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Nur zweite Wahl?

Die Geschichte einer Geliebten

von Rebecca Arens (Autor:in)
201 Seiten

Zusammenfassung

Nicht mehr als eine Telefonnummer auf einem Serviettenschnipsel - wenige Ziffern, die dennoch in der Lage sind, einen Tornado aus Begeisterung, heißer Lust und quälender Eifersucht loszubrechen, der Alexandra bis an die Grenzen treibt. Schon bei ihrer ersten Begegnung mit dem Manager verliebt sie sich heftig. Dieser erwidert ihre Gefühle, in die er ebenso unerwartet hineinstürzt, und ahnt dabei nicht, welch weitreichende Konsequenzen die Liebesaffäre mit sich bringen wird. Es beginnt eine aufregend schöne aber auch schmerzvolle Zeit ... Zugleich schwebt ihre beste Freundin Juliane auf der berühmten Wolke sieben - bei jedem Einloggen in den Single-Chat spürt sie die Schmetterlinge im Bauch flattern. Doch kann sie den Worten ihres Traumprinzen wirklich Glauben schenken? Blind vor Liebe übersieht sie vieles und wischt aufkommende Zweifel beiseite. Und dann taucht da plötzlich noch eine andere verheißungsvolle E-Mail auf ...

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Versetzt

 
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Sieben Worte, nicht mehr. Eine simple Kurzmitteilung, die in Alexandra einen so bitteren Geschmack aufsteigen ließ, als hätte sie kurz davor in eine Grapefruit gebissen.

Enttäuscht sank sie auf einen der Esszimmerstühle und sah auf den Tisch vor sich, den sie eben noch liebevoll gedeckt hatte – funkelnde Rotweingläser, brennende Kerzen, das teure Besteck. Alle Mühe, der beträchtliche Aufwand der Vorbereitung, nur für ihn. Und dann das. Nicht zum ersten Mal hatte er sie sitzenlassen, beiseitegeschoben, wie auf Stand-by geschaltet. Sie befand sich in einer Situation, die sie zugleich liebte und hasste. Eine Achterbahnfahrt der Emotionen, die für einen Außenstehenden kaum zu beschreiben war.

 

Frustriert ging sie in die Küche. An ihre Arbeitsplatte gelehnt, starrte sie noch einmal auf das Display ihres Handys und las seine SMS. So viele Tage hatten sie einander schon nicht mehr gesehen … Verflucht, er war sich doch so sicher gewesen … Sie wollte nicht darüber nachdenken, was ihm dazwischengeraten sein könnte, dennoch gelang es ihr nicht, es zu verhindern. Inmitten dieser trübsinnigen Gedanken streckte erneut die Eifersucht ihre hässlichen Klauen nach ihr aus, wie vermehrt in der letzten Zeit. Als wäre seine Abfuhr nicht auch ohne sie schlimm genug.

Traurig öffnete sie den Backofen und nahm das köstliche Rinderfilet heraus. Es duftete herrlich, so gern hätte sie es ihm in den nächsten Minuten serviert. Das Menü allein zu essen kam nicht in Frage, ihr war der Appetit gründlich vergangen. So suchte sie einige Frischhaltedosen aus dem Schrank hervor und verstaute schweren Herzens das Fleisch sowie die vorbereiteten Beilagen darin.

Auf dem Weg ins Bett beschloss sie seufzend, am Tag darauf ihre Freundin Juliane anzurufen, um sie zu der feudalen Mahlzeit einzuladen, für die der Mann, den sie liebte, so kurzfristig abgesagt hatte.

 

Zur selben Zeit trat Lorenz Talbach aus dem Badezimmer seines Hauses, in das er sich zum Schreiben der Kurznachricht zurückgezogen hatte. Er bedauerte seine Absage ebenso wie Alexandra, da auch er sich auf ein Wiedersehen gefreut hatte. Mit den Karten für ein klassisches Konzert jedoch, die ihm von seiner Ehefrau Judith beim Nachhausekommen unverhofft präsentiert worden waren, hatte er nicht rechnen können.

»Es ist mehr als überfällig …«, erklärte sie den Kauf der Eintrittskarten, »dass wir wieder einmal miteinander ausgehen, Lorenz. In der letzten Zeit arbeitest du besonders viel, ich bekomme dich kaum noch zu Gesicht.« Wie betäubt hatte er genickt und sich zu einem Lächeln gezwungen. Sie konnte nicht ahnen, dass er die Besprechungen und Überstunden in großer Menge vorschob, um sich hinter ihrem Rücken mit einer anderen Frau zu treffen – wie er es auch an jenem Abend vorgehabt hatte. Nur war dieses Vorhaben seit wenigen Minuten passé. Was war geschehen, dass Judith sich bezüglich ihrer Freizeitplanung derart spontan umentschieden hatte? Er war fest davon ausgegangen, dass sie, wie angekündigt, den Abend mit einer Freundin verbringen würde. Zwei bis drei ungestörte Stunden – eine ideale Gelegenheit, seine junge Geliebte aufzusuchen. Dass seine Frau den Besuch der Theateraufführung lediglich erfunden hatte, um die Wirksamkeit ihres unerwarteten Geschenks für ihn zu verstärken, war ihm gehörig in die Quere gekommen.

 

Die Überraschung ist ihr mehr als gelungen, dachte er angesäuert, als sie wenig später durch die abendlichen Straßen Hamburgs in Richtung Staatsoper fuhren. Zu dieser Jahreszeit war es gegen neunzehn Uhr bereits dunkel; braun verfärbtes Herbstlaub sammelte sich an den Straßenrändern, vereinzelte Blätter blieben auf dem nassen Asphalt kleben. Feiner Nieselregen benetzte die Frontscheibe seines schwarzen Audis, wurde vom monotonen Intervall der Scheibenwischer immer wieder fortgeschoben.

Im Innenraum war es warm; die vorbeiziehenden Lichter der Stadt erhellten ihn sanft. Um die Stille zwischen ihnen zu überdecken, schaltete Judith das Radio ein – sogleich ertönte jugendlich frische Popmusik aus den Lautsprechern des Autos.

Lorenz erstarrte und hielt erschrocken den Atem an: Es war Alexandras Lieblingssender, der dort spielte! Der Name leuchtete in auffallend roter Schrift in das Dunkel des Wagens hinein. Der Manager verband ihn inzwischen derart stark mit ihr, dass es keinen Unterschied für ihn machte, ob es die Senderbezeichnung oder der Vorname seiner Geliebten war, der ihnen in signalfarbenen Lettern auf der Anzeige entgegenprangte.

