gäste, die von Ihrer Seite kommen. Für Fräulein Hellwags Seite hat es die Gräfin schon erledigt. Es kommen noch die Freunde dazu, die Fräulein Hellwag einladen möchte.“ Johannes, dem alles etwas zu schnell ging, blies genervt die Luft aus. „Wie immer haben Sie alles top organisiert, Herr von Boden. Die Hochzeitsnacht darf ich aber schon nach meinen Vorstellungen gestalten oder haben Sie da auch eine Anleitung für mich?“

Der Sekretär holte Luft und senkte den Kopf. Er hatte Mühe, ein Schmunzeln zu unterdrücken. Doch dann gab er es auf und grinste sein Gegenüber an. „Heißt das, dass Sie einverstanden sind?“, fragte er hoffnungsvoll. Johannes legte die Papiere zur Seite und nahm die Schachtel mit den Eheringen. Er löste den Ring für den Bräutigam vorsichtig heraus und steckte ihn an seinen rechten Ringfinger. Er saß etwas locker. Jonki wartete, ob eine Welle der Panik über ihn schwappte. Er drehte den Handrücken zu sich und schaute den Ring nachdenklich an. Eine kleine Narbe am Fingerknöchel erinnerte ihn daran, wie hart er mit Ludwig um Maria gekämpft hatte. Statt der erwarteten Angst strömte ein tiefes Gefühl der Zufriedenheit durch seinen ganzen Körper. Er hob den Kopf und sah Herrn von Boden aus strahlend grauen Augen an. „Ja.“ Herr von Boden nickte sehr zufrieden und hatte dann noch eine Mappe für Johannes. Jonki hob skeptisch eine Augenbraue. „Die Regeln, wie wir unsere Kinder zu erziehen haben?“ „Nein, nein.“ Der Sekretär lachte. „Das sind ein paar mögliche Reiseziele für die Flitterwochen. Es wäre schön, wenn Fräulein Hellwag und Sie dabei etwas Zeit für die Stiftung erübrigen könnten.“ Johannes schlug die Zusammenstellung auf. Bunte Bilder aus Indien, Brasilien, Namibia und Vietnam sprangen ihn an. Bei jedem Land waren zwei bis drei Institutionen aufgeführt, die Unterstützung brauchen konnten: Waisenhäuser, Schulen, Beratungszentren für Schwangere, Unterkünfte für Mütter in Not und Kinderkliniken. „Maria wird das sehr gefallen. Sie studiert ja nicht nur Heil- und Sonderpädagogik, sondern fährt seit einigen Jahren als Betreuerin in ein Sommerferienlager für Kinder mit“, erzählte Jonki dem Sekretär. Dann fragte er: „Wir sollen uns vor Ort über die Projekte informieren?“ „Ja, wir brauchen eine genaue Dokumentation. Unterlagen, Fotos, Gespräche mit den Verantwortlichen und eine Erfolgsbilanz.“ „Wie zieht man eine Erfolgsbilanz bei einem Kind?“, hakte Johannes erstaunt nach. „Wenn es von der betreuenden Einrichtung zum 18. Geburtstag gesund und ausgebildet in sein Leben entlassen werden kann. In Rumänien können die Kinder zwischen allerlei Handwerksberufen wählen, werden in Haushaltsführung angeleitet und lernen in einer Gemeinschaft zu leben.“ Johannes nickte schwach. „Ja, ich erinnere mich an eine Dokumentation im Fernsehen. Eine Zeit lang war Bukarest von ausgesetzten Dreijährigen geradezu überschwemmt.“ Er holte Luft. „Wahnsinn. Einige Eltern haben ihre Kinder in den Dörfern einfach in den Zug Richtung Hauptstadt gesetzt und ihrem Schicksal überlassen. Dreijährige!“ „Ja, unter Ceauşescu war es nicht sehr verbreitet zu verhüten. Den Leuten fehlten auf der einen Seite die Mittel und Möglichkeiten. Auf der anderen Seite nahm Vater Staat seinen Bürgern jeglichen Gedanken an eine vernünftige Familienplanung ab. Überzählige Kinder konnten jederzeit in die Hände staatlicher Einrichtungen übergeben werden. Nach dem Zusammenbruch des Regimes fielen diese Institute aber wie Dominosteine um. Es dauerte mehr als ein Jahrzehnt, bevor in der Bevölkerung ein Umdenken einsetzte. Die Situation im Land hat sich insgesamt etwas gebessert, aber es leben nach wie vor etliche Straßenkinder in der Kanalisation oder an noch schrecklicheren Orten. Viele versuchen ihrer Misere zu entfliehen, indem sie an Klebstoff oder Benzin schnüffeln. Die Kinder, die gefunden und aufgenommen werden, sind unterernährt, haben oft schwere gesundheitliche Probleme, eingeschränkte Kommunikationsfähigkeiten und sind überhaupt nicht sozialisiert. Wir versuchen ja mittlerweile schon direkt in die Dörfer zu gehen und betroffenen Familien unsere Hilfe anzubieten, bevor es zur Katastrophe kommt.“ „Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, Herr von Boden. Die Stiftung und Sie leisten wertvolle Arbeit und Sie haben Marias und meine Zusage, dass wir uns nach Kräften einbringen werden, aber die Leute vor Ort, die sich dieser verwahrlosten Kinder tatsächlich annehmen, haben meinen größeren Respekt.“ Herr von Boden sah Jonki sehr zufrieden an.

