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Der Graf von Tunis

von Eva-Maria Haynes (Autor:in)
300 Seiten

Zusammenfassung

Der Stauferkaiser Heinrich VI. kämpft um sein Recht auf den Thron von Sizilien. Der erste Anlauf im Jahre 1191 endet in einer Katastrophe. Drei Jahre später ist sein Widersacher Tankred von Sizilien tot. Vor seinem zweiten Feldzug will sich Heinrich absichern. Er vereinbart Eheschließungen zwischen Vertrauensleuten und Töchtern von ortsansässigen Adeligen. Rudolf von Landrion ist als Hauptmann seiner Leibwache für eine Principessa aus Benevento ausersehen. Doch in dem kleinen Fürstentum gärt es. Rudolf und seine frisch angetraute Frau Elisabetta fallen üblen Machenschaften zum Opfer. Die junge Frau flieht nach Norden, während Rudolf sein Schicksal in Tunis meistern muss.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


 

 

 

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1

Dortmund 1189

 

Voller Wut hallte die Stimme des Königs durch den Saal. „Dieser Emporkömmling! Dieser Usurpator! König Tankred – das ist lachhaft! Ein Bastard ist er und sonst nichts.“ In der nächsten Sekunde sauste seine Faust auf die schwere Eichenplatte.

 

Heinrichs Frau Konstanze zuckte zusammen. Sie rettete ihren wertvollen Trinkpokal vor einem Sturz. Der Wutausbruch des Staufers war in vollem Gange. Mit hochrotem Kopf sprang er auf und stieß dabei so heftig gegen seinen Sessel, dass das schwere Möbelstück polternd auf den Boden krachte.

 

„Dieser dahergelaufene Niemand macht Uns Unsere Ansprüche auf den Thron ...“, Heinrich warf einen kurzen Seitenblick auf seine Frau, „... nicht streitig.“ Noch viele Atemzüge lang gingen dem König die Beschimpfungen nicht aus. Konstanze starrte stumm vor sich hin.

 

Nach einer schieren Ewigkeit holte Heinrich tief Luft und winkte einen Diener herbei, der sofort zum Sessel stürzte, ihn aufrichtete und unter seinen Herrscher schob. Mit einem Seufzer ließ sich Heinrich nieder. „Verzeiht, meine Liebe.“ Der König nahm die Hand seiner Gemahlin. „Wir wissen, Ihr trauert um Euren Verwandten. Dieses frühe Ende hat er nicht verdient. Aber Wir wissen auch, dass es um Wilhelms Gesundheit nicht zum Besten stand.“ Konstanze lächelte schwach und entzog Heinrich ihre Hand. Sie glaubte nicht einen Moment, dass sich ihr Mann für ihre Gefühle interessierte. Sie schwieg weiter.

 

Konstanze war seit drei Jahren mit dem wesentlich jüngeren Staufer verheiratet. Das war aus rein politischen Motiven geschehen, weil ihre Abstammung aus dem sizilianischen Königshaus einen Erbschaftsanspruch auf den Thron bedeutete. Von Liebe und Zuneigung konnte nicht die Rede sein. Konstanze war auch zu alt. Es hätte eines Wunders bedurft, wenn sie mit ihren bald dreiunddreißig Lenzen überhaupt noch dem erhofften Erben das Leben schenkte.

 

Heinrichs Kanzler wartete den königlichen Zornausbruch mit stoischer Ruhe ab. Er konnte die Dinge nicht ändern, er war nur gezwungen, das wiederzugeben, was im Schreiben des königstreuen Grafen Roger von Andria stand. Heinrich wedelte ungeduldig mit der Hand in Richtung seines Kanzlers. „Nun, fahrt fort, von Katzenelnbogen. Welche Rolle hat Mattheus von Salerno, dieser angebliche Vertraute von Wilhelm, bei diesem schändlichen Verrat gespielt?“ Diether brauchte den Brief für die richtige Antwort nicht zu konsultieren. Er hob die Augenbrauen.

 

„Der Vizekanzler hat die Mehrheit der Barone davon überzeugen können, die Verträge von einst, die Euren Anspruch bezeugen ...“, Diether räusperte sich verlegen, „... außer Acht zu lassen.“

 

Heinrichs Kopf fuhr hoch. „Wieso haben diese Schwachköpfe denn auf ihn gehört?“, fragte er aufbrausend.

 

„Graf Roger meint, dass die letzten Unruhen in Apulien die Barone zur Überzeugung gebracht haben, dass ein starker Mann vor Ort gebraucht wird.“

 

Konstanze sog hörbar die Luft ein und wappnete sich gegen einen weiteren Zornausbruch ihres Mannes, doch Heinrich blieb völlig ruhig. Überrascht wagte sie einen Seitenblick auf den König. Er hatte die linke Hand aufgestützt und strich sich über den gepflegten Bart. Mit einem Lächeln wandte er sich seiner Gemahlin zu. „Nun, meine Liebe, so wie es aussieht, werdet Ihr Eure Heimat sehr bald wieder betreten.“

 

Heinrich erhob sich und wandte sich seinem Kanzler zu. Er wartete ab, bis wieder Ruhe eingekehrt war, nachdem sämtliche Untertanen aufgesprungen waren. „Mein guter Kanzler“, begann der König aufgeräumt. „Die werten Herren Barone in Sizilien werden noch sehen, dass Tankred nicht der Mann ist, auf den sie setzen sollten.“

 

Der König deutete eine Verbeugung in Richtung seiner Gattin an und verließ die Halle, dicht gefolgt von Diether, der Rogers Schreiben vor sich hertrug, als handelte es sich um eine giftige Schlange.

 

Konstanze sank in ihren Sessel zurück und griff sich müde an die Stirn. Sofort trat ihre Zofe vor. „Ist Euch nicht wohl, Herrin?“ Die Königin seufzte und schüttelte leicht den Kopf. „Gerade erst musste er den erfolglosen Feldzug gegen den Löwen Heinrich abbrechen“, sagte sie mehr zu sich selbst, als zu ihrer Kammerfrau. „Und nun steht uns eine Auseinandersetzung um Sizilien bevor.“

 

Die Königin erhob sich und strich über ihr wertvolles Kleid. Doch die Falten, die sie eigentlich glattstrich, waren nicht im Stoff. Konstanze wollte ihrem Gemahl nicht noch einmal begegnen und sie verließ die große Halle durch den hinteren Ausgang. Auf dem Weg nach draußen fiel ihr Blick auf das staufische Wappen, das an der Rückwand des Repräsentationsraumes prangte. Mit Wehmut dachte sie an ihren Schwiegervater Kaiser Friedrich. „Ausgerechnet jetzt, wo er auf dem Kreuzzug ist, musste Wilhelm sterben“, murmelte sie im Gehen zu sich selbst. „Und was wird dem Löwen wohl alles einfallen, wenn wir tatsächlich den weiten Weg nach Sizilien auf uns nehmen?“

 

Die Königin ignorierte ihre Zofe, die um sie herumschwirrte und stieß die Tür zu ihren Gemächern selbst auf. Mit wehenden Kleidern betrat sie ihr liebevoll eingerichtetes Zimmer. Konstanze hasste diese Reichsburg noch mehr als alle anderen staufischen Besitztümer. Dortmund war eine der nördlichst gelegenen Pfalzen und an keinem Ort der Welt wollte sie sich weniger aufhalten.

 

Um der Kälte von Land und Leuten entgegenzuwirken, hatte Konstanze besonders auf eine Einrichtung mit Möbeln, Stoffen und Gegenständen aus ihrer Heimat bestanden. Doch in ihrem Gemütszustand ließ sie sich selbst von den schönsten Dingen nicht beruhigen. Mit geballten Fäusten sah Konstanze zur Decke. „Wenn ich nur etwas ausrichten könnte!“ Aufgebracht wirbelte sie herum. Ihre Zofe fuhr erschrocken zurück, aber die Wut der Herrin galt nicht der braven Frau, sondern der eigenen Ohnmacht.

 

„Wie lange braucht es, bis Wir ein ordentliches Heeresaufgebot haben?“ Heinrich saß in seinem Besprechungszimmer und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf den Tisch. Diether wippte kurz mit den Zehen auf und ab. Er formulierte seine Antwort vorsichtig: „Die meisten tüchtigen Männer aus dem Reich haben den Kaiser ins Heilige Land begleitet.“

 

Der König stoppte augenblicklich sein Getrommel. „Heißt das, Wir haben nur die zweite Wahl bei Uns?“ Der Kanzler wand sich wie ein Aal und hob zögernd drei Finger. Heinrich starrte Katzenelnbogen an, als wäre ihm gerade eine riesige Warze gewachsen. Er wollte etwas sagen, aber aus seiner Kehle kam nicht mehr als ein unwilliger Grunzlaut. Mit einem Seufzer ließ er sich auf die Rückenlehne zurückfallen.

 

„Diese Situation gefällt Uns nicht.“ Entnervt strich sich der König über den Bart.

 

Diether deutete mit fragendem Gesichtsausdruck auf den Sessel neben seinem Herrn. Heinrich wedelte ungeduldig mit der Hand. „Ja, ja. Nun setzt Euch doch. Und reicht Uns den unseligen Brief von Roger.“ Der Kanzler nahm Platz, überreichte dem König die Unglücksbotschaft und holte einen großen Bogen Pergament zu sich, auf dem das Reich der Staufer penibel kartographiert war. Die dicke Linie zwischen dem Herzogtum Spoleto und den Fürstentümern Capua, Benevento und Salerno schien vor seinen Augen mehr und mehr zu wachsen, statt endlich ganz zu verschwinden.

 

Heinrich war in das Schreiben des Grafen von Andria vertieft. „An der Reichsgrenze ...“, der König sah auf und tippte auf Benevento, „... scheint alles ruhig zu sein, aber es gab mehrere Zusammenstöße zwischen Unseren Getreuen und den neuerdings verirrten Seelen in Apulien.“ Der König nahm sein Getrommel wieder auf. „Wir müssen Unseren treuen Freund Roger unbedingt unterstützen, damit die Barone gleich in die Schranken gewiesen werden.“

 

Heinrichs Blick wanderte die Karte Richtung Norden hinauf. Er verzog sein Gesicht unwillig und grummelte: „Doch solange der Löwe nicht wie ein waidwundes Tier in seine Höhle verschwindet, können Wir diese Gebiete nicht verlassen.“ Von Katzenelnbogen räusperte sich. Heinrich hob den Kopf und sah seinen Kanzler so finster an, dass dieser unruhig hin und her zu wetzen begann. Der König schnaufte abfällig. „Ihr kommt Uns jetzt wahrscheinlich wieder mit den gleichen Einfällen?“, fragte er spitz.

 

Diether lächelte schwach. „Ja, mein Gebieter. Wenn Ihr den hiesigen Adel für Euch gewinnen könnt, habt Ihr freie Hand für Eure Aufgaben in Sizilien.“ Der König zog die Augenbrauen noch mehr zusammen und presste die Lippen aufeinander.

 

Seine Miene ließ wenig Zweifel an seiner Einstellung zu den Vorschlägen seines engsten Beraters. „Und Ihr Kanzler, seid der unumstößlichen Meinung, dass sich der Adel mit ein paar Zugeständnissen überzeugen lässt und sich gegen den Welfen stellt?“ Diether rückte sich in seinem Sessel zurecht und nickte wie ein aufmerksamer Schüler.

 

„Euer Gegner hat wenig in der Hand, mein Gebieter. Nicht nur, dass er gegen Reichsrecht verstoßen hat und früher aus der Verbannung zurückgekehrt ist, als es ihm Euer Vater gestattet hatte. Er kann von allen Seiten nur mit wenig Unterstützung rechnen. Ihr indes verfügt über einige Privilegien im Herzogtum, die Ihr nun für Euren Bedarf einsetzen mögt.“

 

Heinrich verzog das Gesicht, als hätte er Zahnschmerzen. „Diether!“, herrschte er den Kanzler an. „Ihr wisst doch, dass es um die königliche Kasse schlecht bestellt ist. Wenn Wir nun Pfründe an diese Kirmes–Ritter vergeben, dann trifft Uns das empfindlich.“

 

Heinrich hielt seine Hände vor sich wie ein Bittsteller um Almosen, um seine wirtschaftliche Misere zu unterstreichen. Der Kanzler presste die Lippen aufeinander und zwang tapfer einen Lachanfall nieder. Zum einen war Heinrich alles andere als schlecht begütert und der Adel aus dem Norden war alles andere als eine Truppe von Jahrmarkttandlern.

 

Ganz im Gegenteil. Wenn alle diese Gefolgsleute gezielt gegen den Welfen eingesetzt werden konnten, kam das wahrscheinlich billiger als die Mühe um eigene militärische Erfolge oder Misserfolge, die in letzter Zeit häufiger vorgekommen waren. Diether beschloss zu schweigen und starrte auf die Landkarte. Die Strecke zwischen ihrem jetzigen Aufenthaltsort und Palermo, wo die Könige von Sizilien residierten, war unendlich weit und mit Hindernissen gepflastert.

 

Die ganze Reise würde mehrere Monate in Anspruch nehmen. Es würde nicht genügen bis nach Aquileja in der Mark Verona zu reisen, um dann ein Schiff nach Palermo zu besteigen. Der König von Italien, der gerade mit finsterer Miene vor ihm saß, war dazu verpflichtet, allen wichtigen Städten Reverenz zu erweisen: Mailand, Cremona, Parma, Modena, Genua, Pisa, Florenz, ...

 

Diethers Augen folgten dem vorhersehbaren Zick–Zack–Kurs auf der Landkarte. Nur mit Mühe konnte er ein Aufstöhnen unterdrücken.

 

„Ihr steht Uns nun schon viele Jahre zur Seite.“ Heinrichs Stimme riss Diether aus seinen Überlegungen. Katzenelnbogen war sofort auf der Hut. Wollte ihn der König aus seinen Diensten entlassen? Heinrich lächelte aber milde. „Wir geben gerne zu, dass Ihr in Euren Einschätzungen nie gefehlt habt. Aber ...“, der König kniff die Augen zusammen, „... Wir haben auch gelernt, dass sich Uns Eure Gedanken offenbaren wie ein plapperndes Weib!“

 

Heinrich hob seine Augenbrauen und schenkte seinem Kanzler einen belustigten Blick. Diether lief knallrot an und wusste nicht, ob er sich ärgern oder beleidigt sein sollte. Der junge König lachte schallend. Er beugte sich vor und zog die Karte zu sich. Über den Ländereien, die sich seiner Herrschaft noch entzogen, spreizte er die rechte Hand. „Wir wissen selbst, dass Wir wahrscheinlich jede Gott verdammte Stadt erobern müssen.“ Heinrich lehnte sich zurück und blies die Luft aus. „Das kann lange dauern ...“ Der König brach den Satz ab und behielt den Rest für sich. Noch war die Zeit nicht gekommen, jemanden in seine weitreichenden Pläne einzuweihen. Heinrich war felsenfest davon überzeugt, dass er der lang herbeigesehnte Friedenskaiser war.

 

Es war seine erlauchte Aufgabe, alle Reiche des Ostens und des Westens wieder zusammenzuführen. Alle Juden würden unter seiner Führung zum Christentum bekehrt und die Heiden im Heiligen Land endgültig besiegt werden. Alle Völker würden zu ihm aufblicken, während er die Menschheit auf die Ankunft des Jüngsten Gericht vorbereitete und Palermo war der Sitz, den er sich für seine Weltherrschaft auserkoren hatte.

 

Mit einiger Mühe zwang Heinrich seine Gedanken zurück in die Gegenwart. „Wie weit ist Unser Marschall mit seinen Aufgaben?“, fragte der König ohne den Blick von der Küste Nordafrikas und von Byzanz zu nehmen.

 

Der Kanzler hatte sich wieder im Griff und antwortete mit fester Stimme: „Marschall Testa ist mit dem Abbau der letzten ... äh ... Belagerung fertig und wartet auf Eure Befehle.“

 

Heinrich knirschte verärgert mit den Zähnen. Nun waren seine Gedanken endgültig zurück bei der dringendsten Angelegenheit: der Welfe. Heinrich war der Erzfeind des Kaisers und der allgegenwärtige Albtraum des Staufergeschlechts. Dieser Stachel im Fleisch der Staufer ließ keine Gelegenheit aus, seine angeblichen Ansprüche auf den Reichsthron anzumelden.

 

Widerwillig musste Heinrich seinem Kanzler recht geben. Wenn er den Adel auf den Welfen hetzte, konnte er sich wieder seinen höheren Zielen widmen, anstatt sich hier im kalten Norden herumzuärgern. „Sollen doch die anderen die Drecksarbeit machen“, murmelte Heinrich vor sich hin.

 

Der Kanzler schreckte auf. „Verzeiht, mein Gebieter. Ich habe Euch nicht recht verstanden.“

 

Der König lachte leise. „Doch, doch. So glauben Wir.“ In seinen Augen blitzte es auf. „Hier also Unser Beschluss in Vertretung Unseres Vaters, des erlauchten Kaisers: Nehmt Kontakt zu den in Frage kommenden Adeligen auf ...“, Heinrich wartete bewusst ab, um zu sehen, wie breit das Grinsen seines Kanzlers ausfiel, „... und gewinnt sie für Unsere Seite. Unserem treuen Freund Roger schicken wir Heinrich Testa mit einem kleinen Aufgebot zur Unterstützung. Wir sind sicher, dass der werte Marschall den Winter lieber in wärmeren Gefilden zubringt. Wir dagegen begeben uns nach Augsburg, wo Wir mit Sicherheit Leute erster Wahl finden, die Uns nach Sizilien begleiten.“

 

Mit einer leichten Bewegung der linken Hand entließ König Heinrich seinen Kanzler.

 

2

Augsburg 1190

 

Heinrich stand am Fenster und starrte in den dichten Nebel hinaus, der die Stadt seit Wochen nicht freigeben wollte. Gegen die Kälte hatte er einen Mantel aus feinster Wolle über sein Nachtgewand geworfen. Es war noch früher Morgen, doch in seinem Privatgemach fanden sich allerlei Personen, die unter anderen Umständen keinen Zutritt gehabt hätten.

 

Seine Frau Konstanze hatte ihre eigenen Gemächer und sie betrat nie die Räume des Königs. Wenn es Heinrich zur Pflichterfüllung trieb, suchte er seine Gemahlin auf. Nun saß sie mit kerzengeradem Rücken auf einem Holzschemel, eingehüllt in einen Überwurf aus Wolle und einem notdürftig gebundenen Tuch über ihren offenen Haaren.