Das Radioprogramm, so vermutete er, musste noch von ihrer kürzlich zurückgelegten Fahrt nach Kiel verstellt sein. Wie hatte er nur dermaßen nachlässig sein können?, ärgerte er sich. Stets prüfte er beim Verlassen des Fahrzeugs mindestens einmal die Sitze, die Ablagefächer und insbesondere die Einstellung des Rundfunkkanals nach. Speziell ihn nicht zu kontrollierten, war ihm zuvor noch nie passiert. Die Befürchtung, seine Affäre könnte durch diesen Patzer auffliegen, ließ seine Hand hektisch nach vorn fahren und die Taste drücken, auf der der Klassiksender gespeichert war. Aus den Augenwinkeln blickte er verstohlen zu Judith hinüber. Er erwartete eine Reaktion von ihr, eine verwunderte Nachfrage nach der für ihn sehr untypischen Senderwahl, doch sie verhielt sich unauffällig. Nichtsdestoweniger fragte er sich, ob sie seine Schrecksekunde bemerkt hatte. Er war sich nicht sicher.

Zu seiner großen Erleichterung bogen sie bereits in die Dammtorstraße ein. Von dort aus sollte es nur noch wenige Minuten dauern, bis sie das Parkhaus am Gänsemarkt erreichen würden.

 

Während sie gemeinsam unter einem Regenschirm auf die Eingangstür des Opernhauses zueilten, hakte Judith sich in vertrauter Gewohnheit bei ihm ein. Hierbei musste der hochgewachsene Lorenz sich extrem ducken, um nicht mit dem Kopf gegen den Schirm zu stoßen. Nicht nur aus diesem Grund empfand er die Situation als überaus unangenehm. Der Arm seiner Frau, der sich wie selbstverständlich unter seinen eigenen geschoben hatte, nervte ihn – nur schwer hätte er in Worte fassen können, um wie viel lieber er zu Alexandra gefahren wäre, anstatt den ermüdenden Konzertbesuch vor sich zu haben.

Warum tust du dir das an?

 

Am darauffolgenden Tag, Samstag …

 

Alexandras Anruf erreichte Juliane, als sie im Begriff war, das Haus zu verlassen. Sie wollte einkaufen gehen, einige Kleinigkeiten für das Wochenende besorgen. Die Klinke der Wohnungstür bereits in der Hand haltend, machte sie auf dem Absatz kehrt, als sie hörte, dass ihr Telefon läutete.

»Ja, Heitmann?«, meldete sie sich gehetzt.

»Hi, ich bin’s. Lust auf ein schönes Dinner? Es gibt Rinderfilet mit Portweinsauce.« Juliane wusste auf der Stelle, was es zu bedeuten hatte, wenn Alexandra sie zu einem außergewöhnlichen Gericht wie diesem einlud.

»Ist er gestern wieder nicht gekommen?«

»Ja, ziemlicher Mist, oder?«

»Kann man wohl sagen. Tut mir leid, Alex.«

»Ist schon okay, ich will es ja nicht anders haben …«

 

Obwohl ein Aufzug vorhanden war, nahm Juliane am Abend die Treppen in die fünfte Etage des Neubaus, in dessen Dachgeschoss Alexandras Apartment lag. Du tust es für einen straffen Po, ermutigte sie sich bei jedem Schritt, den sie die nicht enden wollenden Stufen hinaufstieg. Da sie sich zurzeit auf Partnersuche befand, achtete sie verstärkt auf Details wie diese, um bei ihren zukünftigen Verabredungen so attraktiv wie möglich zu erscheinen. Und dass ein knackiger Hintern zu diesem äußeren Eindruck ganz erheblich beitrug, ließ sich leider nicht leugnen.

Alexandra empfing ihre atemlos keuchende Freundin wartend in der geöffneten Wohnungstür.

»Na, wieder zu Fuß?«, zog sie ihren Gast anstelle eines Willkommensgrußes lachend auf.

»Was soll ich machen? Die Konkurrenz schläft nicht!«, war die gut gelaunte Antwort, mit der Juliane schlagfertig konterte, bevor die Frauen einander mit einer herzlichen Umarmung begrüßten.

 

Alexandras Wohnung bestand aus drei hellen, großzügig geschnittenen Zimmern sowie einer schmalen Dachterrasse, die im Sommer zu einem Frühstück unter freiem Himmel einlud. Zwar war die Küche klein und auf den Balkon passte nicht viel mehr als ein bescheidener Bistrotisch mit zwei zierlichen Stühlen, doch für ihre Bedürfnisse reichte es aus.

Vor ihrem Einzug hatte sie zusammen mit Juliane alle Wände des Apartments gestrichen. Dabei war ein tragbares Radio ihr permanenter Begleiter gewesen, zu dessen lauter Musik sie aus vollen Kehlen mitgesungen hatten. Seit jenen ausgelassenen Tagen erstrahlten die Räume in einem leuchtenden Weiß; lediglich ein paar Bilder brachten neben verschiedenen Grünpflanzen Farbe in ihr Zuhause. Eine weitere Ausnahme bildete ihr Arbeitszimmer, das mit einer einzelnen knallroten Wand aufwartete. Diese hatte die Aufgabe, Alexandras morgendliche Müdigkeit zu vertreiben, wenn sie sich gleich nach dem Aufstehen an ihre Aufträge setzte. Die Einunddreißigjährige war der festen Überzeugung, dass selbst ein frisch gebrühter Kaffee dies nicht so gut hinzubekommen vermochte, wie ihre rote Energiewand es tat.

Seit einigen Jahren verdiente sie mit freiberuflicher Arbeit ihr Geld. Ihren Job von zu Hause aus zu erledigen und sich ihre Zeit frei einteilen zu können, empfand sie als großen Vorteil, insbesondere was ihre aktuelle Lebens- und Liebessituation anging. Auf diese Art gelang es ihr weitestgehend flexibel zu sein, falls Lorenz sie spontan zwischen zwei Terminen sehen wollte. Gestohlene Momente voller Glück – für sie opferte Alexandra mehr Arbeitszeit, als es ihren strengen Abgabeterminen gut tat.

 

Die Frauen saßen sich bei dem aufgewärmten aber festlichen Abendessen gegenüber und genossen es plaudernd. Herzhaft kauend lobte Juliane die Kochkünste ihrer Freundin:

»Das schmeckt so lecker, da hat dein Typ echt was verpasst.« Alexandra nickte mit vollem Mund, während die andere weitersprach:

»Weißt du inzwischen, was bei ihm los war? Weshalb er abgesagt hat?« Julianes Frage wurde mit einem Kopfschütteln beantwortet. Gleich darauf schluckte die Angesprochene ihren Bissen hinunter und trank einen Schluck aus ihrem Glas hinterher.

»Nein, nichts von ihm gehört. Aber das ist bei ihm so, da brauche ich nicht drauf zu hoffen. Er meldet sich danach oft tagelang nicht.« Juliane schüttelte missbilligend den Kopf.

