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Die Schmiedin

von Eva-Maria Haynes (Autor:in)
300 Seiten

Zusammenfassung

Durch einen grausamen Racheakt an ihrem Vater Graf Hardrich, einem treuen Verbündeten des Stauferkaisers Heinrich VI., verliert die behütet aufgewachsene Agnes von Enigor in wenigen Augenblicken ihr Heim und ihre ganze Existenz. Mutig beschließt sie, ein neues Leben anzufangen. Ihr Wissen um heilende Kräuter soll ihr dabei helfen. Auf ihrer Reise lauern überall neue Gefahren. Martin von Landrion kann sie in letzter Sekunde vor dem sicheren Tod bewahren – für ihn eine Fügung des Schicksals. Er verliebt sich in Agnes und sie soll die Frau an seiner Seite sein. Doch die Auserwählte will ihr Leben selbst gestalten und verdingt sich lieber als Kinderfrau eines verwitweten Schmieds, während Martin nichts unversucht lässt, seine große Liebe zu finden …

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Inhalt

Durch einen grausamen Racheakt an ihrem Vater Graf Hardrich, einem treuen Verbündeten des Stauferkaisers Heinrich VI., verliert die behütet aufgewachsene Agnes von Enigor in wenigen Augenblicken ihr Heim und ihre ganze Existenz. Mutig beschließt sie, ein neues Leben anzufangen. Ihr Wissen um heilende Kräuter soll ihr dabei helfen.

Auf ihrer Reise lauern überall neue Gefahren. Martin von Landrion kann sie in letzter Sekunde vor dem sicheren Tod bewahren – für ihn eine Fügung des Schicksals. Er verliebt sich in Agnes und sie soll die Frau an seiner Seite sein. Doch die Auserwählte will ihr Leben selbst gestalten und verdingt sich lieber als Kinderfrau eines verwitweten Schmieds, während Martin nichts unversucht lässt, seine große Liebe zu finden …

 

Über die Autorin

Eva–Maria Haynes ist das Pseudonym einer Historikerin, die ihre besondere Liebe zum Mittelalter in ihren Geschichten zum Ausdruck bringt. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in der Nähe von Wien.

VORWORT

Die meisten Orte und ebenso die handelnden Personen sind der Fantasie entsprungen, doch in einem realen historischen Kontext eingebettet. Das betrifft neben dem mittelalterlichen Alltag auch die Existenz und den Lebensverlauf von Kaiser Heinrich.

 

Heinrich VI. war der Sohn von Kaiser Friedrich I., auch Barbarossa genannt, und Beatrix von Burgund. Er wurde 1165 in Nimwegen geboren und schon im zarten Alter von vier Jahren zum Römischen König gekrönt. Friedrich band seinen Sohn bereits ab 1178 in die Regierungsgeschäfte ein.

 

Ab 1190, nach dem Tod des Vaters, war Heinrich Alleinherrscher und wurde 1191 zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gewählt. Heinrich erbte viele Konfliktherde. Vor allem auf dem Gebiet der heutigen Länder Deutschland und Österreich gab es bis 1194 ständige Auseinandersetzungen unter den Reichsfürsten und etliche Gegner der Stauferkaiser. Neben einigen Italienreisen ist der Aufenthalt von König Heinrich in den Jahren 1185 und 1192 bis 1194 in diesen Gebieten dokumentiert und durch zahlreiche von ihm unterzeichnete Urkunden belegt.

 

Heinrichs Lebensziel war die Eroberung Siziliens. Den Anspruch auf den Thron erhob er zum ersten Mal 1191, doch das Unternehmen scheiterte. Erst im November 1194 gelang ihm der feierliche Einzug in Palermo.

 

Besser bekannt ist Heinrich VI. als der König, der Richard Löwenherz festgesetzt und erst gegen ein hohes Lösegeld wieder freigelassen hatte. Im September 1197 starb Heinrich in Messina und hinterließ seinen Sohn, den späteren Friedrich II.

 

Zur selben Zeit ist der südliche Teil der Iberischen Halbinsel noch fest in maurischer Hand. Das Reich der Almohaden existierte bis 1236 und war durch rege Kontakte mit der christlichen Welt verbunden. Noch heute finden sich in den Städten Córdoba, Sevilla und vielen anderen Teilen Südspaniens beeindruckende Bauten aus dieser blühenden Zeit.

PROLOG

Sacrum Imperium, 1185

 

Es war still im Raum. So still, dass jeder Tropfen des heißen Siegelwachses, der auf das Pergament fiel, laut zu hören war. Nicht einmal das leiseste Rascheln von Damast oder ein menschlicher Laut war zu vernehmen. Selbst das hell lodernde Feuer im riesigen Kamin am Ende des Rittersaales schien für einen Moment den Atem anzuhalten. Die Flammen züngelten verhalten um die Holzscheite und verschonten für einen Augenaufschlag die eingeschlossenen Wasserbläschen, die gewöhnlich die lauten Knackgeräusche verursachten.

 

Die Szene war beeindruckend, denn es fehlte nicht an Menschen im Saal. Edelmänner, Gutsherren, Grafen und deren Gefolgsleute, bekleidet mit wertvollen Tuniken in den jeweiligen Tinkturen ihrer Wappen, geistliche Würdenträger in prächtigen Roben, die jedes Armutsgelübde verhöhnten, standen Schulter an Schulter um die Tafel versammelt, auf dem das Dokument lag. Dicht beschrieben in kunstvoll verschlungenen Lettern enthielt es, was im vergangenen Jahr die beherrschenden Themen gewesen waren.

 

Viele Monate waren mit zähen Verhandlungen, stundenlangen Gesprächen unter vier Augen, Abmachungen, die wieder verworfen wurden, und Grenzabgehungen vergangen. Doch schlussendlich hatten die Anstrengungen das gewünschte Ergebnis gebracht – den heiß ersehnten Friedensvertrag. Damit sollte unter jahrzehntelange Fehden, Landfriedensbrüche und Belagerungen ein Schlussstrich gezogen werden. Ein Schlussstrich, der allen Bewohnern der aneinandergrenzenden Fürstentümer, Grafschaften und Markgrafschaften in diesem abgelegenen Winkel des mittelalterlichen Sacrum Imperium Sicherheit und Zukunft geben sollte.

 

Gebannt starrte Agnes auf ihren Vater, den Graf von Enigor. Er hatte sich seit Jahren besonders um diese Einigung bemüht. Aus ihrem Versteck hinter der Geheimtür konnte sie sehen, wie sich seine Gesichtszüge entspannten. So gelöst hatte sie ihn noch nie gesehen. In den acht Jahren, seit sie auf der Welt war, kannte sie fast nichts anderes an ihrem Vater als die ständig leicht abwesende Miene, die Sorgenfalten auf seiner Stirn oder das Murmeln seiner Stimme bei Geheimverhandlungen hinter verschlossenen Türen.

 

Nie würde Agnes den Moment vergessen, als sie das erste Mal eine Landkarte ihrer Heimat gesehen hatte. Zurückgelassen auf dem Arbeitstisch des Grafen, der einen Gast zu verabschieden hatte, lag das fein gegerbte Leder einladend da. Es war übersät mit niedlichen Zeichnungen von Bergen, Seen und vielen fein geschwungenen Linien. Das Mädchen fasste allen Mut und näherte sich der Aufzeichnung, die förmlich darauf wartete, eingehend besichtigt zu werden.

 

Unter vielen anderen Tinkturen fand Agnes in der Mitte das ihr vertraute Dunkelblau kombiniert mit einem hellen Silber. Wasser und Fels, die beiden Landschaftsmerkmale, die Enigor am meisten prägten. Der Graf fand seine Tochter vertieft in ihre Betrachtungen. Mit seiner sonoren Stimme, die Agnes so gerne hörte, erklärte er seinem einzigen Kind geduldig die aktuelle politische Situation.

 

Nach wenigen Sätzen war ihr klar, warum ihrem Vater sein Anliegen so wichtig war. Die kleine Grafschaft hatte fünf Nachbarländer, von denen drei gierig ihre Hände danach ausstreckten. Die Gründe lagen auf der Hand – die kürzesten und besten Straßenverbindungen führten durch Enigor. Damit flossen auch die wichtigsten Zölle in die Truhen des Grafen. Silber, Gewürze und edle Stoffe verteuerten sich mit der Passage durch die kleine Grafschaft enorm.

 

Von buchstäblicher Blindheit geschlagen übersahen dabei viele Neider, dass der größte Teil dieser Einnahmen den direkten Weg zu Kaiser Friedrich fand. Schon dessen Vorgänger hatte diese lukrativen Möglichkeiten erschlossen und zu einem Fixpunkt im hochherrschaftlichen Budget gemacht. Die Begründung war schlicht: Wer sich diese Kostbarkeiten leisten konnte, hatte auch das Geld für die Steuern.

 

Abgesehen von den Abgaben für die Ein- und Ausfuhr der Preziosen missgönnten vor allem der Ritter von Morgwald und der Graf von Ald dem Grafen Hardrich von Enigor die Erzvorkommen im Süden seiner Ländereien. Durch ein kaiserliches Privileg waren die Schürfrechte an diesem Gebirge, das auch die Grenze zu Morgwald und Ald bildete, schon vor zwei Generationen Enigor zugesprochen worden. Edwin von Morgwald war bei seiner Belehnung der Zugriff auf den Erzberg erneut und unter Androhung des sofortigen Verlustes seiner ganzen Ländereien bei Nichtgehorsam ausdrücklich und unmissverständlich untersagt worden. Dasselbe galt für das Lehen von Ald. Auch Albrecht hatte den Erzberg direkt vor der Nase und musste das Material dennoch für gutes Geld von den Händlern aus Enigor kaufen.

 

Doch Hardrich hatte für den Friedensvertrag auch seinen Preis bezahlt. Um den Unsinn der doppelten Zölle an der Westgrenze zur Markgrafschaft Brannburg zu stoppen, hatten er und König Heinrich einer Aufteilung der Einnahmen zugestimmt. Ottokar von Brannburg hatte in einer Nacht-und-Nebel-Aktion eine private Steuer erfunden, um seine leeren Kassen zu füllen. Damit wollte er sich seinen Teil vom Kuchen sichern, aber Friedrich war über diese Maßnahme maßlos verärgert, weil der Markgraf nicht daran dachte, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers war.

 

In zähen Auseinandersetzungen und im Beisein König Heinrichs, des Sohnes des erlauchten Herrschers, war nun endlich eine allgemein anerkannte Grenze zwischen der Grafschaft Enigor und der Markgrafschaft Brannburg festgelegt worden. Bis zu diesem Moment hatte es über einen sehr langen Zeitraum zwei Grenzlinien gegeben. An beiden musste für die Passage von Menschen und Waren bezahlt werden und von beiden wurde behauptet, die „richtige“ Grenze zu sein.

 

Das Niemandsland dazwischen wurde so gerecht wie möglich aufgeteilt, doch es war praktisch wertlos. Durch die Dauerpräsenz von berittenen Soldaten und Söldnern, die sich meist aus Langeweile in sinnlosen Scharmützeln aufgerieben hatten, war der Boden so festgetreten, dass es Jahrzehnte brauchen würde, bis sich dort wieder ein Grashalm ans Tageslicht trauen werde.

 

In den Augen des Grafen stand der ganze Aufwand in keiner Relation zum Einsatz. Im Gegenteil, es hatte für seinen Geschmack zu viele Menschenleben gekostet. Der größte Feind waren aber nicht die Soldaten der Gegenseite und die daraus resultierenden Kämpfe gewesen, sondern die mangelnde Hygiene auf dem viel zu engen Raum.

 

Frisches Wasser gab es in rauen Mengen aus den Bergquellen, die sich ihren Weg ins Tal bahnten. Das Problem waren die Abwässer, die sich durch die Ausscheidungen von Mensch und Tier in der Senke ansammelten. In regelmäßigen Abständen hatten die Ruhr und andere Infektionen fast die ganze Stellung dahingerafft. Bitterer Trost fand sich nur in der Tatsache, dass den Krankheiten die Grenzen völlig gleichgültig waren. Auch Ottokars Männer starben.

 

Über die Lösung dieses Problems war Hardrich besonders erleichtert, denn aufgerechnet auf den Zeitraum waren die Verluste enorm gewesen. Nur seine Verpflichtungen gegenüber dem Kaiser hatten ihn davon abgehalten, sich aus diesem Gebiet zurückzuziehen und Ottokar klein beizugeben. Dann hätte sich Friedrich mit ihm ärgern dürfen.

 

Die Erträge waren immer dünner geflossen. Die einst so beliebte Route für Kaufleute und Wandergesellen, die durch das stetig wachsende Verbund- und Austauschsystem der Zünfte und Gilden einen fortlaufenden Strom bildeten, oder auch für Pilger und Wallfahrer, die auf der Suche nach Erlösung und Reliquien das entfernte Jerusalem anstrebten, fiel mehr und mehr der Bedeutungslosigkeit anheim. Um den Auseinandersetzungen und den absurden Abgaben für die Passage zu entgehen, etablierte sich im Laufe der Jahre ein neuer Reiseweg südlich der Lehen von Morgwald und Ald. Nur mehr ganz Eilige hatten sich mit der Situation an der Westgrenze Enigors abgefunden.

 

Zur Befriedung mit dem südlichen Nachbarn, dem Lehen von Ritter Edwin von Morgwald, waren Zusagen zur Absenkung des Erzpreises und die Abgabe von fixen Kontingenten notwendig gewesen. Eisen war wichtig, wichtig für alle, die Soldaten auszurüsten und Land zu bestellen hatten. In den letzten Jahren war aber auf die Frage, ob Krieg oder Essen wichtiger war, keine klare Antwort zu bekommen. Insgeheim hoffte der Graf, dass sich eines Tages der Bedarf auf die bäuerlichen Gerätschaften reduzieren könnte, wenn die Gründe für die Fehden nun beseitigt waren. Doch war auch er realistisch genug, um zu wissen, dass ein solcher Wunsch ins Land der Träume verwiesen werden musste.

 

Ein leises Zischen, als der Siegelstempel des Grafen von Enigor in das zähe Wachs gedrückt wurde, brachte Bewegung in die Männer. Einige nickten zustimmend und andere lächelten. Doch es gab auch den Graf Albrecht von Ald, der mit seiner säuerlichen Miene erkennen ließ, dass ihm dieses Dokument keine Vorteile brachte. Im Gegenteil, er hatte am meisten von allen Federn lassen müssen. Bis vor Kurzem hatte das Lehen von Ald, gelegen im Südosten von Enigor, zwei Dörfer mehr umfasst, deren Äcker besonders fruchtbar waren. Diese Gebiete gehörten nun zu Enigor. Mit diesem Passus war im Friedensvertrag festgehalten worden, was König Heinrich schon vor etlichen Monaten öffentlich verfügt hatte.

 

Abgesehen von anderen unerfreulichen Ereignissen, mit denen sich der Graf von Ald beim König unbeliebt gemacht hatte, wollte der Herrscher die Dorfbewohner der grausamen Hand des Grafen entziehen. Albrecht hatte sich in den Augen Heinrichs als des Lehens unwürdig erwiesen. Doch dieser hatte die Teilung nie anerkannt, die Dorfbewohner weiter geschröpft und sich offen gegen den Beschluss aufgelehnt.

 

Hardrich hatte unzählige seiner Männer immer wieder in das Krisengebiet abkommandiert, doch fehlten ihm Zeit und Mittel, um seine Rechte mit Gewalt zu erkämpfen. Der Friedensvertrag war nun ein willkommener Anlass, um in dieser Angelegenheit noch einmal Klarheit zu schaffen und den Grafen von Ald in die Schranken zu weisen, ohne zu einer Gegenleistung verpflichtet zu sein.

 

Mit entsprechend geringer Begeisterung überließ Albrecht sein Siegel dem königlichen Schreiber. Mit dem Abdruck auf der Urkunde gab der Graf ein geheimes Versprechen – Rache. Rache am König, Rache an Enigor. Für ihn konnte Enigor getrost von der Landkarte verschwinden. Mit gequältem Lächeln nahm er seinen Ring zurück.

 

„Nun könnt Ihr ruhig schlafen, Graf von Enigor“, ätzte Albrecht mit schneidender Stimme. Der junge König Heinrich, der am Podium in der Mitte saß und die Szene aufmerksam verfolgte, hob die linke Augenbraue. Hardrich von Enigor sog kaum hörbar die Luft ein und fasste sich kurz.

 

„Macht Euch um meine Nachtruhe keine Sorgen, mein lieber Graf, aber seid herzlich bedankt“, konterte er diplomatisch. Der geplagte Graf von Enigor hoffte sehr, dass sich der Klumpen in seinem Magen bald wieder lösen würde, doch fürchtete er, dass sich das erst mit der Abreise seines Gastes bewerkstelligen ließe.

 

Als Nächstes trat der Fürst von Landrion vor. Die Grafschaft teilte die Ostgrenze mit seinem Reich. Der Fürst war einer der mächtigsten Männer von allen. Loyalität zum Königshaus und politisches Gespür hatten seine Position gestärkt. Sein Lehen war nicht nur das größte im Umkreis, auch seine imposante Gestalt und seine Siege im Feld sowie auf Turnieren waren Legende. Langsam zog er den Siegelstempel aus einem kleinen Lederbeutel. Eifrig nahm ihn der Schreiber des Königs entgegen und fettete ihn ehrfürchtig mit Öl ein, um das feine Metall gegen das heiße Wachs zu schützen.

 

Die Verhandlungen mit Landrion waren kurz und schmerzlos gewesen, da die beiden Länder durch einen Pass getrennt wurden, dessen Anerkennung als Grenze nie infrage gestellt worden war. Auch machte niemand die Ansprüche des anderen streitig. Im Gegenteil, Enigor und Landrion waren in langer Freundschaft verbunden. Im erhofften Frieden sollte der Pass, der von einer Bande von Wegelagerern und Vogelfreien beherrscht wurde, nun sicher gemacht werden. In einer gemeinsamen Anstrengung wollten die beiden Häuser versuchen, dieser Plage Herr zu werden. Die Truppen, die vorher dringend zur Verteidigung der Grenzen und zum Schutz von Bauern und Ernten benötigt wurden, sollten ihre Kräfte nun auf dem riesigen Plateau einsetzen.

 

Agnes zog unbewusst den Kopf ein, als Fürst Harold von Landrion vortrat. Vor ihm ängstigte sie sich. Nicht, dass er ihr je etwas getan hätte, im Gegenteil, er war ein sehr freundlicher und offener Mensch. Doch das kleine Mädchen empfand ihn als Furcht einflößend, denn er war um einen Kopf größer als ihr Vater und seine Schultern waren fast doppelt so breit. Neugierig richtete sie ihren Blick auf den Jungen neben ihm. Er war vielleicht nur vier oder fünf Jahre älter als Agnes, doch schon in seiner Pagenkleidung war zu erkennen, dass auch er ein imposanter Ritter sein würde wie sein Vater. Martin, erinnerte sich Agnes, so hieß Harolds Sohn. Die mächtige blonde Mähne des Vaters war schon von grauen Strähnen durchzogen, Martins Haare glänzten im Kerzenlicht golden und fielen ihm leicht ins Gesicht. Das Mädchen betrachtete sein Profil und das des Vaters. Das Gesicht des Sohnes zeigten Ernst und Stolz. Es war ihm anzusehen, dass seine Anwesenheit bei diesem wichtigen Anlass viel für ihn bedeutete. Aufmerksam beobachtete er jede Bewegung seines Vaters.