 

Neben ihr stand ein verschlafener Kanzler von Katzenelnbogen, der Bischof von Augsburg, der königliche Schreiber und Peregrin, der Herold des Kaisers Friedrich Barbarossa – des verblichenen Kaisers. In Heinrichs Kopf rasten die Gedanken. Sein Vater war tot und er würde mit Gottes Hilfe der nächste Kaiser sein. Seine Reise nach Italien war dadurch noch dringlicher geworden, denn Kaiser wurden nur in Rom gekrönt. Die Nachricht vom Ableben seines Vaters hätte ihn zu keinem ungünstigeren Zeitpunkt erreichen können. Heinrich war seinen bisherigen Zielen noch kein Stück näher gekommen, denn die Aufstellung seines Heeres ging nur langsam voran. Tankred saß nach wie vor in Sizilien und waltete nach seinem Gutdünken. Heinrich überlegte, ob ihm seine neue Stellung als Kaiser mehr Möglichkeiten gegen seinen Erzfeind einräumte. Er stieß einen langen Seufzer aus.

 

„Der Kaiser hat Uns vor seinem Aufbruch ins Heilige Land mit allen ...“, Heinrich war kaum zu verstehen, „... mit allen Regierungsgeschäften betraut, die Wir nach bestem Wissen und Gewissen erledigt haben.“ Die Last der Verantwortung auf den Schultern des erst fünfundzwanzigjährigen Mannes schien förmlich auf alle Anwesenden im Raum zu drücken.

 

„Viele tapfere Männer verlieren ihr Leben im Namen Jesu Christi.“ Der rundliche Bischof von Augsburg bekreuzigte sich. Doch sein Versuch, Trost zu spenden, wollte nicht gelingen. Heinrich fuhr herum.

 

„Das wissen Wir selbst auch“, herrschte er den Geistlichen an. „Unser geliebter Vater ist aber nun schon mehrere Monate tot und Wir erhalten die traurige Nachricht erst jetzt!“ Heinrich nahm eine rastlose Wanderung durch den Raum auf. „Zuerst fällt Uns der Welfe in den Rücken und dann reißt Tankred Sizilien an sich. Alle scheinen schon etwas gewusst zu haben. Nur Wir nicht!“ Der König drehte sich abrupt um und macht einige drohende Schritte auf den kaiserlichen Herold zu. „Haben Wir einen Verräter unter Uns, Peregrin?“

 

Der Herold riss entsetzt die Augen auf und schüttelte heftig den Kopf. „Mein Gebieter, nein! Ihr wisst doch selbst, wie lange die beschwerliche Reise dauert.“

 

Heinrich wollte zur nächsten Anschuldigung ansetzen, doch die Königin erhob sich und trat energisch vor ihren wütenden Mann. Geflissentlich ignorierte sie, dass er ihr einen Blick schenkte, als wäre sie ein lästiges Insekt, das es schnell zu verscheuchen galt. „Hört mich an, Heinrich. Sämtliche Gefolgsleute sind Euch treu ergeben. Dem Löwen hat es doch schon genügt, dass der Kaiser zum Kreuzzug aufgebrochen war.“ Konstanze lächelte den König gewinnend an. „Mit Euren klugen Entscheidungen in Dortmund habt Ihr ihn nicht nur in die Knie gezwungen, sondern auch seinen Sohn als Pfand gewonnen. Er muss nun als Garant für die Einhaltung des letzten Friedensabkommens mit Euch nach Sizilien ziehen.“

 

Heinrichs Blick schweifte ab. Die Königin forderte seine Aufmerksamkeit zurück, indem sie ihre Hand sanft auf seinen Arm legte. „Hört mich weiter an, mein Gebieter. Ihr wollt Euch vielleicht an die langen Verhandlungen rund um die Verträge anlässlich meiner Verheiratung mit Euch entsinnen. Tankred war schon damals kaum für die Anerkennung Eurer Ansprüche zu gewinnen und Matheus von Salerno hatte offen dagegen opponiert.“ Eindringlich sah Konstanze den einzigen Erben des riesigen Stauferreiches an. Zufrieden erkannte sie, dass aller Zorn aus seinen Augen gewichen war.

 

Sie wandte sich an die kleine Versammlung. „Wir alle erleben den Tod von Friedrich als großen Verlust. Doch wollen wir in diesem Augenblick unserem neuen Herrscher in aller Demut unsere Unterstützung zusichern und ihm die Treue geloben.“ Anmutig sank sie vor ihrem Mann auf die Knie. Die anderen Anwesenden taten es ihr sofort nach.

„Auf Treu und Ehre!“, klang der Schwur wie aus einer Kehle.

 

In den folgenden Wochen hob sich mit dem Nebel, der die Stadt endlich freigab, auch Heinrichs Stimmung. Das Schicksal schien sich zu Gunsten des jungen Königs zu wenden. Ein neuer Brief von Roger von Andria hatte mehrere gute Nachrichten bereitgehalten. Seine Getreuen hatte einige Erfolge verzeichnen können und Tankred war in die Defensive geraten.

 

In den staufischen Stammlanden hatten die dort ansässigen Adeligen dafür gesorgt, dass sein Herrschaftsanspruch ohne weitere Zwischenfälle akzeptiert worden war.

 

Auf seinen Ruf hin waren beachtlich viele Edelleute nach Augsburg gekommen, um sich am Italienfeldzug zu beteiligen. Andere waren angereist, um dem Nachfolger des Kaisers die Ehre zu erweisen. Die Stadt Augsburg veranstaltete ein Turnier zu seiner Huldigung und die Festlichkeiten rund um das Kräftemessen waren prächtig. Heinrich war mit diesen Entwicklungen rundum zufrieden. Seiner Meinung nach waren ihm vorher genug Steine in den Weg gelegt worden.

 

Der König saß auf einem Ehrenplatz auf der Tribüne und ließ sich von seinen Träumen davontragen. ‚Sizilien wird noch Ende des Jahres mir gehören‘, schwor er sich im Stillen. Er war unerschütterlich davon überzeugt, dass man bald nur mehr seinen Stern kennen würde, der hell über dem ganzen Reich erstrahlte.

 

Der Jubel der Menge riss den König aus seinen Gedanken. „Wahrlich ein guter Kämpfer!“ Konstanze klatschte aufgeregt in die Hände und zog ihren Mann undamenhaft am Ärmel. Ein junger Ritter lieferte sich mit seinem Gegner einen formidablen Schwertkampf und schickte ihn unbarmherzig in den Sand.

 

„Wer ist er?“ Ohne sich umzuschauen, hatte Heinrich die Frage an die versammelte Menge auf der Tribüne gestellt. Diether von Katzenelnbogen schreckte hoch. „Mein Gebieter, ich finde es sofort heraus“, stammelte er unter vielen Verbeugungen.

 

„Sein Name ist Rudolf.“ Eine tiefe Stimme klang aus einer anderen Richtung hinter dem König. Erstaunt drehte sich Heinrich nun doch um und plötzliches Erkennen erhellte sein Gesicht. „Martin von Landrion.“ Der König war tatsächlich erfreut und tätschelte dem jungen Ritter die Schulter, der sich tief vor seinem Herrscher verbeugte. „Mein Gebieter.“

 

Martin richtete sich wieder auf und sah den mächtigsten Mann des Reiches gelassen an, der ihn aus klugen Augen musterte. „Es ist lange her.“ Heinrich hatte die Arme vor der Brust verschränkt und strich sich mit der linken Hand über seinen Bart. „Werdet Ihr Euch an den Kämpfen beteiligen?“

 

Der junge Ritter grinste von einem Ohr zum anderen. „Habe ich mir denn je eine Gelegenheit entgehen lassen?“, fragte er mit einem Augenzwinkern zurück.

 

Heinrich kannte Martin schon zu lange, um sich von dessen vorlauter Art aus dem Gleichgewicht bringen zu lassen. Der erlauchte Herrscher lachte leise. „Nein, soweit Wir wissen nicht, und Ihr hattet ja auch immer Erfolg.“ Abrupt wandte sich Heinrich ab und deutete in die Richtung der Arena, wo der Sieger gerade seinem Gegner aus dem Sand half.

 

„Habt Ihr in diesem Turnier vielleicht einen würdigen Gegner gefunden?“ Der hünenhafte Mann vor ihm zuckte mit den Schultern. „Bisher habe ich ihn noch immer bezwungen.“

 

Diese Selbstsicherheit ließ Heinrich amüsiert aufsehen. „Ihr kennt diesen Edelmann?“

 

Martin hob verschmitzt die Augenbrauen und deutete eine leichte Verbeugung in Richtung seines Herrschers an. „Muss ich wohl.“ Aus seinen Augen blitzte der Schalk. „Er ist mein Bruder.“

 

„So, so, also Wir haben hier Rudolf von Landrion vor Uns.“ Mit einem zufriedenen Lächeln strich sich Heinrich weiter über seinen Bart. „Ein vielversprechender junger Mann“, sagte er mehr zu sich selbst als zum älteren Sohn aus dem Hause Landrion. „Wir möchten ihn gerne kennenlernen.“

 

Heinrich hatte sich gönnerhaft zu Martin gedreht und lächelte ihn aufmunternd an. „Wir denken, dass wir viele gute Männer an Unserer Seite brauchen können.“

 

Martin nickte dem Lehnsherrn seines Vaters Fürst Harold von Landrion höflich zu, doch er blieb auf der Hut. ‚Was führt Heinrich im Schilde?‘, dachte er mit einem Anflug von Sorge, doch kam er mit seinen Überlegungen nicht weit.

 

Der Turnierherold ließ gerade eine Liste der nächsten Kämpfer verlauten. Martin war bald an der Reihe und musste sich zum Anlegen seiner Rüstung zu seinem Zelt begeben. Als er die Plane am Eingang zur Seite stieß, sah er Rudolf, der sich über einer Schüssel mit bereit gestelltem Wasser den Schmutz vom Kampf abwusch.

 

„Gut gemacht, kleiner Bruder.“ Martin kniff spielerisch die Augen zusammen, wohl wissend, dass Rudolf diese Bezeichnung am wenigsten schätzte. Der junge Prinz prustete ärgerlich das Wasser in die Schüssel und sandte Martin einen bösen Blick. „Du kannst wohl keine Konkurrenz vertragen?“

 

Rudolf ließ sich vom Knappen ein Tuch reichen und trocknete sich ab. Einen Moment lang klang seine Stimme hinter dem Tuch dumpf. „Wie schmerzhaft wird es wohl sein, einmal nicht der unangefochtene Sieger zu sein?“

 

Martin lachte herzlich auf und ließ sich auf eine Truhe plumpsen. Von einem Lachkrampf geschüttelt zog er sich seine Stiefel aus und winkte den jungen Wilhelm zu sich. „Komm‘ zu mir und hilf‘ dem wahren Ritter in diesem Zelt, Knappe!“ Verstohlen warf Martin einen Seitenblick auf Rudolf, um zu sehen, wie dieser auf die neuerliche Provokation reagierte.

 

Aus seinen ungewöhnlich dunkelblauen Augen feuerte der Jüngere Blitze in die Richtung seiner Störung. Zur Antwort erhielt Rudolf aber wieder nur ein spöttisches Lachen. Martin konnte die Reaktion seines Bruders vorhersehen. Wie eine Wildkatze sprang Rudolf auf ihn zu, um einen präzisen linken Haken auf Martins Kinn zu landen. Doch dieser hatte beschlossen, dass seine Knochen heil bleiben sollten und fing die Faust mit seiner Hand ab.

 

Rudolf schnaufte schmerzhaft auf, denn sein verdammter Bruder hatte sich rasch den Panzerhandschuh übergestreift.

 

„Pass‘ auf, du Hitzkopf!“ Martin knuffte Rudolf liebevoll in die Seite. „Deine Hand fehlt dir sonst im nächsten Kampf.“

 

„Was kümm…“, der junge Prinz wollte die Diskussion fortsetzen. Er wurde von Martin aber derb unterbrochen, indem ihm dieser blitzschnell den linken Arm auf den Rücken drehte.

 

„So, jetzt hör‘ mir gut zu, kleiner Bruder.“ Martin spie diese Worte beinahe aus. Aus seinen klaren grünen Augen sah er Rudolf streng an und wartete bis sich dieser beruhigt hatte. Die beiden Brüder maßen sich mit Blicken, als Martin plötzlich übers ganze Gesicht breit grinste. „Niemanden erfüllt es mehr mit Stolz als mich, wenn du aus diesen Kämpfen als unumstrittener Sieger hervorgehst.“ Martin ließ seinen nächsten Verwandten los und strich ihm liebevoll das Wams glatt. „Ich kenne meinen Platz bereits“, Martin seufzte tief. „Das weißt du genauso gut wie ich.“

 

Rudolf sah den Schmerz in den Augen seines älteren Bruders und entspannte sich augenblicklich. Ihr einst so stattlicher Vater war nur mehr ein Schatten seiner Selbst und es konnte von einem Tag auf den anderen sein, dass sich Martin den Fürstenmantel überstreifen musste – ob er nun wollte oder nicht.

 

Einige Minuten schwiegen sich die beiden Männer an und jeder dachte daran, was die Zukunft wohl bringen möge. Das Gewicht der Verantwortung für das Wohlergehen von so vielen Untertanen schien fast das ganze Zelt zu erdrücken.

 

Martin unterbrach die Stille. „Heinrich war sehr beeindruckt von deiner Leistung.“ Er wandte sich ab und setzte sich zurück auf die Truhe. Mit einem leichten Wink rief er Wilhelm wieder zu sich, der sich in eine Zeltecke verdrückt hatte. „Er möchte, dass du nach dem Turnier bei ihm vorsprichst.“ Rudolf riss überrascht die Augenbrauen hoch. „Was kann er von mir wollen?“

 

Martin zuckte mit den Schultern. „Egal, was es ist, kleiner Bruder.“ Er sah auf und zwinkerte Rudolf freundlich zu. „Ergreife die Gelegenheit. Um Landrion werde ich mich kümmern.“

 

Nach dem Turnier, aus dem Rudolf als Sieger hervorgegangen war, ließ ihn Heinrich zu sich rufen. Auf dem Weg zu dessen Gemächern gingen dem Ritter allerlei Möglichkeiten für den Grund der Audienz durch den Kopf. Doch er wäre nicht im Entferntesten darauf gekommen, was der König mit ihm vorhatte. Als erste Reaktion auf den Auftrag blieb der Sohn des Fürsten von Landrion eine ganze Weile stumm, doch der Herrscher ließ nicht locker. „Wir sind davon überzeugt, dass Wir bei Euch gut aufgehoben sind.“

 

König Heinrich ließ sich von seinem ersten Kämmerer aus dem Mantel helfen. Seine Augen ruhten amüsiert auf dem jungen Prinzen, dem nach wie vor die Worte fehlten.

 

„Traut Ihr Euch diese Aufgabe nicht zu?“ Heinrich hatte die Augenbrauen in die Höhe gezogen und musterte den Mann seiner Wahl eingehend. Diese Frage riss Rudolf aus seiner Erstarrung. „Euch zu schützen vermag ich durchaus, mein Gebieter.“ Ein leichtes Lächeln huschte über seine Lippen. „Aber was werden die Männer Eurer Leibwache dazu sagen?“

 

Heinrich lachte auf. „Ihr werdet der Anführer sein. Lasst sie tüchtig schnaufen, dann können sie gar nichts sagen.“

 

Rudolf nickte leicht. Er war aber alles andere als überzeugt. Er zählte gerade mal etwas über einundzwanzig Lenze und er wusste nicht so recht, ob das die Gelegenheit war, die es zu ergreifen galt. Rudolf presste kurz die Lippen aufeinander. „Wenn Ihr gestattet, möchte ich das gerne selbst herausfinden, mein Gebieter.“

 

Er wartete die Reaktion auf diese ungewöhnliche Bitte ab. Der König sah den Ritter lange an. Der übliche Weg wäre eine offizielle Mitteilung seiner Wünsche gewesen und alle hätten sich zu fügen gehabt, aber gab es einen gewichtigen Grund diesen Wunsch auszuschlagen? „Also gut. So sei es, Hauptmann.“ Heinrich lächelte zufrieden und ließ sich eine Erfrischung reichen.

 

Unten im Hof sah sich Rudolf um. Die königliche Leibwache lungerte um den großen Brunnen herum und die Männer reinigten mehr oder weniger begeistert ihre Waffen. „Oh je!“, Rudolf unterdrückte einen Seufzer und beobachtete den Haufen unauffällig. „Und die soll ich befehligen?“ Er spürte den spontanen Wunsch zu Heinrich zurückzulaufen und das Amt, das er noch gar nicht offiziell angetreten hatte, wieder abzugeben. Doch es gab einiges, das ihn davon abhielt. Auf der einen Seite stand ihm sein Ehrgefühl im Weg.

 

Der angebotene Posten im Kreis der Vertrauten des zukünftigen Kaisers war sehr schmeichelhaft. Auf der anderen Seite musste Rudolf die voraussichtliche Reaktion seines Bruders bedenken, wenn dieser Wind davon bekäme, dass er die Gelegenheit seines Lebens ausgeschlagen hatte. Beim Gedanken an die zu erwartenden Fausthiebe rieb sich Rudolf unwillig das Kinn.

 

Einer plötzlichen Eingebung folgend mischte sich Rudolf unter eine Gruppe von Dienstboten, die gerade den Hof überquerte und ließ sich in der Nähe der Männer der Leibwache nieder. Betont langsam zog er einen Dolch aus seinem Stiefel und fing an, seine Waffe von eingebildeten Flecken zu befreien. Mehrmals warf er den Soldaten Blicke zu und spielte provokant mit der Schneide. Aber er blieb weiter unentdeckt. Rudolf spürte, wie sich sein Magen zusammenkrampfte. Wie sollten solche Männer wirksam über das Leben ihres Schutzbefohlenen wachen?

 

Mit einem Satz war Rudolf auf den Beinen. „Aufgestanden, faules Pack!“ Sein Gebrüll hallte im Hof wieder. Völlig überrumpelt sprangen die Wachleute auf und suchten verwirrt nach der Quelle der Beleidigung. Der neue Hauptmann machte einen Satz auf einen Vorsprung beim Brunnen, stellte sich breitbeinig hin und stieß einen ohrenbetäubenden Pfiff aus. Mit dem Ausdruck höchster Verwirrung starrten zwanzig Augenpaare den unbekannten Mann an. Er hatte die Hände in die Hüften gestemmt und seine Verärgerung quoll ihm förmlich aus allen Poren. Seine dunklen Augen schienen zornige Funken zu versprühen.