»Das kann er nicht machen, finde ich, es muss ihm doch klar sein, dass du wartest.«

»Ja, schon, trotzdem setzt er voraus, dass ich verstehe, dass ihm dann halt etwas dazwischen gekommen ist. Er würde mich nicht absichtlich hängen lassen und ich bin mir sicher, dass es ihm auch gestern wieder schwergefallen ist. Obwohl … für mich war es auch nicht toll … Ich habe die halbe Nacht wachgelegen und geheult.«

Julianes Augen verdüsterten sich. Dass Alexandra derart offenkundig litt, gefiel ihr nicht.

»Ich weiß, ich frage nicht zum ersten Mal, aber warum tust du dir das an?« Die junge Frau atmete tief ein und schaute ihrer Freundin ins Gesicht.

»Weil ich ihn liebe.« Ihr Gegenüber zog kritisch die Augenbrauen zusammen.

»Reicht das, um deine Selbstachtung komplett über den Haufen zu werfen?«

»Das tue ich doch gar nicht. Ganz im Gegenteil. Er gibt mir das Gefühl sicher und stark zu sein. Durch ihn fühle ich mich, wie soll ich sagen, irgendwie unverwundbar. Außerdem kommt es ja nicht dauernd vor und das weißt du. Wenn wir uns sehen, trägt er mich auf Händen und überschüttet mich mit Komplimenten. Ich glaube nicht, dass andere Frauen so viel Aufmerksamkeit und Zuneigung bekommen wie ich von ihm, wenn er bei mir ist.«

»Ja, wenn …« Auf diesen Einwurf hin schaute Alexandra sichtlich pikiert auf ihren Teller hinunter.

»Nun guck nicht so. Ich weiß, dass du die gemeinsame Zeit mit ihm genießt. Doch ich verstehe nicht, wie du das aushalten kannst: dieses ständige Warten auf ihn, die wenigen Stunden, die ihr nur zusammen habt und wie du es erträgst, dass er anschließend immer wieder zu seiner Ehefrau zurückgeht.« Alexandra schluckte getroffen; Juliane hatte zielsicher angesprochen, was ihr am Meisten zu schaffen machte.

»Das ist das Schlimmste …«, gab sie mit belegter Stimme zu, »dass es da noch die andere gibt.«

»Drehst du nicht durch vor Eifersucht?«

»Und wie! Obwohl er mir sagt, dass seine Ehe auch im Bett zur Routine geworden ist. Erotik findet gar nicht mehr statt. Seit er mich kennt, schläft er überhaupt nicht mehr mit ihr. Und das glaube ich ihm.« Juliane nickte.

»Es klingt gut, dass er das zumindest nur mit dir möchte.«

»Ja, finde ich auch. Schade nur, dass er so gut wie nie über Nacht bleibt. Das kam erst ein einziges Mal vor und das nur, weil er ihr eine zusätzliche Geschäftsreise vorschwindeln konnte. Es ist so schrecklich, dass er immer von Neuem fahren muss. Es zerreißt mir das Herz, aber das lasse ich mir vor ihm nicht anmerken.«

»Und warum nicht? Er soll ruhig mitbekommen, wie traurig dich das Ganze macht.«

»Damit er mich am Ende aufgibt, weil ich ihm zu schwierig bin und ihm unsere Beziehung zu umständlich wird? Bloß nicht!« Alexandra hob beide Hände in die Luft.

»So ein Quatsch!« Juliane schüttelte heftig den Kopf. Ihre hellblonden Haare wirbelten bei dieser Bewegung durcheinander.

»Alex, ich kann es nicht verstehen. Du quälst dich doch. Was ist an diesem Kerl so außergewöhnlich, dass du das schon seit fast vier Monaten mitmachst?«

»Wo soll ich anfangen zu erzählen? Außerdem kennst du meine Gründe. Für mich ist er der denkbar tollste Mann. Wir gehören einfach zusammen, trotz der prekären Gegebenheiten. Und wer weiß? Vielleicht ändern sich die Umstände ja irgendwann und er entscheidet sich mit Haut und Haar für mich.«

 

Dass die Liebesaffäre mit dem verheirateten Top-Manager für Alexandra mehr als eine harmlose Spielerei war, wusste Juliane, seit sie ihr erstmalig von ihm und seiner längst erkalteten Ehe, wie er sie darstellte, erzählt hatte. Dass es ihr allerdings derart ernst war, dass sie ihre wahren Gefühle verleugnete und ihm stattdessen Zufriedenheit vorspielte, hörte Juliane an diesem Abend zum ersten Mal.

Na klar, fuhr es ihr durch den Kopf, Alexandra tut alles dafür, in seinen Augen die unabhängige und aufgeschlossene Frau von Welt zu sein, die er speziell für diese Eigenschaften lieben und vergöttern soll. Einzig aus diesem Grund schlüpft sie bei jeder ihrer Verabredungen in die Rolle der starken Geliebten, die die Freiheit der lockeren Bindung genießt. Dass es tief in ihrem Inneren jedoch ganz anders aussieht und sie von Herzen hofft, er möge sich von seiner Gattin trennen, um sich für ein Leben mit ihr zu entscheiden, offenbart sie ihm nicht.

Zu keinem Zeitpunkt hatte Juliane angenommen, dass Alexandras Sorge, was ein Ende des Verhältnisses betraf, derart groß sein könnte, dass sie es vorzog, ihn bewusst zu täuschen. Nur wie lange würde sie diese Fassade noch aufrechterhalten können?

Störtebeker

  

»Und bei dir? Was gibt es bei dir Neues?« Alexandra blickte ihre Freundin fragend an – ein schneller Themenwechsel, der als Balsam für ihre angeschlagene Stimmung dienen sollte.

Da ihre Mahlzeit beendet war, lehnte sie sich auf dem Esszimmerstuhl nach hinten, hob einen Fuß auf die Sitzfläche und stützte sich bequem mit dem Ellenbogen auf ihr angezogenes Bein. Bereit, den faszinierenden Berichten über die aktuellsten Flirtbekanntschaften Julianes zu lauschen. Ihr zuzuhören war stets spannend, da ihre andauernde Suche nach dem Richtigen sie von diversen Partnerschaftsseiten im Internet, deren Angebote sie regelmäßig studierte und die dort bereitgestellten Fotos der Herren kritisch musterte, über Livechats bis hin zu rasanten Speed-Datings führte. Hin und wieder passte einer der Männer in ihr engmaschiges Schema hinein, mit ihm schrieb sie sich seitenlange E-Mails und verabredete sich schlussendlich zum Essen oder für einen Spaziergang außerhalb der Stadt. Einige Male waren diesen Treffen Versuche einer festen Beziehung gefolgt, die jedoch nie lange anhielten.