Bevor Johannes zu seinem Kunden gehen wollte, hatte er noch eine Frage an den Sekretär. Er zog eine Visitenkarte aus der Sakkotasche. „Ich habe gleich einen Termin bei diesem Kunden. Wie will er angesprochen werden?“ „Baron.“ „Aha, und nicht Herr Baron?“ „Nein, Sie stehen auf einer Ebene. Herr Baron sollte nur das Personal sagen.“ Herr von Boden tippte auf die Karte. „Baron von Walserheim ist ein älterer Herr und sehr konservativ. Wenn Sie Punkte machen wollen, dann stellen Sie sich als Johannes Ennberg ohne Tritt vor.“ „Ohne was, bitte?“ „Ohne Tritt. Damit stellen Sie sofort klar, dass sie keinen Adelstitel haben und mit Herr Ennberg angesprochen werden können.“ „Nur über meine Leiche.“ „Das wäre schade und auch völlig überzogen. Ich betonte ja, dass es zur freien Wahl stünde, Herr Ennberg.“

„Ohne Tritt …“, murmelte Jonki und verließ kopfschüttelnd das Palais. Er hatte sich mittlerweile so an das zu Fuß gehen gewöhnt, dass er sein Motorrad gar nicht mehr so vermisste wie am Anfang. Neben seinen Tagen im Gefängnis war der Verlust seiner Maschine die größte Niederlage gewesen, die ihm Ludwig zugefügt hatte. Er hatte sein Motorrad im Pfandhaus versetzen müssen, um seine Finanzlöcher zu stopfen und die Geräte zu ersetzen, die Ludwig bei seinem überstürzten Aufbruch freundlicherweise mitgenommen hatte. Jonkis Blick fiel auf sein Spiegelbild, das ein Auslagenfenster zu ihm zurückwarf. In diesem Aufzug könnte er auf keinen Fall fahren. Er runzelte die Stirn und ging weiter. Wann würden sich dann noch Gelegenheiten ergeben? An den Wochenenden? Und, was würde Maria dazu sagen? Seine Mutter hatte seinem dringenden Wunsch nur nachgegeben, weil er seit seinem zehnten Lebensjahr auf ein eigenes Motorrad hingespart hatte. Auch jeden Verdienst aus seinen Praktika, die er während seiner Schuljahre auf der Informatikschule absolvieren musste, hatte er immer zur Seite gelegt. Rosa und Evelyn hatten Johannes den Autoführerschein zum achtzehnten Geburtstag geschenkt, doch den Motorradschein hatte er selbst zahlen müssen. Dass beide nicht besonders glücklich darüber gewesen waren, das wusste Jonki. Seine Mutter hatte ihn wissen lassen, dass Motorradfahrer auf der Hitliste der Organspender ganz oben standen. Jung, gesund, schneller Tod durch einen Genickbruch und sonst kaum zermatscht – ideale Voraussetzungen, um komplett ausgeweidet zu werden. Johannes seufzte. Der Gedanke, Maria zu heiraten, war Jonki nicht neu. Er hatte bereits wenige Tage, nachdem er ihr begegnet war, gewusst, dass diese Frau eine ideale Gefährtin fürs Leben war. Durch sie hatte sich sein Dasein in den letzten Monaten völlig verändert. War er denn bereit, auf sein Motorrad zu verzichten? Wäre ein Auto nicht viel sinnvoller?

Johannes hatte die Anschrift seines Kunden erreicht und klopfte mit dem altmodischen Messinglöwen an. Eine ältere Dame in noch altmodischerer Hausmädchenkleidung öffnete die Tür. „Ja, bitte?“

„Johannes Ennberg, guten Tag, ich habe einen Termin mit Baron von Walserheim.“ Die Haushälterin nickte und ließ Jonki eintreten. Der Gang war mit schmutzabweisenden Teppichen ausgelegt und an der Wand hingen alte Ölgemälde. „Wenn Sie bitte kurz hier Platz nehmen, ich werde dem Herrn Baron Ihr Erscheinen melden.“ Johannes nickte, aber er blieb stehen. Er bezweifelte, dass das angebotene Stühlchen sein Gewicht trug. Nach einer Weile kam die Haushälterin zurück. „Der Herr Baron lässt bitten.“ Sie führte ihn in ein Zimmer, das dem Hausherrn wohl als Büro diente – ein Schreckenskabinett für Halloween hätte nicht treffender eingerichtet sein können. Die Wände waren mit allerlei ausgestopften Tieren vollgehängt. Die schweren Samtvorhänge ließen kaum Licht herein und die dunklen Mahagonimöbel unterstrichen den Charakter einer Totenkammer. Johannes holte Luft. Er hasste dunkle und stickige Räume. „Guten Tag, Herr Ennberg“, kam es von einer näselnden Stimme aus einer Ecke. Ein korpulenter Herr wälzte sich aus einem Ohrensessel und ging auf Jonki zu. „Von Walserheim“, stellte er sich vor. Johannes war von Herrn von Boden gut vorbereitet. Er wusste, dass die hohen Herrschaften gern zu Understatement neigten. Aber nicht, weil sie keinen Wert auf die Titel legten, sondern selbstverständlich davon ausgingen, dass man sie richtig ansprechen würde. Jonki neigte kurz den Kopf, weil ihm der Ältere keine Hand anbot. „Baron, Sie haben mir am Telefon gesagt, dass Sie Hilfe mit Ihrem neuen Computer brauchen.“ Er sah sich um, doch nirgends stand ein Gerät. Der Baron zeigte auf einen Berg von Schachteln, die noch originalverpackt auf dem Boden standen. „Mein Neffe war der Meinung, dass ich diese Dinge auch endlich brauche, doch er findet leider keine Zeit für weitere Schritte.“ Johannes schwante Übles. „Für Sie ist alles neu, Baron?“ Ein kurzes Nicken bestätigte seinen Verdacht. Johannes ging vor dem Schachtelberg in die Hocke. „PC, Bildschirm, Tastatur, Maus, Drucker, WLAN“, murmelte er. Dann sah er auf. „Es ist alles da, was Sie brauchen. Wo möchten Sie das Gerät denn gern stehen haben?“ Der Baron sah sich um. „Geht es hier auf meinem Schreibtisch?“ Er zeigte auf ein Mahagonimonstrum, dass Jonki erst auf den zweiten Blick als Schreibtisch erkannte. Johannes richtete sich auf und ging zu dem Möbelstück. Der Tisch stand mitten im Raum und es stellte sich die Frage, wo er die geeignete Stromversorgung finden konnte. Er entdeckte das Kabel der Tiffanylampe und verfolgte es kurz. Unter dem Schreibtisch fand er eine Kupplung, die von einem Verlängerungskabel gespeist wurde, das unter einem dicken Teppich entlanglief und in einer einsamen Steckdose an der Wand endete. Johannes überschlug den Bedarf: Schreibtischlampe, PC, Bildschirm, Drucker vielleicht hier oder an einem anderen Platz. Der Baron schaute dem jungen Mann mit steigender Ungeduld zu. „Was suchen Sie eigentlich?“ Johannes‘ Kopf schoss nach oben. „Den Strom, Baron. Mit Petroleum laufen diese Dinge leider nicht.“