 

Agnes hatte das Gefühl, dass der Junge sich Mühe gab, alles einzustudieren, um später als Erwachsener auch so beeindruckend zu sein. Insgeheim fragte sie sich, ob sie sich vor Martin ebenso eines Tages fürchten müsste. Mit dem Abdruck des letzten Siegels stand der König zufrieden auf. Wohlmeinend nickte er Hardrich von Enigor zu. „Nun, meine verehrten Herren und Lehnsmänner, wird dieses Dokument von Unserem Schreiber an Uns genommen in der Überzeugung, dass es als Zeichen für die Erhaltung des Friedens für die Ewigkeit gelten möge“, hallte die Stimme von Heinrich durch den Raum. Agnes schauderte. Die Worte klangen sehr verlockend, doch sie drangen nicht bis in ihr Herz. Eine Eiseskälte griff nach ihr und sie zitterte so, als hätte sie eine böse Vorahnung. Es war selbstverständlich, dass niemand von den Männern ein Kind, noch dazu ein Mädchen, angehört hätte. Geblendet und überzeugt von der eigenen Unfehlbarkeit verdienten die unschuldigen, aber treffenden Beobachtungen einer Achtjährigen keine Beachtung. Doch Agnes spürte es instinktiv.

 

Alle Beteiligten hatten sich der Illusion hingegeben, der Strömung der Zeit entgegenwirken zu können. Doch das Feudalsystem war bereits so in den Köpfen der Menschen verankert, dass es gar keine andere Aussicht gab, als ständig gierig nach neuem Land zu greifen, um die eigene Machtposition auszubauen.

 

Doch wurden die Möglichkeiten auf dem engen Raum bald knapp und seit Jahren war es üblich, die bäuerlichen Untertanen der Nachbarländer auszuplündern, das Vieh zu vertreiben und die Ernte abzubrennen. Unterm Strich ein Nullsummenspiel, das sich wegen der Rache an der Rache nie ausgehen konnte.

 

Später erinnerte sich die Tochter des Grafen von Enigor noch oft an diese unseligen Gedanken. Die vom König heraufbeschworene Ewigkeit sollte nur zwei Jahre dauern.

1

Das Lehen Enigor, 1192

 

Die Gewitterwolken über den Bergspitzen bauten sich zu immer größeren Türmen auf. Der Sturm fuhr mit aller Gewalt durch die Wipfel der Tannen und riss an den Fensterläden der riesigen Burg, die sich eng an den mächtigen Fels schmiegte. Das Wasser des Burggrabens spritzte, aufgeschäumt vom Wind, gegen die meterdicken Mauern, an denen die Spuren der Jahre nagten.

 

Viele Belagerungen hatten ihre Wunden hinterlassen und das Bauwerk hatte, wie um sich vor den Gräueln zu schützen, Moos angesetzt, das in dichten Polstern nahe der Wasserlinie wucherte. Der weiche grüne Saum konnte der Burg, die zum Teil aus dem bloßen Fels herausgeschlagen worden war, nichts von ihrer Gewaltigkeit nehmen. Auf diese Weise war das Gebäude von Norden her uneinnehmbar und im Süden wurden Angreifer von einem riesigen Wassergraben daran gehindert, in das Herz von Enigor einzudringen.

 

Schon ein Jahrhundert hatte der Wehrturm des Gemäuers über die Grafschaft Enigor gewacht. Im Angesicht der ständigen Bedrohungen hatte Hardrich die Burg immer weiter ausbauen und Teile, die noch nach alter Baumethode aus Eichenholz gezimmert waren, durch Steinkonstruktionen ersetzen lassen. Zur Verstärkung der Verteidigung wurde eifrig an einem zweiten Befestigungsring gebaut, der nach allen Regeln der aktuellen Baukunst mit unzähligen Schießscharten und Pechnasen ausgestattet war. Die zweite Zugbrücke im inneren Verteidigungsring war durch die Eisenbewährung so schwer geworden, dass sie nur mehr mit dem Einsatz von stämmigen Arbeitspferden gehoben und gesenkt werden konnte. Das heranziehende Gewitter konnte dem Bollwerk nicht den geringsten Schaden zufügen.

 

Hardrich hatte die besten Handwerker rufen lassen, um nicht Gefahr zu laufen, dass irgendein Rädchen des Kriegswerks im ungünstigsten Augenblick versagte. Die Arbeiten gingen stetig, aber langsam voran, denn immer wieder musste der Landesherr Teile der Bevölkerung auch für mehrere Wochen aufnehmen und gegen Unbill beschützen. Doch dank eines genialen Versorgungssystems hatten die Burgbewohner auch während der hartnäckigsten Belagerung immer den längeren Atem.

 

Zwei Quellen waren direkt aus dem Fels durch mehrere Aquädukte geführt worden, die in den Wirtschaftsräumen und in den Ställen ständig für frisches Wasser sorgten. Das Ende der Wasserläufe wurde über die östliche Seite des Bergfußes abgeleitet und diente als regelmäßige Spülung für die ebenfalls östlich angelegten Aborte. Seitlich gegeneinander versetzt zierten mehrere Erker, die mit Donnerbalken ausgestattet waren, wie Schwalbennester die Burgmauer.

 

Neben den menschlichen Fäkalien ließen die Männer des Grafen während einer Belagerung auch den Mist, der durch das zusätzlich beherbergte Vieh reichlich vorhanden war, und Kadaverreste von verzehrten Schweinen hinunterfallen. Das für die Aggressoren einzig verfügbare Wasser war bald so verpestet, dass mehr dieses Problem als ein militärischer Misserfolg den Abzug nötig machte.

 

Im Inneren des nach außen hin sehr abweisend wirkenden Gemäuers ging es stets geschäftig zu. Mägde, Knechte, Schmiede, Soldaten gingen ihrem Tagewerk nach. Der Haupthof war voller Leben und an Markttagen barst er fast aus den Mauern. Neben Küche, Gesindekammern und anderen Wirtschaftsräumen waren im Hof noch Pferdeställe, Schmiede, Waffenkammer und Vorratskeller untergebracht. Eine weit auslaufende Steintreppe führte zu den Herrschaftszimmern, wo Graf Hardrich und seine Tochter Agnes wohnten. Meistens hielten auch sie sich in den Burghöfen auf, Hardrich kümmerte sich mit seinem Verwalter um das Wohlergehen seines Lehens und Agnes stand dem Haushalt der Burg vor. Doch an diesem Morgen hatten alle Burgbewohner vor dem heranziehenden Wetter Schutz gesucht und auch die Innenhöfe der Burg wirkten gespenstisch verlassen.

 

Unruhig ging der Graf in seinen Gemächern auf und ab. Immer wieder hielt er am Fenster an und starrte hinaus in den Burghof. Durch das hauchdünne Pergament, mit dem die Fenster teilweise überzogen waren, nahm er die Außenwelt undeutlich wie durch einen Schleier wahr. Das änderte aber nichts an der Bedrohung, an seiner Angst, dass die Burg – das Herz von Enigor – bald für immer so verlassen sein könnte.

 

Ein neuer, noch schrecklicherer Krieg hatte sich seit fast fünf Jahren wie eine verheerende Seuche über Enigor und einige seiner Nachbarländer ausgebreitet. Aus kleinen Unstimmigkeiten waren wie in früheren Zeiten blutige Schlachten, Plünderungen und Belagerungen geworden. Der viel besungene Friedensvertrag war weder Pergament noch Wachs wert.

 

Das Rittertum Morgwald, die Markgrafschaft Brannburg und die Grafschaft Ald lieferten einander grausame Kämpfe, schlossen Verträge, um sie wieder zu brechen, und drangsalierten seit Kurzem in unbekannter Einstimmigkeit die Grafschaft Enigor. Die Länder Enigor und Landrion hatten sich bisher aus sämtlichen Bündnissen herausgehalten und Kämpfe nur in verteidigender Absicht ausgetragen. Hardrich hatte alle Hände voll zu tun, seine Grenzen gegen die Einfälle von Edwin oder Albrecht zu schützen und die Belagerungen von Ottokar auszusitzen. Im Geiste verfluchte der alte Graf seine südlichen und westlichen Nachbarn, die ihm seinen Seelenfrieden raubten.

 

Traurig wanderten Hardrichs Gedanken in den Norden, zum sagenumwobenen Sabenland, dem Herkunftsort seiner viel zu früh verstorbenen Ehefrau. Selbst nach vielen gemeinsamen Jahren konnte Hardrich kaum etwas über dieses riesige Land sagen. Er selbst war nie dort gewesen. Es erschien ihm wie eine Ewigkeit, wenn er sich an diesen Tag im Sommer zurückerinnerte, als ein exotisch gekleideter Gesandter mit der völlig verschreckten Linda im Schlepptau um Vorsprache gebeten hatte, um sie gegen eine unvorstellbare Menge von Eisenerz einzutauschen. Abgesehen von dem ungewissen Schicksal, das der jungen Frau – vermutlich ohne deren Einverständnis – beschieden worden war, musste jeder Moment der Reise nach Enigor ein Albtraum gewesen sein. Eine fast unüberwindbare Bergkette trennte das Sabenland von all seinen südlichen Nachbarn.

 

Nur ganz wenige Pässe waren in den Sommermonaten frei von Schnee und dann aber auch nur zu Fuß passierbar. Dieses Detail war während der beschwerlichen Passage auch dem Gesandten klar geworden und die Frage nach dem Transport der Steine stellte sich gar nicht mehr. Von kurzer Ratlosigkeit geplagt erfüllte der Sabe seine Aufgabe, indem er Linda kurzer Hand als Geschenk zur Pflege der nachbarschaftlichen Beziehungen übergab. Als kleine Entschädigung für die vergebliche Reise hatte er in gebrochenem Latein um eine Burgbesichtigung gebeten, denn das Wasserversorgungssystem hatte ihn seit dem Betreten des Gemäuers fasziniert.

 

Dem jungen Grafen hatte die schüchterne junge Frau auf Anhieb gefallen, doch empfand er in erster Linie Mitleid. Völlig falsch ausgerüstet für die vergangenen Strapazen waren die ernst gemeinten Versuche, so präsentabel wie möglich zu sein, zur Farce verkommen. Die einst in allen Farben schillernden seidenen Schals, die Lindas schlanken Körper umwickelten, waren schmutzverkrustet und zerrissen. Das unzureichende Schuhwerk verdiente höchstens die Bezeichnung Pantoffel, die ihren Füßen keinen Schutz gegen das felsige Gestein geboten hatten.

 

Auf keinen Fall wollte Hardrich sie in diese Hölle zurückschicken, sei es eine neuerliche Überquerung der Bergkette oder die Rückkehr in ihre alte Heimat, wo sie, wenn er alles richtig verstanden hatte, bestenfalls eine hübsche Sklavin gewesen war. Bevor Hardrich den barschen Gesandten herumführte, überließ er Linda den pflegenden Händen einer seiner Mägde und gab Anweisung, das schönste Zimmer für sie zu richten. Linda sollte sein Gast sein und alle Bequemlichkeiten genießen, die er zu bieten hatte, und vielleicht bald noch mehr, wie er insgeheim hoffte.

 

Mit einer Abschrift der Baupläne der Burg zog der Sabe schon am nächsten Tag hochzufrieden von dannen und stellte klar, dass dies wohl die einzige Begegnung seines Volkes mit Enigor bleiben würde. Linda ließ er ohne einen letzten Gruß zurück. Gewohnt an harsche Befehle, Schläge und Demütigungen zuckte die junge Frau jedes Mal zusammen, wenn der junge Graf sie ansprach. In der ersten Zeit saß sie zusammengekauert am Boden im Arbeitszimmer des Grafen und war jederzeit bereit, ihm seine Wünsche von den Augen abzulesen. Mit aller Geduld, zu der sich Hardrich imstande sah, konnte er die Frau, die nur mehr ein Schatten ihrer eigenen Persönlichkeit war, zu einem Spaziergang in die Gärten der Burg einladen.

 

Die ehemalige Sklavin blieb stets einige Schritte hinter ihm, sorgsam darauf bedacht, nicht in seine Fußstapfen zu treten oder den Blick mehr als unbedingt notwendig zu heben. Jedes Mal, wenn der junge Graf stehen blieb, um sie nach seiner Auffassung von guten Manieren an seine rechte Seite zu bitten, erstarrte Linda zur Salzsäule. Langsam befielen Hardrich große Zweifel, als das ungleiche Paar den Obstgarten hinter sich ließ. Fieberhaft hatte er überlegt, wie er zu dieser verschlossenen Frau durchdringen konnte, als er eine Bewegung im rechten Augenwinkel wahrnahm.

 

Plötzlich veränderte sich etwas im Verhalten von Linda. Wie gebannt blickte sie auf einen abgelegenen Bereich hinter einer Reihe von Apfelbäumen. Mit einer auffordernden Geste lotste Hardrich die junge Frau weiter. Beim Anblick des Kräutergartens hellte sich die Miene seiner Begleitung das erste Mal auf. Mit einem schüchternen Blick holte sie sich die Erlaubnis, ein paar Schritte weiterzugehen. Liebevoll lächelnd gab ihr der junge Graf zu verstehen, dass sie hier alle Freiheiten der Welt hätte.

 

Linda bückte sich zögerlich, doch einen kurzen Moment später strich sie völlig gefangen minutenlang mit den Händen über die dichten Rabatte der Heil- und Küchenkräuter. Fast unverständlich murmelte sie dabei die lateinischen Bezeichnungen. Hardrich betrachtete Linda fasziniert. Von einer kurzen Ahnung ihres wahren Könnens befallen, führte sie der junge Graf in der Burg zur Kräuterkammer, wo die wertvollen Pflanzen getrocknet, konserviert und aufbewahrt wurden. Das erste Lächeln der jungen Frau sollte Hardrich nie mehr vergessen.

 

Nach kurzer Zeit hatte sie die unscheinbare Kammer in eine professionelle Apotheke verwandelt und der junge Graf stellte ihr jedes erdenkliche Utensil von Herzen gerne zur Verfügung. Mit jeder erfolgreichen Behandlung taute Linda mehr und mehr auf. Ihre Patienten gaben ihr den Anreiz, rasch das ihr völlig unbekannte Deutsch zu lernen und bald sprudelte sie über, wenn sie Hardrich von ihren Fortschritten und dem Ausbau der Kräuterkammer vorschwärmte.

 

Über ihre Vergangenheit hatte Linda nie ein Wort verloren. Über das wahre Ausmaß ihres Leidens konnte er sich nur eine vage Vorstellung machen. In besonders schlimmer Erinnerung war ihm die erste Nacht nach ihrer Hochzeit geblieben. Aus Dankbarkeit und echter Zuneigung hatte Linda nach zwei Jahren eingewilligt, die Seine zu werden. Lange hatte sie gezögert, weil die junge Frau nicht wusste, ob sie in der Lage sein würde, ihren daraus folgenden ehelichen Pflichten auf dem gemeinsamen Lager gewachsen zu sein.

 

Schon als Mädchen missbraucht, hatte Linda schwerste körperliche und seelische Wunden davongetragen, die es ihr fast unmöglich machten, in der Vereinigung von Mann und Frau etwas Schönes zu sehen, geschweige denn zu empfinden. Mit unendlicher Geduld, Feingefühl und Liebe war es Hardrich schließlich gelungen, seiner geliebten Frau die andere Seite zu zeigen, die nicht im Entferntesten mit einer brutalen Vergewaltigung in Verbindung zu bringen war.

 

Einige Zeit später blickten die Eheleute mit großer Freude der Geburt ihres ersten Kindes entgegen. Linda bekam die Schwangerschaft gut. Sie strahlte vor Glück und verwandelte sich zusehends in eine lebensfrohe und glückliche Frau. Zur Stunde ihrer Niederkunft aber wurde sie brutal in die Vergangenheit zurückgeworfen, denn die schlecht verheilten Narben machten ihr das Gebären fast unmöglich. Es grenzte an ein Wunder, dass Mutter und Tochter überlebten.

 

Hardrich war außer sich vor Sorge und zog es vor, jede Hoffnung auf einen Erben aufzugeben, als Linda noch einmal solchen Gefahren auszusetzen. Er bat seine Frau inständig, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um eine weitere Gravidität zu verhindern. Für sein kleines Mädchen Agnes erwirkte der Graf einen Erbfolgedispens beim Kaiser, sodass sie eines Tages die Herrin über Enigor werden konnte.

 

Mit sanfter Überredung ermunterte er seine Frau, der gemeinsamen Tochter auch einen gebührenden Teil ihres eigenen Erbes mitzugeben. Nach einigem Zögern fand Linda zurück in ihre Muttersprache und sprach ausschließlich Sabisch mit ihrem einzigen Kind. Mit zunehmendem Alter wuchs Agnes mehr und mehr mit den Kenntnissen um Kräuter und Heilpflanzen auf, bis auch sie die Leidenschaft dieser Wissenschaft eingehüllt hatte.

 

Besonders in diesen schwierigen Zeiten flüchtete sich Hardrich gerne in das Andenken an diese glücklichen Jahre. Selbst wenn er ständig in irgendwelche kriegerischen Auseinandersetzungen verwickelt worden war, blieben ihm sein Heim und seine kleine Familie als ein gerechter Ausgleich und hochwillkommener Lohn. Mit dem plötzlichen Tod seiner geliebten Frau verließen Hardrich auch Glück und Lebensfreude. Die kurze Zeit des Friedens war vorbei und die neuerlichen Sorgen um die kleine Grafschaft belasteten ihn bis zum körperlichen Verfall.

 

Einzigen Halt gab ihm die Präsenz seiner quirligen halbwüchsigen Tochter, die zu einem Ebenbild ihrer Mutter erblühte. In ihr verbanden sich deren exotische Schönheit mit seinen hellen Augen und Haaren. Sicher geborgen in einer glücklichen Kindheit fehlte ihrer Tochter jene Verwundbarkeit, die Linda bis zum Ende ihrer Tage nie ganz abgelegt hatte. Immer wieder gelang es Agnes, ihren Vater mit ihrem fröhlichen Wesen aus der Reserve zu locken und von den drückenden Problemen abzulenken. Wild entschlossen, ihr diese ungetrübte Art zu bewahren, hielt der Graf jede unerwünschte Einwirkung von außen von Agnes fern – fast bis zum Exzess, was ihm in den anderen Ländern den Ruf, ein komischer Kauz zu sein, einbrachte. Selbst zu Landrion, dem einzigen Nachbar, mit dem Enigor immer freundschaftlich verbunden war, schränkte Hardrich die Kontakte auf ein politisches Minimum ein. Ereignisse gesellschaftlicher Natur mied der Landesherr von Enigor grundsätzlich. Die Einladungen zu solchen Anlässen wurden immer weniger, aber nicht, weil Harold und Mechthild aufgegeben hätten, Hardrich und Agnes willkommen zu heißen. Der Landesherr von Landrion war von eigenen Sorgen geplagt. Geschlagen mit dem Los einer besonders langen Grenze zur Grafschaft Ald hatte er seine südlichen Ländereien mit einem dichten Wall von Mauern und Soldaten abgeschirmt und sich damit jede feindliche Annäherung verbeten.

 

„Landrion …“, dachte Hardrich bitter und kehrte unwillig in die Gegenwart zurück, „… die nächste große Ungewissheit.“

 

Das riesige Lehen stand vor einem Umbruch. Der alte Fürst, der sein Land mit eiserner Faust zusammengehalten und wie ein Bollwerk gegen alle Einflüsse von außen verteidigt hatte, war gestorben und sein junger Sohn Martin musste sich erst behaupten. Niemand wusste so recht, welchen Weg er einschlagen würde.