 

Im ersten Moment beeindruckt von der wilden Erscheinung, regte sich kein Widerstand unter den Männern. Doch Rudolf schwieg und starrte die Soldaten weiter wütend an. Er schwieg so lange, bis sich einer der Männer traute, ihn offen herauszufordern. „Was willst du hier?“, blaffte ein Soldat, der wesentlich älter war als der Eindringling und er ließ dabei jede Höflichkeit fahren.

 

Die Augenbrauen des Unbekannten schossen arrogant in die Höhe. Rudolfs Stimme hätte Stahl geschnitten. „Ich bin hier, um dieser lahmen Truppe Beine zu machen.“

 

Zur Antwort schlug Rudolf schallendes Gelächter entgegen. Der ältere Soldat erhob sich langsam – er sah sich wohl als eine Art Wortführer der Gruppe – und stellte sich ebenso breitbeinig vor den Störenfried hin. Neben ihn gesellten sich vier andere Männer der Leibwache.

 

Bei Rudolf schlich sich augenblicklich eine Ahnung ein. Diesen Mann hatte er wohl gerade beim Rennen um die Hauptmannswürde ausgestochen. Genauso wie Rudolf verschränkte der Gardist die Arme vor der Brust und sprach zu seinen Kumpanen ohne den Blick vom Provokateur zu nehmen.

 

„König Heinrich schickt uns einen Grünschnabel?“ Die anderen Männer quittierten die Frage mit weiterem Gelächter. Rudolf sah unbeeindruckt in die Truppe und hob nur belustigt die Augenbrauen. In dem Wissen, dass er sich blind auf seine Fähigkeiten verlassen konnte, breitete er seinen Mund zu einem frechen Grinsen aus. „Wahrscheinlich ist er der Meinung, dass ein Grünschnabel für diesen Narrenhaufen …“, der frisch ernannte Gardehauptmann deutete mit dem Kopf auf die Männer, die sich nun wie eine Mauer aus Widerstand aufgebaut hatten, „… völlig ausreicht.“

 

Der Ältere knirschte laut hörbar mit den Zähnen. „Ich denke, wir werden diesen Punkt mit dem König klären müssen.“ Doch der Rädelsführer erntete von Rudolf nur ein ärgerliches Kopfschütteln.

 

„Ich denke, wir klären das hier und jetzt.“ Der junge Ritter verharrte auch angesichts der Bedrohung wie eine Statue aus Stein. „Ich brauche mich nicht hinter dem Rockzipfel des Königs zu verstecken.“ Er zog die linke Augenbraue spöttisch in die Höhe. „Ihr etwa?“ Ohne die sicherlich abweisende Reaktion des Gardesoldaten abzuwarten, fuhr Rudolf mit eisiger Stimme fort. „Ihr werdet hier und jetzt meine Autorität anerkennen.“

 

Die Männer hinter ihrem Wortführer wurden unruhig. Der alte Soldat blaffte: „Ruhe!“ Doch viel half es nicht. Die Gardeleute wollten ihrem Unmut Luft machen. Rudolf ignorierte seinen Gesprächspartner absichtlich und seufzte theatralisch. „Also bitte, dann eben ein tiefgründiges Gespräch.“

 

Blitzschnell sprang Rudolf von der Steintreppe und packte den älteren Mann am Wams. Mit einem Kraftakt hob er ihn ein Stück hoch und schleuderte ihn gegen seine Kumpane, die die Wucht des schweren Körpers völlig unvorbereitet traf. Unter wütendem Geschrei rappelten sie sich hoch, bereit den Störenfried sein Blut schmecken zu lassen. Eilends legte Rudolf sein Schwert ab, denn er wollte den Männern nur eine ordentliche Tracht Prügel verpassen. Diese fünf Leute der Leibwache zeigten nun doch etwas von der Kampfwilligkeit, die sich Rudolf erhoffte. Die anderen hatten sich in eine Ecke des Hofs verdrückt.

 

Einen ersten Angriff wehrte er geschickt ab. Ein behäbiger Mann stürzte nun wie ein wütender Stier auf die Quelle seines Ärgers, doch nur um einen Augenaufschlag später im Sand zu landen. Rudolf änderte, flink wie ein Wiesel, ständig seine Position und einmal liefen zwei verwirrte Gardesoldaten sogar direkt ineinander hinein. Nach der ersten Attacke hatte sich der Wortführer wieder hochgerappelt und er suchte sofort die direkte Konfrontation. Er erntete von dem Unbekannten einen sehr schmerzhaften Kinnhaken.

 

Doch wieso war der Schlag mit der linken Faust so verheerend? Der Grünschnabel war doch Rechtshänder? Unter einem Aufstöhnen taumelte der ältere Soldat zurück. Rudolf merkte rechtzeitig, dass ein anderer Gardemann versuchte, sich von hinten zu nähern. Behände warf er sich in den Sand, wälzte sich um die eigene Achse und fuhr dem Angreifer mit einem kräftigen Fußtritt zwischen die Beine. Augenblicklich krümmte sich der Mann vor Schmerzen. Von dem so Gequälten war kein weiterer Widerstand zu erwarten.

 

Geschickt wich Rudolf einem Tritt aus, der seinem Kopf gegolten hatte und klammerte sich mit einem Griff aus Stahl an den Stiefel des Provokateurs – ein kräftiger Riss nach oben und der Mann krachte aus dem Gleichgewicht gebracht, wie ein Holzpflock auf den Boden. Der offensichtlich noch nicht anerkannte Gardehauptmann rollte sich behände auf die Seite und war mit einem Satz wieder auf den Beinen. Ein Gardist, der ihn von vorne angreifen wollte, krümmte sich schnell unter einem Schlag in die Magengrube.

 

Rudolf erkannte zu spät, dass im selben Moment eine Hand in einem Faustpanzer auf dem Weg zu seinem Kinn war und empfindlich traf. Sein Kopf dröhnte und er schrie auf. Aus einer klaffenden Wunde schoss augenblicklich jede Menge Blut. Blinde Wut stieg in ihm hoch. „Jetzt reicht es!“ Rudolfs Stimme glich einem wilden Knurren. „Dieses Kinderspiel hat sofort ein Ende!“

 

Eine Eiseskälte nahm von ihm Besitz und er schlug bar jeder Rücksicht auf die Männer ein. Augenscheinlich war hier eine ordentliche Tracht Prügel notwendig, bevor ein höflicherer Umgang möglich war. Schon bald stellte sich heraus, wer die bessere Kampftechnik und die längere Ausdauer hatte. Die noch aufrechten Gardesoldaten schnauften und schwitzten, während Rudolf nur etwas schneller atmete als sonst.

 

Doch er sah mittlerweile aus, als wäre er direkt der Hölle entstiegen, um die Menschheit heimzusuchen. Seine Kleidung war über und über mit Staub und Blut bedeckt und sein dunkles Haar stand wild vom Kopf weg. Mit einiger Bewunderung stellte Rudolf fest, dass sich vor allem der ältere Gardesoldat, der ihm von Anfang an die Stirn geboten hatte, immer wieder hochrappelte und erneut angriff.

 

Doch plötzlich sah Rudolf, dass der Mann wankte und sich verwirrt an den Kopf griff. „Schluss jetzt mit dem Unsinn!“ Sein Gebrüll war in der ganzen Burg zu hören. Mit einem Satz war er bei dem älteren Mann und fing ihn auf, bevor er gefährlich nah bei Brunnenstufe hingefallen wäre.

 

„Hinsetzen!“ Der designierte Gardehauptmann bugsierte seinen neuen Untergebenen unsanft auf den Boden. „Ich brauche Euch lebend!“ Überrascht blickte der Soldat auf. Seinem lahmen Nicken war zu entnehmen, dass er nun bereit war, die ungewohnte Rollenverteilung zu akzeptieren. Die Signalwirkung auf die anderen vier Männer war beachtlich. Die noch Kampffähigen ließen die Fäuste sinken und fielen allesamt wie altersschwache Häuser zusammen. Erleichtert stieß Rudolf die Luft aus. Wenn er diesen Sturkopf für sich einnehmen konnte, dann hatte er auch den Rest der Truppe gewonnen.

 

„Abtreten!“ Der nun akzeptierte Gardehauptmann sah sich um. „In zwei Stunden will ich jeden einzelnen von euch in sauberer Montur wieder hier sehen!“

 

Unter einigem Ächzen und Stöhnen machten sich die Gardeleute davon. Einer brauchte zwei andere Männer zur Stütze. Mit einem Kopfschütteln sah Rudolf ihnen hinterher. ‚Gott sei Dank hat es nicht gerade jetzt irgendjemand auf das Leben Heinrichs abgesehen‘, dachte er beklommen.

 

Auf dem Weg in seine Kammer lief Rudolf zufällig seinem neuen Dienstgeber über den Weg. König Heinrich starrte den arg zugerichteten jungen Ritter erschrocken an. Rudolf hielt ein mit Blut vollgesogenes Tuch an sein Kinn und lächelte schief, als er sich vor seinem König verbeugte. „Es ist alles in bester Ordnung, mein Gebieter.“

 

„Müssen Wir unsere Wahl nicht überdenken?“ Heinrichs Stimme klang belustigt.

 

„Wenn es nach den Soldaten geht, dann schon.“ Rudolfs Augen blitzten übermütig auf. „Mir gefällt die Herausforderung.“

 

Heinrich lächelte leise und schickte den jungen Mann zu seinem königlichen Leibchirurg, damit dieser seinen neuen und von den Männern anerkannten Gardehauptmann in Ordnung brachte.

3

Neapel 1191

 

Die Luft flimmerte vor Hitze. Die Sonne brannte unbarmherzig auf die verdorrte Erde. Das wenige verbliebene Gras war auf zähe, braune Stoppeln reduziert. Einige Pferde standen unter den Pinien, ließen ihre Ohren hängen und dösten. Andere Tiere scharrten unzufrieden mit den Vorderhufen am Boden auf der Suche nach etwas Essbarem.

 

Die Knechte hatten Anweisungen bekommen, den verbliebenen Hafer in Einzelportionen auszugeben. Um Streit zu vermeiden, bekamen die Pferde ihr Futter auch nur in großer Distanz zueinander.

 

Rudolf tätschelte sein Pferd Maximus, der mit dem Schweif ohne Unterlass nach den Mückenschwärmen schlug. Er bückte sich zu einem Rosmarinstrauch, brach einige Zweige ab und rieb seinem Pferd damit über das Fell. Die Insekten plagten Mensch und Tier. Rudolf fixierte den Schweif und entfernte einige festgehakte Kletten aus dem dichten Haar. „So, jetzt geht es wieder besser.“ Er gab seinem Reittier einen Klaps auf die Hinterhand und sah sich um. In einem Kübel gab es noch Wasser.

 

Rudolf hielt es Maximus hin. Das Tier roch lange daran und trank unentschlossen ein paar Schlucke. „Das ist nicht einmal mehr für dich genießbar.“ Rudolf schüttelte ärgerlich den Kopf. Er hob den Blick zum Himmel, der in einem Blau erstrahlte, das nicht Schönheit, sondern nur Verderben versprach. Nicht ein Wölkchen am Horizont, von dem erlösender Regen oder für ein paar köstliche Momente Schatten zu erwarten war.

 

In Gedanken versunken ging Rudolf zu einem kleinen See, der das Heer von Heinrich in den letzten Wochen mit Wasser versorgt hatte. Die Dürre und die vielen Wasserentnahmen hatten den Weiher in einen Sumpf verwandelt. Unzählige Mücken schwirrten über dem schlammgrünen Wasser.

 

Rudolf brach einen Zweig von dem allgegenwärtigen Rosmarin ab und rieb sich über Gesicht und Arme. Es half ein wenig, denn ihn stachen die Mücken weniger. Er spürte den Schweiß auf seiner Haut. Das schmutzige Leinenhemd klebte auf seinem Oberkörper.

 

Ein kühles Bad hätte die herbeigesehnte Erleichterung gebracht. „Aber nicht in diesem Pfuhl.“ Frustriert wandte sich der Gardehauptmann ab und ließ seinen Blick über die Zeltstadt schweifen. Eine dicke Schicht aus rötlichem Staub bedeckte die Planen, die kaum Schutz vor der sengenden Sonne boten. Nichts regte sich. Es herrschte eine geradezu gespenstische Windstille.

 

Die Elemente zeigten sich von ihrer unbarmherzigsten Seite. „Es ist wie ein Zeichen.“ Rudolf strich sich über die verschwitzte Stirn. „Wir sollten nicht hier sein.“ Er schirmte seine Augen gegen die Sonne ab. Die Mauern der Stadt wirkten unter dem gleißenden Licht brüchig. Kein Stein schien auf dem anderen zu stehen, doch der Schein trog. Neapel war ein Bollwerk. Die Stadt hatte jedem Angriff getrotzt und jede Attacke doppelt vergolten. Nach zahllosen Versuchen hatte Heinrich nicht einen Erfolg erzielen können.

 

„Sie sitzen hinter ihren kühlen Mauern und lachen uns aus.“ Rudolf ließ die Hand sinken. Verbittert trat er gegen einen porösen Stein, der sofort zerbrach. Rudolf ging in die Knie und hob eine Hälfte auf. Das Gestein sah aus wie ein Schwamm. Langsam ließ er die Fingerkuppen über die rauhe Oberfläche gleiten.

 

„Diese Art von Stein und die ganze rote Erde ...“ Rudolf ließ seinen Blick den Berg hinaufwandern. „Das muss mit dem Vulkan zusammenhängen.“ Buschige Weinstöcke überzogen den Fuß des Vesuvs wie ein grüner Polster. Rudolf spielte mit dem Stein in seinen Händen. „Irgendwo gibt es hier genügend frisches Wasser“, murmelte er. Ärgerlich schleuderte er den Stein weg. „Doch ich bin nicht in der Lage, es zu finden.“ Versunken in seine düsteren Gedanken kehrte er zu dem Ort zurück, an dem sie nun schon so lange ausharren mussten.

 

Bei einem der Zelte nahm Rudolf eine Bewegung war. Der einzige Chirurg, der Heinrichs Männer begleitet hatte, trat heraus und wandte sich dem nächsten Zelt zu. Er sah auf und entdeckte Rudolf. Hektisch winkte er den Hauptmann zu sich.

 

„Wie schlimm ist es, Ubald?“, fragte Rudolf bitter.

 

Der Mann hob hilflos die Schultern. „Seht selbst.“ Er deutete auf die Männer, die teilweise auf der nackten Erde lagen und von schrecklichen Krämpfen geschüttelt wurden. „Die Lehre empfiehlt bei dieser Art von synocha [1]auf jeden Fall den Aderlass.“ Ubald kratzte sich an der Stirn. „Aber es sind jetzt schon so viele. Das ist nicht zu schaffen.“ Ratlos kramte der Heilkundige in seinem Beutel. „Ich weiß auch nicht, ob eines meiner Kräuter hilft.“

 

Rudolf hatte Ubald stumm zugehört. Er zeigte auf die Zelte. „In wie vielen von denen sind Kranke?“

 

„Zu allen jenen hier“, der Chirurg zog mit der Hand einen Kreis, „kommen noch diese fünf Zelte hinzu.“ Mit einem Hoffnungsschimmer in den Augen sah Ubald den Hauptmann an. „Habt Ihr Wasser gefunden?“ Zur Antwort presste Rudolf die Lippen zusammen und schüttelte müde den Kopf.

 

„Dann werden diese Männer bald nur mehr den Priester brauchen.“ Ubald bekreuzigte sich und lief eilig zum nächsten Krankenlager.

 

Rudolf machte einen Rundgang durch das Lager und zählte die Kranken. Überall das gleiche Bild: schweißüberströmte, heftig zitternde Leiber. Er spürte, wie ihn die Verzweiflung übermannen wollte. Er musste dringend mit Diether von Katzenelnbogen sprechen.

 

In seinem Zelt war aber nur ein leises Röcheln zu hören. Der Kanzler lag ausgestreckt auf seinem Lager und rang um jeden Atemzug. Der Leibarzt des Kaisers tastete nach dem Puls. Mit besorgtem Gesichtsausdruck schüttelte er den Kopf. „Mir ist so eine Art von Fieber noch nie untergekommen“, murmelte er bedrückt. Direkt neben ihm stand Heinrich. Er hatte den Blick starr auf seinen engsten Vertrauten gerichtet. Die Bewegung am Zelteingang ließ den Kaiser aufsehen. Er hob nur schwach die Augenbrauen ohne die Frage auszusprechen, die alle beschäftigte.

 

„Weitere fünfunddreißig“, sagte der Gardehauptmann leise und trat zu Katzenelnbogen ans Lager. Verzweifelt ließ er den Blick über den sterbenskranken Mann wandern.

 

„Ist es dieselbe Krankheit wie bei den anderen, Gallus?“ Rudolf sah den kaiserlichen Arzt an.

 

Der Mediziner schüttelte bedauernd den Kopf. „Ich kann es Euch nicht sagen. Es ist möglich, aber der Kanzler ist besonders schwer krank.“

 

Vorsichtig strich Gallus mit einem Tuch über Diethers eingefallenes Gesicht. „Die lange Reise hat den Kanzler vermutlich sehr geschwächt ...“, der Leibarzt senkte die Stimme, „ ... und die Belagerung auch.“

 

Rudolf nickte grimmig. Er wusste auf den Tag genau, wie lange das Heer schon vor Neapel lag. „64 Tage“, knurrte er ohne auf Heinrich zu achten.

 

Die Erinnerungen stürzten auf Rudolf ein. Der Herrscher hatte sich weder von seinem Kanzler noch von ihm beraten lassen. Die Reise nach Rom war eine Ochsentour gewesen. Heinrich hatte schon vor seiner Krönung zum Kaiser in jeder wichtigen Stadt eine Demonstration seiner Stärke und Macht geliefert.

 

Er hatte jedes Anliegen unbarmherzig abgeschmettert und das Wort Gnade war nicht einmal über seine Lippen gekommen. Heinrich hatte seine Untertanen rücksichtslos in seine Pläne gepresst. Die Städte Pisa und Genua hatte es besonders hart getroffen, denn von ihnen hatte Heinrich nachdrücklich eine Flottenhilfe für seinen Feldzug gegen Sizilien verlangt.

 

In Rom war die Stimmung gegen den Kaiser besonders schlecht gewesen. Papst Coelestin III. war unmissverständlich gegen die weitere Ausweitung der Macht von Heinrich gewesen. Dem heiligen Stuhl war es gut zu pass gewesen, dass er im Süden des päpstlichen Herrschaftsgebietes bisher keine Staufer gehabt hatte.

 

Der verstorbene Papst Clemens hatte seine Haltung mit der Krönung von Tankred schon ausreichend unter Beweis gestellt. Da er sich aber nicht gegen die Wahl der Vertreter des Reiches stellen konnte, wollte er aus der unvermeidbaren Kaiserkrönung zumindest Vorteile für sich herausholen. Die kleine und reiche Stadt Tusculum in der Nähe von Rom hatte unter dem Schutz der Staufer gestanden. Sie war dem Papst sowie den Römern ein Dorn im Auge gewesen.