Der Baron grunzte unzufrieden und ließ sich majestätisch in seinen Ohrensessel sinken. Johannes ließ sich nicht beirren und suchte den Raum systematisch ab. Er schaute hinter die schweren Vorhänge, linste hinter eine wuchtige Kommode und verfolgte die Kabel der beiden Stehlampen. Dann nahm er sich noch einmal den Schreibtisch vor. Auf beiden Seiten des Sessels waren zwei Türen. „Darf ich bitte aufmachen?“ Johannes sah kurz zu seinem Kunden, der gelangweilt mit der Schulter zuckte. Jonki öffnete die Tür und fand dahinter Laden. Nachdem er fast in den Schreibtisch hineinkriechen musste, zog er sein Sakko aus und hängte es über den schweren Schreibtischsessel. Dann zog er die erste Lade heraus und stellte sie vorsichtig am Boden ab. Er nahm sein Mobiltelefon aus der Hosentasche, schaltete die Taschenlampe ein und leuchtete in den Bauch des Möbels. Die schwere Marmorplatte lag auf einem soliden Korpus, aber es gab hinten einen ungefähr vier Zentimeter großen Spalt. Johannes griff nach hinten und stellte fest, dass die Laden kürzer waren als das Möbel. Dann schaute er noch unter die unterste Lade und stellte fest, dass das Korpus auch nach unten hin offen war.

„Sind Sie jetzt endlich fertig, Herr Ennberg? Ich verstehe Ihr Handeln immer noch nicht.“ Baron von Walserheim trommelte mit den Fingern auf die Lehne seines Sessels. „Ja, ich bin fertig. Ich muss den PC, das ist das Hirn der ganzen Sache hier auf dem Schreibtisch unterbringen. Den Bildschirm können wir auf das Modell, das Sie haben, gleich draufstellen.“ Er hob die Hand und streckte drei Finger aus. „Dazu brauchen wir hier drei Steckdosen: Licht, PC, Screen.“ Er ging einen Schritt zur Kommode. „Der Drucker ist für WLAN geeignet und er kann hier stehen. Es gibt hinter dem Möbel zwei freie Steckdosen. Eine verwende ich für den Drucker und die andere für das WLAN.“ Johannes wandte sich zum Schreibtisch zurück. „Wenn wir die Geräte hier in diese Ecke hinstellen, mit dem Bildschirm etwas schräg, dann kann ich die Stromversorgung innen durch den Schreibtisch ziehen und das Kabel, das den PC mit dem Monitor verbindet, ebenfalls verstecken. Da Sie eine Funktastatur und eine Funkmaus haben, wird nicht ein einziges Kabel außen herunterhängen.“ Er zeigte auf die Rückseite des Schreibtisches. Der Baron sah Johannes lange nachdenklich an. Dann lächelte er das erste Mal, seit Johannes diesem Kunden begegnet war. „Jetzt weiß ich, warum Herr von Boden so begeistert von Ihnen ist.“ Er erhob sich, doch diesmal mit beachtlicher Geschwindigkeit. „Gut, machen wir das so. Was brauchen Sie? Ich schicke Frau Barbara gleich für diese Besorgung los.“ Johannes schätzte die Länge des Kabels ab. „Ein 4 m langes Verlängerungskabel mit mindestens vier Steckplätzen, eine Handvoll Kabelbinder und ein Teppichmesser zum Aufmachen der Kartons.“