 

Im Kampf und in den selten gewordenen Turnieren hatte sich Martin stets als aufrichtig und loyal gezeigt. Schon jetzt kursierten Legenden über seine übermenschliche Kraft und seinen eisernen Willen, der nicht nur einmal die entscheidende Wende bei einem Scharmützel gebracht hatte. Hardrich hatte den Fürsten von Landrion oft zur Unterstützung angerufen. Solange es ihm möglich war, hatte Martin seinen durch Krankheit geschwächten Vater ersetzt, um an der Seite von Hardrich gegen Morgwald oder Ald zu kämpfen. „Das ist die eine Seite des jungen Fürsten …“, überlegte Hardrich und zupfte an einem Pergament, das sich etwas vom Fenster gelöst hatte, „… wie er ist, wenn er die Macht …“

 

„Vater“, Agnes unterbrach ihren Vater in seinen Überlegungen. Abrupt drehte sich der Graf um. Die junge Frau zuckte erstaunt zusammen.

 

„Ihr habt nach mir schicken lassen?“, ergänzte sie unsicher. Als sie die Miene ihres Vaters sah, waren alle Gedanken, die sie sich an diesem Morgen über das Gespräch mit ihm gemacht hatte, wie eine Seifenblase zerplatzt. Sie spürte, wie sich ein Kloß in ihrer Kehle festsetzte. Endlich, hatte Agnes sich ausgemalt, endlich würde er ihr den Ehemann zu erkennen geben, den er für sie ausgesucht hatte. Sie war schon fast sechzehn, ein Alter, in dem jede junge Frau aus gutem Hause unter der Haube war und ihrem Ehemann den erhofften Erben geschenkt hatte.

 

Steif ging sie durch den Raum und nahm auf dem Sessel beim Kamin Platz, wo ihr Vater stumm hingezeigt hatte. Sie zitterte, doch nicht vor der Kälte, die schon seit Wochen in der ungeheizten Burg festsaß. Ihr ganzes Inneres schrie auf. Sie spürte instinktiv, dass sie das, was ihr Vater jetzt zu ihr sagen würde, nicht hören wollte. Doch ihre gute Erziehung zwang sie, sittsam mit kerzengeradem Rücken an der vorderen Stuhlkante sitzen zu bleiben.

 

Mit einem Seufzen ließ sich der Graf in den Lehnstuhl gegenüber sinken. Lange, viel zu lange für Agnes starrte er in die nicht vorhandenen Flammen im Kamin.

 

„Mein liebes Kind“, die Stimme ihres Vaters war kaum zu hören, „du musst von hier fort …“

 

Agnes holte hörbar Luft. Sie konnte die Spannung nicht ertragen. Noch konnte sie an sich halten, um nicht aufzuspringen und den alten Mann zu schütteln, damit sie endlich Gewissheit über ihre Zukunft bekäme. Im Geiste schrie sie ihn an. All die Stunden, Wochen, Monate, Jahre, die sie mit Stickerei, höflicher Konversation, Lautespiel, der Pflege des Kräutergartens für die Hausapotheke und dekorativem Herumsitzen bei Besuchen verbracht hatte, schleuderte sie ihm in ihren Gedanken ins Gesicht. All das wofür?

 

Wie in einem Fieber rasten ihr die Vorwürfe durch den Kopf. Sie krallte die Finger so fest in die hölzerne Lehne des Sessels, dass es schmerzte. Wie in einem Echo hallten ihr die Worte der Erzieherin durch den Kopf: „Haltung bewahren, Kind, Haltung bewahren.“

 

Plötzlich musste sie husten. Ihr Körper rebellierte gegen den Kloß in ihrem Hals und wollte den Druck der letzten Jahre ausspeien. Der Graf schreckte hoch. „Alles in Ordnung?“

 

Agnes gelang ein leichtes Nicken. Ihr Vater gab sich einen Ruck und setzte zu seiner Rede an. „Es ist ein offenes Geheimnis, dass Enigor am Ende ist. Wir haben jeden verfügbaren Mann in den Kampf geschickt. Auf den Feldern verkommen die Ernten, in den Dörfern herrscht Hunger und Elend, in den Wäldern wüten Wölfe und Wildschweine, weil keiner mehr da ist, um sie zu jagen …“

 

Der alte Graf rückte sich im Sessel zurecht, als würde der Albtraum auf der anderen Lehne vielleicht geringer sein. Agnes starrte ihn an. Müde fuhr ihr Vater fort. „... in ein paar Tagen wird der Graf von Ald die Grenzen stürmen und in noch kürzerer Zeit die Burg erobern.“

 

Mit Tränen in den Augen sah er seine Tochter an. „Du musst fort von hier …“, wiederholte er die Worte, mit denen er begonnen hatte.

 

Agnes verlor die Fassung. Sie warf sich auf die Knie und grub den Kopf in den Schoß ihres Vaters. „Was wird aus mir?“, stammelte sie. „Und was wird aus Euch?“

 

Zögernd strich der Graf über den Schleier seiner Tochter. Kurz überlegte er, ob er ihr einen Hoffnungsschimmer schenken könnte, aber es fand sich nichts.

 

Mit leiser Stimme schilderte er Agnes, was auf sie zukommen sollte. Noch in dieser Nacht würde ein kleines Grüppchen von nun heimatlosen alten Männern, Frauen und Kindern nach Landrion aufbrechen, um dort in einem der Dörfer Aufnahme, Schutz und Nahrung zu finden. Agnes sollte als Bauersfrau getarnt eine von ihnen sein und bis zum Fürstensitz von Landrion weiterreisen, wo sie sich unter den Schutz des Fürsten Martin begeben sollte. Das sei noch das beste Schicksal, das der Graf seiner Tochter anbieten könne. Einen Brief solle sie mitbekommen mit der höflichen Bitte, Agnes als Mündel zu akzeptieren, bis ein Ehemann gefunden werden konnte, der die Pflicht, für sie zu sorgen, gerne übernehmen wollte.

 

Agnes spürte die Hand ihres Vaters unter ihrem Kinn. Sanft hob er ihren Kopf und suchte Blickkontakt. Eindringlich sprach er weiter.

 

„Heute Nacht wirst du diese Burg verlassen – als eine Frau aus dem Volk. Enigor wird aufhören zu existieren und damit alle Titel und Ländereien. Ich will Fürst Martin eindringlich bitten, jemanden für dich zu finden, der zumindest bei Hofe dient, einen Ritter vielleicht, wenn Fortuna ihren Segen dazu spendet, aber versprechen kann ich dir nichts. Du wirst seinem Gutdünken ausgeliefert sein.“

 

In diesem Augenblick hasste Agnes ihren Vater, ihr bisheriges unnützes Leben ohne Eigenbestimmung – immer dem Willen von jemand anderem ausgeliefert – und sie hasste sich. Was konnte sie? Welche Fähigkeit hatte sie, um allein zu überleben?

 

Wie in Trance sah sie durch ihren Vater hindurch. Auf ihren Lippen formten sich Worte, die nicht dem entsprachen, was sie dachte.

 

„Ja, Vater, wie Ihr wünscht.“ Agnes stand langsam auf und wandte sich zur Tür. „Kann ich etwas von meiner Habe mitnehmen?“

 

„Nichts, was dich zur Tochter eines Grafen macht“, kam die knappe Antwort.

 

In ihrem Zimmer angekommen sah sich Agnes um. Selbst das kleinste Taschentuch war aufwendig mit Spitze und Monogrammen bestickt. Ihre Bürsten und Kämme funkelten in Silber und glänzten in Elfenbein. Sogar ihr schlichtestes Kleid war eine engelsgleiche Robe im Vergleich mit der üblichen Tracht einer Bäuerin.

 

An ihren Schmuck brauchte sie erst gar nicht zu denken. Auch die Familienchronik und die Juwelen der Grafschaft würden für immer verloren sein. Noch waren die Reichskette, deren Glieder die einzelnen Dorfverbände symbolisierten, und der dazugehörende Hauptschmuck gut in ihrem Versteck in einem geheimen Gang der Burg untergebracht.

 

„Aber wie lange noch?“, fragte sich Agnes. „Doch, wenn ich nicht mehr da bin und Vater nichts verrät, dann könnte es auch sein, dass die Juwelen nie gefunden werden.“

 

Immer verzweifelter durchwühlte sie ihre Kleidertruhen und den Tisch mit ihren Putzsachen. Tränen und Wut stiegen in Agnes hoch. Nur mühsam unterdrückte sie den Zorn auf ihre eigene Hilflosigkeit. Doch ebenso, wie man versuchen konnte, einen Vulkan am Ausbruch zu hindern, gelang es auch Agnes nicht, die Glut, die in ihr aufstieg, zu beherrschen. Mit einem Aufschrei wischte sie über den kleinen Tisch. Die Kämme und Bürsten krachten gegen das Bett. Ein kleiner Flakon mit einer Duftessenz zersprang in tausend Scherben.

 

Mit einem Schluchzen warf sich Agnes aufs Bett und grub den Kopf in eines der Kissen. Selbst diese waren zu edel, um auf eine Flucht mitgenommen zu werden. Die Verzweiflung von Agnes entfesselte sich in einem Weinkrampf, der ihren zarten Körper durch und durch schüttelte. Als sie vor Erschöpfung zur Ruhe kam, starrte sie mehr als eine Stunde an den Bettpfosten. In Gedanken ging sie ihre Möglichkeiten durch. Sich dem Vater zu widersetzen und hier zu bleiben, würde ihren sicheren Tod bedeuten oder noch Übleres. Denn in der Hand von Eroberern würde sie eine mehr als begehrenswerte Trophäe darstellen. Den Verbleib ihres Vaters an diesem Ort, der sich bald in eine brennende Hölle verwandeln würde, schob sie weg. Agnes musste jetzt an sich denken.

 

Plötzlich fühlte sie sich im Stich gelassen. Schon vor vielen Jahren hätte sich der Graf um ihre Zukunft bemühen müssen, aber er war zu sehr mit den Konflikten um sich herum beschäftigt gewesen. Selbst eine politisch motivierte Heirat erschien ihr in der derzeitigen Situation erstrebenswerter als jede Alternative. Dann wäre Enigor wenigstens in friedlicher Form in die Hände eines Fremden gefallen und es hätten weniger Menschen sterben müssen, als das bisher der Fall war. Doch sie wusste auch, dass ihr Vater diese Wahl nicht hatte. In Dritteln konnte er seine Tochter nur schwerlich verteilen, denn hätte er dem Ritter von Morgwald, dem Grafen von Ald oder dem Markgrafen von Brannburg die Hand seiner Tochter gewährt, dann wären die beiden anderen über dessen Reich und Enigor hergefallen. Die Gedanken von Agnes wandten sich sogar in die Richtung, wie es wohl sein könnte, mit allen drei verheiratet zu sein. Das war so absurd, dass sie fast lachen musste.

 

„Nein!“, dachte sie entschlossen. „Es ist genug über mich bestimmt worden. Ich werde jetzt meinen eigenen Weg finden.“

 

Ihr Blick schweifte durch den Raum. So, als wollte sie die Lösung hier und jetzt finden. Kurz blieb sie mit den Augen an einem unscheinbaren Cremetöpfchen hängen. Das war es!

 

Entschlossen sprang sie auf und stürmte zur Tür hinaus. Wenn sie sich beeilte, dann konnte sie genug organisieren, um ein erstes Auslangen zu haben. Begeistert stieß sie die Tür zur Kräuterkammer auf. Einen kurzen Moment ließ sie den Duft der getrockneten Heilpflanzen auf sich wirken. Ach, wie würde ihr das fehlen, meldete sich ein Stich ins Herz.

 

Agnes schüttelte den traurigen Gedanken ab. Mit eigener Kraft würde sie sich all das wieder aufbauen. Heilpasten und Mischungen für lindernde Getränke wurden immer gebraucht. Was sich nicht in Wäldern fand, konnte sie auch auf dem winzigsten Stück Erde anbauen. Und sie würde im Tausch gegen ihr Wissen und ihre Materialien Geld oder Essen bekommen.

 

Ihr Drang, zu überleben und vor allem zu leben, endlich ein Leben zu haben, schärfte ihren Verstand. Sie sortierte ihre Kräuter nach Gebrauch und Wichtigkeit. Die eigens gebrannten Tontöpfchen mit den passenden Holzdeckeln ließ sie schweren Herzens zurück. Sie waren eine zu große Last. Stattdessen füllte sie die bereits zerstampften Kräuter in kleine Lederbeutel, die sie gut verschließen konnte, und die staudenartigen getrockneten Heilpflanzen wickelte sie in Leinentücher. Eine Last wollte sie gerne tragen – einen Tiegel mit Schweinefett. Das vorsichtig erwärmte und langsam ausgelassene Fett war zusätzlich durch grobe Leinentücher gesiebt worden und gab so die perfekte Basis für Heilpasten oder, mit etwas Duftessenzen dazu, eine zarte Creme, die gerne von feinen Damen zur Körperpflege benutzt wurde.

 

„Auch wenn es einem keinen Ehemann einbringt“, dachte Agnes bitter und ließ sich einen Augenblick von ihrer Arbeit ablenken.

 

In der Kräuterkammer wurde sie auch bei der Such nach einem Kleidungsstück fündig. Ihr Arbeitskittel für den Kräutergarten ging als Hülle einer Bäuerin oder Kräuterfrau, die sie nun sein wollte, durch. Systematisch durchkämmte Agnes den Raum nach brauchbaren Gegenständen, wobei sie das erste Mal in ihrem Leben gezwungen war, praktisch zu denken. Die kleine Holzschale zum Zerstampfen der Kräuter und zum Anrichten der Pasten – konnte man sie auch zum Essen verwenden? Entschlossen verneinte sie, denn es ging nicht, dass Johanniskraut, Misteln oder Käsepappel nach Suppe rochen. Würde sie je wieder eine Suppe zu essen bekommen? Die kundige Kräuterfrau bräuchte gar für jedes Produkt eine eigene Holzschüssel, aber das ging Agnes entschieden zu weit. Sie wollte Heilung und Linderung verkaufen, nicht Holzschalen.

 

Nach einem letzten Rundblick verließ sie den Raum mit einem wohlgefüllten Beutel, der sich dank der leichten Kräuter gut tragen ließ. Sie ging zur Küche und merkte, dass sie nicht die Einzige war, die Reisevorbereitungen traf. Die Köchin plante offensichtlich einen schwunghaften Handel mit Gewürzen, denn sie verpackte enorme Mengen Pfeffer, Nelken und Safran in ganz ähnliche Lederbeutel wie Agnes ihre Kräuter. Durch die Haushaltsabrechnungen wusste sie, dass die Köchin damit ein kleines Vermögen fortschaffte, aber sie wollte der guten Frau ihr Auslangen lassen und hier würde es bald niemandem mehr nützen.

 

Mit einem Nicken erklärte Agnes ihr Einverständnis und nahm sich einen Satz Essgeschirr aus dem Regal. Auf den Rat und mithilfe der Köchin stellte sie sich ein paar Lebensmittel zusammen, die für die nächsten zwei, mit ein paar Einschränkungen auch für drei Tage reichen konnten.

 

In der Küche war es ungewohnt kalt. Mit Bitterkeit fiel Agnes ein, dass hier heute Abend niemand etwas zu essen wollte. Doch das erinnerte sie daran, dass sie sich noch festere Schuhe und eine Decke besorgen sollte. Mit einem Blick auf die Köchin fiel ihr auch noch etwas anderes ein.

 

„Wie geht das?“, fragte sie und zeigte auf den Kopf der Frau.

 

Mit zwei Handgriffen löste die verdutzte Köchin einen groben Leinenschal, dessen lange Enden zuerst eingedreht und dann um den Kopf gewickelt worden waren. Agnes sah ihr aufmerksam zu, denn auch mit all dem Pioniergeist, der sie zurzeit antrieb, wollte sie keine unnützen Fehler machen. Sie überlegte kurz, wo ein ähnlicher Schal zu finden war, dankte der Köchin und eilte zum Hauswirtschaftsraum davon, in dem die Truhe mit den Leinenstoffen für die Gesindekleidung stand.

 

Der Schock traf sie wie ein Schlag ins Gesicht. Die Kammer war fast völlig leer. Alles, was nicht niet- und nagelfest war, hatten die Bediensteten der Burg schon für die Flucht oder für eigene Zwecke mitgenommen. Agnes ärgerte sich. „Die Ratten verlassen das sinkende Schiff!“, murrte sie leise, doch im selben Moment tat ihr der Gedanke leid.

 

Die Dienstboten hatten das drohende Unglück mit Sicherheit schon viel länger gesehen – nicht so wie sie, die ahnungslos in ihrer Kammer auf samtenen Kissen gesessen und Laute gespielt hatte. Die Galle wollte ihr übergehen vor Ärger auf ihren Vater und alle Hofschranzen, die fleißig an dem goldenen Käfig gesponnen hatten. Hastig durchsuchte sie die mageren Überreste im Hauswirtschaftsraum. Agnes fand zwei Lederstücke, die sie über ihre Füße binden konnte und es gab auch noch ein Stück altes Leinen, das verschmäht in der Truhe lag.

 

Eine Decke wollte sie im Stall finden. Agnes kam sich seltsam vor, denn nur in Ausnahmefällen hatte sie die Pferdeunterkunft betreten. Der Geruch, der ihr entgegenschlug, erstickte fast ihren Kampfgeist und sie stand eine Weile auf der Schwelle und versuchte, sich die Notwendigkeit einer Decke auszureden. Ein kalter Windhauch belehrte Agnes bald eines Besseren und vorsichtig suchte sie unter den Pferdedecken eine aus, die nicht zu streng roch.

 

Rufe im Hof mahnten sie zur Eile, doch ihre erste Bewährungsprobe wartete schon in ihrem Zimmer. Die Kammerzofe war nicht mehr zu finden. Wahrscheinlich war sie schon zu ihrer Familie zurückgekehrt. Agnes musste die Schnürungen ihrer Tunika allein lösen. Ungeschickt nestelte sie an den Bändern an der Seite und verschaffte sich mit Mühe genug Freiraum, um sich das Kleidungsstück über den Kopf zu ziehen. Ratlos betrachtete sie sich im Spiegel. Auch ihr Unterkleid hätte sicher nie den Weg in eine Bauernstube gefunden, aber Agnes hatte keine Wahl.

 

Seufzend streifte sie den Arbeitskittel aus der Kräuterkammer über und wickelte sich das Leinentuch um den Haarknoten, den sie so gut wie möglich aus ihren viel zu langen Haaren gedreht hatte. Anschließend riss Agnes von ihrem Bettzeug ein paar Streifen ab und wickelte sie um ihre Füße, den Abschluss machten die Lederstreifen. Eine Eiseskälte stieg von den Steinplatten am Boden auf.

 

„O Gott, wie halten das die Menschen bloß aus?“ Agnes merkte, wie sie der Mut verließ und sich eine Welle von Angst breitmachte. Unsicher öffnete sie die Truhe, in der ihre Schuhe aufbewahrt wurden. Die Rettung präsentierte sich in einem Paar Reisestiefeln, die mit gestanzter Wolle ausgelegt waren. Bei nächster Gelegenheit würde Agnes ihnen eine Schlammkur verpassen. Langsam nahm sie den vorbereiteten Beutel. Traurig strich sie über ihren Spiegel und die feinen Einlegearbeiten auf dem Putztisch. Auf dem kleinen Silberkästchen für ihren Schmuck stockte ihre Hand. Zögernd hob Agnes den Deckel. Zumindest die Miniatur mit dem Andenken an ihre Mutter wollte sie mitnehmen.