»Och, da wär wohl was, aber das ist eigentlich noch gar nicht spruchreif …«

»Aha?« Ein Lächeln umspielte Alexandras Mundwinkel. Sie ist hübsch, viel hübscher als ich, dachte Juliane wie so oft beim Anblick ihrer besten Freundin. Insbesondere wenn sie lächelt. Doch selbst wenn sie grimmig schaut, wirkt sie anziehend auf Männer.

»Sind diese Geschichten nicht die interessantesten?«

»Schon möglich …« Ein spitzbübisches Grinsen überzog Julianes Gesichtszüge.

»Nun sag endlich. Weißt du noch nicht, ob er etwas für dich sein könnte? Hast du mir deshalb noch nichts von ihm erzählt?«

»Nein, weil ich ihn erst seit gestern kenne. Wobei Kennen da wohl zuviel gesagt ist … Außer seinem Chatnamen weiß ich fast nichts von ihm.«

»Raus mit der Sprache …«, forderte Alexandra, »auf welcher deiner Datingseiten hast du ihn dir aufgegabelt?«

»Auf keiner, diesmal war es im Chat. Gestern Abend fühlte ich mich wieder einmal ziemlich allein und da habe ich mir meinen Laptop geschnappt und mich in einen von Hamburgs Single-Chats eingeloggt. Dort habe ich ihn entdeckt und er mich. Er nennt sich Störtebeker, irgendwie kultig, oder? Passt zu unserer Stadt und ist mal was anderes als Loverboy, Ladykiller und Mr. Lover. Endlich mal einer mit Köpfchen, dachte ich und schnackte ihn gleich an. Keine zehn Sekunden später tippten wir, was das Zeug hielt. Ich glaub, das ist ’n echt guter Typ, er scheint klug, witzig und ebenso verquatscht zu sein wie ich. Ungefähr drei Stunden haben wir gechattet, von acht bis elf, dann wollte er schlafen gehen. Schade, von mir aus hätt’s ruhig noch länger dauern können.«

»Wow, das klingt ja toll!« Alexandras Begeisterung war ungekünstelt. Sie wünschte Juliane von Herzen, dass sie sich bald genauso heftig verlieben würde, wie es ihr vor einigen Monaten mit Lorenz geschehen war.

»Ja, nicht wahr? Er hat mir gestern sogar schon verraten, was er beruflich macht, das errätst du nie …«

  

Plötzlich störte das penetrante Klingeln eines Mobiltelefons Julianes mitreißenden Bericht; es war Alexandras Handy. Da es stets in Reichweite lag, nahm sie das Gespräch unverzüglich an.

»Hallo?«, meldete sie sich knapp. Es war Lorenz, der sie aus seinem Auto heraus anrief. Als Alexandra seine Stimme hörte, röteten sich ihre Wangen vor Aufregung. Auf seine Frage, ob er zu ihr kommen könne, antwortete sie auf der Stelle mit einem Ja.

Es fiel Juliane nicht schwer zu erraten, wer der Anrufer gewesen war.

»Und nun soll ich wohl gehen, oder?« Ein verlegenes Nicken von Alexandra war die eindeutige Antwort, begleitet von einer ernstgemeinten Entschuldigung:

»Tut mir leid, aber ich …«

»Ist schon in Ordnung. Außerdem bin ich doch neugierig auf meinen Seeräuber aus dem Chat. Ich wollte ohnehin gucken, ob ich ihn heute nochmal treffe.«

 

Eine Viertelstunde später, kurz nach einundzwanzig Uhr, läutete Lorenz. Kaum, dass Alexandra ihm die Wohnungstür geöffnet hatte, zog er sie an sich. Glücklich schmiegte sie sich in seine Arme hinein – mittlerweile hatte sie den Dreh raus, darauf zu achten, dass weder Spuren ihres Make-ups, noch der Duft ihres Parfums auf seiner Kleidung haften blieben. Von seinem Ellenbogen angestoßen, fiel die Tür nahezu geräuschlos hinter ihnen ins Schloss.

»Gott, ist es schön, dich zu sehen. Bitte verzeih mir, dass ich es gestern canceln musste. Sie hatte Karten besorgt, glaub mir, ich wäre viel lieber bei dir gewesen, als in diesem faden Konzert.« Seine Stimme an ihrem Ohr klang rau, sein Atem fühlte sich warm an. Alexandras Herz raste, sinnliche Aufregung durchpulste ihre Adern. Wie sehr hatte sie den Zeitpunkt ihres Wiedersehens herbeigesehnt!

»Es ist okay, nun bist du ja hier!« Auf Schlag war jede vergossene Träne des gestrigen Abends vergessen.

»Du hast mir gefehlt, Lexi, ich habe es nicht mehr ausgehalten.« Seine Lust auf sie war unüberhörbar, heiße Lippen küssten sich ihren Hals abwärts. Seine Worte gingen ihr unter die Haut und lösten ein wohliges Kribbeln aus. Diese Momente waren es, die ihr die Kraft gaben, die Zeiten zu durchstehen, in denen sie ihn schmerzlich entbehren und mit seiner Frau teilen musste. Zu wissen, dass sie dermaßen stark von Lorenz begehrt wurde, machte jeden Kummer wett.

Als sein liebkosender Mund ihr Schlüsselbein erreicht hatte, schob Alexandra die Finger der rechten Hand in sein dunkles Haar hinein.

»Ich freu mich so, dass du bei mir bist«, schnurrte sie und fuhr mit ihren Fingernägeln bis zu seinem Nacken hinunter. Gleichzeitig spürte sie seine Hände, die sich straff um ihren Hintern legten, parallel zu einer beachtlichen Verhärtung, die sich vorn ungeduldig gegen ihren Schoß drängte.

»Und du freust dich auch, hab ich recht?«, neckte sie ihn, woraufhin er lachte, sie schwungvoll auf seine Arme hob und hochgradig erregt in ihr Schlafzimmer trug.

 

Dort angekommen ließ er sie behutsam auf Decke und Kissen sinken, bevor er sich zu ihr legte und, von innigen Küssen begleitet, Knopf um Knopf ihrer Kleidung öffnete …
Die nächste Stunde gehörte ganz ihnen. Zeit, die mit einer Lüge ergaunert worden war, und die sie mit berauschender Wollust zu füllen wussten.

 

Zeitgleich in einer kleinen Altbauwohnung in Hamburg-Altona …

 

»Na, Paul, schon wieder Hunger?« Kaum, dass Juliane ihre Wohnung betreten und das Licht eingeschaltet hatte, strich ihr der braungetigerte Kater bereits freudig um die Beine. Er maunzte und schnurrte gleichzeitig, während er abwartend zwischen seinem Frauchen und der Futterschale hin und her lief. Selbst als sie ihm den Napf füllte und er zu fressen begann, setzte er sein gleichmäßiges Schnurren fort.

Da sie sich ohnehin in der Küche befand, befüllte sie rasch ihren Wasserkocher und schaltete ihn ein. Einige Handgriffe später hingen zwei Teebeutel in der Thermoskanne und ihr grüner Lieblingsbecher wartete auf der Arbeitsplatte stehend auf seine aromatische Füllung.