Nach zwei Stunden, die sich für Jonki wie zwei Tage angefühlt hatten, konnte er endlich zurück an die frische Luft. Der Baron war mit den Lösungen hochzufrieden gewesen und hatte mit Johannes zehn Stunden Anfängerunterricht vereinbart. Jonki überlegte, ob dieser Job nicht eher etwas für Maria sein könnte. Er lächelte, als ihm die Episode einfiel, als sie ihm wie einem unterbelichteten Schüler und mit einer Engelsgeduld die richtigen Anredeformen auf Briefköpfen erklärt hatte. Ideal für den Herrn Baron! Dann fiel Jonki die Applikation ein, die er für Maria programmiert hatte. Sie wollte als Abschlussarbeit ein Computerspiel einreichen, bei dem Kindergartenkinder in der Zeit der ständigen Verfügbarkeit von Smartphones den Umgang mit Computermaus und Tastatur lernten. Auch das war perfekt. Johannes hatte sich im Gästebad den Staub abwaschen können und sich wieder richtig angezogen. Das nächste Mal würde er auf jeden Fall Jeans anziehen, wenn sich so eine Art von Auftrag am Horizont zeigte. Jonki hatte sein neues Ziel erreicht und ging in die Papierwarenhandlung. Während er unter und hinter den Möbeln des Barons herumgekrochen war, war in seinem Kopf die Idee herangereift, wie er seinen Heiratsantrag für Maria gestalten wollte. „Guten Tag, haben Sie bitte rote Papierherzen?“ Die Verkäuferin lächelte ihn selig an, doch schüttelte sie den Kopf. „Nein, es tut mir leid. Das führen wir nur am Valentinstag und vom Muttertag ist leider auch nichts mehr übrig.“ Sie zeigte auf einige schmale Laden. „Ich kann Ihnen einen roten Karton zum Ausschneiden mitgeben.“ Johannes stöhnte leise auf. Er hasste jede Art von Bastelei. Schere, Klebstoff und das ganze andere Zeug, das seine Schwester geradezu liebte, waren einfach nicht für ihn gemacht. Tina! Das liebe Schwesterlein hatte Johannes schon wissen lassen, was er für ein Riesentrottel wäre, wenn er Maria nicht zur Frau nahm. Dann sollte Fräulein Scharfe Zunge ihm auch gefälligst dabei helfen. Er holte sein Telefon aus der Hosentasche. „Ich mache bitte einen kurzen Anruf. Meine Schwester kann das nämlich besser als ich.“ Tina hob ab. „Hi, großer Bruder. Was gibt‘s?“ „Ich möchte Maria einen Heiratsantrag machen ...“ Johannes musste das Telefon weghalten, weil Tina vor Freude so laut quietschte. Die Verkäuferin seufzte und himmelte Johannes noch mehr an. „Hast du dich wieder eingekriegt, Schwesterherz, oder müssen wir weiter an meinem Tinnitus arbeiten?“ „Okay, okay. Ich bin schon still.“ „Mmh. Ich dachte, dass ich vom Schlafzimmer bis in die Küche einen Weg aus Papierherzen lege. Auf dem Frühstückstisch wollte ich eine Karte hinlegen und den Verlobungsring dazu ...“ „Du hast schon einen Verlobungsring?“, unterbrach Tina ihn. „Wie sieht er aus?“, wollte sie sofort wissen. „Eine Rose aus Weißgold mit einem Brillanten drin.“ Ein Seufzer von Tina, ein Seufzer von der Verkäuferin. Jonki verdrehte kurz die Augen. „Ich bin nun im Papiergeschäft, aber ich kann nur ganzen Karton bekommen, keine fertigen Herzen. Kannst du bitte das Ausschneiden übernehmen?“ „Ja, klar. Wann soll es fertig sein?“ „Heute Abend. Ich will sie am Wochenende fragen.“ „Heute? Wie viele Herzen brauchst du denn?“ Johannes sah ratlos drein. „Wie viele Herzen brauche ich?“, wiederholte er. „Du kennst unsere Wohnung. Wie viele Meter sind das ungefähr? Fünfzehn, zwanzig?“ „Mmh, gut, machen wir zwanzig Herzen. Hat das Geschäft auch goldfarbenen oder silbernen Karton?“ Jonki sah zur Verkäuferin. „Meine Schwester will wissen, ob Sie auch edelmetallfarbenen Karton haben?“ Ein Nicken und dann zeigte sie auf etliche Rollen mit bunten Bändern. „Es gibt auch eine Riesenauswahl an Bändern ...“, brummte Jonki. „Okay, ich merke, dass du wirklich Hilfe brauchst. Bist du im Bunten Kreisel?“ „Ja.“ „Gib mir zehn Minuten.“ „Meine Lieblingsschwester! Und bevor ich es vergesse. Die Hochzeit ist am 15. Juli.“ „Was? So bald schon? Kriegt ihr etwa ein Baby?“, quietschte Tina erneut ins Telefon. Jonki hielt es wieder weg. „Ja und nein. Marias Großtante geht es nicht gut.“ „Weiß Mama es schon?“ „Nein, ich wollte Maria zuerst fragen.“ „Gut, ich werde meinen Mund halten.“ Jonki hob die Augenbrauen. Seine Schwester? Und stillhalten? „Mein großer Bruder wird heiraten, mein großer Bruder wird heiraten ...“, hörte er Tina fröhlich singen. „Aber ein Baby plant ihr schon auch? Ich möchte so gerne Tante werden.“ Johannes atmete tief ein und holte seine Schwester so geduldig wie möglich von Wolke 7 herunter. „Sonnenkäfer, kannst du dich bitte wieder einkriegen? Lass mich Maria erst einmal heiraten. Es geht nur Amalia zuliebe alles so schnell. Sie hat nur noch wenige Monate zu leben. Darf ich mir mit dem Vaterwerden bitte noch Zeit lassen?“ „Okay, okay. Aber ich kann Brautjungfer sein?“ „Ja, du kannst Brautjungfer sein. Kommst du jetzt?“ „Bin ja schon unterwegs.“

4

Richard fuhr nicht in die Garage, sondern blieb mit seinem Land Rover auf dem Vorplatz stehen. Er wollte Neptun gleich in den Garten lassen. Er machte die Heckklappe auf, zog die Hunderampe heraus und wartete, bis der alte Labrador das Ende erreicht hatte. Richard war mit seinen Gedanken noch bei Communicate gewesen, doch beim Anblick seines Hauses gelang es ihm, langsam abzuschalten. Er verschloss das Auto und ging zur Eingangstür. Er legte den Finger auf den Leser und ging dann hinein. Rosas Handtasche, die von ihren Kindern den Spitznamen Mary-Poppins-Bag bekommen hatte, weil Rosa für alle Gelegenheiten das Richtige darin hatte, lag auf der Sitzbank. Normalerweise grüßte ihn seine Lieblingsfrau schon, wenn sie ihn am Freitagabend nach Hause kommen hörte, doch heute blieb es still. Richards Blick fiel auf eine glänzende Papiertragetasche, die auf den Boden gefallen war. Daraus hatte sich ein ansehnlicher Haufen von Informationsbroschüren auf das Parkett ergossen. Richard bückte sich danach und im selben Moment gefror ihm das Blut in den Adern. Chirurgische Schönheitskorrekturen? War sie noch bei Sinnen? Richard spürte, wie ihm der Zorn in die Glieder fuhr. Rosa wusste doch, dass er diese Absurditäten aus der Welt des schönen Scheins verabscheute. Wieso brachte sie dieses ganze Material nach Hause? Die Manie seiner Ex-Frau, ständig etwas richten zu lassen, wo es nichts zu richten gegeben hatte, saß Richard noch immer in den Knochen. Hatte sich Rosa auch von dieser Modewelle und seinen finanziellen Möglichkeiten infizieren lassen? Er merkte, dass er am liebsten losgebrüllt hätte. So konzentriert wie möglich atmete er ein und aus. Er massierte sich die Nasenwurzel und holte seinen Puls auf Normalgeschwindigkeit zurück. „Richard?“ Rosas Stimme klang schwach aus dem Wohnzimmer zu ihm. „Ist Neptun bei dir?“ „Nein. Er ist draußen.“ „Ah, gut. Mir ist in der Küche ein Malheur passiert ...“