 

Plötzlich stürzte sie zur Tür. Sie wollte sich nicht länger quälen. „Vater“, erschien sie ungebeten in seinem Arbeitszimmer. Die Konventionen und Höflichkeiten waren ihr nun gleichgültig. Wie am Morgen starrte der alte Graf aus dem Fenster und beobachtete die kleine Gruppe von hoffnungslosen Menschen, die sich im Hof geformt hatte. Mit ihnen würde er auch die wichtigste Person in seinem Leben fortschicken.

 

Mit feuchten Augen blickte er Agnes an. Fast wäre er über ihre Erscheinung erschrocken, doch gleichzeitig war er auch stolz auf seine Tochter, dass sie so anpassungsfähig war. Schweigend gab er ihr den bereits versiegelten Brief, den sie Fürst Martin aushändigen sollte.

 

„Wieder ist es selbstverständlich, dass über meine Zukunft bestimmt wird, und ich darf es nicht einmal lesen“, dachte Agnes unglücklich, doch sie wollte nicht mit bösen Gedanken von ihrem Vater weggehen.

 

Beide schwiegen betreten. Agnes hatte oft ihren Vater verabschiedet, wenn er die Burg verlassen musste. Umgekehrt war es noch nie der Fall gewesen, denn sie hatte diese Mauern immer nur in seiner Begleitung verlassen. Schüchtern trat sie auf ihn zu und legte die Arme um seinen Hals. Zuerst erwiderte der alte Graf die Umarmung nur zaghaft, doch mit einem Mal begann er zu zittern und drückte Agnes fest an sich. An den Tränen, die sie an ihrer Wange spürte, merkte die junge Frau, dass ihr Vater weinte, so sehr weinte, dass er kein Wort über die Lippen brachte.

 

In diesem Moment wusste sie, dass sie einander nie wieder in die Arme schließen würden. Minutenlang blieben Vater und Tochter stehen und klammerten sich aneinander, als könnten sie durch ihr Verharren auch die Zeit anhalten, die gnadenlos dahinging und das Unvermeidliche immer näher brachte. Wie in Trance wandte sich Agnes zur Tür und ging die Stiegen zum Hof hinunter. Ihr Erscheinen wurde von Andrin, der die Gruppe führen sollte, als Signal zum Aufbruch genommen und die kleine Gruppe von traurigen Menschen setzte sich langsam in Bewegung. Beutel und Säcke wurden geschultert, auf einem Handkarren schlafende Kinder sorgsam zugedeckt und letzte Blicke auf das Gemäuer geworfen, das so lange Heimstatt war.

 

Agnes wurde von einer Flut von Gefühlen heimgesucht. Panische Angst vor dem Fremden und Ungewissen wichen Euphorie und Aufregung vor dem Neuanfang. Nur eines wusste die junge Frau mit Sicherheit, als sie das äußerste Burgtor hinter sich ließen. Selbst wenn sie je wieder zurückkehrten sollte, sie würde nicht mehr derselbe Mensch sein. Mit diesen Gedanken blickte sie nicht mehr zurück.

2

Die kleine Gruppe war in der Dämmerung aufgebrochen und nach nur kurzer Zeit breitete die Nacht ihr pechschwarzes Kleid über die Landschaft. Das Wetter hatte sich beruhigt und der Mond schien Mitleid mit den Heimatlosen zu haben. Er sandte ein mattes Licht zur Erde, in dem zumindest die größten Hindernisse zu erkennen waren. Agnes war schon nach wenigen Schritten erschöpft. Nie zuvor in ihrem Leben war sie über so unwegsamen Boden gegangen.

 

Sie kannte diese Straße nur zu Pferd oder geborgen in einer Kutsche sitzend. Von den unbequemen Fahrten wusste Agnes, dass die Straßen alles andere als gut befahrbar waren. Oft war das Gerumpel in der Kutsche kaum zu ertragen, doch zu Fuß erwies es sich die schlechte Fahrbahn als Katastrophe. Noch mehr als die körperliche Belastung machte ihr die Angst zu schaffen. Mit blankem Entsetzen lauschte sie den unbekannten Geräuschen aus der Dunkelheit. Immer wieder ließ die junge Frau ihren Blick in das tiefschwarze Nichts gleiten. Im schwachen Schein der Fackel, die Andrin bei sich trug, waren aber nur bizarre, angsteinflößende Formen zu erkennen, die sich bei Tageslicht vielleicht als harmloser Strauch herausgestellt hätten. Zu ihrer eigenen Beruhigung versuchte Agnes, sich die Bilder des Waldes im Schein des Sonnenlichts auszumalen. Saftige grüne Blätter, die sich sanft in einem lauen Lüftchen wiegten. Tannen mit so dicken Stämmen, dass ein Mann sie nicht umfassen konnte, ragten mit dicht bewachsenen Spitzen in den Himmel, wo sie eifrigen Waldbewohnern eine Heimstatt boten. Doch genau diese verursachten nun all die Geräusche, bei denen Agnes jedes Mal gebannt aufhorchte.

 

Niemand sagte ein Wort. Alle trugen Last und Leid mit einem Schweigen, das wie eine schwere Wolke auf den unfreiwillig Reisenden lag. Agnes wagte nicht zu klagen. Vielleicht hätte sie mit ihrem Gejammer keine Verwunderung ausgelöst, doch sie konnte es in ihren Gesichtern sehen – sie mochte mitgehen im mageren Schutz der Einheit oder allein zurückbleiben. Alternative gab es keine, denn sie war keine Grafentochter und die anderen waren keine Dienstboten mehr.

 

Zu Agnes’ großem Glück übernahmen die größeren Kinder, die bisher auch zu Fuß gegangen waren, das Gejammer. Sehnsüchtig sah sie sich nach einem möglichen Rastplatz um. Doch ihre Hoffnung währte nur kurz. Der alte Pferdeknecht Andrin, dem der Graf diese Menschen anvertraut hatte, wollte das nächstgelegene Dorf erreichen. Hier im Wald boten sie nur eine erstrebenswerte Mahlzeit für die Wölfe.

 

Die auf dem Karren schlafenden Kleinkinder wurden auf die Frauen verteilt. Agnes fand sich mit einer zusätzlichen Last. Das kleine Mädchen schmiegte sich warm und weich in ihre Arme. „Vielleicht findest du das sogar besser als den holprigen Wagen“, flüsterte sie leise gegen die Stirn ihres schlafenden Schützlings.

 

In aller Eile wurden die älteren Kinder auf dem Gefährt untergebracht und in wesentlich langsamerem Tempo ging es weiter. Mühsam schleppten sich die müden Menschen über die ausgetrockneten und nun wieder frisch aufgeweichten Furchen, die die Kutschen und Karren der fahrenden Händler im einstigen Schlamm zurückgelassen hatten. Jedem Einzelnen von ihnen saßen die Entbehrungen der letzten Wochen in den Knochen und das ungewisse Schicksal in der Zukunft machte jeden Schritt in Richtung Osten zur Höllenqual.

 

Geschwindigkeit und Moral hoben sich erst, als sich der Wald lichtete und sie zu den Feldern kamen, die zu dem Dorf gehörten, das ihre erste Zufluchtsstätte sein sollte. Der schmale Pfad war durch die häufige Benutzung gut ausgetreten, doch nur bis zu einem ganz bestimmten Punkt. Es war deutlich zu merken, dass der Waldrand eine magische Grenze bildete – hier ging nur hinein, wer unbedingt musste.

 

In diesem Teil von Enigor zeigte sich eine deutliche Veränderung im Landschaftsbild der kleinen Grafschaft. Das gebirgige Gelände wurde durch ein weitläufiges Becken unterbrochen, dessen fruchtbare Erde zu ausgiebiger Landwirtschaft einlud. Da es auch klimatisch begünstigt war, war dieses Gebiet als Kornkammer von Enigor bekannt. Die im Mondlicht glänzenden Strohstoppel verrieten, dass die letzte Ernte noch eingebracht worden war, doch das übliche Abbrennen der Felder, um den Boden auf das nächste Jahr vorzubereiten, hatte nicht mehr stattgefunden.

 

Agnes war über diese Tatsache beunruhigt, aber trotzdem ging es ihr in doppelter Hinsicht besser. Die erste Pause war nahe und ihr Körper war in einen Trott verfallen, der schmerzende Füße und eingeschlafene Arme leichter ertragen ließ. Am Feldrand war das Gehen auch befreiter und sie schöpfte wieder etwas mehr Mut. Im Geiste dankte sie dem Umstand, dass sie das Kind tragen musste. Der kleine vom Schlafen warme Körper war das beste Mittel gegen die Kälte der Nacht, die eine zusätzliche Mühsal bedeutete.

 

Am Dorfrand hieß der alte Pferdeknecht die Erschöpften warten. Langsam ging er zu den Häusern. Es war unheimlich, denn zumindest ein Hund hätte anschlagen oder ein leises Muhen die Ankömmlinge ankündigen müssen.

 

„Was ist geschehen, Andrin?“, fragte eine der Frauen den alten Mann ängstlich, als er nach viel zu langer Zeit mit besorgter Miene zurückkehrte. „Es sind alle fort“, gab er knapp zur Antwort. „Die Hütten und Ställe sind leer.“

 

„Mein Vater hat die verbliebenen Bewohner schon vor Wochen in Sicherheit bringen lassen“, sagte Agnes leise. Alle drehten sich zu ihr um.

 

Plötzlich ergaben die Wortfetzen und Andeutungen der vergangenen Monate Sinn. Das erklärte das Ausbleiben von Getreide, Milch und Vieh. Auf Anordnung des Grafen waren alle Dörfer in der Nähe der Burg aufgelöst worden. Entbehrliche Tiere waren getötet und das Fleisch war verteilt worden. Trächtige Kühe und Kühe mit Kälbern hatten die Bauern mitgenommen. Selbst das letzte Getreidekörnchen war dem herannahenden Feind entzogen worden. Andrin seufzte. Er konnte seinen Schutzbefohlenen damit ein Lager für die Nacht bieten, aber Essen oder gar Vorräte würden sie nicht bekommen. Nachdenklich scharrte er mit einem Fuß auf dem Boden. Alle sahen ihn erwartungsvoll an.

 

„Wir werden uns am besten im Schüttkasten Unterkunft suchen“, setzte er zum Reden an, „dort haben wir alle Platz und mit etwas Glück ist es auch warm.“

 

Auf dem Weg zum Getreidespeicher versuchten die Frauen ihr Glück in den Bauernhütten, doch die magere Ausbeute waren nur ein paar strohgefüllte Matratzen, die den gestampften Boden in der gewählten Unterkunft etwas einladender gestalten konnten. Mithilfe der Unterbetten, von etwas verbliebenem Stroh und der mitgebrachten Decken ließ sich eine recht ordentliche Lagerstatt schaffen, die allen ein Plätzchen bot.

 

Agnes war so müde, dass sie gar nicht darüber nachdachte, dass sie noch nie in Gesellschaft geschlafen hatte, geschweige denn auf so engem Raum. Die Auswahl war sehr eingeschränkt. Die linke Körperseite mit direktem Kontakt zur Köchin oder die rechte Seite Arm in Arm mit dem kleinen Mädchen, dessen älterem Bruder und der Mutter der beiden. Kaum hatten sich alle ausgestreckt und behelfsmäßig zugedeckt, war die junge Frau eingeschlafen. In ihrer Mattigkeit vergaß sie, ihre Notdurft zu verrichten. Ein Umstand, der sie später unsanft hinaus in die Kälte trieb. Mit einem Anfall von leichter Verzweiflung überlegte Agnes, wie sie ihr Problem lösen sollte – ein gewärmter Nachttopf oder zumindest ein Abort würden sicher nicht zu finden sein.

 

Schließlich entschied sie sich für einen Winkel zwischen zwei der Bauernhütten, wo der Geruch verriet, dass die Idee nicht neu war. Mit einem Anflug von Mutlosigkeit hatte die junge Frau das Gefühl, vor schier unlösbaren Problemen zu stehen. Nicht das erste Mal seit ihrem Aufbruch von zu Hause verfluchte sie ihr ganzes bisheriges Leben. Auf Anhieb mochte ihr keine Eigenschaft einfallen, die sie für ein normales Erdendasein empfohlen hätte. Die Kälte und der Gestank trugen dazu bei, dass Agnes so lange brauchte, dass sie bei der Rückkehr ihren Platz zwischen den Schlafenden einer feindlichen Aneignung durch die Kinder ausgesetzt sah.

 

Die Müdigkeit trieb sie nicht so sehr an, die Raumverteilung wieder herzustellen, aber sie fühlte sich so durchgefroren, dass sie zähneklappernd entschlossen zur Tat schritt. Sie entschied sich für die unterlegenen Invasoren, denn es war nicht daran zu denken, der Köchin einen Zentimeter abzukämpfen. Vorsichtig schob sie zuerst den Jungen und dann das Mädchen mehr zur Mutter, die im Schlaf unwillig grunzte. Mit bewundernswerter Selbstverleugnung quetschte sich Agnes dazwischen und war froh über ihre Entscheidung. Die wohlige Wärme machte das Schnarchen der Köchin und die unzähligen, bislang verwaisten Flöhe, die sich mit Begeisterung auf das frische Fleisch stürzten, ein wenig erträglicher. Sie lag lange wach und starrte auf das Holzgitter, das die Belüftung zum Getreidespeicher verschloss, oder lauschte auf die leisen Schlafgeräusche der Kinder. Geplagt von Ängsten und Sorgen schlief die junge Frau schließlich ein.

 

Das laute Husten von Andrin riss Agnes in der ersten Morgendämmerung aus einer unruhigen und viel zu kurzen Nachtruhe. Der kleine Junge war schon aufgestanden und kehrte gerade von draußen zurück, wahrscheinlich von demselben gastfreundlichen Winkel, den Agnes schon in der Nacht kennenlernen musste. Sie überlegte lange, ob sie den Abort tatsächlich noch einmal in Anspruch nehmen wollte. Das kleine Mädchen neben ihr trank sich schmatzend bei seiner Mutter satt, die noch dankbar liegen geblieben war.

 

Jeder ignorierte den anderen. Dadurch entstand in dieser Enge ein Anschein von Intimität und der alte Mann konnte seine Beinkleider richten oder die Frauen ihre Haare, ohne sich peinlich berührt zu fühlen.

 

„Bringt alle Vorräte zu mir!“ Agnes fuhr auf den ungewohnten Befehl zusammen. Andrins Miene verriet, dass er keine Ausnahmen dulden würde.

 

„Da wir nicht wissen, wann wir wieder etwas bekommen werden, müssen wir die Nahrung rationieren.“ Andrin sah streng in die verschreckte Gruppe. „Derjenige, der etwas für sich behält, wird von der Verteilung ausgeschlossen.“

 

Säcke und Tragekörbe wurden zum Handkarren gebracht, wo sich nach kurzer Zeit eine ansehnliche Menge ansammelte und Hoffnung gab, dass niemand so bald hungern müsste. Doch der alte Pferdeknecht hatte schon zu viel erlebt, um bei diesem Anblick euphorisch zu werden. Er wollte vorsichtig haushalten, denn nichts war schlimmer als darbende Kinder, die um ein Stück Brot bettelten.

 

Jeder erhielt eine Scheibe Brot mit etwas Honig darauf und ein Stück Trockenfleisch als Wegzehrung. Agnes hatte kaum Appetit und teilte ihre Ration mit den Kindern, die vor allem den Honig begeistert genossen. Mit einem milden Lächeln betrachtete die junge Frau die beiden und fiel kurz in einen Tagtraum.

 

„Ob ich wohl je eigene Kinder haben werde?“, fragte sie sich, doch nur um schmerzliche Erinnerungen an die Vergangenheit heraufzubeschwören.

 

Sie schüttelte unwillig den Kopf, um die Gedanken wieder loszuwerden. Weitere Überlegungen wurden durch einen neuerlichen schroffen Befehl von Andrin unterbrochen. Die kleine Gruppe formte sich nur langsam vor dem Schüttkasten. Den Frauen konnte man die Strapazen ansehen und niemand hatte das Gefühl, der nächsten Etappe gewachsen zu sein. Der Karren wurde mit den Vorräten beladen, die der alte Mann zum Wohle aller nun sorgfältig im Auge behielt.

 

Auf sein Handzeichen hin setzten sie sich in Bewegung. Die schmerzenden Füße von Agnes meldeten sich augenblicklich zurück. Sehnsüchtig dachte sie an die Möglichkeiten in ihrem Beutel. Etwas Stechapfelkraut oder gar Alraune hätte sie Schmerzen und Schicksal vergessen lassen, aber für wie lange? Und war es denn wirklich schon so schlimm, um lieber in einen betäubungsähnlichen Zustand zu fliehen?

 

Das kleine Mädchen Helene saß vergnügt auf dem Handkarren und gab sich dem Glück der Unwissenden hin. Für sie war das Ganze nur ein Abenteuer. Agnes beschloss, sich von der Fröhlichkeit anstecken zu lassen, und begann, eine heitere Weise zu singen. Andrin zeigte sein Einverständnis mit einem kaum erkennbaren Nicken und die Gruppe verließ das vereinsamte Dorf weiter in Richtung Osten.

 

Mit dem stärker werdenden Tageslicht wuchs auch die Hoffnung und sie kamen viel besser voran. Aus Erfahrung klug geworden hielten die Frauen die Augen nach Essbarem offen. Der Spätsommer lud auf Äpfel und Brombeeren ein. Begierig auf eine warme Mahlzeit sammelten sie auch Feuerholz und als zu Mittag das nächste Dorf am Horizont auftauchte, war niemand mehr überrascht, dass auch dieses verlassen war.

 

Mit viel Geschick richteten die Köchin und zwei der ehemaligen Dienstmägde auf der Feuerstelle in einer der Hütten einen appetitlichen Eintopf her. Agnes machte den Vorschlag, ein paar Tische auf dem Dorfanger zusammenzustellen, um so einen gebührenden Platz für jedes Mitglied der Gruppe an einer gemeinsamen Tafel zu haben. Die Idee gefiel allen und die Kinder schleppten begeistert Stühle und andere Sitzgelegenheiten herbei. Das gemütliche Mittagessen im Schatten einer riesigen Eiche ließ alle für einen Moment den wahren Grund des Aufenthalts in diesem vereinsamten Dorf vergessen.

 

Andrin gab sich etwas entspannter und gönnte sich wie die anderen eine kurze Mittagsruhe. Es war ihm sonnenklar, dass damit die Bereitschaft aller für den Fußmarsch am Nachmittag gesteigert würde. Beruhigt blickte er auf den wolkenlosen Himmel und sah die kommenden Tage etwas optimistischer. Er überschlug kurz die Möglichkeiten und hoffte darauf, in vier Tagen auf dem Pass zu sein und die Grenze nach Landrion zu überschreiten.

 

In gehobener Stimmung brachen die Reisegefährten auf und Agnes hatte alle Gedanken an Kräuter und Betäubung vergessen. Sie fing an, die Reise mit neuen Augen zu sehen, und merkte auch, dass ihre Akzeptanz bei den anderen gestiegen war. Insgeheim waren alle froh, dass sich die ehemalige Herrin in ihr Schicksal fügte und keine Dienstleistungen einforderte, denn es hätte ihr kaum Sympathien eingebracht.

 

Fortuna stand der kleinen Menschenschar bei und bedachte sie zu den richtigen Zeitpunkten mit einer Unterkunft, auch wenn es nur die Hütte eines Köhlers im Wald war, und auch mit der einen oder anderen Feldfrucht. Am Ende des dritten Tages ihrer Wanderung sahen sie in der Ferne einen abgelegenen Hof. Ein erstrebenswertes Ziel, doch ein ungutes Gefühl breitete sich bei Andrin und den Frauen aus. Was die hereinbrechende Dämmerung vor den Augen verbarg, ließ den Geruchssinn nicht täuschen. Der Gestank von versengtem Holz und verbranntem Fleisch hing wie ein drohender Vorbote auf etwas Grauenvolles in der Luft.