 

Nun aber fix den Laptop einschalten, war der nächste Gedanke, der sie auf direktem Weg in ihr Wohnzimmer führte: ein nicht allzu großer Raum, in dem aus Platzmangel nicht mehr als eine Couch, ein Sessel, ein Regal voll zerlesener Taschenbücher und ein simpler, metallener Computertisch Platz fanden. Diesen hatte sie seinerzeit für kleines Geld erstanden und selbst zusammengeschraubt.

In der Hoffnung ihren Störtebeker wiederzutreffen, loggte Juliane sich ein zweites Mal in den Chatroom ein, in dem sie ihm schon am Vorabend begegnet war. Ihr hierfür gewähltes Pseudonym lautete Juli81 – Juli als Teil ihres Vornamens erinnerte an den Sommer, was sie als gelungene Assoziation empfand, und die Zahl 81 bezeichnete ihr Geburtsjahr. Eine Kombination, die auf der einen Seite hilfreich, und auf der anderen nicht unüblich war.

Nachdem sie den Anmelde-Button geklickt hatte, beschleunigte sich ihr Pulsschlag und ihre Wangen bekamen Farbe. Dort stand er, sein Chatname! In der Liste der Teilnehmer sprang er ihr unmittelbar ins Auge: Störtebeker, der Hamburger Jung, ein Nordlicht, wie sie selbst auch eins war.

Nach einer lässigen Begrüßung fanden sie geradewegs zurück in ihr Gespräch, waren wieder vertraut miteinander, wie am Tag zuvor. Juliane fiel auf, dass er sehr schnell persönlicher wurde, ihr Einzelheiten seiner Gefühlswelt offenlegte, die sie zu einem frühen Zeitpunkt wie diesem nicht erwartet hätte. Auf eine gewisse Art mochte sie seine Ehrlichkeit, hinzu kam, dass seine Sätze locker formuliert waren und seine Ausdrucksweise typisch norddeutsch anmutete – ein weiterer Pluspunkt.

Von Minute zu Minute wurde ihr der Hanseat sympathischer. Äußerst anziehend gestand er ihr, dass er am vorherigen Abend mit großem Herzklopfen ins Bett gegangen sei und an nichts anderes hatte denken können, als an sie. Eine Zeile nach der anderen füllte ihren Bildschirm, sie zu lesen tat Juliane mehr als gut:

 

  • Störtebeker: Hey, so ein klasse Mädel wie dich habe ich noch nie getroffen. Du löst da ordentlich was in mir aus! ;-)
  • Juli81: Ui, echt?
  • Störtebeker: Es hat gereicht, dass ich nicht einschlafen konnte. Kopfkino mit dir in der Hauptrolle. ;-)
  • Juli81: He, das freut mich! :-) Ich muss auch immerzu an dich denken und hab grad schon ganz begeistert von dir erzählt!
  • Störtebeker: Aha? Und wem?
  • Juli81: Meiner Freundin Alex. Ich war bei ihr, und wenn es gegangen wäre, hätte ich endlos von unserem Chat gestern schwärmen können ...
  • Störtebeker: Wollte sie nicht?
  • Juli81: Doch, aber sie kriegte Besuch. Was hast du denn Schönes getan, um dir die Zeit zu vertreiben, als du nicht einschlafen konntest?

 

Bei dieser Frage dachte Juliane an Beschäftigungen wie Lesen oder Fernsehen. Was sie jedoch als Antwort bekam, ließ ihre Wangen gänzlich erröten und schmeichelte ihr auf eine besondere Weise:

 

  • Störtebeker: Willst du das wirklich wissen? Da hättest du unter meiner Bettdecke Mäuschen spielen müssen.
  • Juli81: Hey, du Angeber! :-))) Du weißt ja noch nicht einmal, wie ich aussehe.
  • Störtebeker: Dann beschreib dich doch mal!
  • Juli81: Nach dir! :-)
  • Störtebeker: Also, ich bin 38 Jahre, knapp 1,90 m groß, habe blaue Augen und blonde Haare. Ich segle gern, noch lieber gehe ich aber surfen. Da bin ich näher an den Wellen dran. Weiter?
  • Juli81: Na logisch!
  • Störtebeker: Ich lebe seit kurzem in Hamburg, geboren bin ich aber in Lübeck. Und ein altes Auto habe ich, einen VW-Bus, der ist praktisch um die Boards und den übrigen Krempel zum Surfen mitzunehmen.
  • Juli81: Hast du Geschwister? Ich leider nicht. Als Kind habe ich mir immer eine Schwester gewünscht, zum Geheimnisseteilen.
  • Störtebeker: Ich hab zwei davon, aber erzählen würde ich denen nichts. Die tratschen alles weiter. ;-)
  • Juli81: Da hast du mir immerhin etwas voraus. Du schriebst gestern, dass du Lehrer am Gymnasium bist?
  • Störtebeker: Ja, stimmt. Womit verdienst du deine Brötchen denn so?
  • Juli81: Nichts Besonderes. Ich arbeite im Callcenter.
  • Störtebeker: Klingt interessant.
  • Juli81: Ach Quatsch
  • Störtebeker: Nicht?
  • Juli81: Nein, es ist alles andere als das. Das, was du machst, ist spannend! Mit Kindern und Jugendlichen zusammen zu sein, mit ihnen zu arbeiten, Wissen zu vermitteln. Das ist doch klasse! Und in den Abijahrgängen sicher auch nicht ganz einfach. Naja, aber auf der anderen Seite sind die Schüler fast schon erwachsen, da wird es wieder leichter, weil die nicht so viel rumkaspern, oder?
  • Störtebeker: Hast du ne Ahnung ... *g* Magst du mit Teenagern zu tun haben?
  • Juli81: *lach* Nee, eigentlich nicht so gern, Kinder sind niedlicher. :-) Warum fragst du?