 

Coelestin hatte den Aspiranten auf die Kaiserkrone in zähen Verhandlungen mit Drohungen gegen die kleine Stadt unter Druck setzen wollen, um Zugeständnisse aus Heinrich herauszupressen. Rudolf beutelte es bei dem Gedanken an die Kaltblütigkeit, mit der Heinrich vorgegangen war. Bar jeder Gemütsregung hatte er sich kein einziges Zugeständnis abringen lassen und hatte Tusculum im Stich gelassen. Die Römer hatten nach der Kaiserkrönung nicht lange gezögert. Die schutzlose Stadt war dem Erdboden gleichgemacht worden.

 

Zuerst war es nur ein Flüstern gewesen, doch schon bald war der neue Beiname des Kaisers in aller Munde gewesen: Tramontana.[2] Dieser wenig schmeichelhafte Vergleich beschrieb eine besonders unangenehme klimatische Erscheinung, die einen empfindlichen Kältesturz mit sich brachte. Ausdauernde Regenfälle oder in einigen Fällen sogar Schnee zerstörten die Frucht auf den Feldern und hatten häufig eine Nahrungsknappheit zur Folge.

 

Dieser Wesenszug seines Herrschers hatte den Kanzler bis ins Mark erschüttert. Er verlor jeden Zugang zu Heinrich und konnte auch nicht zu ihm durchdringen, als es von zu Hause beunruhigende Kunde gegeben hatte. Die Zeichen hatten nicht günstig gestanden, um weiter in den Süden vorzudringen.

 

Die gegnerischen Kräfte waren während der Abwesenheit des Staufers eifrig ans Werk gegangen. Besonders Eleonore von Aquitanien hatte im Sinne der englischen Interessen ein dichtes Netz von Intrigen gewoben, um Heinrich politisch von Frankreich und Spanien zu isolieren. Ihr Sohn Richard Löwenherz war sogar soweit gegangen, ein Bündnis mit Tankred von Sizilien zu schließen. Er hatte damit einen unziemlichen Standpunkt gegen die Staufer bezogen, um den sich Heinrich nach Diethers Meinung zuerst hätte kümmern sollen.

 

Jeglicher weiterer Verbleib in Italien wäre ein fataler Fehler gewesen. Doch Heinrich hatte alle Bedenken abgetan und sich aufgrund seiner Salbung für unfehlbar gehalten. Er hatte sogar einen Teil seines Heers in Richtung Apulien fortgeschickt, um Roger von Andria Beistand zu leisten. Anschließend hatte er darauf bestanden, der Stadt Neapel mit einer stark reduzierten Streitkraft die Stirn zu bieten. Nun waren sie hier am Fuße des Vesuvs – am Ende ihrer Kräfte und der Gevatter Tod saß ihnen im Genick.

 

Mit einem Seufzer ließ sich der Kaiser auf einem Scherenstuhl nieder. „Ihr könnt es ruhig laut sagen, Rudolf“, sagte er matt. „Wir wissen sehr wohl, dass Wir Uns hier im Vorhof zur Hölle befinden.“

 

Verdrossen presste Heinrich die Lippen aufeinander. „Neapel ist stärker als Wir gedacht haben. Es war nicht unser Plan, bei dieser Hitze hier auszuharren. Ihr wisst selbst, dass Wir schon Anfang des Sommers in Salerno sein wollten, wo Unsere Gemahlin auf Uns wartet.“

 

Rudolf schluckte jede Entgegnung, die ihm darauf einfiel, tapfer hinunter. Das war eine weitere Entscheidung von des Kaisers Gnaden gewesen, die weder er noch Diether gut geheißen hatten. Doch Heinrich hatte darauf bestanden, dass Konstanze mit dem Schiff vorausfahren und im Palast von Salerno untergebracht werden sollte. ‚Im Nest einer Viper wäre die Kaiserin sicherer gewesen‘, grummelte Rudolf in Gedanken.

 

„Wie viele Männer sind insgesamt krank?“ Heinrich zeigte auf seinen Kanzler. „Fast vierhundert und jede Stunde werden es mehr“, gab Rudolf knapp zurück.

 

Der Kaiser schloss kummervoll die Augen. Wieso stellte Gott seinen Friedenskaiser so auf die Probe? Der Großteil seiner Armee lag krank darnieder. Die meisten Vorräte waren verbraucht oder bei der unerträglichen Hitze verdorben und es gab keinen Tropfen frisches Wasser mehr.

 

Und wollte er seinem Leibarzt glauben, würden sie vor Neapel einen riesigen Friedhof zurücklassen. Der Kaiser strich sich müde über die Stirn und die Schläfen. Sein ganzer Kopf pochte unangenehm. Ohne Vorwarnung drehte sich alles vor seinen Augen. Seine Bewegungen wurden plötzlich fahrig und seine Hände zitterten unkontrollierbar. Sie versagten ihren Dienst als der Kaiser Halt suchte.

 

„Gott stehe uns bei!“ Rudolf entfuhr ein Ausruf des Entsetzens und er sprang an die Seite seines Herrschers, um ihn vor einem ungebremsten Sturz auf den Boden zu bewahren. Sofort eilte Gallus herbei und griff nach der Hand des Kaisers. Mit weit aufgerissenen Augen zählte er die unnatürlich schnellen Pulsschläge. „Ja, Gott stehe uns bei!“, stieß er atemlos hervor. „Bringt ihn in sein Zelt.“ Der Leibarzt dirigierte Rudolf mit seiner Last zum Ausgang. Mit hektischen Handgriffen packte er seine Tasche, warf einen letzten Blick auf den sterbenden Kanzler und eilte zu seinem Kaiser.

 

Im Zelt sprudelte Gallus Befehle hervor. Für kühle Luft musste gesorgt werden, frischer Wein war bereit zu stellen und das Lager des Herrschers musste bequem genug sein. Rudolf legte Heinrich vorsichtig ab, wobei er Mühe hatte, den zuckenden Leib zu halten. Erst als der Arzt die Beine des Kaisers hielt, konnten sie den Kranken betten. Der Leibarzt scheuchte die Dienstboten weiter herum.

 

„Kann ich Euch zur Hand gehen?“ Rudolf richtete sich auf und sah den Arzt an. Mit ungewohnter Vehemenz packte ihn Gallus am Arm und sprach mit deutlicher Panik in der Stimme: „Geht und findet Wasser!“

 

Rudolf stand vor dem Zelt und spürte die Last aus Rat– und Hilflosigkeit wie einen Stein auf sich. An wen konnte er sich jetzt noch wenden?

 

Der Kanzler, der einzig vernünftige Mann, lag siech darnieder. Marschall Testa war in Apulien und der letzte verbliebene Mann mit einem Gran an Führungserfahrung war Heinrich, der Sohn des Löwen. Doch dieser war als politische Geisel zum Mitkommen gezwungen worden. Rudolf traute ihm nicht weiter über den Weg als einer giftigen Spinne, die in ihrem Netz auf Beute lauerte. Warum der Kaiser diesen Weg gewählt hatte, um die Welfen in die Schranken zu weisen, verstand Rudolf genauso wenig wie die meisten Entscheidungen, die sein Herrscher in letzter Zeit getroffen hatte.

 

Einen Versuch war es trotzdem wert. Entschlossen ging der Gardehauptmann in die Richtung, wo die Gefolgsleute von Heinrich von Braunschweig ihr Lager aufgeschlagen hatten.

 

„Was wollt Ihr?“ Die unhöflich gestellte Frage schlug Rudolf auf sein Erscheinen hin entgegen. Heinrich fläzte in seinem Zelt auf mehreren Kissen und sein Gesichtsausdruck verriet, dass er sich nicht von Sorgen plagen ließ.

 

„Wir haben kein frisches Wasser mehr. Habt Ihr einen Vorschlag, wo wir welches finden könnten?“

 

„Der Wein ist köstlich, Hauptmann.“ Heinrich von Braunschweig hielt seinen Becher hoch und grinste breit. „Kann ich Euch davon etwas anbieten?“

 

Rudolf bekämpfte den Drang, dem Nichtsnutz die Faust ins Gesicht zu schmettern. Der junge Welfe runzelte die Stirn. „Oh, also nicht. Warum lauft Ihr nicht zum Kaiser? Seine von Gott gesalbte Gnaden kann doch sicher einem Berg befehlen, kühles Nass zu spenden.“ Heinrich verzog das Gesicht huldvoll und dirigierte mit der freien Hand in der Luft.

 

Rudolf vermied es lieber, auf die Provokation einzugehen. Die Witzeleien, die über den Kaiser kursierten, waren ihm hinreichend bekannt. Schließlich arbeitete sein Herrscher eifrig an dem Nimbus des von Gott Auserwählten. Rudolf hatte keine Lust, über Fragen des Charakters zu diskutieren und drehte sich wortlos um. Das schallende Gelächter Heinrichs begleitete ihn, als er das Zelt verließ. „Verdammtes Schwein“, stieß Rudolf zwischen den Zähnen hervor, während er sich zum Zelt von Diether wandte.

 

Ein Getreuer des Welfen eilte grußlos an ihm vorbei. Rudolf schwante Böses. Er hatte Braunschweig verschwiegen, dass der Kaiser krank war. Gebannt blieb er stehen und verfolgte, wie der Mann im Zelt verschwand. Für einen Moment war Heinrichs Gelächter verstummt, um dann doppelt so laut auszubrechen. Nun wusste auch der Welfe, dass der ihm so verhasste Kaiser krank war.

 

Rudolf wurde von einer lähmenden Müdigkeit übermannt. Er schleppte sich einige Schritte weiter und setzte sich unter eine Pinie. Mit einem Seufzer lehnte er sich zurück und schloss die Augen. Warum erwarteten alle von ihm, dass er etwas unternahm?

 

Doch die Antwort kannte Rudolf selbst. Diether von Katzenelnbogen hatte die Tatkraft des neuen Gardehauptmanns schon in Augsburg erkannt. Ohne lange zu zögern, hatte der Kanzler den jungen Mann ins Vertrauen gezogen und sich seiner Unterstützung versichert.

 

Das war keinen Moment zu spät gewesen, denn der Kanzler war mit seinen Kräften am Ende gewesen. Heinrich hatte alles Menschenmögliche aus seinem Berater herausgepresst. Er hatte bei keiner Gelegenheit Rücksicht auf den wesentlich älteren Mann genommen. Nach einem Jahr in den Diensten des Kaisers spürte auch Rudolf erste Erschöpfungserscheinungen – Heinrich war wie ein rücksichtsloser Menschenfresser.

 

Rudolf wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte. Ein paar Stunden oder nur wenige Herzschläge. Seine Lider waren bleischwer und er musste alle Willenskraft aufbieten, um sie aufzumachen. Schließlich gewannen Pflicht und Neugier Überhand. Der Lärm kam aus dem Lager von Braunschweig.

 

Das erste Zelt ging nieder. Rudolf sprang auf. Wurden sie angegriffen? Er spähte hinüber, bereit sein Schwert zu holen und das Lager zu verteidigen. Aber er hörte keine Kampfgeräusche. Verwirrt sah er wieder zu den Zelten und plötzlich begriff der Gardehauptmann.

 

Heinrich von Braunschweig bereitete seinen Abzug vor. Wie gelähmt sah Rudolf den Aktivitäten zu. Der Welfe war und blieb ein mieser Charakter! Ihm war nur zugute zu halten, dass er und seine Männer bei den Angriffen auf Neapel gut gekämpft hatten. Diese Schwerter würden nun fehlen.

 

Rudolf schüttelte den Kopf. So wie die Dinge lagen, würde diese kaiserliche Armee auf keinen Fall mehr in der Lage sein, Attacken auszuführen. Etwas anderes fiel ihm ein.

 

Im Laufschritt begab er sich zu Braunschweig, der dem unbequemen Gardehauptmann nur einen arroganten Blick schenkte. Rudolf holte tief Luft: „Euren Wortbruch müsst Ihr dem Kaiser gegenüber verantworten, aber auch viele von Euren Männern sind krank. Was geschieht mit ihnen?“

 

Zur Antwort erhielt Rudolf nur ein Schulterzucken. Er spürte den Zorn in sich hochkochen. „Antwortet mir!“, fuhr er den Welfen an. Heinrich kratzte sich daraufhin nur gelangweilt am Kinn. „Dieser Kaiser wird bald kein Problem mehr sein und allenfalls werdet Ihr Euch eines nahen Tages vor meinem Vater oder vielleicht sogar vor mir verantworten müssen. Und was die Männer betrifft ...“, Braunschweig grinste breit und deutete auf Neapel. „Ihr braucht doch Verstärkung für die Belagerung?“

 

In einer ersten Reaktion wollte Rudolf zum Schlag ausholen, doch es standen mehrere von Braunschweigs Männern um ihn herum, die nur darauf warteten, den Gefolgsmann des Kaisers die Fäuste spüren zu lassen.

 

„Fahrt zur Hölle“, knurrte Rudolf und wandte sich zum Gehen. Braunschweig brach in schallendes Gelächter aus. „Nein, ehrenwerter Hauptmann. Ich verlasse sie gerade, während Ihr zurückbleibt und wahrscheinlich auch bald tot sein werdet.“

 

In Diethers Zelt war es erschreckend still. Rudolf sah seinen Freund beunruhigt an. Nur ein fast unmerkliches Heben des Brustkorbs verriet, dass der Kanzler noch am Leben war. Rudolf nahm einen Becher, schenkte etwas vom restlichen Wein ein und trat an Diethers Lager. Das Gesicht des Kranken war kreidebleich. Vorsichtig schob Rudolf seine linke Hand unter Diethers verschwitzten Kopf und drückte den Becher an seine Lippen. Katzenelbogen schlug die Augen auf, trank aber kaum. Mit einem Seufzer bettete ihn Rudolf zurück auf das verschwitzte Kopfteil. Er stellte den Becher ab und verscheuchte ein paar Fliegen.

 

„Wie fühlt Ihr Euch, teurer Freund?“ Rudolf zog eine Sitzgelegenheit zu sich und ließ sich dicht bei Diether nieder. „Die Flotte?“ Diether war kaum zu verstehen.

 

Rudolf presste kurz die Lippen aufeinander. „Nein, es gibt noch keine Anzeichen von den Genuesen oder den Pisanern.“ Der junge Mann schüttelte leicht den Kopf. Der übermäßige Zwang, den Heinrich auf diese zwei Städte ausgeübt hatte, trieb die zur Hilfe gerufenen Waffengefährten nicht zu allzu großer Eile an. Rudolf verschwieg dem schwerkranken Mann, dass mittlerweile eine erschreckende Anzahl sizilianischer Schiffe im Golf von Neapel kreuzten. Die Neuankömmlinge würden sich einer schwimmenden Bannmauer gegenübersehen.

 

Diether schloss erschöpft die Augen. Der Schweiß glänzte auf seinem Gesicht. Rudolf suchte ein Tuch und tupfte den väterlichen Freund liebevoll ab. Die Stirn fühlte sich kühl an, aber Rudolf wollte sich nicht täuschen lassen. Der Kanzler war dem Tode näher als dem Leben.

 

Rudolf sah sich im Zelt um. Wie er selbst, würde auch Diether kein sauberes Gewand mehr haben, doch wollte er zumindest trockene Kleidung für ihn finden. Entschlossen durchsuchte Rudolf dessen Sachen und entschied sich für ein Hemd. Er half Diether, sich zu erleichtern und zog ihn um.

 

Rudolf litt Qualen, denn er spürte, dass fast alle Lebenskraft aus Diether gewichen war. Seine Seele bereitete sich darauf vor, den Körper zu verlassen.

 

„Ich hole den Priester für Euch.“ Der junge Mann strich Diether über die Wange und verließ das Zelt. Er fand den Geistlichen bei einem Soldaten, der einer der ersten Kranken gewesen war. Bruder Cunrad murmelte leise vor sich hin und deckte den eben Verstorbenen zu. Mit einem Seufzer erhob er sich und entdeckte Rudolf. „Gott sei seiner Seele gnädig.“ Der Priester wischte sich sein Gesicht ab.

 

„Der Kanzler braucht Euren Beistand.“ In Rudolfs Stimme klang eine tiefe Traurigkeit mit.

 

Cunrad zog die Augenbrauen zusammen. „Wer Wind sät, wird Sturm ernten“, zitierte er aus der Bibel.

 

Beide Männer wussten, dass der Priester nicht vom Kanzler sprach. Schweigend gingen sie zum Zelt von Diether. Rudolf ließ sich draußen nieder.

 

Die Suche nach Wasser musste warten. Er wusste nicht, wo er es finden konnte. Rudolf wollte bei Diether bleiben. So viel war ihm die Freundschaft wert.

 

Rudolfs Gedanken schweiften ab und er dachte an sein Zuhause. Er überlegte, ob sein Vater noch am Leben war. Oder hatte Martin schon den ungewollten Platz einnehmen müssen?

 

Bruder Cunrad trat heraus. Er nahm neben Rudolf Platz. „Er wäre gerne in seiner Heimat“, murmelte der Geistliche und schloss müde die Augen.

 

„So wie wir alle.“ Rudolf knirschte mit den Zähnen.

 

„Bruder Cunrad, habt Ihr einen Rat für mich, wo ich frisches Wasser finden kann?“

 

Cunrad schlug die Augen auf. „Im Wort Gottes ist oft von Oasen, Brunnen oder Quellen die Rede. Im gelobten Land gibt es viele Gebiete, wo es keine Seen und Flüsse gibt. Die Menschen müssen dort viele Ellen in die Erde graben, um auf Wasser zu stoßen.“

 

Rudolf sah den Bruder lange an. Ihm graute vor dem Gedanken, bei der Hitze einen Brunnen auszuheben.

 

Cunrad deutete Rudolfs Gesichtsausdruck und er lachte leise. „Vielleicht ist diese Arbeit schon getan worden.“ Er deutete in Richtung der Weinstöcke. „Haltet nach einem Brunnen Ausschau. Vielleicht ist er geschickt unter Steinplatten verborgen.“

 

Der Priester erhob sich und deutete auf einen Soldaten, der ihm mit Gesten zu verstehen gab, dass er in einem anderen Zelt gebraucht wurde. Er drehte sich zu Rudolf um. „Doch zuerst verabschiedet Euch von Diether.“

 

Der Hauptmann war sofort auf den Beinen. „Danke, Bruder Cunrad“, sagte er leise und verschwand im Zelt.