Richard warf die Broschüren auf die Bank und ging mit raschen Schritten ins Wohnzimmer. „Liebling! Was ist denn los?“ Rosa lag ausgestreckt auf einem der Rauhledersofas. Ihre Augen waren verweint und sie hielt einen Kühlbeutel auf der Stirn fest. „Ich habe mich an einem Küchenkästchen angeschlagen. Eine Zeit lang sah ich nur Sternchen.“ Richard hob den Eisbeutel sanft an. „Autsch“, sagte er, als er die beachtliche Beule auf Rosas Stirn sah. „Ja, sehr autsch“, maulte sie. „Mir ist dann die Schüssel mit unserem Abendessen aus den Händen gefallen. Ich weiß leider nicht, wie es in der Küche aussieht. Deswegen fragte ich wegen Neptun. Es tut mir leid für die Schweinerei am Boden.“ Richard beugte sich vor und küsste sie. Dann richtete er sich auf und zog sein Sakko aus. Rosa nahm meistens etwas aus dem Mittagstisch für das Abendessen nach Hause mit. Zwei Behälter standen auf der Kücheninsel. Doch eines von Rosas Tuppergeschirren lag am Boden und irgendeine Beilage hatte sich in alle Ecken verteilt. Richard schloss den Hängekasten, der Rosa zum Verhängnis geworden war und holte einen Besen aus dem Haushaltsraum. Er hob das Tupper auf und machte sauber. Dann nahm er einen frischen Kühlbeutel aus dem Tiefkühler und brachte ihn Rosa. „Hast du deswegen geweint?“, wollte er wissen und strich ihr über die Wange. Ihr neuerlicher Tränenfluss beantwortete die Frage hinreichend. Richard hob ihre Beine kurz an, setzte sich zu ihr und legte ihre Füße auf seinen Oberschenkeln ab. „Was ist los, mein Liebling?“ Richard fischte nach seinem Taschentuch und hielt es Rosa hin. Verlegen wischte sie sich die Tränen weg. Sie schniefte herzzerreißend, bevor sie zu erzählen anfing. „Die Nachbehandlungen bei meiner Ergotherapeutin waren letzte Woche zu Ende. Meine Hand ist bis auf gelegentliche Nervenstörungen wieder in Ordnung.“ Rosa schaute auf ihre Narbe. „Sie schlug mir vor, dass ich mich wegen einer Narbenbehandlung beraten lassen solle und gab mir die Adresse eines Spezialisten.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Mir wäre so etwas nie eingefallen, aber heutzutage kann man schon sensationelle Ergebnisse erzielen. Meine Kaiserschnittnarben stören mich nicht, aber die Hand muss ich doch täglich anschauen.“ Richard merkte, dass er Rosa völlig grundlos verdächtigt hatte und ihm der Zorn umsonst eingeschossen war. „Was ist weiter passiert?“ „Ich habe nicht rechtzeitig gesehen, dass der Arzt auf Wiederherstellungs- UND Schönheitschirurgie spezialisiert ist. Der wichtige Herr Doktor hat eine eigene Kraft für die Erstellung der Anamnese und diese Tussi hat mich plattgemacht. Meine Anfrage wegen der Hand ging bei ihrem Gequatsche über Fettabsaugung, Lidstraffung, Oberschenkelkorrektur, Labioplastik, über Brustvergrößerung hin bis zur Verkleinerung fast unter.“ Richard schaute auf Rosas nette, sehr runde Oberweite und sein Blick sprach Bände: Wage es nicht! Rosa seufzte. „Ich war schon komplett durch den Wind, als ich endlich in die heiligen Hallen des Herrn Chirurgen gelassen wurde. Er ging dann sogar auf die Behandlungsmöglichkeiten für meine Narbe ein. Aber am Schluss wollte er wissen, ob ich über das ganze Programm informiert worden sei.“ Plötzlich hob sie verschmitzt die Mundwinkel. „Ich sagte ja, aber eigentlich hätte ich nur einen dringenden Wunsch.“ Richard sah sie angespannt an. „Ich erzählte dem Onkel Doktor, dass ich jeden Abend Wahnsinnssex hätte, mit multiplen Orgasmen und dabei so schreien würde, dass mein armer Geliebter schon ernste Hörprobleme zu fürchten hätte. Nun sei es aber so, dass ich einen Heiratsantrag bekommen hätte, der mich zu einer ehrbaren Frau machen würde. Meine Familie würde mich gerne als Jungfrau in die Ehe geben und ich bräuchte dringend eine Hymenrekonstruktion.“ Richards Schultern bebten vor Lachen. „Du bist wundervoll. Aber wieso hast du geweint? Du hast den Trottel doch fantastisch durch den Fleischwolf gedreht.“ Sie nickte schwach. „Ja, er war ganz rot im Gesicht, als ich ging.“ Rosa schniefte wieder. „Es waren zwei von den verhungerten Fischgräten, die im Wartezimmer über ihre Unzulänglichkeiten jammerten. Ich ging an ihnen vorbei und die eine sagte ziemlich laut zur anderen, dass ich ja diverse Eingriffe dringend nötig hätte. Ich hatte einfach nicht mehr die Kraft, mich zur Wehr zu setzen.“ Sie hob leicht die Schultern. „Sie sind ja schon mit sich selbst gestraft genug.“ Richard streichelte seiner wunderbaren Gefährtin über die Oberschenkel. „Mein Liebling, du bist perfekt. Das weißt du. Ich will jeden knuddeligen Zentimeter von dir genauso haben, wie er ist. Wenn ich eine magere Kunstpuppe wollte, müsste ich nur auf die nächste Vernissage gehen.“ Rosa lächelte schwach. „Danke, bester aller Männer. Normalerweise vergesse ich nie darauf, aber heute war ich so verwirrt, dass ich mich anhaute und dann das Essen fallen ließ.“ „Was war denn für heute geplant?“ „In dem anderen Geschirr ist eine Fleisch-Gemüse-Sauce. Die Beilage war Tarhonya, dieser Reibteig aus Ungarn. Als Nachspeise Erdbeer-Joghurt-Creme.“ „Geht diese Sauce auch mit Spaghetti?“ Rosa nickte. „Gut, die werde ich auch noch hinkriegen.“ Er sah sie liebevoll an. „Und wegen deiner Hand gehe bitte zu einem anderen Arzt, der sich wirklich damit auskennt. Ich gebe dir dann die Adresse.“ „Du? Mit deiner Abneigung?“ Rosa sah ihn mit großen Augen an. Richard nickte. „An dieser Stelle schließt sich der Kreis zum Thema Handtücher.“ Er holte Luft. „Während der Scheidung kam ich dahinter, dass die Putzfrau Verena immer noch brühwarm alles erzählte, was ich tat und was nicht. Ich entließ diese Frau auf der Stelle und hatte keine Zeit, so schnell jemand anderes zu finden. Nachdem ich wirklich durch den Wind war, passte ich an einem Morgen beim Joggen nicht auf und bin rücklings über einen Hügel hinuntergebrettert. Mein ganzer Rücken war eine einzige Schramme. Ich stellte mich zu Hause unter die Dusche und wusch einmal die ganze Erde ab. Da ich alleine war, konnte ich die Sache nur mangelhaft desinfizieren und vertraute auf meine Tetanusimpfung.“ Rosa sah ihn ehrlich erschrocken an. Richard hob die Augenbrauen. „Grundsätzlich verheilte alles ganz gut, aber dann blieb ich mit dem Bademantel an einer ziemlich großen Kruste hängen. Ich hatte das Teil sicher mehrere Wochen nicht gewaschen und die Bakterien feierten schon eine wilde Party.“ Er fuhr sich mit der Hand übers Kinn. „Ich handelte mir einen Infekt mit irgendeinem Staphylococcus ein, der nur mit einer wochenlangen Antibiotikabehandlung wegzukriegen war und ich entging sehr knapp einer Blutvergiftung. Die betroffene Stelle war eine Kraterlandschaft. Es hätte mich nicht weiter gestört, aber mich machte sogar der Hemdenstoff wahnsinnig. Es hat immer gescheuert. Es ging mir erst nach etlichen Laserbehandlungen besser.“ „Ist das die helle Stelle auf deiner Schulter?“ Richard nickte. „Ich hoffe, du verstehst mich jetzt besser, wenn ich allein bei den Worten gebrauchtes Handtuch oder gebrauchter Bademantel ausflippe.“ „Es wundert mich, dass der Arzt den Zusammenhang erkannt hatte.“ „Wir sind alle Möglichkeiten durchgegangen. Da war viel dabei. Das Haus war ein Sauhaufen. Zum Glück fragte der Arzt auch nach meiner Textilhygiene. Damit sind wir draufgekommen. Noch am selben Tag rief ich beim Arbeitsamt an und so kam ich zu Lou. Wenn man ihn auf der Straße sieht, würde man ihm nicht einmal zutrauen, dass er überhaupt weiß, was eine Waschmaschine ist. Aber er spielt jede Haushälterin mühelos an die Wand.“ „Ja, ich weiß. Keiner hat ihm eine zweite Chance gegeben. Er hegt eine Art Heldenverehrung für dich. Und das Haus ist blitzsauber.“ „Apropos sauber.“ Richard sah Rosa an. „Kann ich diesen grauenhaften Mist aus dem Vorzimmer ins Altpapier befördern?“ „Ich hatte das noch?“, fragte Rosa entsetzt. „Ja, in hohem Bogen. Aber, ich glaube, das ist eine Art giftiger Sondermüll.“