 

Eine kurze Pause entstand, in der Juliane aufgeregt einen Schluck des bereitgestellten Früchtetees nahm. Vor Nervosität waren ihre Hände kalt und ihre Schultern verspannten sich, da kam ihr das duftende Heißgetränk ganz recht. Passend dazu war es unlängst zu einer liebgewonnenen Angewohnheit geworden, sich vor einem länger dauernden Internetchat eine Kanne Tee zuzubereiten, den sie im Laufe der Unterhaltung trank. Ein kleiner Trick, mit dessen Hilfe sie sich davon abhielt, nebenbei Schokolade oder andere Süßigkeiten zu knabbern.
Kaum hatte sie jedoch ihren grasgrünen Becher wieder abgestellt, erschien seine Antwort auf dem Monitor. Erwartungsvoll starrte sie nach vorn:
 

  • Störtebeker: Ach, nur so ... Ist halt meine tägliche Arbeit. Nun bist du dran! Bin schon ganz heiß darauf, alles von dir zu erfahren!
  • Juli81: Okay, ich bin 29 Jahre alt. Aber nicht mehr lange, an Silvester werde ich 30. Bin 1,73 m groß, und hellblond. Meine Haare sind etwas über schulterlang.
  • Störtebeker: Klingt hübsch, bestimmt siehst du hammergeil aus. ;-)
  • Juli81: Du machst ja tolle Komplimente! Ach so, meine Augen sind grau-blau. So ähnlich wie deine. Da du surfst, interessierst du dich sicher für Sport, oder?
  • Störtebeker: Ja, total. Außerdem unterrichte ich dieses Fach, neben Mathe und Physik.
  • Juli81: Das mag ich. Überhaupt gefällst du mir immer besser! :-)
  • Störtebeker: Hey, das lese ich gern. Geht mir auch so, ich bin auf dem besten Wege, mich komplett in dich zu verknallen!

 

Juliane hielt mit dem Schreiben inne. Immer wieder las sie seinen letzten Satz, er kribbelte wie ein Ameisenstaat in ihrem Bauch. Sorgsam überlegte sie, was sie ihm hierauf antworten wollte. Während sie noch nachdachte, hatte er bereits die nächste, sehr persönliche Frage in Vorbereitung:
 

  • Störtebeker: Glaub mir, ich weiß, dass ich das, was ich nun fragen werde, später bereue, aber lassen kann ich es nicht.
  • Juli81: Hm? Was meinst du? Was willst du denn wissen?
  • Störtebeker: Nur eine Sache: Wie sieht es mit deinem Body aus, so gewichtstechnisch? Bitte haue mich jetzt nicht! ;-)
  • Juli81: Du hast recht, das fragt man eine Dame wirklich nicht! *gg*

 

Und Juliane hütete sich, ihm auf diese Frage ehrlich zu begegnen. Dass sie ein paar Kilos zu viel auf der Hüfte hatte, brauchte er vorerst nicht zu erfahren, zu sehr fürchtete sie, ihn mit der Wahrheit zu verschrecken. Hiermit würde er bei einem eventuellen Date früh genug konfrontiert werden, befand sie. Außerdem, so beruhigte sie sich, bestand bis dahin immer noch die Möglichkeit einige Pfunde loszuwerden.
Doch was sollte sie erwidern? Nach wie vor war sie ihm die Antwort schuldig. Diesen Punkt komplett zu ignorieren, könnte auf ihn wirken, als schämte sie sich eines besonders hohen Gewichts. Also griff sie zu einer kleinen Notlüge und schummelte sich zehn Kilogramm leichter, indem sie ihm vorschwindelte, ihre Waage hätte am Morgen noch siebzig Kilo angezeigt.
Es war ihr bewusst, dass sie sich mit ihrer wissentlichen Trickserei eine neue Gewichtsmarke gesetzt hatte, die es bis zu einem Treffen mit ihm zu erreichen oder besser, zu unterbieten galt. Zu diesem Zeitpunkt jedoch war ein Date mit ihm in weiter Ferne, jetzt zählte einzig die Tatsache, dass sie ihn sinnbildlich an der Angel hatte. Und zu ihrer großen Freude gefiel ihm außerordentlich, was er von ihr las.

 

Je weiter der Abend voranschritt, desto inniger gestaltete sich ihr Austausch. Schon bald schwenkte Störtebeker zurück auf die Themen Liebe, Romantik und Gefühle. Er schrieb ihr die halbe Nacht hindurch, wie verliebt er bereits in sie war und wie sehr ihn ihre Worte unter Strom setzen würden. Immer tiefer ging ihr Gespräch; er erzählte viel, intensivierte sein Flirtverhalten spürbar.

Als Juliane am Ende ihres virtuellen Dialogs glücklich in ihr Bett stieg, erging es ihr wie ihrem Internetfreund in der Nacht zuvor. Ihre Gedanken waren ausschließlich bei ihm und bevor es ihr endlich gelang einzuschlafen, fasste sie den festen Vorsatz, diesen Chatroom baldmöglichst wieder zu besuchen.

Am Flughafen

 

Während Juliane einige Stadtteile entfernt noch angeregt mit ihrer neuen Internetbekanntschaft gechattet hatte, lag Alexandra schon wieder allein im Bett. Im Raum war es dunkel; Lorenz hatte beim Hinausgehen alle Lichter hinter sich gelöscht.

Auf dem Laken unter sich fühlte sie noch die Spuren ihres kurzen, verbotenen Liebesabenteuers. Feucht und vollkommen zerwühlt, der Stoff noch warm von seinem Körper, schmiegte es sich an ihre nackte Haut. Sie vermisste ihn, dass es schmerzte, doch als er in seine Kleider gestiegen war, hatte sie gelächelt und die starke Geliebte gemimt.

Kaum war er jedoch aus dem Zimmer gegangen, hätte sie heulen können; das Gefühl des Verlassenseins lastete zentnerschwer auf ihrem Herzen. Alexandra schloss die Augen. Der Gedanke, dass er in dieser Minute im Wagen saß und zurück zu seiner Ehefrau fuhr, war nicht zu ertragen.

Heute war er unter dem Vorwand bei ihr gewesen, einige Papiere aus dem Büro holen zu müssen. Nicht selten waren es länger andauernde Meetings oder plötzlich anberaumte Termine, die als Ausreden für ein späteres Nachhausekommen herhalten mussten. Ständig neue Lügen, ein inszeniertes Stück des echten Lebens – die einzige Möglichkeit, einander nahe sein zu können.

 

Gern würde Alexandra sich zum Trost ein Foto von Lorenz ansehen oder einige liebe Worte von ihm in einer E-Mail lesen, doch nichts dergleichen existierte.

Er verlangte von ihr, dass sie eingehende Nachrichten oder Anrufe sofort entfernte. Seine Daten kontrollierte er ebenso penibel: Jede Mitteilung, die er geschrieben hatte, sowie sämtliche ausgehende Telefonate löschte er unverzüglich aus dem Speicher seines Mobiltelefons. Er wollte unter allen Umständen vermeiden, dass sie Spuren hinterließen; seine Sorge um eine Enthüllung ihrer Liebschaft war enorm. Auf der einen Seite verstand sie seine Vorsicht, auf der anderen fiel es ihr unsagbar schwer, keinen Kontakt zu ihm pflegen zu dürfen. Hierfür hatte sie ihm absolutes Stillschweigen versprechen müssen. Dies zählte auch für die Kontaktaufnahme – wenn eine Verbindung aufgebaut wurde, dann ging der Impuls von ihm aus, so war seine Bedingung. Es war ihr strikt untersagt, ihm eine Botschaft über etwaige Messenger, per SMS oder gar eine E-Mail zukommen zu lassen, Gleiches galt für einen Telefonanruf. Das Risiko war ihm zu groß, obwohl es, realistisch betrachtet, verschwindend gering war, wie Alexandra meinte. Doch ihre Ansicht war nicht von Belang, in diesem Spiel bestimmte Lorenz die Regeln. Sie konnte nichts tun, als zu warten, dass er sich bei ihr meldete und sich für diesen Fall bereitzuhalten.