 

Der Kanzler wälzte sich unruhig auf dem Lager. Seine Lippen bewegten sich unablässig, die fahlen Hände umklammerten ein Holzkreuz. Rudolf kniete sich auf den Boden und legte eine Hand auf die Stirn seines Freundes. „Ihr habt mich so vieles gelehrt, Diether. Ich danke Euch für jedes Wort des Lobes und der Ermutigung.“ Verzweifelt schloss Rudolf die Augen. „Nur mit Eurer Hilfe konnte ich überhaupt in meine Aufgabe hineinwachsen ...“, erschöpft sog der junge Mann die Luft ein. „Und ich wurde nicht gleich am ersten Tag davon erdrückt.“

 

Von Katzenelnbogen schlug die Augen auf, doch sein Blick war leer. Zwei trübe Linsen waren starr auf ein Bild hinter Rudolf fixiert, das nur Diether sah. Eine kaum merkliche Veränderung im Antlitz des Sterbenden zeigte Rudolf, dass er ihn gehört hatte. Seine Mundwinkel zuckten kurz nach oben, doch die Veränderung dauerte keinen Atemzug.

 

Schon im nächsten Augenblick entspannten sich die Züge des Kanzlers. Ein friedvoller Ausdruck nahm den Platz jahrelanger Sorgenfalten ein, die vom letzten Atemzug Diethers endgültig fortgeblasen wurden. Im Beisein seines letzten Begleiters und Freundes schloss der Kanzler für immer die Augen.

 

Die folgenden Tage erlebte Rudolf als die schlimmsten seines Lebens. Der Tod des treuen Kanzlers wurde von den glücklosen Belagerern wie ein weiterer Wink gedeutet, dass das Vorhaben zum Scheitern verurteilt war. Es war auch keiner mehr da, um die Männer vom Gegenteil zu überzeugen. Der Herrscher war von der schrecklichen Seuche befallen und die einzige Autorität nach ihm war tot. Täglich wurden mehr Männer krank und Rudolf wurde von der fast wahnhaften Vorstellung geplagt, dass kein einziger Gefolgsmann Heinrichs diesen verfluchten Ort lebend verlassen sollte.

 

Nur die Tatsache, dass er tatsächlich Wasser gefunden hatte, wie es Bruder Cunrad beschrieben hatte, ließ einen Schimmer der Hoffnung in Rudolf keimen. Wenn die Flotte aus Genua und Pisa eintraf, könnte sie vielleicht doch noch die entscheidende Wende bringen.

 

Unermüdlich sorgte sich der Hauptmann um neue Gräber für die Verstorbenen, schöpfte Wasser aus dem verborgenen Brunnen und ließ es von Männern ins Lager bringen, die wie er am Ende ihrer Kräfte waren. Nach vielen Sonnenauf– und –untergängen zwang nicht der Rhythmus zwischen Tag und Nacht den Hauptmann auf sein Lager, sondern eine totale Erschöpfung. Rudolf fand in einem tiefen, traumlosen Schlaf für ein paar kostbare Stunden ein Stück ersehnter Ruhe.

 

Plötzlich fühlte er etwas an der Schulter. Mit einer unkoordinierten Bewegung versuchte Rudolf die Störung zu vertreiben, doch sie hörte nicht auf. Der Gardehauptmann wälzte sich herum und schlug nach einer schieren Ewigkeit unwillig die rot geränderten Augen auf. Er blickte in ein vage bekanntes Gesicht.

 

„Ich dachte schon, Ihr seid auch tot!“ Die Stimme des jungen Pagen klang panisch. „Hauptmann, steht auf und seht nur! Die Flotte ist endlich gekommen. Der Golf vor der Stadt gleicht einem brodelnden Kessel.“

 

Rudolf brauchte mehrere Atemzüge bis diese Botschaft in sein vernebeltes Gehirn vorgedrungen war. Doch selbst als er begriff, dass die Rettung nahe war und er langsam auch die Geräusche eines Kampfes wahrnahm, fehlte ihm die Kraft, sich vom Lager zu erheben. Bis in die Knochen müde wälzte er sich zur Seite und ließ sich neben dem Feldbett auf die Knie plumpsen. Der Page hielt ihm mit besorgtem Gesichtsausdruck eine Schüssel mit Wasser hin.

 

Rudolfs Hände zitterten beim Eintauchen und er fuhr sich mit fahrigen Bewegungen übers Gesicht. Der dürre Junge wurde aschfahl und musste sich räuspern, bevor er sprechen konnte. „Hauptmann? Ähm ... habt Ihr auch das Fieber?“ Rudolf starrte ins Leere. Vorsichtig befühlte er seine Stirn. Sie fühlte sich kühl an. „Ich glaube nicht.“ Er winkte den Pagen zu sich und deutete, dass er ihm helfen sollte, aufzustehen.

 

Rudolf legte seinen Arm schwer auf die mageren Schultern des Burschen und nach einer gemeinsamen Anstrengung stand der Hauptmann sicher auf den Beinen. Mit wankenden Schritten folgte er dem Pagen aus dem Zelt. Das grelle Licht blendete ihn, denn die Sonne schein unerbittlich weiter auf die verbrannte Erde. Nun konnte Rudolf die Kampfgeräusche deutlich hören. Sie erklommen eine Anhöhe und versuchten dem Fortgang der Kämpfe zu folgen.

 

Im Rauch des Feuers war nicht viel zu erkennen, doch Rudolf sah der Seeschlacht mit wachsendem Entsetzen zu. Er merkte selbst aus der großen Entfernung, dass die sizilianische Flotte ihren Feind nicht nur vernichtete, sondern förmlich zu Staub zermalmte. Die meisten Schiffe der Genuesen und Pisaner brannten lichterloh, doch der Regen aus brennenden Pfeilen und Pechkugeln endete nicht. Rudolf konnte dem Inferno, das bis in die frühen Abendstunden dauerte, nur machtlos zusehen. Ein paar der letzten gesunden Männer hatten sich mit ihm auf einem kleinen Hügel versammelt und alle starrten auf das unfassbare Geschehen.

 

Die Schreie der Schiffsleute, die im Wasser um ihr Leben strampelten oder verwundet auf einem der Schiffe lagen, dröhnten in den Ohren der unfreiwilligen Zuseher. Erst nach schier endlosen Stunden waren alle Geräusche verklungen. Die Knackgeräusche des Feuers, das gierig an den Masten und Rümpfen geleckt hatte, das Sirren der Pfeile, die Wehklagen der Männer – es war alles verstummt.

 

Der Rauch löste sich langsam auf. Das Licht der letzten Sonnenstrahlen gab den Blick auf einige herrenlose, schwarz verbrannte Wracks frei, die im Golf trieben. Bilder, die niemanden mehr loslassen würden.

 

„Jemand muss es dem Kaiser sagen“, murmelte der Leibarzt und nahm einen Schluck Wein. Die wenigen verbliebenen Männer in herrschernahen Positionen saßen im Halbdunkel rund um eine Feuerstelle, über der eine dünne Suppe köchelte.

 

Rudolf lehnte neben dem Heilkundigen an einem Stein und hatte die Augen geschlossen. In seinem Kopf pulsierten die Gedanken. Die kürzlich erhaltene Botschaft aus der Stadt Neapel war zu eindeutig gewesen, um ihr nicht sofort Folge zu leisten: sofortiger Abzug der Belagerer oder der Feuerregen würde sich gegen deren Stellung richten.

 

„Wird er mich überhaupt verstehen?“ Rudolf kämpfte mit der Herrschaft über seine Zunge. Wenn sie aus Trunkenheit nicht gehorcht hätte, wäre er zufrieden gewesen, doch er spürte, wie sein ganzer Körper gegen das neuerliche Wachsein protestierte.

 

„Gott hat seine Hand schützend über Ihn gehalten“, gab der Leibarzt ehrfürchtig zurück. Für eine ganze Weile schwiegen alle. Es war tatsächlich ein Wunder, dass der Kaiser noch lebte. Die Blicke richteten sich auf Cunrad. Der Priester brach das Schweigen. „Seine Zeit ist noch nicht gekommen ...“, der Gottesmann presste kurz seine Lippen aufeinander, „ ... und es warten noch viele Aufgaben auf Ihn.“

 

Wieder Schweigen. Alle wussten es, doch keiner wagte es auszusprechen: Heinrich musste das Chaos, das er in Italien angerichtet hatte, zuerst noch aufräumen. Es war an der Zeit, dass sich der Nordwind wieder legte.

 

Das Geräusch von Hufen riss die Männer aus ihren Gedanken. Am Eingang des Lagers ließ ein Bote sein verschwitztes Pferd anhalten und gab sich dem Wachposten zu erkennen. Der Reiter hatte allem Anschein nach eine Nachricht für den Kaiser, doch der wachhabende Soldat wies hartnäckig auf die Gruppe, wo auch Rudolf saß. Der Gardehauptmann erhob sich mit einem Seufzer und ging auf den Boten zu.

 

Es bedurfte einiger Erklärungen und scharfer Worte bis der Bote widerstrebend die Rolle an Rudolf übergab, obwohl dessen Erscheinungsbild in keinster Weise irgendeine Art von Rang erkennbar machte. Im Gegenteil, der angebliche Hauptmann sah einem Wegelagerer ähnlicher als einem Gefolgsmann des Kaisers. Er sah auch noch grimmiger aus, als das Wort Salerno fiel.

 

Rudolf stand lange mit der Botschaft in der Hand da und starrte darauf. Er zwang sein müdes Gehirn zu klaren Gedanken. Überschritt er seine Befugnisse, wenn er das unbekannte Siegel brach?

 

Sein fragender Blick in Richtung Cunrad und Gallus brachte ihm nur ein hilfloses Schulterzucken ein. Heinrich lag hingestreckt auf seinem Lager, der kaiserliche Schreiber ruhte seit mehreren Tagen in einem der zahllosen Gräber und der Kanzler ebenso.

 

„Sollt Ihr auf eine Antwort warten?“, fuhr er den Boten schärfer als beabsichtigt an. Der erschöpfte Reiter sah den Wilden erschrocken an und schüttelte langsam den Kopf. „Dort drüben könnt Ihr Euch stärken und ausruhen.“ Rudolf zeigte mit einer knappen Geste auf ein Zelt, vor dem eine Gruppe Soldaten hockte.

 

Der Hauptmann trat zu einer Fackel, die in den Boden gerammt worden war und einen Weg durch das Lager spärlich beleuchtete. Er brach das Siegel und im selben Moment nahm eine ungute Vorahnung von ihm Besitz. Er rollte das Pergament zögerlich auf und zwang seine Augen, die fast bedrohlich erscheinenden Buchstaben zu lesen. Rudolf holte tief Luft.

 

Die Vorahnung ballte sich zu einem gewaltigen Brocken zusammen. Die Buchstaben tanzten einen wilden Reigen und eine Welle der Übelkeit ergriff Rudolfs ganzen Körper.

 

Er ließ die Botschaft fallen und stolperte einige Schritte in die Dunkelheit. Unter heftigen Krämpfen erbrach er sich mehrmals. Die wochenlange Frustration, die totale Erschöpfung und die ständig präsente Angst zogen seine Eingeweide wieder und wieder zusammen. Die Kräfte der Hölle hatten seinen Leib fest im Griff.

 

Rudolf spürte Hände auf seiner Schulter. Gallus war an seine Seite geeilt und hielt den schwer atmenden Mann auf den Beinen. Mit schreckensgeweiteten Augen stellte er die Frage, die alle Beobachter der Szene beschäftigte.

 

„Was ist geschehen?“ Das Zittern in seiner Stimme konnte der kaiserliche Leibarzt nicht unterdrücken.

 

Rudolf stieß seine Antwort zwischen zwei heftigen Atemzügen hervor: „Die Stadt Salerno ... hat Kaiserin Konstanze ... an Tankred ausgeliefert.“

 

Heinrich hatte deutlich an Gewicht verloren. Seine Haut spannte sich über die hohen Wangenknochen und war fahl. Der Staufer hatte die Krankheit mit knapper Not überlebt, aber von dem einst so virilen Mann war nur ein schwaches Abbild geblieben. Seine Brust hob und senkte sich trotz angestrengt klingender Atemzüge nur schwach. In seinen Augen fehlte das lebhafte Glitzern, das der Welt sonst seine Tatkraft und seine Entschlossenheit gezeigt hatte.

 

Rudolf saß auf einem einfachen Holzschemel neben dem Bett seines Herrschers und wartete geduldig ab, ob Heinrich die Aussichtslosigkeit ihrer Lage erfasst hatte. Eine Hand, die einer Kralle glich, griff nach Rudolfs Ärmel. Kraftlos erschlaffte sie auf dem schmutzigen Stoff. „Ja, mein Herrscher?“ Der Gardehauptmann ließ seinen Blick konzentriert auf Heinrich ruhen.

 

„Lasst den Abzug vorbereiten.“ Da waren sie. Jene Worte, auf die Rudolf schon seit Wochen gewartet hatte. Er konnte spüren, wie viel Kraft dieser Befehl seinen Herrn gekostet hatte. Endlich war es entschieden, doch Rudolf fühlte keine Erleichterung, denn sofort fiel ihm die Kaiserin ein. Im nächsten Moment fürchtete er schon, dass er das Heer oder den maroden Rest, der davon übrig geblieben war, zu einem noch aussichtsloseren Unterfangen bis nach Palermo treiben musste.

 

Heinrich hatte die Gedanken seines treuen Gefolgsmannes erraten. „Norden ...“, er holte angestrengt Luft. „Wir ziehen nach Norden.“

 

Rudolf blies die Luft aus. Aber seine Erleichterung mischte sich mit neuen Sorgen. Konnten sie auf dem Rückweg mit der Unterstützung der Städte rechnen? War der Kaiser den Strapazen der langen Reise überhaupt gewachsen? War er ihnen denn selber gewachsen? Er wollte dafür nicht die Hand ins Feuer legen.

4

Staufische Stammlande, drei Jahre später

 

Mit einem Seufzer ließ sich Rudolf in den Zuber gleiten. Das heiße Wasser prickelte wie kleine Stiche auf seiner Haut. Die Wärme drang langsam in seinen kalten Leib. „Ah, eine Wohltat ...“ Der Gardehauptmann schloss die Augen und merkte kaum, dass die Badeknechte die Tür von seiner Kammer leise öffneten und wieder schlossen. Rudolf spürte, wie ihn ein tiefer Friede erfasste. Endlich war Ruhe eingekehrt.

 

Der junge Mann hatte das Gefühl in den letzten drei Jahren soviel erlebt zu haben, dass es für ein ganzes Erdendasein reichte. Geistesabwesend strich er über einige Narben jüngeren Datums – Mahnmale an seine gefährliche Arbeit an der Seite eines Mannes, der von zu vielen Menschen gehasst wurde.

 

Rudolf ließ seine Gedanken schweifen. Mit Wehmut dachte er an Diether von Katzenelnbogen. Seinen Platz hatte seither niemand einnehmen können, weder bei Rudolf noch bei Kaiser Heinrich, den die Ereignisse in Neapel bleibend gezeichnet hatten. Nach dem schmachvollen Abzug, bei dem das Heer wie ein Haufen geprügelter Hunde durch Italien geschlichen war, hatte sie in den Stammlanden ein schrecklicher Empfang erwartet.

 

Heinrich von Braunschweig hatte bei seiner Rückkehr sofort den Tod des Kaisers verkünden lassen. Ohne Umschweife hatte er eine neue Wahl verlangt, wobei er der klare Favorit für das Amt sein sollte. Doch die hochtrabenden Pläne wurden von der Nachricht der Rückkehr eines noch sehr lebendigen Heinrichs zunichte gemacht.

 

Diesen Fehler des Allmächtigen wollten die wortbrüchigen Welfen in einer eiligen Aktion korrigieren und sie waren wie ein Schwarm Heuschrecken über Heinrich hergefallen. Nur um Haaresbreite wäre das Staufergeschlecht für immer ausgelöscht worden. Rudolf massierte sich die dickwülstige Narbe an seiner Seite, die ihn für immer an diese Kämpfe erinnern sollte.

 

An allen Enden des Reiches hatte es gegärt. Einige Fürsten hatten die lange Abwesenheit des Kaisers genützt, um eine Opposition gegen ihn zu schmieden. Unter der Führung der Krone von England hatten die Rebellen den Sieg schon auf ihrer Seite gewähnt. Rudolf verzog seinen Mund zu einem diabolischen Grinsen.

 

So sehr es seinem Gebieter auch an manchen Qualitäten mangelte, aber der hellste Kopf saß auf seinen Schultern. Der Kaiser war eine zähe Natur. Er hatte sich auf der Rückreise durch Italien erstaunlich schnell von seiner Krankheit erholt und hatte sich sofort wieder auf alle offenen Agenden gestürzt.

 

Heinrich hatte die Verhandlungen über die Freilassung von Konstanze mit einer geschickten Taktik über Monate hinziehen lassen. Coelestin III. hatte sich in die Angelenheit eingemischt und wollte seine Position stärken. Er hatte bei Tankred eine Überstellung der Kaiserin nach Rom durchgesetzt, um von Heinrich Gegenleistungen für seine Intervention abzupressen.

 

Der Kaiser hatte sich von diesen Entwicklungen nicht aus der Ruhe bringen lassen. Er hatte die Aufforderungen aus Rom schlichtweg ignoriert. Auf ihrer Reise von Sizilien nach Norden war Konstanze plötzlich verschwunden. Einige Monate später war sie wohlbehalten an Heinrichs Hof zurückgekehrt. Der Kaiser hatte seine Gemahlin in einem strategisch günstigen Moment aus ihrer Gefangenschaft entführen lassen.

 

‚Darauf kann ich wirklich stolz sein‘, Rudolf grinste und seine Überlegungen flossen weiter dahin. Er hatte die Kaiserin mit seinen Männer wieder zurückgeholt, aber war es das Richtige gewesen? ,Konstanze verbirgt es geschickt, aber wirklich glücklich ist sie an der Seite Heinrichs nicht. Es ist ihr auch nicht zu verüblen. Heinrich wollte sie ja nicht um ihretwillen zurück, sondern wegen seines Anspruchs auf den Thron von Sizilien.

 

Tankred hatte sein Pfand nur so großzügig aus der Hand gegeben, weil seine Königin einem Sohn das Leben geschenkt hatte. Der kleine Wilhelm war sofort als Thronerbe bestimmt worden. Außerdem hatte Tankred einige militärische Erfolge gehabt. Ein Großteil von Apulien war wieder seiner Herrschaft unterwofen. Damit waren die letzten Staufertreuen im Süden vernichtet‘, dachte Rudolf bitter. Er schüttelte den Kopf. Sizilien schien endgültig verloren, doch hatte es Heinrich nicht daran gehindert, an seinen Feinden Rache zu nehmen.