 

Mit einem Ruck blieb die Gruppe wie angewurzelt stehen. Keiner konnte sich entschließen, einen weiteren Schritt in Richtung des Hofes zu setzen. Andrin allein vorzuschicken, das wollte keine der Frauen zulassen, und einen anderen Weg einzuschlagen verbot die herannahende Nacht. Angstvoll und mit offenen Sinnen näherten sie sich dem Hof. Jedes Geräusch ließ die Menschen aufhorchen, doch es gab nichts zu hören – nur die Stille des Todes.

 

Andrins Gehirn arbeitete fieberhaft. War es nur ein unglücklicher Unfall gewesen oder gab es noch Angreifer, die im Hinterhalt auf die nächsten Opfer lauerten? Ein Blick auf den Boden gab rasche Antwort. Einem Pferdeknecht hätte das niemals entgehen können. Pferde, sehr viele Pferde und ihre Hufe waren in ganz spezieller Weise beschlagen gewesen.

 

„Soldaten!“, dachte Andrin angewidert. „Die sind sicher nicht mehr hier“, sprach er den Gedanken laut aus. Agnes hatte Andrin beobachtet, sie löste sich aus der Gruppe und ging zu ihm.

 

„Was sollen wir tun, Andrin?“, fragte sie mit flüsternder Stimme. Fast unhörbar wisperte sie: „Ich habe schreckliche Angst.“

 

Der alte Mann kniff die Augen zusammen und überraschte die junge Frau. „Ich auch“, gab er ganz leise zurück. Agnes sog hörbar die Luft ein.

 

„Der Graf von Ald oder Edwin von Morgwald haben sich ein neuerliches Denkmal ihrer Grausamkeit gesetzt“, sprach Andrin seine Vermutung aus.

 

Mit einer kaum erkennbaren Handbewegung zeigte die junge Frau auf das Land weit hinter dem Hof. Der alte Mann ahnte, was sie dachte.

 

„Landrion, Martin?“ Er biss sich auf die Lippen. „Nein, ich glaube nicht, bisher hat es von ihm so was nicht gegeben.“

 

„Und wenn doch“, beantwortete er die unausgesprochene Frage, „dann gnade uns Gott.“

 

Die hereinbrechende Nacht brachte Kälte und Wind. Beides half der Entschlusskraft der Menschenschar auf die Beine. Die aufkommende Prise löste den Höllendunst und die abkühlende Luft veranlasste den Wunsch nach einem Dach über dem Kopf.

 

Es war nicht notwendig, sich abzusprechen. Die Schutz Suchenden konnten sich nur für einen kleinen Unterstand entscheiden, der das Inferno überstanden hatte. Obwohl die Holzkonstruktion nach einer Seite hin offen war, waren sie froh, auch etwas Heu zur Aufpolsterung der Lagerstatt zu finden. Es gab noch einen kleinen Vorteil – der Unterstand war weit genug weg vom niedergebrannten Stall, der Quelle des Pesthauchs.

 

Nun war es still, doch die Schreie der bei lebendigem Leibe verbrennenden Tiere mussten grauenvoll gewesen sein. An die Todesqualen ihrer Besitzer wollte Agnes erst gar nicht denken. „Ob ihre Körper noch irgendwo lagen?“ Mit diesem bedrohlichen Gedanken fiel Agnes in einen unruhigen Schlaf.

 

Sie spürte es als einen dämmrigen Wachzustand, die Ohren empfänglich für alle Geräusche, die Beine angespannt, um jede Sekunde zur Flucht aufzuspringen.

 

Das wilde Gezeter der Krähen, die mit dem ersten Licht der Morgendämmerung um den Festschmaus stritten, schreckte die Frauen aus dem Schlaf. Verwirrt schaute sich Agnes nach Andrin um.

 

Fast panisch stürzte sie aus dem Unterstand. Mit Entsetzen nahm sie das Ausmaß der Zerstörung war. Zwischen verkohlten Holzpfählen, die dem einstigen Stall als Stützen gedient hatten, lagen schwarz verkrustete Tierkadaver, die von den Vögeln aufgerissen und nach verbliebenem Aas durchsucht wurden. Mit einer entschiedenen Handbewegung deutete sie den Kindern, auch den größeren, im Unterstand zu bleiben. Agnes fühlte sich von der schrecklichen Szene überfordert, die Kinder sollten das nicht sehen. Suchend blickte sie auf die Felder hinter dem Hof.

 

Plötzlich fiel ihr die Silhouette von Andrin auf. Er schien einen schweren Gegenstand zu schleppen. Als er ihn abgelegt hatte, verscheuchte er ärgerlich, eine weitere Schar Krähen, die sich durch ihn gestört fühlte.

 

„O Gott, bitte nicht!“ Agnes schossen die Tränen in die Augen. Fast blind lief sie zu dem alten Mann, um ihn bei seinem edlen Vorhaben zu unterstützen.

 

Den schlimmsten Anblick hatte Andrin schon ausgemerzt, doch der zertrampelte Boden und die unzähligen Blutlachen brüllten Agnes das Gemetzel ins Gesicht.

 

„Das waren keine Menschen“, brachte der alte Pferdeknecht nur mühsam hervor. „Das waren Teufel, abscheuliche Teufel!“

 

Unter den Steinen, die Andrin um die Toten aufschichtete, konnte Agnes den Arm eines Kindes erkennen.

 

Plötzlich rebellierte ihr Magen. Hastig drehte sie sich um und musste sich übergeben. Ihr ganzer Körper wurde vom Würgereiz geschüttelt. Sie spürte, dass Andrin sie stützte.

 

„Das habe ich auch schon hinter mir“, murmelte er und nickte verständnisvoll.

 

Nachdem sich die junge Frau wieder gefangen hatte, bückte sie sich nach Steinen und reichte sie dem alten Mann. Er hatte Übermenschliches geleistet. Der Bauersfrau und ihren drei Kindern hatte er eine letzte Ruhestätte geschaffen. Gemeinsam deckten sie die Leichen ab, um sie in die Hände Gottes zu geben und nicht den Krähen.

 

Schweigend gingen Agnes und der alte Mann zu ihren Weggefährten zurück. Die Köchin Martha hatte in einer Vorahnung die Verteilung des Frühstücks übernommen. Andrin nickte dankbar und nahm seinen Anteil entgegen. Agnes war wie betäubt und hielt ihr Brot in der Hand.

 

„Wir leben noch“, ermunterte Andrin sie zum Essen. Sekundenlang starrte Agnes ihn an und ihr war klar, dass das erst der Anfang war. Sie spülte den Mund mit Wasser, um den ekelhaften Geschmack loszuwerden, und zwang sich, das Brot zu essen. Mittlerweile war das wenige, was der Gruppe noch geblieben war, steinhart, aber so waren vor allem die Kinder länger damit beschäftigt.

 

Mit dem Unheil kam auch wieder das schlechte Wetter und die Reisenden blickten besorgt zum Himmel. Spätestens zu Mittag würden sie alle nass vom Regen sein, doch zu bleiben kam für niemanden infrage. Die kleine Menschenschar hielt sich an der Hoffnung fest, dass die Ankunft in Landrion Sicherheit und Nahrung bedeutete.

 

Die Baumkronen des anschließenden dichten Waldes, der noch durchquert werden musste, boten nur wenig Schutz vor dem Unwetter, das bald auf alle niederprasselte. Auf dem Waldboden, der sich in kürzester Zeit in ein Schlammloch verwandelte, war ein Weiterkommen kaum möglich. Der Handkarren fuhr sich wiederholt fest. Die Frauen nahmen die Kinder auf und verteilten das verbliebene Gepäck. Andrin bemühte sich mit den Halbwüchsigen, das Gefährt weiterzuführen.

 

Rasch breitete sich Ratlosigkeit aus. Mit einem Blick in die Gesichter der Frauen, die alle entschlossen waren weiterzugehen, entschied der alte Pferdeknecht, den Karren zurückzulassen. Der Pass nach Landrion war nicht mehr weit und das dortige grenznahe Dorf war vermutlich nicht verlassen. Mit dieser Hoffnung schleppten sie sich weiter.

 

Der Pass unterschied sich vom restlichen Waldgebiet nur dadurch, dass eine größere Fläche regelmäßig gerodet wurde und es einige Feuerstellen am Waldrand gab. Weit und breit gab es keine Herberge oder einen Hof. Das Gebiet rund um den Grenzübergang gehörte den Außenseitern der Gesellschaft. Geächtete und Vogelfreie bestimmten auch mit der ständigen Präsenz von Soldaten die Situation.

 

Eines der Wegegesetze untersagte die Überquerung des Passes bei Schlechtwetter oder in der Nacht. Wer im falschen Moment kam, musste warten, auch Tage, denn ohne ein Siegel des Fürstenhauses im Gepäck war niemand in Landrion willkommen und vogelfrei wie die lichtscheuen Wesen, die den Wald ihr Zuhause nannten.

 

Auf der Lichtung fand sich bei diesem Regen keine Menschenseele, auch kein Wachposten, der den Ankommenden einen Platz anwies. Der kleinen Gruppe war die Situation nicht geheuer und Andrin sah sich kurz um, wo sie warten konnten, bis wieder Soldaten erschienen, damit sie die Grenze ordnungsgemäß passieren konnten. Er suchte nach einem noch halbwegs trockenen Lagerplatz, indem er den Waldrand auf der Seite von Enigor langsam prüfte. Die Frauen und Kinder standen wie ein Häufchen verschreckter Lämmer mitten auf der Lichtung.

 

Plötzlich vernahm Andrin ein leises Sirren. Noch bevor er seinen Schutzbefohlenen ein Zeichen geben konnte, brüllte er auf vor Schmerz. Der Armbrustbolzen hatte den alten Mann in die Brust getroffen. Mit einem Keuchen versuchte er, das Gleichgewicht zu halten.

 

„Andrin!“ Agnes wollte dem Verletzten zu Hilfe eilen. Noch bevor sie einen Schritt tun konnte, prasselte ein Regen von Pfeilen und Bolzen auf sie, die anderen Frauen und die Kinder nieder. Mit wilden Gesten versuchte Agnes, die durcheinander schreienden Frauen und Kinder hinter die schützenden Bäume zu lenken. Entsetzt musste sie mit ansehen, wie die Menschen, die ihr ans Herz gewachsen waren, zu Boden gingen.

 

Unerwartet spürte sie ein Gewicht. Die Köchin war gestürzt und riss die junge Frau mit zu Boden. In kurzer Distanz hinter ihnen stürmten vermummte Gestalten aus dem Gestrüpp. Agnes konnte gerade noch aufstehen, bevor die Angreifer herangeprescht waren. Einer der Männer hatte sie bereits erreicht und versetzte ihr einen Schlag gegen den Rücken. Sie spürte einen dumpfen Schmerz und fiel auf die Knie. Endlos lange Sekunden bekam sie keine Luft.

 

Starr vor Angst und wie durch einen Schleier erlebte Agnes das Blutbad, das die Angreifer anrichteten. Die noch lebenden Kinder schrien verzweifelt über dem Körper ihrer Mutter. Eine ältere Frau versuchte, das kleine Mädchen Helene zu schützen, doch auch sie sollten nicht verschont werden.

 

Mit einem Ruck riss sich Agnes aus ihrem Entsetzen auf und rannte in blindem Zorn auf den Mörder zu, der zum tödlichen Schlag gegen die beiden ausholen wollte. Sie wich dem aufblitzenden Schwert aus und warf sich gegen den Wegelagerer. Wie um ein lästiges Insekt abzuschütteln, drehte sich der Totschläger nur kurz um, sprang einen Schritt zurück und hieb mit seinem Schwert nach unten. Agnes spürte, wie der Stahl an ihren Rippen abglitt und dabei eine tiefe Wunde aufriss. Die junge Frau taumelte zurück.

 

Gerade als der Vogelfreie das Schwert erneut anhob, um sein Werk an Agnes zu vollenden, hörten beide ein Sirren in der Luft. Noch bevor sie die Richtung eruieren konnten, bohrte sich ein Armbrustbolzen in den Oberschenkel des Mannes und blieb tief in seinem Fleisch sitzen. Er schrie gellend auf und rief seinen Gefährten etwas Undeutliches zu.

 

Einer der Wegelagerer reagierte nicht, sondern starrte ins Leere. Plötzlich kippte er wie ein Sack nach vorne und fiel auf die Erde. Der Pfeil zitterte noch in seinem Rücken, so wuchtig war der Einschlag gewesen, der sein Herz sofort zum Stillstand gebracht hatte.

 

Aus der Dämmerung tauchten Reiter auf, die man in ihren dunklen Rüstungen bei den herrschenden Lichtverhältnissen kaum noch sah. Die Krieger aus Landrion waren den Truppen des Grafen von Ald auf der Spur, die brandschatzend und mordend auch durch ihr Land gezogen waren. Die Wegelagerer waren eine Zusatzaufgabe, die sie gerne im Vorbeireiten erledigten.

 

Die selbst ernannten Herrscher des Waldes waren ihnen schon lange ein Dorn im Auge und deswegen gab es für sie keinen Grund, zimperlich mit diesen Gesetzesbrechern umzugehen. Die Soldaten griffen mit voller Aggressivität an. Wutentbrannt schlug der verletzte Wegelagerer Agnes ins Gesicht. Wie ein zerbrochener Ast knickte sie nach hinten und verlor das Bewusstsein.

 

Augenblicklich erhielt der Peiniger selbst einen schweren Hieb auf den Kopf. Er geriet ins Schwanken und fiel gegen das Pferd des Ritters, der ihn getroffen hatte. Martin musste sich mühsam beherrschen, dem Mörder nicht gleich an Ort und Stelle die Kehle durchzuschneiden. Mit vollem Zorn trat er ihm gegen die Brust. Stöhnend stürzte der Getroffene zu Boden. Einer seiner Kampfgefährten war vom Pferd gesprungen und schlug erneut auf den Mann ein. Angewidert hielt er ihm den Mund mit einer Hand zu, bevor er mit aller Gewalt den Bolzen aus dem Muskel riss. Eine Blutfontäne spritzte dem Soldaten bis ins Gesicht.

 

Ein erstickter Schrei des Gequälten ließ den Soldaten lächeln und mit ruhiger Brutalität sprach er aus, was er dachte: „Vielleicht verblutet er ja auf dem Weg zur Burg, was für ein tragisches Unglück!“

 

Der Wegelagerer starrte ihn mit angstgeweiteten Augen an. „Bedauerlicherweise braucht das Volk Brot und Spiele und wir müssen dich bis zur nächsten Hinrichtung am Leben erhalten, damit wir genug Darsteller haben.“ Der Krieger hatte seine Faust auf den Oberschenkel gepresst und lehnte sich mit ganzem Gewicht darauf.

 

Mit der freien Hand fischte er nach dem Gürtel des Verletzten. Dann schlang er das Leder um dessen Bein und fixierte es so, dass der Blutstrom versiegte. Der Wegelagerer war in der Zwischenzeit bewusstlos geworden und entging somit weiteren Misshandlungen.

 

Angewidert vergewisserte sich Martin in der Zwischenzeit, dass die anderen Gesetzlosen außer Gefecht gesetzt waren. Einem von ihnen riss er seinen Pfeil aus dem Rückenmark, säuberte ihn und steckte ihn mit einer Ruhe zurück in den Köcher, als ob er nur versehentlich herausgefallen wäre. Gegenüber diesen Widersachern empfand er nur eine Eiseskälte. Niemand hatte das Recht, Frauen und Kinder anzugreifen.

 

Beklommen sah er sich um. Einer seiner Männer hatte inzwischen der alten Frau auf die Beine geholfen und ihr das schluchzende Mädchen anvertraut. Die Soldaten bargen noch zwei andere Kinder, die zu ihnen gebracht wurden.

 

Martin beugte sich über Andrin, der leise röchelte. Aus der Wunde in seiner Brust war viel Blut geflossen. Er lag zweifellos im Sterben. Der junge Fürst legte seine Hand unter den Kopf des alten Mannes und gab ihm zu verstehen, dass er ihn begleitete. Dankbar blickte der Sterbende auf. Mit schwindender Kraft brachte er seine letzten Worte über die Lippen.

 

„Agnes, Ihr müsst sie retten …“. Noch bevor Martin fragen konnte, wen er meinte, hauchte der alte Mann seinen Atem für immer aus.

 

Vorsichtig bettete er dessen Kopf zurück auf den Boden. Mit einem Nicken deutete er seinen Männern, dass auch dieser Körper zu den anderen Toten gebracht werden musste. Dann sah er sich kurz um. Zögernd ging er zu der jungen Frau, die mit dem Wegelagerer gekämpft hatte. Wie bei den anderen erwartete er, dass auch sie nicht mehr lebte. Martin kniete sich neben sie und legte ihre Hand vor ihren Körper, um sie aufzuheben. Behutsam schob er seine starken Arme unter ihren blutgetränkten Leib und richtete sich auf.

 

Plötzlich stöhnte die Frau vor Schmerzen. Im gleichen Moment schlug sie die Augen auf und sah Martin an. Im letzten Licht des Tages erkannte er ihre Tränen. Mit einem Ausdruck von Trauer, Qual und unendlicher Sanftheit fesselte Agnes den Blick des Mannes, der sie mühelos vor sich hielt.

 

Tausend Gedanken schossen dem jungen Fürsten in diesem Augenblick durch den Kopf. In einem Moment wollte er noch den Tod der unbekannten Bäuerin bedauern und im nächsten sah er sein ganzes Leben an sich vorüberziehen. Ein Leben mit dieser Frau an seiner Seite, ein Leben mit der Mutter seiner Kinder, ein Leben mit der Gefährtin, die ihn immer wieder aufs Neue mit diesen Augen faszinieren würde.

3

Ungläubig schüttelte Martin den Kopf und schrieb den Tagtraum seiner Müdigkeit zu. Er hatte zwei Tage keine ruhige Minute gehabt und in der letzten Nacht hatten ihn seine Pflichten als Landesherr auch um den Schlaf gebracht. Es war keine vier Stunden her, dass er in einem seiner Dörfer auf dieselbe Art und Weise Menschen zu Grabe getragen hatte. Für einen kurzen Moment zweifelte der junge Mann an der Existenz einer höheren Macht, die es laut Aussage der Priester gut mit den Menschen meinte und ewige Dankbarkeit für das Geschenk des irdischen Daseins forderte.

 

Im Angesicht von so viel Tod und Elend war ihm in letzter Zeit sein Glauben oft abhandengekommen und Martin war nicht nur einmal kurz davor gestanden, an der nächsten sich bietenden Bibel eine ketzerische Handlung vorzunehmen oder das Gerüst einer in Bau befindlichen Kirche in Brand zu setzen. Der junge Fürst haderte mit dem ganzen System, das ihn umgab. Das blutrünstige Verhalten der Adelsklasse und der kalkulierte Terror gegen die Untergebenen erinnerten ihn mehr an die Hölle als an eine zivilisierte Gesellschaft.

 

Besonders widerwärtig empfand der junge Mann die damit einhergehende Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Leben. Es war unter seinesgleichen eine weit verbreitete Einstellung, dass die Identität eines gerade Getöteten völlig unerheblich war – die hohen Herren hatten weder die Zeit noch das Bedürfnis, in Erfahrung zu bringen, wen man gerade ins Himmelreich geschickt hatte. Auch für Martin war es vorgesehen, ein Rädchen in diesem Werk zu werden. Schon in jungen Jahren hatte er sich durch die Verwünschung seiner Geburtsrechte – er empfand sie eher als Geburtspflichten – gewiss schon einige Hundert Jahre Fegefeuer eingebracht.