 

Dass Alexandra durch ihre Rolle der Schattenfrau einen beträchtlichen Teil ihrer Freiheit für ihn aufgab, war ihr bewusst, und um diesen Umstand erträglich zu halten, suchte sie die Vorteile für sich heraus: Aufgrund der Tatsache, dass sie in den meisten Situationen wenig Vorlaufzeit bis zu Lorenz’ Erscheinen hatte, befand sich ihr Körper stets in einem tadellos gepflegten Zustand. Die Zeiten, in denen der innere Schweinehund gesiegt und sie auf dem Sofa festgehalten hatte, wenn wieder einmal eine unangenehme Haarentfernung mit Heißwachsstreifen geplant gewesen war, gehörten der Vergangenheit an. Täglich stand sie in der Dusche und entfernte jedes störende Härchen an Beinen, Achseln und in der Bikinizone. Sie gönnte sich den Friseur öfter als früher, ebenso die Nagel- und Hautpflege von professioneller Hand. Von der schicken Kleidung ganz zu schweigen, die ihren Kleiderschrank füllte, seit sie die Beziehung mit dem verheirateten Geschäftsmann begonnen hatte. Wenn er sie zum Essen ausführte, trug sie niemals dasselbe Outfit zweimal, und zu intimen Verabredungen überraschte sie ihn mit geschmackvollen Dessous. Selbst hier gebot es ihr eigener Anspruch, dass er nicht bereits nach sieben Nächten ihr gesamtes Wäschesortiment auswendig kennen sollte.

 

Mit ihrem Kühlschrank verhielt es sich ähnlich. Auch sein Inhalt war überaus edel: teurer Champagner, exquisite Trüffelpralinen als süßer Genuss zwischendurch und feinster Käse, den sie ihm gern mit frischem Baguettebrot und einem guten Wein servierte.

Weitere Aspekte ihrer Position als Geliebte ließen sich ebenso hervorragend beschönigen, wenn sie sich, wie in diesem Augenblick, einsam und alleingelassen fühlte: dass sie nur die schönen Stunden miteinander teilten, dass seine Leidenschaft ihr allein gehörte und das Feuer der Begierde ihnen erhalten blieb, da es nicht von Alltagssorgen erstickt wurde. Sie musste nicht für ihn putzen, den Einkauf erledigen und familiäre Pflichten mit ihm wahrnehmen.

Nein, dachte sie resigniert seufzend, das macht die glückliche Frau, die abends neben ihm einschlafen darf und mit der er das Weihnachtsfest feiern wird, während ich hier auf ihn warte. Jenes mochte Alexandra sich noch gar nicht vorstellen, obwohl es bereits in wenigen Wochen so weit sein würde. Bevor ihr jedoch schwermütige Zukunftsvisionen wie diese die Laune gänzlich verdarben, zwang sie sich, an etwas Erfreulicheres zu denken. Wie so oft half es ihr dabei, sich die Bilder ihres Kennenlernens ins Gedächtnis zu rufen, sie ähnlich einem romantischen Film vor dem inneren Auge ablaufen zu lassen – eine Methode, die immer wieder verlässlich funktionierte.

 

Lächelnd rollte Alexandra sich in ihre Bettdecke ein und ließ in ihrer Erinnerung den Tag Revue passieren, an dem sie einander erstmalig begegnet waren: Der zweiundzwanzigste Juli 2011 – dieses Datum würde sie nie mehr vergessen. Sie dachte oft an jenen Freitag im Sommer zurück: der erste Blick, sein selbstbewusstes Auftreten, die Funken, die spürbar zwischen ihnen gesprüht hatten. Es war am Flughafen Hamburg geschehen, am ersten Urlaubstag eines befreundeten Pärchens, das Alexandra gebeten hatte, es mitsamt ihren zahlreichen Koffern und Taschen dorthin zu bringen.

Auf dem Weg zum Terminal war das Paar merklich aufgeregt gewesen und hatte, den voll beladenen Gepäckwagen vor sich herschiebend, in glänzender Laune miteinander herumgealbert. Sie waren derart ausgelassen, dass sie den Geschäftsmann übersahen, der in Gedanken vertieft vor ihrer kleinen Gruppe die Flughafenhalle durchquert hatte. Kurz zuvor aus dem Flugzeug gestiegen, war er mit dem Kopf noch bei den Ergebnissen seines Auslandsmeetings gewesen, so dass er das lachende Dreiergespann hinter sich ebenso wenig wahrgenommen hatte, wie es ihn.

Es war die mollige Susanne, die das sperrige Gefährt in einem Moment der Unachtsamkeit schwungvoll in Lorenz’ Beine gesteuert hatte. Der unerwartete Zusammenprall war heftig, er hatte ihn derart ins Straucheln geraten lassen, dass er einige Schritte nach vorn gestolpert war. Die Aktenmappe fest umklammert, hatte er sich allerdings rechtzeitig fangen und einen Sturz abwenden können.

 

Höchst verärgert war Lorenz zu ihnen herumgeschnellt und hatte erbost, während er seinen Anzug wieder herrichtete, in die Runde der Unfallverursacher geschaut. Als Alexandra jedoch in seinen Fokus gelangt war, hatte er seine Augen nicht von ihr abwenden können. Susanne entschuldigte sich indessen wortreich, doch das erholungsbedürftige Pärchen war nebensächlich für ihn geworden, sein Interesse hatte allein ihrer Fahrerin gegolten. Länger als es nötig gewesen wäre, war sein Blick auf ihr haften geblieben, und obgleich die rundliche Urlauberin in spe sichtlich zerknirscht auf ihn eingeredet hatte, sah er ausschließlich Alexandra an.
Diese war seinem Blickkontakt nicht ausgewichen. Der Manager hatte ihr auf Anhieb gefallen; sie empfand ihn schon damals als ausgesprochen gut aussehend, obwohl die Nase zu spitz und der Ausdruck seines Gesichts für allgemeine Begriffe zu hart war, um als herkömmlich schön zu gelten. Doch gerade das hatte die Faszination für sie ausgemacht: Das markante Äußere verlieh ihm eine Ausstrahlung kühler Überlegenheit. Seine beachtliche Körpergröße und die hellblauen Augen unterstrichen dies zusätzlich. Ein gelungener Kontrast zu seinen tiefschwarzen Haaren.