 

In Mailand hatte der Kaiser von der geplanten Rückkehr von Richard Löwenherz aus dem heiligen Land erfahren. Sofort hatte er einen Gegenschlag gegen England als engen Verbündeten von Tankred geplant. Mit der Hilfe eines äußerst bereitwilligen Leopolds von Österreich, dem der Kaiser reichen Lohn versprochen hatte, war tatsächlich wenig später die Gefangennahme von Richard Löwenherz auf seiner Heimreise geglückt. Ein Triumph für Heinrich!

 

Rudolf schmunzelte bei dem Gedanken an die Lösegeldverhandlungen, die sich über mehr als ein halbes Jahr in die Länge gezogen hatten. John, der jüngere Bruder von Richard, hatte sich nicht übermäßig beeilt, um jenen Mann auszulösen, der zwischen ihm und der Regentschaft über England gestanden hatte. John hatte sogar eine Art Gegenoffert gestellt. Gegen die Bezahlung einer beträchtlichen Summe sollte Richard noch ein Jahr länger in Gefangenschaft bleiben.

 

Diese Situation war nicht ohne Ironie gewesen! Diesen Verrat hatte Heinrich sofort zu seinen Gunsten ausgenutzt und er hatte einen ziemlich wütenden Richard doch tatsächlich auf seine Seite gezogen. Der Kaiser hatte nicht nur die gewaltigste Summe an Lösegeld ausverhandelt, die es je in der Geschichte gegeben hatte, sondern Löwenherz war auch mit einer Oberherrschaft Heinrichs über England einverstanden gewesen. Damit war der Staufer vom Feind zum Schutzherrn aufgestiegen und er hatte Richard tatkräftig bei der Rückgewinnung seines Anspruches auf die Krone und seine Ländereien unterstützt.

 

Heinrichs Macht hatte durch diesen genialen Schachzug an Stärke zugenommen und er war mit bewundernswerter Akribie dazu übergegangen in seinen Stammlanden aufzuräumen. Durch die Einsetzung von Bischöfen seiner Wahl in den richtigen Positionen und die erfolgreiche Vermittlung bei Konflikten, die einige Fürsten auch unter sich austrugen, hatte Heinrich ein dichtes Netz gewebt, das seinen Herrschaftsanspruch mehr und mehr gefestigt hatte. Nach Jahren der Verhandlungen und des Kampfes, die Rudolfs eigenes Zuhause Landrion auch nicht verschont hatten, war Frieden eingekehrt.

 

,Und sein Meisterstück hat Heinrich heute zu Ende gebracht!‘ Rudolf tauchte unter und prustete dann zufrieden das Wasser aus. ,Ich hätte das Schwein abgestochen, aber Heinrichs Vorgehensweise ist viel raffinierter.‘ Der Gardehauptmann griff nach einem Waschtuch und wrang es aus. Er stellte sich mit Genuß vor, dass es der Hals von Heinrich von Braunschweig wäre.

 

Der Sohn des Löwen, der Geächtete des Reiches und der widerwärtigste Kerl auf Erden, war durch einen Akt der Versöhnung vom Feind zum Verbündeten aufgestiegen. Heinrich von Braunschweig hatte heimlich eine nahe Verwandte des Kaisers geheiratet, um seine Pläne weiter voranzutreiben. Zuerst hatte der Herrscher getobt und er wollte in einer ersten Reaktion die Reichsacht über den Welfen verhängen. Doch bald hatte er eingesehen, dass ihm ein Bündnis nützlicher sein könnte.

 

Kaiser Heinrich hatte die Ehe gegen die Zusicherung eines dauerhaften Friedens anerkannt. Agnes von Staufen war durch ihre Verwandtschaft zu einer politischen Schlüsselfigur geworden, aber das war auch schon alles. Die säuerliche Miene Heinrichs von Braunschweig bei den anschließenden Festlichkeiten hatte deutlich gezeigt, dass er sich an den Anblick seiner Frau und die Beziehung erst würde gewöhnen müssen.

 

Rudolf ließ seinem Grinsen ungehindert Lauf. Der Widerling war dem Kaiser gegenüber zu tiefster Demut gezwungen gewesen und hatte sich auch ihm gegenüber respektvoll zeigen müssen. Doch am meisten amüsierte sich Rudolf über von Braunschweigs Reaktion auf die Anwesenheit des jungen Fürsten von Landrion.

 

Durch seine Treue zum Kaiserhaus war Martin zu einem der mächtigsten Vasallen aufgestiegen und er konnte sich ungeniert in Heinrichs Licht sonnen. Doch der wahre Trumph hatte sich deutlich schwanger an Martins Arm angehalten. Agnes von Enigor war eine der schönsten Frauen des Reiches und ihre Zuneigung zu ihrem Mann war selbst für einen Blinden erkennbar gewesen. Diese Verbindung war nicht am politischen Schachbrett entstanden, sondern hatte den Segen aller himmlischen Kräfte.

 

Konstanze hatte sich sehr für den Zustand der jungen Fürstin interessiert. Sie hatte damit dem Gerücht weiter Nahrung gegeben, dass sie guter Hoffnung war. Selbst wenn es alles andere als ein Kind der Liebe war, hätte der Kaiser einen weiteren Sieg auf seiner Seite.

 

Rudolf seifte sich ein und tauchte übermütig im Zuber unter. Das Wasser spritzte nach allen Seiten. Die Badeknechte würden es ihm nachsehen, wenn sie die Binsen auf dem Boden erneuern mussten. Er erhob sich und trat triefnaß aus seinem Bad. Rudolf griff nach einem bereitgelegten Tuch und rieb sich ab. Er schlang es um seine Hüften und trat an den Kamin, wo ein prasselndes Feuer den Raum angenehm erwärmte. Hinter sich hörte er die Badeknechte, die den Zuber ausschöpften. Kaum waren sie fertig, ließ sich Rudolf ins Bett fallen und sank in den Schlaf des Gerechten.

 

Im Morgengrauen klopfte es heftig an Rudolfs Tür. Mit einem Stöhnen rollte sich der Gardehauptmann herum. „Lasst mich in Ruhe!“, rief er aufgebracht und zog sich die schwere Decke über den Kopf.

 

„Hauptmann, der Kaiser verlangt nach Euch!“ Die Stimme hinter der schweren Eichentür klang hektisch, gefolgt von weiterem Klopfen. Rudolf erhob sich schwerfällig und öffnete, so wie Gott ihn geschaffen hatte, die Tür. Der Diener starrte den nackten Hauptmann mit offenem Mund an.

 

Rudolf verzog das Gesicht mürrisch und blaffte den Mann an: „Was ist? Hast du noch nie an dir herabgesehen?“ Sofort wich der Bedienstete einen Schritt zurück. Der Hauptmann griff nach einer Wolldecke und wickelte sich darin ein, doch weniger aus Rücksicht auf den Knecht, sondern wegen der deutlich spürbaren Kälte. Missmutig sah er zum kalten Kamin. Es war noch nicht einmal annähernd Zeit zum Aufstehen! Denn sonst wäre schon ein dienstbarer Geist da gewesen und hätte ein Feuer angefacht.

 

Der Knecht glotzte Rudolf weiter an. Erst ein unsanfter Stoß riss ihn aus seiner Starre. „Nun rede endlich!“

 

„Bitte ... der Kaiser ... es ist dringend“, stotterte er.

 

Rudolf nickte grimmig und schlug die Tür zu. In der Kammer war es stockdunkel. „Verflucht!“ Rudolf riss die Türe wieder auf. „Mach mir Licht!“, fuhr er sein Gegenüber an.

 

Der Bedienstete hätte den Kienspan, den er umklammerte, fast vor Schreck fallen lassen, doch er gehorchte augenblicklich. Mit einer entschuldigenden Geste drückte er sich am Gardehauptmann vorbei und steckte den Kien in eine der Wandhalterungen. Mit hektischen Bewegungen suchte der Knecht beim Kamin nach einem zweiten Holz.

 

Rudolf zog sich zu seinem Bett zurück und schlüpfte in seine Kleider. Keinen Augenaufschlag später riss er dem verblüfften Knecht den kaum brennenden Kien aus der Hand und verschwand im dunklen Korridor.

 

Die Tür zu Heinrichs Gemächern stand offen. Das war ungewohnt. Rudolf blickte angespannt in die Ansammlung von Menschen, die sich ihm bot. Nur mit einem Tuch über den offenen Haaren erkannte er Konstanze und verneigte sich in ihre Richtung.

 

„Ah, Hauptmann.“ Der Kaiser löste sich aus der Gruppe und das Gemurmel verstummte augenblicklich. Rudolf begrüßte seinen Herrscher ehrerbietig und nahm die Gesichter in Augenschein, die sich ihm zugewandt hatten. Bis auf einen Mann kannte er alle: den Bischof, den Schreiber, die Berater und einige Vasallen Heinrichs.

 

Der Hauptmann kniff die Augen zusammen und fixierte den Unbekannten, dessen Kleidung von Schmutz überzogen war. Sein Haar stand an einigen Stellen wirr vom Kopf, an anderen klebte es ungewaschen an der Kopfhaut. Der Blick aus rot geränderten Augen war unstet und seine Lider flackerten in höchst irritierender Weise. Rudolf war sofort auf der Hut. War ein Attentäter zum Kaiser vorgedrungen oder ein Verrückter?

 

Doch Heinrich ging vertrauensselig auf die Gestalt zu und legte ihr sogar freundschaftlich die Hand auf die Schulter. „Unser treuer Freund, Markward von Annweiler, hat Uns eben nach einer sehr strapaziösen Reise mit einer Botschaft erreicht, die für Uns von höchstem Interesse ist.“ Heinrich lächelte und zeigte dabei ein Glitzern in den Augen, das bei Rudolf sofort das Herz sinken ließ. Er spürte, wie ihm die Kälte unter den Wollumhang kroch.

 

„Unser Widersacher Tankred ...“, Heinrich hätte sich die Zunge abgebissen, ehe er seinen Feind als König tituliert hätte, „... hat das Zeitliche gesegnet.“ Zufrieden ließ der Kaiser seine Worte wirken. Rudolf spürte, wie sich seine Eingeweide verkrampften. Die Kaiserin wurde weiß wie ein Leintuch und tauschte mit dem Hauptmann besorgte Blicke.

 

Die anderen Versammelten waren drei Jahre zuvor nicht dabei gewesen und reagierten sofort mit aufgeregten Kommentaren. In Rudolfs Kopf rauschte das Blut und er verstand nur einige Wortfetzen. Er hörte aber etwas von Ansprüchen und sizilianischer Krone heraus.

 

Der Kaiser nahm huldvoll Platz und ließ sich von seinem Schreiber ein Dokument reichen.

 

„Wir haben hier einen Brief, den Tankred eigentlich an Seine Heiligkeit den Papst gesandt hatte.“ Heinrich nickte Markward anerkennend zu und fuhr fort: „Darin lobt der Unwürdige die Frucht seiner Lenden als Wilhelm, den III. aus.“ Heinrich schnaubte verächtlich. „In Unseren Augen ein recht lahmer Versuch, eine legitime Nachfolge zum Neffen Unserer Gemahlin Wilhelm II. herzustellen.“ Heinrich blickte gelangweilt auf das Dokument in seinen Händen. „Bastard bleibt Bastard“, spie er fast heraus.

 

Rudolf gab sich gerade Überlegungen hin, welche Mittel Heinrich angewandt hatte, um an diese Informationen zu kommen, als der Kaiser lauter wurde: „Dieser Spross ist doch nicht mehr als ein Kind?“ Er wischte diesen Umstand als unwichtiges Detail mit der Hand beiseite und sah den erschöpften Markward kurz an. „Kaum sechs Lenze, mein Gebieter.“

 

Heinrich nickte zufrieden. „Gibt es jemanden, der seine Rechte ...“, er würgte dieses Wort fast hervor, „... vertritt?“ Der Kaiser formte die Augen zu Schlitzen.

 

Von Annweiler räusperte sich. „Die Mutter des Knaben ...“ Weiter kam er nicht, denn der Kaiser lachte lauthals auf. „Sybille?“, unterbrach er Markward belustigt. „Das finden Wir sehr bemüht von der guten Frau.“ Niemandem entging die Verachtung in der Stimme Heinrichs. Rudolf spürte förmlich die Veränderung, die in seinem Herrn vorging.

 

Heinrichs Besessenheit nach der sizilianischen Krone war mit einem Schlag zurückgekehrt, wie eine böse Krankheit. Wie konnte das geschehen?

 

Plötzlich fiel es dem stillen Beobachter wie Schuppen von den Augen. Heinrich hatte seine Pläne nie aufgegeben! Die vergangenen Jahre hatte er hart an der Erreichung seiner Ziele gearbeitet. Die Befriedung der Stammlande, die unbedingte Unterwerfung von England und Richard Löwenherz, die Einigung mit den Welfen und die dauerhaften Bündnisse mit den wichtigsten Städten in Oberitalien. Die Position des Staufers war so gefestigt wie nie zuvor in der Geschichte.

 

Alle Widersacher waren zum Verstummen gebracht worden und von ihrem Kaiser sogar zur Unterstützung verpflichtet worden. Die Steine eines langgelegten Mosaiks schienen perfekt zusammenzupassen. Nun fehlte nur mehr der Schlussstein und Heinrich war mehr als bereit für den Orbit, der sich über ihm spannen sollte!

 

Mit wachsendem Entsetzen betrachtete Rudolf seinen Herrn. Hatte am Ende Heinrich mit dem verfrühten Tod seines Erzfeindes Tankred zu schaffen? Dem Gardehauptmann lief ein kalter Schauer über den Rücken. Wie weit würde der Kaiser noch gehen? Rudolf ließ sich von seinen finsteren Gedanken wegtreiben und sah erst auf, als Konstanze an ihm vorbeiging.

 

Die Konventionen verboten es ihr, den Hauptmann direkt anzusprechen, doch der Blick, mit dem sie ihn bedachte, enthielt eine eindeutige Botschaft. Mit bleichem Antlitz ging sie an ihm vorbei. Mit der ihr eigenen Anmut schob Konstanze ihre Hände in die weiten Ärmel ihres Gewandes. Rudolf spürte den Hauch einer Berührung an seinem Unterarm und er wusste, dass diese kurze Geste eine stumme Bitte enthielt.

 

In diesem Moment gab er sich selbst ein Versprechen: Er würde alles in seiner Macht Stehende tun, um zu verhindern, dass dieser Frau wieder eine Gefahr drohte. Bei der Möglichkeit, dem Stauferkaiser vielleicht Einhalt zu gebieten, war er ihr einziger Verbündeter, denn Rudolf wusste, dass die Kaiserin die Expansionspläne ihres Mannes nicht gut hieß. Sie hätte es nie gewagt, ihre Ansichten öffentlich kundzutun, aber nachdem sie sich zu keiner Gelegenheit zu den Umtriebigkeiten Heinrichs geäußert hatte, sprach ihre Zurückhaltung Bände.

 

Der Gardehauptmann sah in die versammelte Runde. Er seufzte. Seine Bemühungen waren wahrscheinlich schon im Vorfeld zum Scheitern verurteilt. In weiser Voraussicht hatte Heinrich nur mehr Männer um sich geschart, die in Italien nicht dabei gewesen waren und sie hingen bei jedem seiner Worte an seinen Lippen. Sie alle erkannten seine Besessenheit nicht.

 

Rudolf war klar, dass Heinrich nicht ruhen würde, zusätzlich zur Kaiserkrone des Sacrum Imperium auch die Krone von Sizilien aufzusetzen. ,Er hat ja auch nur einen Kopf‘, murrte Rudolf im Stillen und ihn befiel ein Gedanke: ‚Wie lange wird mich der Kaiser noch in seiner Gegenwart dulden?‘ Gerade als düstere Vorahnungen in Rudolf aufstiegen, wandte sich Kaiser Heinrich gönnerhaft an ihn. „Mein treuer Hauptmann. Wir haben besondere Aufgaben für Euch.“

5

Italien, Frühjahr 1194

 

Rudolf hatte schlechte Laune. Missmutig ritt er neben Kaiser Heinrich einher, der sein ganzes Gefolge und ein riesiges Heer in einem langen Tross Richtung Neapel führte. Die Masse von Menschen und Lasten war seit Wochen nur langsam über die spätwinterliche Landschaft gekrochen.

 

Der vom nicht enden wollenden Regen aufgeweichte Boden erschwerte die Passage zusätzlich. Unzählige Male war eines der vielen Gefährte bis zur völligen Unbeweglichkeit stecken geblieben. Nur unter Aufbringung aller Kräfte hatte der Schlamm die Holzräder unter lauten Schmatzgeräuschen wieder freigegeben.

 

Nicht einmal der aufkommende Frühling, der sich überall mit zarten Sprossen ankündigte, konnte die Stimmung des jungen Mannes heben. Sein Körper und sein Geist blieben unbehelligt von den Eindrücken der Landschaft und den Gerüchen, die ihn umgaben. Rudolf registrierte die Zypressen und Pinien, die die Natur in Tuscien so unverkennbar machten, doch sein Herz erreichten die Bilder nicht. Die Last der Erinnerungen schien ihn zu erdrücken.

 

,Schon wieder!‘ Der Hauptmann der Leibwache spürte die Angst von damals noch immer in seinen Knochen sitzen. ,Als hätte es das letzte Mal nicht genug Leid und Tod gegeben.‘ Rudolf war auch verärgert, weil sein Herrscher beim Aufbruch zu großer Eile gemahnt hatte. Er hatte kaum Zeit gehabt, sich auf die Reise vorzubereiten, von seinem Zuhause zu verabschieden oder auf die neue Situation einzustellen.

 

Am liebsten hätte Rudolf seinen Hengst Maximus auf der Stelle gewendet, um zurück nach Hause zu reiten. Aber als Hauptmann der kaiserlichen Leibwache war sein Platz an der Seite des erlauchten Herrschers. Die körperliche Unversehrtheit des Kaisers hatte Priorität und lag nach wie vor in seinen Händen.

 

In der jüngsten Vergangenheit hatte sich das häufig als lebensgefährliche Angelegenheit herausgestellt und es war keine Erleichterung zu erwarten. Im Gegenteil, viele Städte in Mittelitalien hatten schon im Vorfeld klargestellt, dass sie ihre Arme nicht offen halten würden für den Kaiser, dessen Beinamen Tramontana nicht mehr nur hinter vorgehaltener Hand geflüstert wurde, sondern bereits in Schmähballaden Einzug gefunden hatte.