 

Die andere Seite seines Dasein als Ritter – die körperliche Anstrengung, die Reitkunst und die Teilnahme an Turnieren – war Martin immer willkommen gewesen. Wirklich gegen den Strich gingen ihm auch jetzt noch die salbungsvollen Worte von ebenso salbungsvollen Gönnern, die von seiner göttlichen Berufung und seiner Verantwortung auf Erden sprachen. Martin sah sich selbst als klar denkenden Mann mit klaren Vorstellungen und klaren Entscheidungen, die durch Logik und Analyse zustande gekommen waren. Da gab es keinen Platz für Berufung.

 

Langes Zaudern und Heruminterpretieren waren noch nie seine Leidenschaft gewesen. Zwei Gaben, die zu seinem großen Verdruss aber zum politischen Tagesgeschäft gehörten, das dem jungen Mann, wenn es noch eine Steigerungsmöglichkeit gab, noch mehr gegen den Strich ging. Es war der Geduld und Hingabe seiner Eltern zu verdanken gewesen, dass ihr Erstgeborener letztendlich doch bereit war, den Mantel seines Schicksals überzustreifen. Vor allem seine Mutter konnte ihm auf den Weg mitgeben, dass Martin auch lernte, auf seine innere Stimme zu hören, oder zumindest bereit war, zu akzeptieren, dass sich nicht alles mit Logik lösen ließ.

 

Sein Bruder Rudolf riss ihn aus seinen Gedanken. „Noch jemand für das Grab?“, seufzte der junge Mann, dem der unnötige Tod dieser Menschen auch sehr zu Herzen ging. Und wofür? Die wenige Habe in alten Säcken, ein paar Nahrungsmittel und vielleicht auch die Kleider, die die Unglücklichen am Leib trugen.

 

„Sie lebt noch“, sagte Martin so leise, als stünde der Tod noch grinsend neben ihnen, und er sollte nicht auf die junge Frau aufmerksam gemacht werden. Sein Hunger war in letzter Zeit reichlich gestillt worden.

 

„Ohne Hilfe wird sie es nicht schaffen“, beantwortete er die unausgesprochene Frage seines jüngeren Bruders.

 

„Von hier ist es nicht weit zum alten Medicus“, überlegte Rudolf. „Er wird die nötigen Mittel haben.“

 

„Schlagt das Lager auf.“ Der junge Fürst sah sich um. „Das Holz ist zu nass, aber unsere Fackeln sollten noch trocken sein.“

 

Rudolf informierte die Männer und kurze Zeit später konnte Martin die verletzte Agnes auf eine Decke legen. Aus Stofffetzen, die er entschlossen aus ihrem Unterkleid gerissen hatte, legte er ihr einen behelfsmäßigen Verband über die zerschlissene Kleidung an. Es war ein unvorhergesehener Glücksfall gewesen, dass er sie mit der verletzten Seite nahe bei seinem Körper gehalten hatte, denn so hatte der Druck den Blutfluss eingedämmt. Vielleicht konnte dieser kleine Vorteil sogar für ihr Überleben ausschlaggebend sein.

 

Martin schob seinen Ledergürtel vorsichtig unter Agnes durch, um einen Druckverband anzulegen. Als er ihn behutsam festzog, stöhnte die Verletzte auf.

 

„Nein, bitte nicht, tut ihnen nichts zuleide …“, sagte sie flehend. Im Reflex hob sie abwehrend den Arm. Agnes war sehr geschwächt und ihre Hand berührte nur kurz Martins Fingerknöchel. Ihre Reaktion durchfuhr ihn, als müsste er diese Qualen selbst erdulden. Fast hätte er den Gürtel gelockert, um ihr Linderung zu verschaffen. Sein Verstand funktionierte aber doch noch so weit, um zu wissen, dass damit der Zweck seines Unterfangens infrage gestellt worden wäre.

 

Die Alarmfunktionen im Körper der jungen Frau nahmen ihm die Gewissenbisse ab – von Schmerzen gepeinigt fiel Agnes in eine tiefe Bewusstlosigkeit, die ihr auch weitere Bilder der schrecklichen Halluzinationen ersparte, die sie gefangen gehalten hatten. Ihr Helfer versuchte, den feinen Klang ihrer Stimme zu ignorieren, und beeilte sich, die Bandage fertigzustellen. Ihre Berührung auf seiner Hand spürte Martin, als hätte sie etwas Bleibendes hinterlassen.

 

In der Zwischenzeit hatten seine Soldaten Zelte aufgestellt und in einem davon die erschöpften Überlebenden untergebracht. Die Kinder hatten unter der Obhut von Wilhelm, einem der Männer Martins, etwas zu essen bekommen und sich bald darauf in den Schlaf geweint. Viel konnte der kampfgewohnte Krieger auch nicht für die armen Seelen tun. Aber er war der Einzige unter ihnen, der selbst Vater war und zumindest ansatzweise wusste, wie man sich den kleinen Wesen präsentierte, um sie nicht schon allein durch die körperliche Präsenz all dieser Männer mit Kettenhemden, Helmen, Halsbergen und Brustpanzern in Angst und Schrecken zu versetzen.

 

Die alte Frau war voller Trauer vor den frischen Gräbern niedergesunken und starrte ins Leere. Sie war für die Männer nicht ansprechbar. Das Grauen hatte ihr alle lieben Menschen und mit ihnen die Sprache geraubt. Martin konnte auch bis morgen warten, um zu erfahren, wer sie war und wohin sie wollte. Seine Geduld wurde mehr im Hinblick auf die Identität der jungen Frau strapaziert.

 

Der Schein der Fackeln warf zarte Schimmer auf die Gesichtszüge von Agnes. Waren Martin zuerst nur ihre hellen Augen ins Bewusstsein gedrungen, so blieb sein Blick nun an jedem Detail ihres Antlitzes hängen. An den wunderschön geschwungenen Augenbrauen, die im Lichte des Feuers goldbraun glänzten, an der kleinen geraden Nase und an den Wimpern, die wie ein dichter Kranz um die Augenlider lagen. Angewidert bleckte der junge Fürst die Zähne, als er die geschundene Wange von Agnes betrachtete. Unter ihrem Jochbein hatte der Schlag des Wegelagerers eine Schürfwunde und eine blutunterlaufene Schwellung hinterlassen. Martin hatte noch nie einer Frau Leid zugefügt und er fand keinerlei Verständnis für die Brutalität, die diese Männer geleitet hatte.

 

Vorsichtig wischte er Agnes den Schmutz von der anderen Wange. Dabei streifte sein Daumen ihre Lippen. Die unschuldige Berührung durchfuhr ihn wie ein Blitz. In diesem Moment nahm Martin etwas gefangen, was er nicht zu benennen vermochte. In der Magie des Augenblicks legte er sanft die Fingerspitzen auf die weichen Lippen und er hätte alles darum gegeben, diesen zarten Mund zu küssen. Nichts war mehr wichtig, nur seine Sehnsucht, dieser Frau in die Augen zu schauen, sich in ihrer Liebe zu verlieren und sie in seinen Armen zu spüren.

 

Martin fühlte sich, als wäre er beim Turnier vom Pferd gestoßen worden. Kein Gedanke wollte mehr dem anderen folgen, doch eines wusste er – sie musste überleben. Das Schicksal hatte ihm damit bei einer Weggabelung die Zügel aus der Hand genommen. In einer Sekunde auf die andere war dem jungen Lehnsmann des Kaisers seine Überzeugung genommen worden, dass es ihm eines Tages bestimmt war, für sein Volk und seinen Herrscher eine politisch motivierte und arrangierte Ehe mit einem zimperlichen Burgfräulein einzugehen, das er sich nie ausgesucht hätte, um irgendwelche Verträge zu besiegeln, die er sich auch nie ausgesucht hätte. Für die Liebe gab es dabei keinen Platz.

 

Der junge Fürst hatte sich nie falschen Illusionen hingegeben und diesen Teil seiner Existenz den Verpflichtungen zugeschrieben, die seine Position mit sich brachten. Auch die Verbindung seiner Eltern war vom damaligen Kaiser auf dem Verhandlungstisch zustande gekommen. Es war der Sanftheit und Intelligenz seiner Mutter zuzuschreiben, dass sich aus dem berechnenden Schachzug eine wunderbare Ehe entwickelt hatte, die für beide Partner zum größten Lebensglück werden sollte.

 

Plötzlich wurde es Martin eng ums Herz und wieder sah er die Bilder klar vor Augen. Diese Frau an seiner Seite, engelsgleich in einer fürstlichen Tunika, mit einem strahlenden Lächeln, das nur für ihn bestimmt war, und im nächsten Moment hörte er das helle Gekicher von Kinderstimmen, die ihn Vater nannten. Fast verzweifelt schloss Martin die Augen. Es würde nie Wirklichkeit sein.

 

Verwundert über sich selbst erhob sich der junge Fürst und versuchte, alle Gedanken an diesen Traum zu vergessen. Es durfte nicht sein und würde nicht sein. Er zwang sich zu seiner gewohnten Disziplin und schob alle Eindrücke von weicher Haut und schönen Augen entschieden von sich. Hier wurde seine volle Konzentration gebraucht. Dankbar für die Unterbrechung drehte sich Martin zu seinem Bruder um, der ihm signalisierte, dass alles bereit war.

 

Knapp besprach er mit Rudolf die Situation. Die Männer hatten mit ihren Anstrengungen die Lichtung in einen Zustand zurückversetzt, der die Bluttat nicht ungeschehen machte, aber die Situation zumindest leichter erträglich. Die toten Wegelagerer hatten sie über viele Ellen in den Wald hineingezerrt und verächtlich liegen lassen, denn die nachtaktiven Jäger würden sich der Kadaver schon annehmen. Diese Maßnahme sollte vor allem die Wölfe eine Zeitlang daran hindern, die Lagernden anzugreifen. Der widerwärtige Geruch von Blut und Exkrementen der Toten war die perfekte Essenseinladung.

 

„Verdoppelt die Wachen!“, gab Martin den Befehl zu besonderer Vorsicht. „Die Männer des Grafen von Ald sind auch noch in der Nähe.“ Mit diesen Worten saß er auf. Sein gewaltiger Hengst Nitor hob unwillig den Kopf. Ein kurzer Ruck an den Zügeln erstickte die Diskussion über den Ausflug in die herannahende Nacht gleich im Ansatz. Rudolf hob Agnes zu Martin hinauf.

 

Martin setzte die Verletzte vor sich hin und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. Mit dem linken Arm hielt er sie sicher und mit der rechten Hand zügelte er Nitor. Kaum spürte er den schlanken Körper von Agnes in seinen Armen, angeschmiegt an seine breite Brust und an seine muskulösen Schenkel, lösten sich die vorhin so fest gefassten Entschlüsse in Luft auf und machten wieder sehnsüchtigen Wünschen Platz. Zu Martins großer Pein nahm er nun auch ihren Duft wahr. Selbst durch das grobe Leinen, das das Haupthaar von Agnes verbarg, und trotz der Mischung von Erde, Laub und Blut schlich sich das feine Aroma von Geißblatt in seine Wahrnehmung. Der äußerst weibliche Geruch reizte jeden seiner Nerven und ließ ihn kurz an seinem Verstand zweifeln.

 

Er kannte sich selbst nicht wieder und fragte sich insgeheim, wie er mit der neuen Sachlage fertig werden sollte. Wünschte er sich, dass sie lebte – mit all den zu erwarteten Folgen –, oder musste sie sterben und er wurde vom Schicksal verhöhnt, weil er einmal kurz in den Honigtopf des Lebens hineinschauen durfte, um dann genau zu wissen, was er nicht bekommen konnte. Ohne lange zu überlegen, wählte Martin die erste Variante.

 

Er ließ den Hengst in einen sanften Galopp fallen, um Agnes nicht zu gefährden und trotzdem die Geschwindigkeit zu halten. An der ersten Weggabelung nahm er die weniger befahrene Straße, die er aber ebenso gut kannte. Schon als Kind war er viele Male zum Medicus geritten, der für ihn damals bereits ein Greis gewesen war. Nie würde er all die lehrreichen Stunden vergessen, die er mit dem Heiler im Wald oder an dessen Feuerstätte verbracht hatte. Lirgian war einer der engsten Berater und Freunde von Harold gewesen und hatte für dessen Söhne immer ein offenes Ohr gehabt.

 

Trotz seiner bedeutenden Stellung zog Lirgian es vor, nicht in der Burg zu wohnen, sondern ein Einsiedlerdasein in seinem turmartigen Steingebäude im Wald zu führen. Jeder kannte den Weg zu ihm, und wer etwas wollte, musste er sich schon zu ihm bemühen. Das nahm er sich angesichts seines Alters auch einem Fürsten gegenüber heraus. Seit Rudolfs Geburt war er nur mehr einmal in den mächtigen Mauern der Burg Landrions gewesen – vor wenigen Wochen, als der alte Fürst im Sterben lag und dieser dem Vertrauten noch Martin ans Herz legen wollte, bevor er ihn um die Erlösung bat. Beide Wünsche erfüllte der Medicus seinem Freund gerne.

 

In der Asche des niedergebrannten Feuers glühten nur noch wenige Stücke verbranntes Holz und die wohlige Wärme im Turm begann der klammen Kälte der feuchten Natursteinmauern zu weichen. Der alte Mann stöhnte, als er sich von seiner Lagerstatt erhob, auf der er zu fest eingeschlafen war, sodass das Feuer ausgehen konnte. Sein Rücken plagte ihn zunehmend und es war für ihn schon zu mühselig geworden, den heilenden Schlamm aus dem nahen Moor zu holen, um die rheumatischen Beschwerden mit warmen Wickeln zu lindern.

 

Langsam verlagerte er das Gewicht auf seine verbrauchten Beine und wagte die paar Schritte zum Holzstoß vor seiner Feuerstätte. Mit einem Stöckchen untersuchte er unwillig die restliche Glut und entschloss sich dann, daraus ein neues Feuer zu entfachen. Er warf etwas Stroh, dürres Gras und Holzspäne auf die Asche und schlichtete sorgsam kleine Kiene darum auf. Er beugte sich zu seinem Werk hinunter und blies von der Seite hinein. Das trockene Kleinzeug fing rasch Feuer und die Flammen leckten gierig an den Kienen. Der alte Mann griff zu zwei größeren Holzstücken und stellte sie in einer Art Dach darüber, um das junge Feuer nicht darunter zu ersticken.

 

In diesem Moment flog die Tür auf und es stand ein riesiger Mann mit einem Bündel Mensch in den Armen im Raum. Der Medicus erkannte Martin schnell genug, so war der Schreck nicht allzu groß, und nach einem weiteren Gedankensprung sowie einem kurzen Blick in Martins Gesicht hatte er die Situation durchschaut. Er zeigte stumm auf eine Lagerstatt auf der anderen Seite des Feuers.

 

Martin war bleich und hatte Mühe zu sprechen. Während des Rittes war Agnes immer mehr ausgekühlt und sie atmete kaum noch. Der sonst von Schlachten und Kämpfen abgehärtete Ritter hatte zum ersten Mal in seinem Leben Angst empfunden. Vielleicht war es immer jugendlicher Leichtsinn gewesen, dass er nie um sein Leben gefürchtet hatte. Keiner seiner Vorfahren war vorzeitig im Feld gefallen – die Fürsten von Landrion starben als alte Männer in ihren Betten.

 

Doch plötzlich hatte er Furcht um sein Leben. Das Leben, durch das er Hand in Hand mit diesem vom Himmel gefallenen Engel gehen wollte und das er wieder zu verlieren drohte.

 

„Ihr müsst ihr helfen!“ Martin atmete schwer. „Ich weiß doch nicht einmal, wer sie ist.“ Während er die kurze Erklärung hervorstieß, bettete er die angebetete Unbekannte sanft auf das Fell, das auf einem mit Leder bespannten Holzgestell ausgebreitet war. Er schob eines der Kissen unter ihren Kopf und streichelte sanft über ihre Stirn. Der Medicus musste ihn bestimmt zur Seite schieben, um an die Hilfebedürftige heranzukommen. Als er das blasse Gesicht sah, erhellten sich seine Augen und all die Rückenschmerzen waren vergessen. Martin sah ihn ungeduldig an und wartete, dass er sich äußerte.

 

Doch Lirgian begann geschäftig, Agnes zu untersuchen. Die Blutspuren verrieten ihm gleich, wo das Problem zu finden war. Langsam löste er den Gürtel und hob die vollgesogenen Tücher zur Seite. Die verbliebene Kleidung zerschnitt er mit einer kleinen Klinge. Damit war der Oberkörper von Agnes frei. Der alte Mann betrachtete die Wunde besorgt. Dann löste er das Kopftuch und suchte noch nach weiteren Verwundungen. Die dichte Haarpracht von Agnes ergoss sich wie flüssige Bronze auf das Holzgestell.

 

Martin starrte sie an, als würde er zum ersten Mal im Leben eine Frau sehen. Nur die schreckliche Verwundung hinderte ihn daran, die freigelegten Brüste seiner Auserwählten mit den Augen zu verschlingen und den Gedanken die Tat folgen zu lassen.

 

Lirgian wies den jungen Fürsten an, eine der Kerzen neben ihn zu stellen, damit er besseres Licht hatte. Martin reagierte nicht sofort und der Medicus musste ihm erst einen scharfen Blick zuwerfen, bevor dieser tat, wie ihm geheißen. Lirgian ging zu einem Medizinschränkchen, das unter all den mit Töpfen, Gefäßen und beschrifteten Lederrollen vollgestopften Regalen kaum auffiel, und holte eine Tinktur hervor.

 

Langsam säuberte er damit die Wunde und hielt kurz darauf eine scharfe Klinge, die an einem Stöckchen befestigt war, ins Feuer, um sie zu desinfizieren. Die Ränder der Wunde waren teilweise arg zerfetzt. Lirgian schnitt vorsichtig die unbrauchbar gewordene Haut ab und bemühte sich um saubere Wundränder. Agnes würde zwar lange brauchen, bis sich die Haut so weit erholt hatte, um den Verlust wettzumachen, aber es war die einzige Möglichkeit, Wundbrand hintanzuhalten und eine brauchbare Narbe zu bekommen, die ihr später keine Schmerzen bereiten sollte. Martin war von den Schlachten an Blut und Verletzungen gewöhnt, aber er zog es nun vor, sich in sicherer Entfernung aufzuhalten. Er wurde sonst wahnsinnig bei dem Anblick der Zerstörung, die an seiner schönen Frau angerichtet worden war.

 

„Meine Frau …“, ertappte er sich bei dem besitzergreifenden Gedanken und merkte, dass er für sich und sie schon einen Entschluss vorweggenommen hatte, bei dem sie aber mit Sicherheit etwas mitzureden haben würde.

 

Plötzlich machte er sich Sorgen. Das Wolkenschloss aus Träumen existierte nur in seinem Kopf. Seine Auserkorene wusste wahrscheinlich noch nicht einmal von seiner Existenz, geschweige denn von seiner fixen Idee, sie schon möglichst übermorgen vor einen Priester zu schleppen, um sich dann ausgiebig mit ihr der Zeugung ihrer Kinder zu widmen.

 

Martin zwang sich, seinen Gedankenausbruch aufzuhalten. Kurzfristig zweifelte er schon an seiner geistigen Gesundheit. Er sah sich nach den Vorräten des alten Heilers um. Vielleicht würde Met helfen, denn er brauchte dringend etwas zu trinken.