Tina hatte Jonkis Idee weiterentwickelt und nun saßen sie in der Küche der Ennberg-Wohnung. Auf dem Küchentisch lagen mehrere Kartons in Silber und Rot bereit, dazu passende Geschenkbänder und ein Kinderbastelset für Filzblumen. Tina hatte die Schachtel geholt, in der sie ihre Bastelutensilien aufbewahrte. Aufgrund ihrer Leidenschaft für Marienkäfer, der sie in Kombination mit ihrer fröhlichen Art den Spitznamen Sonnenkäfer verdankte, hatte jedes Teil irgendein entsprechendes Dekor. Auf der Federschachtel, in der sie ihre Filzstifte aufhob, tanzten genauso viele Käfer wie auf einer Mappe, in der sie verschiedene bunte Papiere aufbewahrte. Tina zeigte auf das Set. „Von hier nehmen wir nur die weißen und die roten Blüten. Die anderen Farben kann ich dann einmal bei einem Geschenk für Mama verwenden.“ Sie nahm ein Stück gebrauchtes Papier, faltete es in der Mitte und schnitt mit einer Marienkäfer-Bastelschere eine Herzhälfte aus. Dann klappte sie es auf. „Okay. Diese Grundform passt für die großen roten Herzen.“ Sie hielt Jonki die Vorlage hin. Dann gab sie ihm einen Marienkäfer-Bleistift. „Schau, dass du so viele Herzen wie möglich auf einen Bogen Karton draufzeichnen kannst.“

Ihr großer Bruder tat wie geheißen und murrte ausnahmsweise einmal nicht dabei. In der Zwischenzeit bereitete Tina eine kleinere Form für die silbernen Herzen vor und probierte etwas mit einem der Geschenkbänder aus. Sie formte ein Blümchen und nahm ihre Heftmaschine, die ebenfalls als kleiner Marienkäfer gearbeitet war. Jonki erkannte das Teil wieder, das er Tina einmal zum Geburtstag geschenkt hatte. Grisu und er waren sehr dankbar für dieses Sujet, mit dem sie ihrer Schwester mit 100 %iger Garantie eine Freude bereiten konnten. „Das hast du immer noch?“, fragte er, während er sich mit einem der Herzen abmühte. „Ja, freilich. Wird gehegt und gepflegt, kriegt dreimal täglich Futter und darf zweimal ausfliegen.“

Jonki lachte leise und merkte dann, dass sein Mobiltelefon den Eingang einer Nachricht anzeigte.

M: Gemeinsames Abendessen?

J: Leider nein. Muss noch was erledigen.

M: Okay, dann gehe ich zu Amalia.

J: Okay. Αα.

M: Σπ.