 

Rudolf schüttelte sich bei den Erinnerungen an die zurückliegenden Reiseabschnitte. In Genua war dem Kaiser vorgehalten worden, dass er sich in Mailand einen Tag länger aufgehalten hatte. In Pisa hatten sich die Verhandlungen über die neuerliche Flottenhilfe für den Sizilenfeldzug des Kaisers unerträglich in die Länge gezogen. Es war nur zu verständlich, dass sich die Begeisterung in Grenzen hielt. Und in Florenz war die Arroganz der Einwohner himmelschreiend gewesen.

 

Rudolf seufzte und er sah sich um. Sein Blick blieb an der Kutsche hängen, in der die Kaiserin die Strapazen mit bewundernswerter Geduld ertrug. Am Beginn der Reise war für Heinrich klar gewesen, dass Konstanze bis nach Palermo mitkommen sollte, doch auch ein Sturkopf wie er, musste sich höheren Mächten beugen. Der Hauptmann presste kurz die Lippen zusammen und lächelte dann.

 

Der kaiserliche Leibarzt wollte Konstanze zuerst keinen Glauben schenken und war keine Handbreit von seiner Überzeugung abgewichen, dass die alte Frau, wie er sie wenig schmeichelhaft bezeichnet hatte, an einem Bauchgeschwür leiden musste. Als sich aber seine Prophezeihungen von starken Krämpfen und schweren Blutungen nicht erfüllten, war Gallus seine Stellung losgeworden. Heinrich hatte ihn mit Schmähungen überhäuft und auf die Reise nach Salerno geschickt. Mit dem Hinweis, dass er seine Medizinkenntnisse nirgends besser als an der dortigen Schule vervollständigen könne.

 

Mit der Bestätigung von Konstanzes Schwangerschaft war Heinrich augenblicklich noch unerträglicher geworden. Selbstverständlich schrieb er es seiner von Gott geschenkten Manneskraft zu, dass er ein Kind in den Schoß einer Frau gepflanzt hatte, die bereits fünfunddreißig Lenze zählte. Nur eines musste Rudolf ihm zugute halten. Heinrich behandelte die Kaiserin sehr zuvorkommend und er hatte eingewilligt, sie in Spoleto einzuquartieren.

 

Das große Herzogtum gehörte Heinrich persönlich und er hatte die gut befestigte Stadt Jesi als Ort der Niederkunft auserkoren. Dieser Schritt hatte den Kaiser einige Überwindung gekostet, denn die Geburt seines Thronfolgers in einem von ihm unterworfenen Palermo hätte seinen Triumph vervielfacht. Doch hatte auch Heinrich aus seinen ersten Erfahrungen in Italien jenseits der Reichsgrenze gelernt. Bisher hatte er ungeahnte Vorsicht walten lassen.

 

Rudolf warf einen Blick auf seinen Herrscher, der mit stoischer Miene neben ihm ritt. ,Was geht wohl in seinem Kopf gerade vor?‘ Der Gardehauptmann musterte seinen Schutzbefohlenen. Verfolgt von vielen Gedanken wetzte Rudolf unruhig im Sattel hin und her. Doch keine Position wollte ihm bequem erscheinen.

 

Um sich abzulenken ließ er den Blick über die sanfte, hügelige Landschaft schweifen. Weite Flächen und gut gepflegte Wege so weit das Auge reichte, ohne Anzeichen einer Stadt. Welch eine Wohltat! Aus dem Augenwinkel sah er, dass im Tross eine große Lücke entstanden war.

 

„Mit Eurer Erlaubnis, mein Gebieter“, Rudolf zeigte auf den hängengebliebenen Karren.

 

Heinrich nickte kurz und hielt an. „Wir werden eine Rast befehlen.“ Der Gardehauptmann zog die Augenbrauen zusammen und sah sich beunruhigt um. Heinrich lächelte. „Lauert irgendwo das Böse?“, neckte er seinen Wächter gnadenlos und er sah sich betont erschrocken in der Umgebung um. Rudolf verzog seinen Mund zu einem verkniffenen Ausdruck, doch der Schalk saß ihm in den Augen. „Im Moment lauert es nur dort, wo der Sattel schon seit Stunden an meiner Haut reibt.“

 

Der Kaiser brach in schallendes Gelächter aus. Rudolf saß betont umständlich ab und es brauchte nur eine Geste, dass Heinrich sofort von Helfern und Beschützern umringt war.

 

Der Hauptmann ging entlang der Reisenden, um nach dem Rechten zu sehen. Diese Aufgabe lenkte Rudolf ein wenig von seiner trüben Stimmung ab und er versuchte sich auf die Leute zu konzentrieren, die an den Ochsen zerrten und am Karren schoben. Doch zu seinem großen Leidwesen wusste Rudolf, dass es sich bei diesen Pflichten auf der Reise nicht um die besondere Aufgabe handelte, für die Heinrich ihn ausersehen hatte.

 

Es würde noch mindestens zwei Monate dauern, bis sie Benevento erreicht hatten, dennoch brachte ihn jeder Schritt weiter Richtung Süden und die Ankunft im fernen Fürstentum war unausweichlich. Der junge Gardehauptmann schüttelte sich bei dem Gedanken an das, was ihn dort erwartete: seine zukünftige Frau.

 

Um vergangene Fehler nicht zu wiederholen, hatte der Kaiser zu einem Mittel gegriffen, das schon der große Alexander viele Jahrhunderte zuvor erfolgreich angewendet hatte – die Verheiratung von Vertrauensleuten mit einheimischen Töchtern. Mit dieser brillianten Vorgehensweise sollten die wankelmütigen Fürstentümer an das Stauferreich gebunden werden.

 

,Elisabetta Beatrice Assunta Giovanna della terra di Benevento‘, wie ein Holzwurm hatte sich der Name seiner ihm Versprochenen, oder besser Aufgedrängten, in sein Hirn gebohrt. Rudolf seufzte. Doch es war ihm nicht viel Handlungsspielraum geblieben. Er hatte Pech. Als einer der ersten Vertrauensleute des Kaisers, als Junggeselle und mit seiner Abstammung aus einer hoch angesehenen Familie war er als politische Schachfigur beliebig einsetzbar.

 

Heinrich hatte schon vor der Abreise nach Italien deutlich gemacht, dass er seinen Untergebenen nicht vor eine Wahl stellte, sondern Rudolf hatte einem Befehl unbedingt Folge zu leisten. Die lange Reise ließ ihm nun genug Zeit, sich auf das Unvermeidliche einzustimmen, doch trugen die Begleiterscheinungen dieser Ochsentour nicht unbedingt zur Besserung seines Gemütszustandes bei.

 

Er war gewohnt, Probleme nüchtern und mit klarem Kopf zu analysieren. Rudolf versuchte zu dem Punkt vorzudringen, der ihm den Gedanken an die bevorstehende Ehe mit einer gänzlich fremden Frau so unerträglich machte. Zu seinem großen Erstaunen jagte Rudolf der Ruf seiner unbekannten Gattin, ein hässliches Frauenzimmer zu sein, weniger Schrecken ein als der Gedanke, dass sie ihre Rolle als Principessa zu genau nehmen könnte – das perfekt agierende Frauenzimmer, das den Verhaltenscodex seiner Zeit von der Wiege weg verinnerlicht hatte, um den männlichen Teil der höherstehenden Gesellschaft zu betören.

 

Principe Leopoldo von Benevento war das Oberhaupt einer der wichtigsten Familien Italiens. Er war bekannt dafür, dass er größten Wert auf Prunk, Status und Ansehen legte. Damit lag selbst für den entferntesten Beobachter auf der Hand, in welchem Geist er seinen einzigen Sohn und seine beiden Töchter erziehen hatte lassen. Wahrscheinlich trug er noch dicker auf als andere Fürsten.

 

Die Verkörperung des idealen Frauentyps der feinen Adelsgesellschaft hatte Rudolf schon seit jeher nur ein unwilliges Brummen entlockt. Wie auch sein älterer Bruder Martin verabscheute Rudolf zutiefst „zimperliche Burgfräuleins“, die meistens geist– und witzlos waren. Seit frühester Jugend waren sich die Brüder einig gewesen. Sie hatten sich diese Art von Frauen mit Erfolg gemeinsam vom Halse gehalten. „Bis jetzt …“, Rudolfs Bemerkung war nur für ihn selbst bestimmt und wurde vom lauten Brüllen der Ochsen übertönt.

 

Endlich kam Bewegung in die festgefahrenen Räder und der Schlamm gab den Karren frei. Der Mann, der die Ochsen gehalten hatte, sprang gerade noch rechtzeitig zur Seite, um nicht von den schweren Tieren zertreten zu werden.

 

„Wir legen eine Rast ein.“ Rudolf zeigte auf den Kaiser, der auf einem Reiseklappstuhl saß und darauf wartete, dass seine Diener Erfrischungen für ihn und seine Gemahlin richteten.

 

Der Hauptmann ging zu Konstanzes Reisegefährt. Die Kaiserin wollte gerade aussteigen, doch Rudolf ging dazwischen und hob sie in seine Arme. Er hörte wie Konstanze anlässlich des spontanen Übergriffs nach Luft schnappte. „Eure Kleider werden sonst schmutzig“, erklärte Rudolf knapp und er trug seine Gebieterin zu dem eilig aufgebreiteten Teppich. Heinrich hob erstaunt die Augenbrauen, doch sah auch er den Grund für Rudolfs Handeln ein und bedankte sich mit einem betont huldvollen Nicken.

 

Innerlich sträubte sich alles in Rudolf. Er dankte seinen Eltern aufrichtig. Sie hatten bei der Erziehung ihrer beiden Söhne jegliche zeremonielle Unterweisung in Ritualen und Höflichkeitsfloskeln auf das notwendige Mindestmaß beschränkt. Der vor kurzem verstorbene Fürst Harold hatte immer darauf bestanden, dass Martin und Rudolf ihren Kopf benutzen sollten und sich, obwohl ganz gegen den Trend ihrer Zeit, nicht hinter hohlen Phrasen und Gesten zu verstecken hatten. Eine tiefgehende Herzensgüte war das Erbe seiner Mutter Mechthild, die auch alles andere als ein zimperliches Burgfräulein war.

 

Rudolf lächelte, als er an die jetzige Situation in Landrion dachte. Sein sonst so hart gesottener Bruder Martin schmolz förmlich dahin, wenn ihn seine Frau Agnes anlächelte und vor Rudolfs Abreise hatte das Fürstenpaar mit überbordender Freude der Geburt des ersten gemeinsamen Kindes entgegengeblickt.

 

Langsam schlich sich eine leise Ahnung in die Gedankenkreise von Rudolf ein. Die Söhne von Landrion hatten immer in der Überzeugung gelebt, dass ihre Ehen, wie auch die ihrer Eltern, vom Kaiser bestimmt werden würden. Für Zuneigung war kein Platz vorgesehen. Man hatte schon Glück, wenn man sich zumindest halbwegs ausstehen konnte. Rudolf warf einen Blick auf Heinrich und Konstanze, die schweigend neben dem gelangweilten Vater ihres Kindes saß.

 

Fortuna hatte sich mit seinen Eltern und seinem Bruder mehr als gnädig gezeigt – sie alle durften echte Zuneigung erfahren. ,Was erwartet mich wohl?‘, zermartete sich Rudolf den Kopf. Wenn er doch nur den geringsten Hinweis gehabt hätte, dass Elisabetta eine gütige und liebevolle Frau war, dann wäre ihm eine wahre Last von den Schultern genommen.

 

Der Gardehauptmann gab sich einen Ruck und trieb sich zu Taten an. Eingedenk seiner Pflichten sah er sich um. Zufrieden stellte er fest, dass sich die Gruppe der Reisenden an seine Anordnungen hielt. Sie befanden sich noch auf Reichsgebiet, aber es war nie auszuschließen, dass jemand dem Geschlecht der Staufer gerne ein vorzeitiges Ende gesetzt hätte.

 

Rudolf ließ seinen Blick über die ansprechende Landschaft schweifen. So weit südlich war die Vegetation ganz anders als in seiner Heimat. Gut gepflegt und bestellt machten selbst die brach liegenden Felder einen fruchtbaren Eindruck.

 

Er hätte fast aufgestöhnt, als er an seine eigene Erde dachte. Heinrich hatte ihm zusammen mit einer Ehefrau ein schweres Erbe aufgebürdet. Mit der Eröffnung über seine Vermählung war die Belehnung mit der verwaisten Markgrafschaft Brannburg und dem Lehen Morgwald einhergegangen.

 

Seine Vorgänger waren brutale Ausbeuter gewesen. Sie hatten Land und Leute in einem erbärmlichen Zustand zurückgelassen. Weder Ottokar von Brannburg noch Edwin von Morgwald hatten sich für eine positive Entwicklung ihrer Ländereien interessiert. Es würde wahrscheinlich sein ganzes Leben dauern, bis sich Brannburg oder Morgwald mit dem blühenden Landrion oder mit dem, was sich Rudolfs Augen hier bot, messen konnten.

 

Es stand außer Frage, dass sich Rudolf nach seiner Rückkehr aus Benevento mit Feuereifer auf die vor ihm liegenden Aufgaben stürzen würde. Er feilte bereits an einer Liste mit den dringendsten Aufgaben. Viele der Dörfer würden beim Wiederaufbau von mutwillig niedergebrannten Gebäuden seine Unterstützung brauchen sowie bei der Rodung von Wäldern zur Gewinnung von Allmenden[3]. Außerdem wollte er die Fronleistungen neu festsetzen.

 

Doch das war nur ein kleiner Teil der Aufgaben, die ihn als zukünftigen Landesherr erwarteten. Für einen kurzen Moment drohte ihn die Last auf den Schultern zu erdrücken. ,Wofür soll ich das alles tun?‘, fragte sich der junge Mann bedrückt. Dieser Gedanke brachte ihn wieder zu dem, was in unmittelbarer Zukunft auf ihn wartete: Elisabetta.

 

6

Fürstentum Benevento

 

Berenice drehte sich vor Principe Leopoldo hin und her, um ihr neuestes Kleidungsstück bewundern zu lassen. „Guten Morgen, lieber Vater“, flötete sie mit einer engelsgleichen Stimme.

 

„Meine wunderschöne Principessa!“ Mit deutlichem Wohlgefallen ruhten die Augen des Vaters auf der vorteilhaften Figur seiner jüngeren Tochter. Von kleinem Wuchs, mit den Rundungen an den richtigen Stellen und mit einem liebreizenden Wesen ausgestattet, war Berenice in jeder Hinsicht eine Wohlgestalt. Nur allzu gerne erfüllte er seiner verwöhnten Tochter jeden Wunsch.

 

Leopoldo ließ das affektierte Gehabe seiner Tochter noch eine Weile auf sich wirken, bevor er den Blick zur Tafel hob, um seine ältere Tochter Elisabetta an ihrem gewohnten Platz zu sehen. Der Kontakt zwischen ihm und der stillen Gestalt hatte sich mittlerweile auf den Morgengruß reduziert, denn das Verhältnis zwischen Vater und Kind war am Gefrierpunkt angekommen.

 

Für gewöhnlich entließ Leopoldo seine Familie nach dem Frühstück und sah vor allem Elisabetta bis zum nächsten Morgen nicht mehr. Sein einziger Hinweis auf die Tatsache, dass sie noch unter seinem Dach lebte war ihr morgendliches Erscheinen. Was sie den ganzen Tag über tat oder nicht tat – er wusste es nicht und Leopoldo hatte auch das Verlangen verloren, irgendetwas aus dieser schweigsamen jungen Frau herauszubringen.

 

Dabei hatte sich Elisabetta in keinster Weise irgendein Fehlverhalten zu Schulden kommen lassen. Ihre höfliche Zurückhaltung war das Produkt ihrer erstklassigen Erziehung und sie war die Herzlichkeit in Person. Doch im Vergleich zu ihrer jüngeren Schwester, die in jeder Hinsicht alle Ideale verkörperte, konnte Elisabetta nur als Verliererin dastehen.

 

Sie war mit dem Erbe eines normannischen Urgroßvaters geschlagen. Seine ältere Tochter hatte eine Statur, die sie für jeden Heiratswilligen von vornherein disqualifizierte. Elisabetta überragte, ihren Vater eingenommen, die ganze Umgebung fast um einen Kopf und war zudem besonders schlank.

 

Als sie ihren dreizehnten Geburtstag begangen hatte, war die sich bereits abzeichnende Katastrophe Wirklichkeit geworden. Es hatte keinen einzigen Interessenten für sie gegeben. Weder die hervorragende Abstammung, noch eine mehr als ansehnliche Mitgift konnten auch nur einen Freier dazu bewegen, Elisabetta den Hof zu machen.

 

Sämtliche stolzen Ritter aus Benevento und Umgebung hätten zu ihr aufsehen müssen. Leopoldos ältere Tochter hatte auf dem Heiratsmarkt nicht den geringsten Wert. Den Vater traf diese Erkenntnis doppelt. Neben der Belastung, die ihm eine unverheiratete Tochter auferlegte, hatte er den liebevollen und sanftmütigen Charakter seiner Älteren immer sehr geschätzt.

 

Besonders lobenswert hatte Leopoldo Elisabettas Drang nach Bildung gefunden und er hatte seine Tochter gerne als tiefgründige Gesprächspartnerin herangezogen. Ab und an war der Principe sogar gut beraten gewesen, einen Ratschlag seiner blitzgescheiten Tochter anzunehmen, die sich auch stets als ausgezeichnete Beobachterin erwiesen hatte.

 

Leopoldo hätte aber keine Auskunft darüber geben können, ob seine Tochter irgendwelche körperlichen Vorzüge hatte, denn aus echter Vernachlässigung heraus waren für Elisabetta stets nur Stoffe aus minderer Qualität übergeblieben, die einen eher sackartigen Schnitt hatten. Berenice hatte für die ungerechte Verteilung schnell eine Erklärung parat gehabt. Die abnorm große Schwester brauche fast die doppelte Stoffmenge, um sich zu verhüllen. Deshalb war es nur recht und billig, dass sie selber auf edlere Gewebe zurückgreifen durfte. Dass diese Stoffe oft bis zu zehnmal mehr kosteten, als die Leinen für Elisabetta, fand natürlich keine weitere Betonung.

 

Mit dem wachsenden Bewusstsein, dass Elisabetta nicht an den Mann zu bringen war, hatte Leopoldo angefangen, sich voll auf seine jüngere Tochter Berenice zu konzentrieren, für die nun eine doppelt so gute Partie gemacht werden musste.

 

Der oberflächlichen Principessa kam die ungeteilte Aufmerksamkeit nur recht und sie lernte in affenartiger Geschwindigkeit, alle ihre Trümpfe geschickt auszuspielen. Sehr zu deren Leidwesen, ging das grausame Spiel ausschließlich auf die Kosten von Elisabetta.