 

Während Lirgian in die Versorgung der jungen Frau vertieft war, war von seinem Alter nichts mehr zu merken. Jeder Handgriff war sicher und überlegt. Der Medicus überprüfte immer wieder den Atem seiner Patientin, der sehr flach war, und auch ihr Puls flackerte besorgniserregend schwach. Als er mit seinen Vorbereitungen fertig war, forderte er Martin auf, eine der getrockneten Tiersehnen, die am Medizinschränkchen hingen, kurz in den Wassertopf zu werfen, um sie aufzuweichen. Das Wasser brodelte schon seit geraumer Zeit vor sich hin, da Martin nichts anderes zu tun wusste, als ständig das Feuer zu unterhalten. Insgeheim belächelte der alte Mann den harten Kämpfer, denn er hatte bisher nie erlebt, dass seinem Schützling etwas so nahegegangen war.

 

Lirgian hielt die heiße und feuchte Sehne mit einem Stück Tuch fest und riss eine feine Faser heraus. Martin verfolgte aufmerksam sein Vorgehen, denn er kannte bisher nur das Ausbrennen von Wunden mit glühenden Klingen. Doch der Medicus fädelte die Sehnenfaser unbeirrt in eine Nadel ein, verknotete das Ende sorgfältig und begann, die Wunde mit eng gekreuzten Stichen zuzunähen. Er folgte zuerst der Linie ihrer geschwungenen Rippe und schloss dann ein kleines Stück an der Seite in Richtung der schlanken Taille von Agnes. Nachdem sein Kunstwerk vollbracht war, schmierte er eine dicke Paste aus Leinsamen, Kräutern und anderen Zutaten auf das Nähwerk. Abschließend legte er ein sauberes Tuch darüber und deckte die junge Frau liebevoll zu. Dabei lächelte er zufrieden. Martin sah ihn an.

 

Lirgian lachte leise: „Bei einer so schönen Dame von Rang muss man sehr genau darauf achten, was man tut.“ Martin stand der Mund offen. „Ihr kennt sie?“

 

„Ja, und du auch.“ Der alte Mann sah ihn auffordernd an.

 

„Jetzt verstehe ich kein Wort mehr“, sagte Martin.

 

Lirgian strich sanft über die Stirn der jungen Frau. „Das ist die Tochter von Graf Hardrich von Enigor.“

 

Martin starrte ihn ungläubig an. Lirgian hielt ihm einen traurigen Rest vom Unterkleid hin. Der Saum war mit einem zarten goldenen Faden eingefasst und ging über in eine weiße Stickerei, die verschlungene Rosen zeigte, bei genauerem Hinsehen war noch ein kunstvoll eingesticktes A zu erkennen.

 

„Ja, Martin, hier liegt Agnes von Enigor, Hardrichs einziges Kind und Erbin des Grafentitels sowie aller Ländereien.“

 

Lirgian setzte sich auf einen Schemel und überwachte ein Gebräu aus Stechapfelkraut, das er für seine Patientin aufgesetzt hatte. Der Trank sollte die körperlichen Kräfte von Agnes in Schwung halten. „Ich habe sie das letzte Mal gesehen, als sie neun war. Ich wurde ans Sterbebett ihrer Mutter gerufen, um ihr den erlösenden Trunk zu verabreichen, so wie deinem Vater vor nicht allzu langer Zeit.“

 

Lirgian seufzte. „Selbst nach all dem Leid ihrer schweren Krankheit war sie immer noch die schönste Frau, die ich je gesehen hatte. Agnes war ein hübsches kleines Mädchen und ist heute das Ebenbild ihrer Mutter …“

 

Martin starrte in die Flammen und fing erst jetzt langsam an, zu begreifen. Nun ergaben die Worte des sterbenden alten Mannes einen Sinn. „Wieso kommt sie als Bauersfrau nach Landrion? Warum wirft sie sich Wegelagerern entgegen?“

 

Lirgian hob die Hand, um Martins Fragenfluss zu stoppen, und lachte. „Ich weiß zwar sehr viel, aber das nun wirklich nicht. Außerdem hatte ich die Beantwortung dieser Fragen von dir erhofft!“

 

Martin setzte sich auf eine kleine Bank und lehnte sich erschöpft an die kalte Steinmauer. Wie um das Wirrwarr von Gedanken und Ereignissen loszuwerden, rieb er sich mit der Hand über die Stirn. Er musste wieder einen klaren Kopf bekommen. Langsam stützte er seine Ellenbogen auf die Knie und presste die Fingerspitzen gegen seine brennenden Augen.

 

Geräuschvoll klapperte Lirgian mit einem Zinnkrug und schöpfte etwas Malzbier aus einem Fässchen. Auffordernd hielt er Martin das Gebräu unter die Nase, der die Stärkung dankbar annahm. Mit jedem Schluck kehrten seine Kräfte mehr und mehr zurück. Minutenlang starrte er ins flackernde Feuer, das ihm die jüngsten Geschehnisse wie Blitzlichter ins Gedächtnis zurückholte. Langsam und stockend erzählte er Lirgian von seiner Begegnung mit Agnes.

 

Der alte Mann lächelte milde. „Dann kennst du ja deine Aufgaben für die nächsten Tage!“ Martin runzelte die Stirn und machte im Geist eine Liste, wie er ihren Weg am besten zurückverfolgen würde.

 

Der Medicus schenkte etwas von dem Tee in einen Holzbecher, goss kaltes Wasser darauf und reichte es Martin. Dieser kniete sich neben Agnes und hob behutsam – fast so, als könnte er sie zerbrechen – ihren Kopf, um ihr den heilenden Trank einzuflößen. Während er den Becher sanft gegen ihre Lippen drückte und ein wenig von der Flüssigkeit in ihren Mund laufen ließ, stürzten Bilder aus der Vergangenheit auf ihn ein.

 

Der Friedensvertrag, der junge König, all die wichtigen Männer und ein schüchternes kleines Mädchen, das ihn aus sicherer Entfernung mit großen Augen angesehen hatte. Damals hatte er ihr eine Grimasse geschnitten, um sie aus der Reserve zu locken. Doch das Resultat war, dass sie aus dem Bankettsaal geflohen war und sich bis zu seiner Abreise nicht mehr blicken hatte lassen.

 

„Das war Agnes?“, dachte Martin verwundert. Er lächelte verlegen und sah liebevoll auf den geschwächten Körper der nun erwachsenen Agnes. Dann wurde sein Blick sehr betrübt. „Wird sie überleben?“

 

Der alte Medicus seufzte tief und hob unmerklich die Schultern. Martin erhob sich von der Bank und setzte sich kraftlos auf den Boden neben der Lagerstatt von Agnes, lehnte den Kopf an die Wand hinter sich und kämpfte innerlich mit den Ereignissen. Wie ein Strudel stürzten die Gedanken erneut auf ihn ein.

 

All die Kämpfe, Verhandlungen, schlaflosen Nächte und Probleme um den Tod seines Vaters und seiner damit verbundenen Inauguration zum Fürsten zerrten an jeder Faser seines Körpers. Martin waren Schicksalsschläge, Entbehrungen und Erschöpfung bis zum Umfallen schon längst alte Vertraute, aber auf das, was das Leben jetzt für ihn bereithielt, war er nicht vorbereitet.

 

„Diese Nacht und der morgige Tag werden alles entscheiden. Sie hat sehr viel Blut verloren.“ Martin starrte ihn fassungslos an. Lirgian suchte nach einem Funken Hoffnung für ihn.

 

„Martin!“ Der Druide sah ihn streng an. „Sie wurde dir nicht gegeben, um sie dir gleich wieder zu nehmen.“ Der junge Fürst hielt die Hände erneut gegen seine schmerzenden Augen gepresst. Er hatte das Gefühl, als wolle ihm der Schädel platzen.

 

Plötzlich sprach Lirgian streng auf ihn ein. „Ich möchte, dass du nach Hause reitest und versuchst, einen klaren Kopf zu bekommen. Außerdem musst du herausfinden, was passiert ist. So hilfst du ihr mehr, als wenn du hierbleibst und mich nervös machst.“

 

Martin nickte schwach. Langsam erhob er sich und beugte sich über Agnes. Er legte seine Hand auf ihren Kopf und strich über ihr Haar, das bis auf den Boden hinunterhing. Sanft küsste er sie auf den Mund. Im Geiste flehte er sie an, ihn nicht zu verlassen, als ob sie schon ihr ganzes Leben miteinander zugebracht hätten und er nun nicht wüsste, wie er ohne sie weiterleben sollte. Lirgian, der schon lange geahnt hatte, dass die beiden füreinander bestimmt waren, wunderte sich über die Fügung, dass sie einander auf diesem Wege und nach so langer Zeit wieder begegnet waren.

 

Martin war bedrückt, aber er gehorchte und verneigte sich vor dem Medicus, wie er es beim Abschied immer getan hatte. Der Alte reichte kaum noch zu dem groß gewachsenen Mann hinauf. Trotzdem drückte er ihm aufmunternd die Schulter. Als Martin gegangen war, wandte sich Lirgian wieder Agnes zu.

 

„Dass ich dich auf diese Weise wiedersehen muss.“ Der alte Mann seufzte. „Halte durch, kleine Agnes.“ Er stand vor ihrem Bett und streichelte gedankenverloren über ihre Hand.

4

In der riesigen Festung im Herzen Landrions war es ruhig geworden. Das abendliche Gelage hatte aufgrund allgemeiner Erschöpfung früher als sonst geendet. Die Gäste, die sich nun schon seit vielen Tagen anlässlich der letzten Ereignisse dort aufhielten, hatten sich entweder in die Schlafräume der Burg, in die Herbergen umliegender Dörfer oder in die Zelte, die in einem der Burghöfe errichtet worden waren, zurückgezogen.

 

Im Normalzustand war die große Halle, von der aus alle anderen Teile des Gebäudes zu erreichen waren, ein angenehmer Ort. Durch die Ausrichtung der Fenster nach Osten und nach Westen fiel zu jeder Tageszeit das Sonnenlicht auf die kunstvoll gestalteten Bodenplatten und die glänzenden Rüstungsteile aus früheren Tagen. Die Einrichtung beschränkte sich auf die Holzkonstruktion, die die riesige Tafel der Familie trug, und einige Sessel, die der Wand entlang aufgereiht waren. Über dem mannshohen Kamin hing unter zwei gekreuzten Schwertern das Wappen der Fürstenfamilie.

 

Ein beeindruckender Eber mit riesigen Hauern und wild rollenden Augen war von einem dichten Ring aus Eichenblättern umrankt. Niemand Vernünftiges hätte sich gewünscht, dieser Bestie in lebendiger Form in besagtem Eichenhain zu begegnen. Ein Vorfahr von Martin hatte befunden, dass das ebenso für die Herren von Landrion gelten sollte, und vor einigen Generationen hatte seine Familie eine grausige Fama umgeben.

 

In diesem Moment war das Repräsentationszentrum vollgeräumt mit Tischen und Bänken, auf denen sich noch die schmutzigen Platten und Pokale stapelten. Die Binsen am Boden waren mit Essensresten, auch welchen, die vorher schon verzehrt worden waren, festgetreten und verbreiteten statt des frischen Geruchs von Stroh eine üble Mischung, die auch eine abgehärtete Nase auf eine empfindliche Probe stellte. Der sonst luftige riesige Raum war zum Überfluss mit abgestandener Luft gefüllt, die nach gebratenem Fleisch, Holzrauch und Schweiß stank.

 

Einige der Teilnehmer am Festmahl hatten sich nicht mehr die Mühe gemacht, zu ihrer Schlafstatt aufzubrechen, oder waren wegen einer zu hohen Weindosis gar nicht mehr dazu in der Lage gewesen. In voller Kleidung waren sie auf die strohgefüllten Rastplätze entlang der Mauer gekippt oder von Dienstboten dorthin geschleift worden. In der ganzen Halle waren aufdringlich laute Schnarchgeräusche zu hören.

 

Angewidert ging Martin am Podest vorbei, wo der Platz in der Mitte nun für ihn reserviert war. Das Aufheben, das derzeit um ihn gemacht wurde, war nicht nach seinem Geschmack. Die Angelobungsfeierlichkeiten hatten vor wenigen Tagen in der Kapelle der Burg vor dem Bischof stattgefunden. Nur eine ausgewählte Gruppe aus den höchsten Mitgliedern von Kaiser Heinrichs Gefolge und Edelleuten von Landrion waren zu diesem Akt zugelassen gewesen.

 

Die ehrenwerten Häupter waren anschließend in den überfüllten Rittersaal eingezogen, um den neuen Fürsten zu feiern. Allen voran war der Kaiser mit Martin an seiner Seite geschritten, der den Herrscher und die meisten anderen Männer um einen Kopf überragte. In diesem Moment war ein Raunen durch die Reihen gegangen und einige junge Damen, die vom guten Aussehen Martins hingerissen waren, hatten hörbar geseufzt.

 

Anfangs hatte er guten Willen gezeigt und war von einem Tisch zum anderen gegangen, um seine Gäste zu begrüßen und freundliche Worte auszutauschen. Politische Themen mied er tunlichst, denn das war gefährliches Glatteis. Er wollte sich nicht festlegen lassen oder Zusagen machen, die er später bereuen würde. Die allgemeine Stimmung war zumindest in Landrion ausgeglichen, und das sollte auch so bleiben. Es war nicht nötig, schlafende Hunde zu wecken. Einige von Heinrichs ranghöheren Männern klopften ihm auf die Schultern und viele seiner Lehnsmänner schenkten ihm ernst gemeinte Segenswünsche.

 

Das wollte Martin noch ertragen, aber die weibliche Hälfte der Gesellschaft machte ihm arg zu schaffen. Ausnahmslos alle heiratsfähigen Mädchen machten ihm schöne Augen und versuchten, ihn davon zu überzeugen, dass sie die richtige Frau an seiner Seite wären. Beim Tanz, zu dem gegen Ende des Festessens aufgerufen wurde, sah er sich einer regelrechten Belagerung ausgesetzt und die Szene wurde vor allem von den Müttern und Vätern der Aspirantinnen mit Adleraugen verfolgt.

 

Seine erste Wahl hätte eine Flut von Spekulationen zur Folge gehabt und bei den Nichterwählten nicht nur eine tiefe Beleidigung ausgelöst, sondern vielleicht sogar politische Konsequenzen nach sich gezogen. Unerwartete Hilfe erhielt er von Kaiser Heinrich, dem die verzwickte Lage genauso bewusst war. Mit einer kaum merkbaren Handbewegung gebot er Martin für eine Unterredung zu sich und nötigte die Männer seiner Leibwache, zur Erhaltung des Friedens beizutragen. Dankbar floh der junge Fürst zum Podest und ließ sich neben Heinrich nieder.

 

Das folgende Gespräch zwischen den beiden Männern war von aufrichtiger Zuneigung geleitet. Abgesehen von menschlicher Sympathie zeigte der Herrscher auch große Anerkennung für die kriegerischen Leistungen, die Martin schon erbracht hatte, und gab dem jungen Mann zu verstehen, dass er ihm die Last der Verantwortung, die nun auf seinen Schultern lag, zwar nicht abnehmen konnte, aber von sich aus nicht zusätzlich vergrößern werde.

 

Der Gerechtigkeitssinn von Heinrich hatte mit den wenigen Jahren seiner Herrschaft schon einen legendären Ruf und als Lehnsherr war er dafür bekannt, dass er sich kurz fasste. Er hielt auch daran fest, was er versprach. Mit dieser Zusage konnte Martin gewiss sein, dass der Kaiser den Generationswechsel in Landrion nicht zum Anlass nehmen würde, eine Erhöhung der Steuern und Frondienste zu fordern. Das große Lehen trug bereits einen beträchtlichen Teil des Finanzbedarfs des kaiserlichen Hofstaates und auf die Einkünfte aus den Ländereien, die der Fürstenfamilie direkt gehörten, hatte nur Martin selbst Zugriff.

 

Der zweite Punkt, der angesprochen wurde, war wesentlich weniger angenehm – Martins Verheiratung. Es war nicht nötig, das politische Gewicht dieses Schrittes zu betonen oder von der Notwendigkeit eines Erben zu reden. Der Kaiser ließ seinen jungen Lehnsmann in diesem Punkt wissen, dass er noch keinen Vorschlag unterbreiten wollte. Der Grund lag auf der Hand. Die aktuelle Lage war durch den Treuebruch des Grafen von Ald gegenüber dem Kaiser und dem Reich so verfahren, dass der Herrscher noch nicht wusste, wer in Zukunft zu seinen Verbündeten zählen sollte und wer nicht. Damit war eines klargestellt – Martins Ehe war eine Reichsangelegenheit.

 

Nur allzu gern war der unverhoffte Bräutigam am folgenden Morgen mit seinen Männern weggeritten, nachdem ein arg zugerichteter Bauer die Nachricht überbracht hatte, dass einige Dörfer an der Grenze zu Ald feindlichen Übergriffen zum Opfer gefallen waren. Diese Entwicklung war sehr beunruhigend, denn bisher hatte es der Graf nicht gewagt, auch in Landrion einzufallen. Auf dem Weg in diese südwestlich gelegenen Siedlungen gingen dem jungen Fürsten viele Gedanken durch den Kopf. Vor allem machte ihm die Frage Sorgen, ob er im schlimmsten Fall auf einen Krieg vorbereitet war.

 

Das Ausmaß der Verwüstung war grauenvoll gewesen. Die Männer aus Ald hatten die Ansiedlungen nach allen Regeln der Kriegskunst vernichtet. Es würde Jahre dauern, bis diese Menschen wieder für sich selbst sorgen konnten, geschweige denn für andere. Von den Behausungen waren meist nur mehr die Grundmauern erkennbar gewesen. Was die Flammen der Brandpfeile nicht erledigt hatten, war mit Eisenhaken und Seilen niedergerissen worden. Durch gezielt gelegte Brände waren sämtliche Nahrungsvorräte verdorben worden und das Saatgut für das nächste Jahr brannte noch, als Martin und seine Männer eintrafen. Die Rinder und Schweine hatten die Angreifer mit vergifteten Pfeilen getötet. Die schmerzhaft verzerrten Glieder der Tiere und der Schaum vor ihren Mäulern ließen keinen Zweifel aufkommen. Wer dieses Fleisch aß, fand das gleiche elende Ende.

 

Beim Anblick all der Verwundeten schickte der junge Fürst sofort Ausrufer in die umliegenden Dörfer, die verschont geblieben waren, damit genügend helfende Hände für die ersten Maßnahmen bereitstanden. Es gab kaum Tote zu beklagen, doch die Überlebenden waren zum Teil so arg verstümmelt worden, dass sie nie wieder einen vernünftigen Beitrag zur Gemeinschaft leisten würden können. Diese Taktik war besonders verwerflich und sollte das betroffene Land in mehrfacher Hinsicht schädigen. Die armen Seelen waren einem vernünftigen Arbeitsleben langfristig entzogen und mussten dennoch ernährt werden. Zusätzlich drückte der Anblick der Verwundungen und der Krüppel die Moral der Menschen. Es war, als ginge der Lebensatem in Dörfern, die solchen Schicksalsschlägen ausgesetzt gewesen waren, langsamer.

 

Besonders angewidert war Martin von den Grausamkeiten, denen die Frauen und Kinder ausgesetzt worden waren. Ausnahmslos alle Frauen, ob jung oder alt, waren systematisch geschändet worden, teilweise vor den Augen der Familien oder direkt auf dem Dorfplatz. Als Rudolf ihm berichtete, wie übel es die kleineren Kinder getroffen hatte, schlug der junge Fürst mit einer solchen Wut gegen eine verbliebene Haustür, dass sie in hohem Bogen aus den Angeln flog.