Jonki lächelte. Tina sah Marias letzte Nachricht aufflammen sehen. „Wieso schreibt sie dir auf Griechisch?“ Ihr Bruder grinste. „Du kennst doch das Programm, das ich für Maria gemacht habe?“ Tina nickte. „Ja, bei jedem Buchstaben, den das Kind drückt, erscheint ein Bild passend zum Anfangsbuchstaben.“ „Mmh. Beim X hatte ich keinen besonderen Wert auf tiefergehende Recherchen gelegt und meiner Frau Oberlehrerin missfiel das Metallophon.“ „Tz, tz. Xýlos heißt Holz.“ „Mmh, ja, danke. Das weiß ich mittlerweile auch. Maria beschloss also, mich von meinem Techniker-Neandertaler-Dasein zu heilen. Sie will mir unbedingt zumindest ein paar Brocken in Griechisch beibringen. Ich will mir natürlich nichts davon merken. Nur ein paar Sachen: Mit Αα kürze ich die Wörter Liebe und Ewigkeit ab.“ Tina seufzte. „Agápi und aioniótita. Und sie hat dir S‘agapó polý geantwortet. Ich liebe dich sehr.“ Sie hob erstaunt die Augenbrauen. „Euch beide hat es ja mächtig erwischt.“ Jonki grinste. „Yep. Deswegen sitze ich jetzt auch hier und zeichne Herzchen.“ „Auf Koreanisch heißt es naneun neoleul salanghae“, sagte Tina leise, während sie einen Marienkäferkörper aus einem schwarzen Karton schnitt. „Wie geht es dir beim Studium?“, erkundigte sich Jonki. „Ja, ganz gut. Ich bin hoffentlich bald mit dem ersten Abschnitt fertig. Dann möchte ich mich auf Wirtschaft und Tourismus spezialisieren.“ „Träumst du immer noch von einem Job bei der UNO, Sonnenkäfer?“ „Ja, daran hat sich in den letzten sieben Jahren nichts geändert. Ich musste keine Minute überlegen, diese Kombination aus humanistischem und sprachwissenschaftlichem Zweig in der Schule zu wählen.“ Tina nahm rote Kartonreste aus ihrer Mappe und im Nu hatte sie zwei Flügel herausgeschnitten. Nachdem sie sogar einen Locher in Form ihres Lieblingsinsekts hatte, verwendete sie ihn, um schwarze Punkte auszustanzen. Sie kramte in ihrer Kiste nach schwarzen Pfeifenreinigern, maß zwei Stücke ab und formte putzige Fühler.

„Macht es dir eigentlich etwas aus, in der Wohnung ganz allein zu sein?“, fragte Jonki unvermittelt. „Nööö! Es ist herrlich. Mama ist ja unter der Woche jeden Abend da und betüdelt mich, Richard holt sie kurz vor acht ab. Manchmal essen wir auch gemeinsam zu Abend. Ich genieße es, dass ich den Fernseher für mich habe. Das italienische RAI Uno ist ganz in Ordnung, aber ich schaue auch gerne mal etwas auf einem anderen Kanal an. Und es meckert keiner, wenn ich im Bad länger brauche.“ Sie schenkte ihrem Bruder einen bösen Blick. „Wenn ich mich allein fühle, brauche ich nur zu Evelyn gehen. Alles perfekt.“ „Mmh“, brummte Johannes beruhigt. Er sah auf und sein Blick fiel auf die leere Katzenfutterschüssel. „Lässt sich Sir John eigentlich noch blicken?“, wollte er wissen und bezog sich damit auf den riesigen gelbgestreiften Kater, der die Familie Ennberg gelegentlich mit seiner Anwesenheit beehrte. Johannes hatte ihm den Namen vor zehn Jahren spontan gegeben, weil er eine frappante Ähnlichkeit mit Shakespeares Figur Falstaff hatte. Seine Schwester schüttelte den Kopf. „Nein, er ist wahrscheinlich immer noch beleidigt, weil Mama ja einmal Neptun hierherbringen musste, als Richard in London war.“ Sie runzelte die Stirn. „Und ich bin immer noch böse auf Sir John. Es war völlig unnötig, dem armen Neptun die Schnauze so zu zerkratzen. Mama meinte gestern zu mir, dass sie das restliche Futter bald ins Tierheim bringen wolle. Hier verstaubt es ja sonst nur.“ Tina holte mehrere Klebstoffsorten aus ihrer Bastellade und entschied sich für eine Tube. Nach einigen Tupfern Klebstoff war der Marienkäfer aus Papier fertig. Sie nahm noch zwei weiße Reste aus dem Locher und verpasste dem Insekt fröhliche Augen. „Ich biege jetzt noch die Flügel auf und hefte sie fest. Du gibst dann den Ring hinein.“ Jonki nickte. Tina drehte ihr Werk mit einem zufriedenen Lächeln vor sich hin und her. „Mit dem kleinen Freund hier deckst du sehr viele Botschaften ab. Du nimmst nicht nur auf ihren Vornamen Bezug, sondern die sieben Punkte stehen auch für eine heilige Zahl. Der Marienkäfer gilt als Krafttier, das neue Hoffnung schenkt, eine glückliche Zeit ankündigt und auch gutes Gelingen bei allen Vorhaben verspricht.“ „Dann kann ja nichts mehr schiefgehen.“

Kurz vor Mitternacht kam Jonki nach Hause. Zum Glück hatten die Geschwister noch einige Sachen aus dem Mittagstisch im Eiskasten gefunden und Jonki hatte sogar recht ordentlich zu Abend gegessen. Er machte einen Abstecher ins Büro der Stiftung und nahm den Verlobungsring von Herrn von Bodens Schreibtisch mit. In der Wohnung ging er zuerst in das Zimmer, in dem sein Gewand hing, gab den Papiersack mit allen Basteleien in den Schrank und legte Tinas Anleitung dazu. Die roten und die silberfarbenen Herzen würde Johannes vom Schlafzimmer bis in die Küche abwechselnd auf den Boden legen, mit Filzblumen dazwischen. Für den Küchentisch hatte er mit Tina ein ganzes Arrangement aus Filzblumen, Geschenkbandblumen und kleineren Herzen zusammengestellt. Seine Schwester hatte auch noch glitzernde Glassteine beigesteuert. Auf einem Pfeil stand in Tinas schöner Kalligraphie: Happily ever after? Dann sollte ein Pfad aus allen Dekorstücken zu einem zweiten Pfeil folgen, auf dem Starts here stand. Dort würde dann der Marienkäfer mit dem Ring im Bauch sitzen.