 

In einer unangenehmen Kombination aus Langeweile und echter Heimtücke machte die nur ein Jahr jüngere Schwester Elisabetta das Leben schwer, wo sie nur konnte. Es war mehrere Male vorgekommen, dass die Ältere ihre wenigen Kleidungsstücke als Schlafdecken in den Körben von Berenices Hunden wiedergefunden hatte. Die Schwester hatte dann mit weit aufgerissenen Augen wortreich versichert, dass es ihr leid tue, weil sie diese Stoffstücke für Putzlappen gehalten hatte.

 

Die offensichtliche Unaufrichtigkeit seiner Lieblingstochter hatte Principe Leopoldo nur ein Achselzucken entlockt. Der geplagte Witwer hatte Elisabetta zu verstehen gegeben hatte, dass sie ihn nicht weiter mit solchen unpassenden Kleinigkeiten belästigen sollte. Sie war mit allen Problemen allein gelassen und ganz auf sich selbst gestellt.

 

Elisabetta verließ ihr Zuhause sooft sie nur konnte, um den Grausamkeiten der jüngeren Schwester zu entgehen und schon bald hatte Berenice das ganze Feld für sich gewonnen. Die ungute Mischung aus Resignation und Verbitterung versuchte Leopoldo darüber zu vergessen, dass er seine jüngere Tochter in eine Art Olymp hob und ihr jeglichen Freiraum gewährte.

 

Der Principe seufzte. Mit gequälter Miene nahm er die artigen Morgenwünsche seiner älteren Tochter entgegen, doch er schenkte ihr kaum einen Blick. Die ständig plappernde Berenice heischte um seine Aufmerksamkeit und ignorierte die Schwester mit voller Absicht. Leopoldo blickte sich um. Wo war Enzo?

 

Sein nichtsnutziger Sohn war wohl wieder einmal nicht aufgestanden, geschweige denn beim Morgentraining gewesen. Er war mit einem ähnlichen Wesen wie seine Schwester Berenice ausgestattet. Enzo interessierte sich mehr für die Falkenjagd und andere Lustbarkeiten als für seine Vorbereitung auf den Familienvorsitz.

 

Das machte Leopoldo große Sorgen, denn er musste versuchen, aus seinem verweichlichten Sohn einen würdigen Nachfolger zu machen. Wie sich herausstellte, war der Prinz aber eine herbe Enttäuschung. Enzo entzog sich sämtlichen Versuchen, aus ihm einen ehrenwerten Ritter zu machen und baute sich lieber einen einschlägigen Ruf mit nächtlichen Streifzügen durch die Weinstuben der Stadt auf.

 

Leopoldo überlegte kurz, eines der Mädchen zu schicken, um Enzo zu holen, als er sich daran erinnerte, was das letzte Mal passiert war. Elisabetta war mit einer blutenden Wunde an der Lippe zurückgekehrt. Der zornige Bruder hatte der Quelle seiner Störung eine schallende Ohrfeige verpasst.

 

Leopoldo war vor Wut außer sich gewesen und wollte Enzo in die Schranken weisen. Zumindest wollte er Elisabetta verteidigen. Doch schlussendlich hatte sich Enzo der ihm zugedachten Strafe geschickt entzogen. Er hatte es nicht einmal zu einer Entschuldigung bei seiner Schwester gebracht. Der Principe wusste, dass dieses Vorkommnis das dünne Band, das noch zwischem ihm und Elisabetta bestanden hatte, endgültig zerstört hatte. Sie hatte über den Vorfall kein einziges Wort verloren und war noch stiller geworden.

 

Niemand ahnte, dass sie es aus reinem Selbstschutz tat. Enzo war an jenem Morgen nicht allein in seinem Zimmer gewesen. Wäre es eine der Dienstmägde gewesen, wäre es nicht weiter problematisch gewesen. Aber auf dem Boden war ausschließlich Männerkleidung verstreut gelegen. Der grausame Bruder hatte es nicht an Drohungen fehlen lassen, wenn Elisabetta ein Sterbenswort über das von ihr aufgedeckte Geheimnis verloren hätte.

 

Der Kontakt zwischen Elisabetta und ihrem Vater brach vollständig ab. Nach einer Weile nahm Leopoldo ihre Anwesenheit nur mehr in dem Ausmaß zur Kenntnis, wie er auch jeden anderen Bewohner der Burg wahrnahm. Ab und an überlegte er, was er mit seiner Tochter machen sollte. Im Geiste gab er der bald Achtzehnjährigen noch ein Jahr, bevor er eine endgültige Entscheidung über ihre Entsendung in ein Kloster treffen wollte. Seine Idee nahm mit der Zeit immer konkretere Formen an, bis sich eines Tages mit der Ankunft eines Schreibens von Kaiser Heinrich das Blatt schlagartig wenden sollte.

 

„Elisabetta.“ Alle einschließlich der Angesprochenen blickten überrascht auf. Leopoldo räusperte sich hörbar. „Bitte komm nachher in mein Arbeitszimmer.“

 

Elisabetta starrte ihren Vater mehrere Atemzüge lang an, bevor sie ergeben nickte.

 

Berenice verfolgte die Mimik des Principe aufmerksam. Sie hoffte, dadurch irgendeinen Hinweis auf den Anlass dieser ungewöhnlichen Aufforderung zu finden. Mit einem feindseligen Funkeln in den Augen hing sie ihrem Traum nach. Endlich würde Elisabetta ins Kloster gehen müssen. Sie war krankhaft eifersüchtig auf ihre Schwester, doch hätte Berenice gar nicht genau sagen können, auf was sich ihre Missgunst eigentlich bezog.

 

Ihre eigenen Truhen gingen über mit den feinsten Kleidern, die ganze Aufmerksamkeit des Vaters galt ihr allein und auf jedem gesellschaftlichen Ereignis war sie der unangefochtene Mittelpunkt. Doch es gab etwas, das Elisabetta hatte und ihr so sehr fehlte – einen messerscharfen Verstand.

 

Sie war selbst bestenfalls mit einem Mittelmaß an Klugheit und Witz ausgestattet. Die Männer schätzten ihre Art, aber es gab mehrere Bereiche des Wissens, die sich ihr ständig entzogen.

 

Einem Gespräch über Politik oder Naturwissenschaften konnte Berenice kaum folgen. Wenn es ihr möglich war, dirigierte sie das Thema möglichst schnell auf ein angenehmeres Gebiet, wie die neueste Art sich zu kleiden oder gefragte Unterhaltungskünstler. Auf diesem Boden fühlte sich die junge Frau sicher.

 

Doch der größte Neidfaktor war etwas anderes. Elisabetta hatte das wunderschöne dunkle Haar ihrer verstorbenen Mutter geerbt, das zu einem Zopf geflochten so dick war, wie ihr Handgelenk. Berenice war zwar ungewöhnlich blond, aber sie hatte nur ein sehr dünnes Haarkleid. Sie musste sich mit allen verfügbaren Mitteln helfen, um sich in die Erscheinung zu verwandeln, die allen Männern die Augen übergehen ließ, aber in letzter Konsequenz war alles nur Lug und Trug. Abgesehen von eigens eingeflochtenen Haarteilen, über speziell gebundene Tücher, die ihren Busen richtig zur Geltung brachten, waren auch stundenlange Bäder für ihre schlechte Haut notwendig.

 

Elisabetta saß mit niedergeschlagenen Augen im Arbeitszimmer ihres Vaters und wartete darauf, dass er das Wort eröffnete. Innerlich versuchte sie sich auf das Unvermeidliche vorzubereiten. Berenice hatte keine Gelegenheit ausgelassen, ihr den künftigen Lebensweg vorherzusagen.

 

Sie hatte ihre ältere Schwester in ein weit entferntes Kloster gewünscht, am besten eines mit dem strengsten Kodex sowie den unangenehmsten Entbehrungen und ohne Aussicht auf ein Entkommen. Elisabetta hatte sich von den Schilderungen einschüchtern lassen und war nun in diesen albtraumhaften Vorstellungen gefangen. Sie knetete unruhig ihre Hände und wartete auf das Urteil ihres Vater.

 

„Du hast zweifellos die jüngsten politischen Entwicklungen mitverfolgt.“ Leopoldo sah seine Tochter über den Rand eines ausladenden Dokumentes hinweg an. Elisabetta blickte überrascht auf.

 

„Kaiser Heinrich möchte seinen Anspruch auf Sizilien durchsetzen?“ Elisabetta lotete unsicher das Terrain aus. Der Vater beschränkte sich auf ein leichtes Nicken und ließ den Blick wieder über das riesige Pergament schweifen.

 

„Es ist lange her, dass wir so miteinander gesprochen haben.“ Der Principe deutete mit einer schwachen Geste auf sich und dann auf seine Tochter. Sein anschließender Seufzer dröhnte Elisabetta in den Ohren. Der ganze Schmerz einer verlorenen Vater–Tochter–Beziehung wollte sich den Weg zu ihrem Herzen bahnen, doch eine leise Ahnung hielt Elisabetta davon ab, sich in Vertrauen zu wiegen.

 

Leopoldo schwieg viel zu lange, bevor er endlich zum Sprechen ansetzte: „Es heißt, dass Heinrich nach seinem ersten verpatzten Anlauf nun tatsächlich zum König von Sizilien gekrönt werden wird.“ Der Principe räusperte sich. Es war nichts Neues, dass er den Staufern nichts abgewinnen konnte. Er war lieber mit Tankred in bestem Einvernehmen gestanden. Aber Leopoldo war gewitzt genug, die Zeichen zu erkennen und er drehte sich wie ein Fähnchen im Wind.

 

„In diesem Schreiben“, Elisabettas Vater wedelte mit der freien Hand über die Zeilen, „bittet Kaiser Heinrich um enge Beziehungen zu den führenden Familien des Landes.“ Leopoldo wartete die Wirkung seiner Eröffnung ab. Elisabetta hielt seinem Blick ungerührt stand. Ihrem Gegenüber gelang es nicht einzuschätzen, ob sie den Hinweis verstanden hatte.

 

Langsam hob Elisabetta die Augenbrauen. „Und dafür komme nun ich in Frage?“, die Augen der jungen Frau blitzten angriffslustig auf. Überrumpelt vom messerscharfen Verstand seiner Tochter, begann der Principe auf seinem Ledersessel hin und her zu wetzen. Er wollte seine Tochter nicht noch mehr verletzten, doch seine Möglichkeiten waren eingeschränkt.

 

Leopoldo hatte nie einen Hehl aus seiner Abneigung gegen das Herrschergeschlecht aus dem Norden gemacht.

 

Heinrichs Angebot zur Festigung der Bande durch arrangierte Ehen war ihm zuwider. Die Tatsache, dass in diesem Moment die unattraktive Elisabetta vor ihm saß und nicht Berenice, machte seine Haltung zu Heinrichs Forderung nach einer Tochter aus jedem der Adelshäuser deutlich. Für einen Vertrauensmann dieses Kaisers konnte er ebenso die wertlose Tochter opfern.

 

Leopoldo hüstelte verlegen. „Markgraf Rudolf von Brannburg und Ritter von Morgwald, Prinz aus dem Hause Landrion und Hauptmann der kaiserlichen Leibwache wird dein Ehemann werden.“ Wieder wartete er die Wirkung seiner Worte ab.

 

„Habe ich eine Wahl?“ Elisabettas Stimme war nur ein Flüstern. Der Principe starrte seine Tochter entsetzt an. „Wäre es dir lieber, ins Kloster zu gehen?“, fragte er sie aufgebracht. Elisabetta sog hörbar die Luft ein. Ihr Vater hatte seine wahren Pläne eröffnet. Es traf sie weit weniger, als sie es erwartet hatte. Sie steckte ihre Möglichkeiten ab und fasste allen Mut zusammen. Immerhin ging es um ihr weiteres Schicksal. „Ist irgendetwas über ihn bekannt?“, fragte sie leise.

 

„Wenn man dem Brief des Kaisers Glauben schenken darf, ist der Mann ein echter Glücksgriff.“ Leopoldo deutete auf einige Zeilen im Dokument. „Ausgezeichnete Abstammung aus einem angesehenen Fürstengeschlecht, exzellenter Ritter, sehr vermögend, dem Kaiserhaus treu ergeben …“ Bei den letzten Worten konnte Leopoldo ein unwilliges Schnauben kaum unterdrücken.

 

Er ließ das Schreiben auf den ausladenden Eichentisch segeln, so als hätte er sich die Finger verbrannt. Dann sah er seine Tochter eingehend an. „Du gehst noch heute zur Kleidermacherin und lässt dir ein paar anständige Sachen richten.“ Elisabettas Vater machte eine geringschätzige Geste über die Erscheinung seiner Tochter und stellte aber gleichzeitig klar, dass es ihm nicht darum ging, Elisabetta gefällig zu sein. Es wäre ihm nur entsetzlich peinlich gewesen, die unverhoffte Braut in diesem Aufzug zu präsentieren.

 

Plötzlich funkelten Elisabettas Augen wütend. „Ihr werdet mit mir dorthin gehen, Vater.“ Die Schärfe in ihrer Stimme ließ Leopoldo abrupt aufsehen. „Jedes Mal, wenn ich zur Kleidermacherin gehe, hält mir diese dumme Frau vor, wie sehr sie für Berenice zu tun hätte.“ Elisabetta wartete die Reaktion ihres Vaters erst gar nicht ab. „Wenn Ihr wollt, dass ich diesen Rudolf heirate“, an diesem Punkt wurde Elisabettas Stimme ganz leise, „dann lasst mich nicht wieder im Stich.“ Ohne darauf zu warten, dass der Principe sie entließ, sprang Elisabetta auf und stürmte aus dem Zimmer.

 

Ihre gute Erziehung verbot ihr, der Eichentüre einen Tritt zu versetzen, doch ihr ganzer Körper schrie nach einem Ventil. Auf dem Weg in ihr Zimmer rang Elisabetta nach Luft. Sie musste dringend raus aus diesen beengenden Mauern. Die Audienz bei ihrem Vater hatte ihre morgendliche Flucht unerträglich lang aufgeschoben, doch jetzt gab es keinen Halt mehr. Der Verbleib in der verhassten Burg machte ihr noch mehr zu schaffen, als die Nachricht von ihrer bevorstehenden Verheiratung.

 

Für Elisabetta war der Wohnsitz des Fürsten schon lange nicht mehr ihr zu Hause. In ihrem karg eingerichteten Raum war nur mehr das Allernötigste zu finden. Sie griff rasch zu ihrem weiten Mantel und einer Umhängetasche. „Hast du es schon wieder eilig?“, die Stimme von Berenice klang bedrohlich. Elisabetta zögerte kurz, bevor sie sich zu ihrer Schwester umdrehte. Trotz ihrer kleinen Statur schaffte es die Jüngere den ganzen Türrahmen auszufüllen – ohne Körperkontakt gab es kein Vorbei. Elisabetta seufzte. „Was willst du?“, fragte sie mehr abweisend als interessiert.

 

„Ich muss wissen, was Vater dir gesagt hat.“ Berenice schnaufte affektiert. „Schließlich hängt mein Schicksal auch von seinen Entscheidungen ab.“

 

Elisabetta verdrehte genervt die Augen. „Frage Vater doch selber“, gab sie sich kampflustig. An ihrem Gesicht war zu erkennen, dass Berenice schon selber darauf gekommen war, doch das erste Mal seit einer Ewigkeit hatte sie eine unerwartete Abfuhr bekommen.

 

Daraufhin war sie ihrer Schwester rasend vor Wut nachgestürmt, um wenigstens von dieser die Neuigkeiten zu erfahren. Berenice ärgerte sich, dass Elisabetta offensichtlich weder geweint hatte, noch besonders geknickt wirkte. Hatte ihr Vater sie nun doch nicht ins Kloster verbannt? Etwas an dem Blick der älteren Schwester gefiel Berenice gar nicht.

 

Sie wurde abrupt bei ihren Beobachtungen unterbrochen. Elisabetta dachte nicht daran, sich länger mit dem verwöhnten Fräulein abzugeben. Sie schob die erschrockene Berenice entschlossen zur Tür hinaus.

 

Im Weglaufen warf sich die groß gewachsene Frau ihren Mantel um die Schultern. Berenice hatte die rasche Bewegung kaum wahrgenommen, doch ihrem geübten Auge war sofort ein Detail aufgefallen. Der nach außen hin unscheinbare braune Kittel hatte einen kurzen Moment sein inneres Geheimnis preisgegeben. ‚Luchs?‘, schoss es der verblüfften Berenice durch den Kopf. ‚Wie kommt denn diese Vogelscheuche an solche edlen Pelze?‘

 

„Elisabetta!“ Doch ihr schriller Ruf verhallte ungehört in den Gängen der Burg.

 

Die Flüchtende war bereits in die Dunkelheit der Ställe abgetaucht, wo sie einer tüchtigen kleinen Norikerstute den Sattel auflegte. „Komm, lass uns nach Hause gehen, Inea.“ Elisabettas Stimme war nur ein Flüstern so als fürchtete sie, weitere Dämonen heraufzubeschwören.

 

Bereits auf ihrer Stute sitzend, dirigierte Elisabetta das Tier durch die Höfe, wo sie im Gewühl der Menschen problemlos untertauchen konnte. Als Pferd und Reiterin das letzte Burgtor hinter sich gelassen hatten, riss Inea den Kopf in die Höhe und fiel automatisch in einen freudigen Galopp. Das Tier kannte den Weg in die Wälder von alleine. Mit jeder Meile, die das ungleiche Paar die Burg und die Stadt Benevento hinter sich ließ, fühlte sich Elisabetta besser.

 

Die stille junge Frau verwandelte sich völlig und ein Lächeln zauberte sich auf ihr Gesicht. Ihr langer Mantel wehte im Wind der fast irren Geschwindigkeit, während Ineas Hufe über den Waldboden donnerten. Die kleine Stute war von Leopoldo als handzahmes Reittier ausgesucht worden. Ihm wären die Augen aus dem Kopf gefallen, wenn er je erfahren hätte, zu welchem Temperament die unscheinbare Inea fähig war.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783950382419
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2018 (Januar)
Schlagworte
Intrige Leid Tunis Liebe Mittelalter Historischer Liebesroman Liebesroman Historischer Roman

Autor

  • Eva-Maria Haynes (Autor:in)

Eva–Maria Haynes ist das Pseudonym einer Historikerin, die ihre besondere Liebe zum Mittelalter in ihren Geschichten zum Ausdruck bringt. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in der Nähe von Wien.
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Titel: Der Graf von Tunis