 

Den Knaben hatten diese Teufel die Augen ausgestochen oder die Knochen in den Armen so zertrümmert, dass es fraglich war, ob sie später zumindest allein essen können würden. Die Mädchen schrien vor Schmerzen, die die schweren Verbrennungen auf ihren Köpfen verursachten. Sie waren mit Feuer skalpiert und damit für den Rest ihres Lebens so entstellt worden, dass kein vernünftiger Mann sie mehr zur Frau wählen würde, um ihr so Heim und Versorgung zu garantieren. Eine ganze Generation war durch diese grausame Vorgangsweise zu einem Leben im Kloster oder zu einem erbärmlichen Dasein als Außenseiter der Gesellschaft verdammt worden.

 

Martin versuchte, an allen Orten gleichzeitig zu sein. Langsam begann sich das wahre Ausmaß der Aggression abzuzeichnen. Es war aussichtslos, diese Dörfer wiederzubeleben. Es war alles dem Erdboden gleichgemacht worden. Die Bauern waren verkrüppelt oder so schwer verwundet worden, dass sie die Nacht nicht überleben würden. Es gab niemanden mehr, der Felder bestellen oder Bäume fällen konnte. Die Frauen hätten sich zur Not um ein paar Kühe kümmern können, aber diese brauchten Ställe und die Menschen brauchten auch Brot.

 

Martin besprach mit seinem Lehnsmann, in dessen Bereich diese Dörfer fielen, die akute Lage. Gemeinsam beschlossen sie, dass die Invaliden in kleinen Gruppen auf die Dörfer in ganz Landrion verteilt werden sollten. Mit einem Sonderdekret wollte Martin diese Menschen unter seinen persönlichen Schutz stellen. Ihm war klar, dass er damit gewachsene Familienbande auseinanderriss, aber nur so konnte er garantieren, dass ein Auskommen gesichert war, ohne die einzelnen Rotten zu großen Belastungen auszusetzen. Insgeheim schickte der Landesherr ein Stoßgebet zu Gott, dass dieser sich zumindest der am schwersten Verletzten erbarmen und sie ins Himmelreich holen möge.

 

Nahrung war knapp und es war nach wie vor ein Naturgesetz, dass schon abnorm geborene Kinder nach der Geburt getauft und dann getötet wurden. Der Aberglaube kursierte, dass diese unvollkommenen kleinen Wesen vom Teufel gezeichnet waren und nicht unter den Lebenden weilen durften. Die Wahrheit war wesentlich pragmatischer – wer nicht arbeiten konnte, sollte auch nichts zu essen bekommen. Das galt auch für gesunde Menschen, die durch ein Unglück in diese Situation geraten waren.

 

Zum Schutz seiner Untergebenen ließ der geplagte Fürst in jedem der drei Dörfer ein kleines Kommando zurück, das zu gegebenem Zeitpunkt auch die Übersiedlung organisieren sollte. Den Befehlshabern gab Martin den Auftrag, festzustellen, ob zumindest ein paar der Einwohner in anderen Dörfern Anverwandte hatten, die den Heimatlosen liebevolle Aufnahme bereitstellen konnten und wollten.

 

Zur Linderung der größten Not ritt Martin am nächsten Tag in die umliegenden Rotten und ließ Hilfslieferungen mit Lebensmitteln, Kleidern und Decken zusammenstellen. Der junge Fürst überließ seinen Soldaten etliche Goldmünzen, mit denen die Vitali sofort bezahlt werden konnten. Das war unüblich, denn jeder andere Lehnsherr hätte diese Gaben ohne Gegenleistung von seinen Untergebenen eingefordert. Durch diese Geste konnte Martin zeigen, in welche Richtung seine Herrschaft gehen würde und sich der Loyalität dieser Menschen vergewissern.

 

Zuversichtlich hatte er sich mit den verbliebenen Soldaten auf den Rückweg begeben. Um ganz sicher zu gehen, wollte Martin noch der Wache, die die Grenze zu Enigor sicherte, eine Verstärkung zur Seite stellen. Doch statt seiner Männer fand er die Wegelagerer vor. Zuerst dachten er und seine Ritter an die Soldaten des Grafen von Ald. Die Wut über dessen Unersättlichkeit am Blutvergießen fuhr Martin wie ein Blitz durch die Adern. Mit einer eindeutigen Geste befahl er den Angriff und stellte damit gleichzeitig klar, dass er keine Gefangenen wünschte. Sein Magen rebellierte. Die grauenvollen Ereignisse der letzten beiden Tage, die Schlaflosigkeit und das unfreiwillige Fasten waren nicht die ideale Grundlage für neuerliche Kämpfe.

 

Noch jetzt hallten seine Ohren von den verzweifelten Schreien der Frauen, die sich kaum von jenen derer in den Dörfern, die er gerade hinter sich gelassen hatte, unterschieden. Tod und Elend auch hier, keinen Steinwurf von der letzten Hölle entfernt. Es reichte ihm und er wollte nur eines – dass es so schnell wie möglich beendet war. Deutlich sah er das Bild der jungen Bäuerin vor sich, die sich dem Vogelfreien in den Weg stellte und deren Namen er jetzt kannte.

 

In diese Gedanken versunken stieg er langsam zu den Gemächern der Familie hinauf. Seine Mutter Mechthild saß im Wohnraum vor der Feuerstelle in einem ausladenden Sessel, wo sie sich von den Strapazen ihrer Rolle als Gastgeberin erholen wollte. Sie hatte ihre Kopfbekleidung abgelegt. Ihr dichtes graues Haar fiel auf ihre Schultern und legte sich dort in große Locken.

 

Den linken Ellbogen hatte sie aufgestützt und gedankenverloren fuhr sie sich mit dem Zeigefinger über die Lippen. Mechthilds Blick war müde und sie hatte das Gefühl, dass sie das Gedenken an ihren verstorbenen Mann kaum ertragen konnte. Die aufwendige Bestattung und die damit verbundene Anwesenheit von Kaiser Heinrich waren schon eine zu große Belastung. Die Präsenz der Trauergemeinde, die übergangslos in eine feuchtfröhliche Festgemeinde übergegangen war, zerrte an den Nerven der alten Fürstin.

 

Wäre es nach ihren Wünschen gegangen, dann hätte sie sich am liebsten nicht mehr von dem riesigen Steinsarg wegziehen lassen, um weiter die Totenwache über ihren geliebten Mann zu halten. Traurig dachte Mechthild an die letzten Monate, in denen die heimtückische Krankheit schon unaufhörlich an den Kräften des einst so stattlichen Landesherrn gezehrt hatte. Als es dem Ende zuging, brannte in Harold nur mehr ein ganz kleines Licht seiner Lebensenergien. So gut sie konnte, hatte Mechthild den Kranken mit Tränken von Lirgian versorgt – vieles brachte etwas Linderung, aber es war überdeutlich: Der alte Fürst wurde zum Herrn abberufen.

 

Ihr Erstgeborener musste seine Pflichten viel früher übernehmen, als es vorgesehen gewesen war. Harold hatte vorgehabt, ihn langsam in die schwierige Rolle hineinwachsen zu lassen. Doch nun war Martin praktisch über Nacht gezwungen gewesen, die Position seines Vaters einzunehmen. Es schien Mechthild wie gestern, dass Harold kurz nach einem Abendessen diesen schrecklichen Anfall gehabt hatte, der ihn auf der ganzen linken Körperhälfte gelähmt zurückgelassen hatte. Nach einer ersten Schrecksekunde sah es so aus, als wären die Symptome nur vorübergehend gewesen, aber mit jedem neuen Tag verschlechterte sich der Zustand ihres Mannes mehr und mehr.

 

Zur wachsenden Sorge um den Gesundheitszustand des alten Fürsten kamen die äußeren Umstände in Form der ständigen Fehden in den Nachbarländern. In Erfüllung von versprochener Unterstützung war Martin immer wieder mit seinen Soldaten Hardrich von Enigor zu Hilfe gekommen, doch bald musste er diesen Beistand einstellen, um die Verhältnisse in Landrion zu stabilisieren. In unsicheren Zeiten wie diesen konnte es sich eine Herrscherfamilie nicht leisten, anderen Interessen außer Landes nachzugehen.

 

Rudolf war kurz zuvor in den Dienst bei Kaiser Heinrich abberufen worden und zog mit dem Herrscher nun von Kaisersitz zu Kaisersitz. Damit blieb die ganze Last der Verantwortung bei Martin, der sich tapfer in sein neues Schicksal fügte. Mechthild tat sich schwerer, ihren Teil zu akzeptieren. Es war ihr nicht vergönnt, in Zurückgezogenheit ihre Trauer zu bewältigen. Nur wenige Wochen nach Harolds Ableben war der Kaiser mit seinem Gefolge eingetroffen, um seinen Kondolenzverpflichtungen nachzukommen und den neuen Fürsten anzuerkennen.

 

Da Martin noch nicht verheiratet war, lag es an ihr, die Repräsentationsverpflichtungen zu übernehmen. Eine junge Frau hätte diese Aufgabe viel leichter erfüllen können. Sie fühlte sich in kurzer Zeit um zehn Jahre gealtert. Ihr war mehr als bewusst, dass sich alles um sie herum im Lauf weniger Wochen radikal verändert hatte. Es war auch richtig so, denn die Zeit war reif für die nächste Generation.

 

In Augenblicken wie diesen vermisste sie ihren Mann am meisten, denn die Abende waren, soweit der alte Fürst keine anderen Verpflichtungen hatte, immer ihr, seiner angebeteten Gattin, gewidmet. Stundenlang saßen sie vor der Feuerstelle und besprachen die Ereignisse des Tages oder die Entwicklung der Ländereien.

 

Als Martin noch klein war, saß er oft bei seinem Vater und schlief bald selig in den Armen seines geliebten Vorbilds ein. Der Fürst hatte es sich nicht nehmen lassen, Martin selbst ins Bett zu bringen. Wenn er zurückkam, kniete er sich neben seine Frau, legte seinen Kopf in ihren Schoß und warf für eine kurze Weile die Last all seiner Verantwortung ab. Die Fürstin lächelte, denn es hatte lange gedauert, bis der Fürst sie als seine engste Vertraute gesehen hatte.

 

Als Martin eintrat, hob seine Mutter fragend den Kopf. Sie hatte ihn über zwei Tage nicht gesehen und merkte, wie müde ihr Sohn war. Er seufzte und ließ sich in den Sessel neben seiner Mutter fallen. Sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, zu fragen, und wartete geduldig.

 

„Meine zukünftige Frau ist die Tochter von Graf Hardrich von Enigor“, stieß Martin plötzlich hervor und setzte ein breites Grinsen auf. Die alte Dame zog die linke Augenbraue hoch. Sie war erstaunt, aber nicht überrascht. Sie sagte immer noch nichts und überließ es ihrem Erstgeborenen von den Ereignissen zu berichten.

 

„Dann ist es umso wichtiger, dass sie überlebt“, schloss sie leise. „Weißt du schon, wie du vorgehen möchtest?“

 

„Als Erstes rede ich morgen mit Heinrich und lasse sie offiziell unter meinen Schutz stellen.“ Martin lächelte verschmitzt. „Und dann mache ich ihr den Hof.“

 

Die Fürstin lächelte zufrieden. Diese Verbindung wäre mehr als wünschenswert. Graf Hardrich war dem Kaiserhaus treu ergeben gewesen und Agnes galt als ebenso schön wie gebildet. Sie betrachtete ihren Sohn von der Seite. Mechthild wusste um das Glück einer guten Partnerschaft und wünschte von ganzem Herzen, dass Martins Wahl auch dem Kaiser gefiel. Sie brauchte diesen Gedanken nicht laut auszusprechen, die nachdenkliche Miene ihres Gegenübers verriet, dass Martin dasselbe dachte.

 

Mit einem Seufzer erhob sich Martin und holte mit einem kurzen Blick die Erlaubnis ein, sich zu entfernen. Mit einem leichten Wink mit der rechten Hand entließ ihn die alte Fürstin.

 

„Gute Nacht, Mutter.“ Der riesige Mann beugte sich zu ihr hinunter und küsste ihre Wange. Liebevoll tippte sie ihm auf die Schulter. „Vergiss’ nicht, dass Heinrich einen leichten Schlaf hat.“

 

Martin nickte und ihm war klar, was sie meinte – keine nächtlichen Tambourübungen. Die Leidenschaft der rhythmischen Trommelklänge hatte ihn und seinen Bruder schon als Pagen angesteckt und noch immer trainierten sie vor den Waffenübungen mit den anderen Rittern auch die Trommler der Heeresabordnung selbst. Sehr zu deren Leidwesen, denn vor allem Martin forderte ein absolutes Taktgefühl und eine atemberaubende Geschwindigkeit.

 

Dem jungen Fürsten war es zur Angewohnheit geworden, vor dem Schlafengehen das Programm für den nächsten Morgen zusammenzustellen, ob die Stunde fortgeschritten war oder nicht, bekümmerte ihn wenig. Den ständigen Burgbewohnern konnte das melodische Pam–para–bam mittlerweile zugemutet werden, andere Regeln galten jedoch für die Anwesenheit von Gästen. Vor allen anderen jene kaiserlichen Blutes und vor allen anderen jene, die nach einer friedlichen Nachtruhe gut gelaunt beim Frühstück sitzen sollten.

 

Leise ging Martin zu seinem Zimmer, das am hinteren Ende des langen Ganges lag. Er hatte die übliche Raumrochade abgelehnt, die ihn ins Fürstenzimmer neben die Wohnräume gebracht hätte. Es war ihm seltsam vorgekommen, in die Kammer seiner Eltern zu ziehen und seine Mutter in ein Ausgedinge zu verfrachten. Zumindest dieser Fixpunkt in seinem Leben sollte bleiben.

 

Auf einer Liege neben der schweren Eichentür schnarchte leise einer der Kämmerer. Der junge Fürst verdrehte kurz die Augen. Diesen Krieg konnte er wohl nicht gegen Diethart gewinnen. Der altmodische Verwalter hatte darauf bestanden, dass seinen Dienstgebern immer und überall eine helfende Hand bereitgehalten werden musste. Martin lächelte – die Schlafstatt außerhalb seiner Kammer hatte ihn schon fast die Freundschaft des Verwalters gekostet. Nach dessen Vorstellungen schlief zumindest ein Knecht auf dem Boden vor dem Bett der erlauchten Herrschaft.

 

Der Unsinn hatte erst aufgehört, als Martin mit der Schützenhilfe Rudolfs die eingeteilten Dienstwilligen nach allen Regeln der Kunst verschnürt vor ihren Zimmern abgesetzt hatten. Nach mehreren Vorkommnissen dieser Art musste sich Diethart geschlagen geben und handelte mit allen Beteiligten den Kompromiss mit den Liegen aus.

 

Das ging so lange gut, bis der Verwalter draufkam, dass die Kämmerer anfingen, sich um diese Nachtdienste zu raufen – so gemütlich und ruhig konnten sie in den Gesindeunterkünften nicht schlafen, denn Martin und Rudolf lernten, sich wie Luchse in ihre Zimmer zu schleichen, um diversen Bemutterungen zu entgehen.

 

Diethart hatte einen Riesenaufstand gemacht und war kurz davor gestanden, die gesamte Dienerschaft auf die Straße zu setzen, als die beiden Brüder einlenkten und versprachen, die bereitgestellten Kämmerer einzusetzen. Doch heute wollte Martin unbedingt seine Ruhe. Er bückte sich durch den niedrigen Einlass und schloss bedächtig die Eichentür hinter sich. Schon beim Eintreten merkte er, dass der lange Arm des Verwalters auch ohne sein Zutun am Werk gewesen war.

 

Im Kamin brannte ein frisches Feuer, das einen Kessel mit Waschwasser wärmte. Das Bett war aufgeschlagen und es lag ein Nachtgewand bereit. Auf dem Arbeitstisch war sogar ein Tablett mit einigen Leckerbissen vom Abendessen angerichtet. Beim Anblick des kalten Bratens meldete sich sofort Martins Magen lautstark zu Wort. Das erinnerte ihn daran, wie lange es her war, dass er das letzte Mal etwas gegessen hatte.

 

Plötzlich fühlte sich der junge Fürst unwohl in seinen Kleidern, an denen noch der Dreck und das Blut von den Ereignissen der letzten zwei Tage klebten. Wie um die bösen Erfahrungen abzuschütteln, begann Martin, sich auszukleiden, und schöpfte dankbar warmes Wasser in die bereitgestellten Krüge. In einem kleinen Nebenraum hatte Harold nach römischem Vorbild einen Waschraum eingerichtet, wo das Waschwasser und die Seife direkt durch den Boden abfließen konnten.

 

Mit einem Platschen schüttete Martin den ersten Krug über sich. Für einen kurzen Moment hatte er das Gefühl, als könnte er auch seine Sorgen wegschwemmen. Mit entschlossenen Bewegungen rieb er sich mit einer der bereitgelegten Seifen ab. Nur vage nahm Martin den zarten Geruch von Sandelholz wahr. Er war mit seinen Gedanken bei Geißblatt – dem feinen Duft von Agnes.

 

Mit einem dicker gewebten Leinentuch um die Hüften gönnte sich der junge Mann einen Bissen. Mit einem lauten Seufzer ließ er sich erschöpft auf seinen Sessel fallen. Mit einiger Selbstbeherrschung musste er sich zwingen, die Sachen langsam zu verzehren. Sein Körper schrie förmlich nach neuer Energie. Doch war ihm auch bewusst, dass dieser Mangel nicht nur durch Lebensmittel auszugleichen war.

 

Fast augenblicklich befiel den jungen Mann eine bleierne Müdigkeit. Achtlos ließ er das Badetuch liegen, er ignorierte auch das Nachtgewand und schenkte nicht einmal seiner Trommel einen letzten Blick. Völlig erschöpft ließ er sich ins Bett fallen, drehte er sich auf die Seite und schlief mit einem letzten Gedanken an seine Auserwählte ein.

 

Am nächsten Morgen quälte Martin die Trommler besonders lange, denn wieder voll hergestellt und beflügelt von seinen Gefühlen flogen die Stöcke wie von allein über das durchgewetzte Leder seiner Trommel. Mit unbändiger Kraft traktierte er auch den Holzrahmen seines Instruments, auf dem das Leder aufgespannt war, und unterbrach so das weiche Getrommel mit klickenden Akzenten. Verstärkt durch die anderen Tamboure schien der ganze Hof zu vibrieren.

 

Neben dem akustischen Erlebnis war es auch eine Erquickung für das Auge, die Szenerie zu beobachten. Der junge Fürst hatte die fünfzehn Trommler in der Form einer Raute Aufstellung nehmen lassen und stand selbst in der vordersten Reihe an der Spitze. In entspannter Körperhaltung hatte er den linken Fuß leicht nach vorne geschoben. Sein Instrument hing an einem dicken Lederband, das quer über seinem Oberkörper lag. Den unteren Teil der Trommel fixierte er mit dem rechten Bein und trug das Gewicht ohne die geringste Anstrengung.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783950382402
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Januar)
Schlagworte
Liebesroman Abenteuer Mittelalter Romanze Historisch Reise

Autor

  • Eva-Maria Haynes (Autor:in)

Eva–Maria Haynes ist das Pseudonym einer Historikerin, die ihre besondere Liebe zum Mittelalter in ihren Geschichten zum Ausdruck bringt.
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Titel: Die Schmiedin