Johannes zog sein Sakko aus und warf einen Blick ins gemeinsame Schlafzimmer, doch Marias Seite war noch leer. Er ging zurück zum Lift und fuhr ins Halbgeschoss, wo Amalias kleine Wohnung lag. Die Eingangstür war einen Spalt offen und er ging leise hinein, um Amalia nicht zu wecken. Das Schlafzimmer von Marias Großtante lag gleich anschließend an einen kurzen Korridor, in dem ein gedämpftes Licht brannte. Amalia lag auf mehreren Polstern halbsitzend im Bett. Sie konnte so leichter atmen und schien ruhig zu schlafen. Maria saß mit angewinkelten Beinen in einem Polstersessel neben dem Bett und war eingenickt. Johannes ging zu ihr und bückte sich. „Schönes Fräulein darf ich‘s wagen, Sie nach oben zu tragen“, flüsterte er ihr zu. Maria schlang im Halbschlaf ihre Arme um ihn, er fädelte seinen linken Arm unter ihre Beine und hob sie hoch. „Ich wollte nicht ohne dich schlafen gehen“, murmelte sie. „Ja, Prinzessin, jetzt bin ich wieder da. Morgen kannst du ausschlafen.“ Johannes trug Maria hinaus auf den Gang. Bei der Tür drehte er sich um und gab dem Flügel einen leichten Schubs mit dem Fuß. Amalia hatte die Augen in dem Moment aufgeschlagen, als Johannes ihre Großnichte aus dem Zimmer trug. Sie ließ ihre schweren Lider wieder zufallen und lächelte zufrieden. In ihren Gedanken formte sie ein kurzes Gebet: Gütiger Gott, schenke mir bitte noch den 15. Juli.

5

Verena warf die alte Ausgabe der Cosmopolitan genervt auf das Hotelbett. Sämtliche Ratschläge aus dem Artikel ‚Wie angle ich mir einen Millionär?‘ hatten nichts gefruchtet. Sie hatte sich mit viel Mühe Eintritt zu etlichen Benefizveranstaltungen verschafft, war zu jeder besseren Vernissage gegangen und stundenlang auf dem Golfplatz gewesen. Zu einem Firmenevent, auf dem sie als Hostess gearbeitet und Richard kennengelernt hatte, hatte sie keinen Zugang mehr. So waren ihr nur die anderen Orte geblieben, die die Autorin des Artikels als bombensichere Lösungen vorgeschlagen hatte. Nichts! Kein einziger würdiger Kandidat hatte ihre Wege gekreuzt. Als letzten Strohhalm hatte sie sich die aktuelle Ausgabe des Managermagazins besorgt und jeden Namen auf der Liste der reichsten Männer im deutschen Sprachraum gegoogelt. Verheiratet, vergeben, verheiratet, vergeben, geschieden, aber zu alt, verheiratet. Bei ihrem Ex-Mann Richard brauchte sie nicht nachzusehen. Er war fix vergeben. Ihr Anlauf, ihn zurückzugewinnen, war zu ihrem persönlichen Harmageddon geworden: Seine neue Frau war in allen Belangen das genaue Gegenteil von ihr. Noch deutlicher hätte seine Botschaft nicht ausfallen können. Nun hing auch noch das Damoklesschwert eines finanziellen Desasters über ihr. Richard hatte irgendwie herausgefunden, dass er nicht Rebeccas Vater gewesen war und hatte ihr mit einer Neuabwicklung des Scheidungsverfahrens gedroht. Wie sollte sie fünf Millionen auftreiben? Ein großer Teil steckte im Penthouse, das sie bis vor kurzem selbst bewohnt hatte, doch nun vermieten musste, um ihre laufenden Ausgaben zu decken. Den Rest hatte sie in ihr Aussehen, in eine kleine Pensionsvorsorge und in ihr Luxusleben investiert. Ihr Gehalt aus ihrem Job bei PR-Brand hatte schon vorher gerade einmal für die Fixkosten gereicht. Nun hatte sie nicht einmal mehr ihre Arbeit und der Skandal rund um das mitten am Set kollabierte Model hatte Verenas guten Ruf komplett zerstört. VV – Verena Veith stand in der Werbebranche nicht mehr für Qualität und Professionalität, sondern war über Nacht zum Brandzeichen einer Aussätzigen mutiert. Die Welt der PR war schnelllebig, urteilte ohne Zeitverzug und hatte dennoch ein langes Gedächtnis.

Verena zog eine Schnute. Sie hatte zwei große Probleme: Sie musste so schnell wie möglich einen neuen Gönner auftreiben, wobei ihr Alter und die wesentlich jüngere Konkurrenz die Sache nicht einfacher machten. Das zweite Problem war Richard. Wie konnte sie verhindern, dass er ihren Ehebetrug vor Gericht geltend machte und die Abfindung zurückfordern konnte. Sie trommelte mit den Fingern auf ihren Oberschenkel. Wie hatte er es überhaupt herausgefunden? Er hatte etwas von einem Gentest gesagt. Wann hatte er ihn machen lassen? Die Kleine hatte ja nur wenige Tage gelebt. In diesen wenigen Stunden hatte sich Richards Sorge doch nicht um den Beweis seiner Vaterschaft gedreht? Verena konnte bis heute nicht begreifen, warum sich der Ewig-Saubermann Richard Felsinger von ihr hatte scheiden lassen. Sie war sich seiner absolut sicher gewesen. Was hatte sie falsch gemacht? Die drängendste Frage blieb aber: Was konnte ihm diese neue Frau geben, was sie selbst nicht hatte?

Verena blies genervt die Luft aus und sah auf die Uhr. Die Zeit für ihren nächsten Versuch war gekommen. Gegen neun checkten die ersten Geschäftsmänner an der Rezeption ein. Viele, die bereits am Montag in der Früh berufliche Termine hatten, verbrachten bereits die Nacht von Sonntag auf Montag im Savion, um sich nicht dem Risiko von Flugverspätungen auszusetzen. Die Herkunft war ihr mittlerweile egal. Sie musste den Teich, in dem sie fischen wollte, vergrößern.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739497969
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (November)
Schlagworte
Unterhaltung Liebesroman Spannung Hindernisse

Autor

  • Annmarie Wallandt (Autor:in)

Annmarie Wallandt möchte ihren Leserinnen und Lesern mit unterhaltsamen Geschichten vergnügliche Lesestunden bescheren.
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Titel: Liebe für immer