 

Nach dieser bedeutungsvollen Kollision waren die Reisenden weitergezogen, um ihr Ziel, den Check-in-Schalter, pünktlich zu erreichen. Mit guten Wünschen für einen angenehmen Flug hatte Alexandra ihren Freunden daraufhin nachgewunken, bis sie hinter einer Absperrung aus ihrem Sichtfeld verschwunden waren.
Ihr Weg zurück hatte sie an einer Vielzahl von Restaurants, Zeitschriftenläden und Cafés vorbeigeführt. Noch heute glaubte sie an Vorbestimmung, wenn sie darüber nachdachte, dass Lorenz ihr ein zweites Mal an diesem Ort begegnet war, obwohl es dort aufgrund der Ferien- und Hauptreisezeit von Menschen nur so gewimmelt hatte.

 

Schon von Weitem war er ihr in der kleinen Coffeebar aufgefallen – sie hatte ihn an einem der Fenstertische vor einer Tasse Kaffee sitzen sehen, konzentriert in einem Stapel Unterlagen lesend.

Ermutigt durch seine vorhergehenden, äußerst interessierten Blicke, war sie selbstsicher eingetreten und hatte ihn kurzerhand angesprochen. Überrascht hatte Lorenz den Kopf gehoben und aufschaut – sichtlich erfreut, sie derart unerwartet wiederzusehen, war ihr Lächeln gern von ihm erwidert worden.

»Hallo, ich will nicht stören …«

»Nein nein, setzen Sie sich doch.« Er deutete auf den Stuhl, der seinem gegenüberstand, während er zeitgleich die Papiere von der Tischplatte genommen, sie flüchtig geordnet und umstandslos in seiner Aktenmappe verstaute hatte.

»Oh, danke. Ich hoffe, es tut nicht mehr allzu sehr weh?«

»Wollen Sie eine höfliche oder eine ehrliche Antwort?«

»Unbedingt die Ehrliche.« Bei ihrer Entgegnung hatte er die Hand gehoben, um die Servicekraft an den Tisch zu bitten und für seine Gesprächspartnerin ebenfalls eine Bestellung aufzugeben. Sofort darauf war sein Blick in ihre Augen zurückgekehrt.

»Der Stoß war nicht ohne, und ja, ein bisschen merke ich’s noch. Daran werde ich mich sicher noch ’ne Weile erinnern …«, hatte er verschmitzt grinsend erklärt.

 

Alexandra erinnerte sich an jedes Wort, das nach einer kurzen Vorstellung zwischen ihnen gesprochen worden war, und wie ausgesprochen intensiv er sie angeschaut hatte, während er unbewusst mit ihr flirtete. Seine scheinbar unmissverständlichen Absichten waren ihm schlichtweg passiert, für sie hingegen hatte sich sein Verhalten als eindeutig dargestellt.

Heute wusste sie, dass Lorenz nicht der Typ Mann war, der seine Frau leichtfertig betrogen hätte. Sie glaubte ihm, dass ein Seitensprung für ihn bis dato nicht in Frage gekommen war und er ihn auch zu diesem Zeitpunkt nicht ernsthaft erwogen hatte. Und dies, obwohl sein Blick mehrmals dezent über Alexandras kurzen Rock gehuscht war und er sich an ihrem langen Haar nicht hatte stattsehen können. Ihm war, wie er es später beschrieb, als wäre er von ihrer Gegenwart wie elektrisiert gewesen.

Aufgewühlt und voller Freude war sie auf seine vermeintliche Annäherung im Flughafencafé eingestiegen. Da kein Ring seine gepflegten Hände geziert hatte, schon gar kein Trauring, hatte sie in Lorenz eine Person vermutet, die wie sie selbst frei und ungebunden war. Wie viele andere Frauen auch, achtete Alexandra auf Feinheiten wie diese stets zuerst, wenn sie sich auf eine neue Bekanntschaft einließ.

Dass er seinen Ehering an jenem Nachmittag nur deshalb nicht trug, da er ihn wenige Tage zuvor für Gartenarbeiten in der Garage abgelegt und dort vergessen hatte, konnte sie nicht wissen. Im Nachhinein war sein Fehlen ein weiterer Grund für Alexandra, an ein Schicksal zu glauben, dass ihre Verbindung zueinander förderte und guthieß. Denn hätte sie zu diesem Zeitpunkt bereits von seiner langjährigen Ehe Kenntnis gehabt, wäre sie nie auf die Idee gekommen, ihm ihre Telefonnummer zuzustecken, die sie auf das nächstbeste Stückchen Papier gekritzelt hatte, während er vom Tisch aufgestanden war, um die Rechnung zu begleichen.

Als sie sich zum Abschied die Hände schüttelten, hatte sie ihm die abgerissene Ecke der Serviette wie beiläufig in die Handfläche gedrückt.

Ohne sich noch einmal umzusehen, war sie daraufhin schnellen Schrittes aus dem Ankunftsterminal des Flughafens verschwunden. Ihr Herz hatte wie verrückt gehämmert; niemals zuvor war sie derart verwegen gewesen, einem Mann auf eine so eindeutige Weise zu zeigen, dass sie ihn wiedersehen wollte.

 

Sein Anruf hatte sie am darauf folgenden Montag erreicht. Ein unbekannter Gesprächsteilnehmer – so war es ihr im Display des Handys angezeigt worden. Gespannt hatte sie das Gespräch angenommen:

»Jacobs?« Einen Atemzug lang war es still am anderen Ende der Leitung. Ob er es ist?, hatte sie sich nervös gefragt. Er war es. Nicht minder aufgeregt als sie selbst, da er sich bis zuletzt nicht hatte sicher sein können, ob die Telefonnummer vom Papierschnipsel überhaupt existierte. Zudem war es mehr als ungewiss, ob hinter der Frau, die sich soeben unter der fremden Nummer meldete, tatsächlich diejenige steckte, die ihm das gesamte Wochenende nicht aus dem Kopf gegangen war.

Kurz darauf hatte ihr Anrufer seine Stimme wiedergefunden – es war ein tiefes Räuspern zu hören gewesen, bevor er zu Sprechen angesetzt hatte:

»Ich glaube, wir sind uns am Flughafen begegnet.« Eine unverbindliche Aussage und, obgleich sie einander bereits bekannt waren, ohne seinen Namen als Erster nennen zu müssen. Alexandra jedoch war es gleich, in ihrem Überschwang hatte sie nicht auf Nuancen wie diese geachtet.

Da ist er! Er hat sich wirklich gemeldet. Ihr Gesicht war ein einziges Lächeln.

»Herr Talbach! Ja, das ist richtig, wir kennen uns aus dem Café.« Reichte die Bestätigung aus?, hatte sie sich gefragt. Unsicherheit war in ihr aufgestiegen, sie hatte sie deutlich am Zittern ihrer Knie und der Hitze auf den Wangen gespürt. Nicht verwunderlich – eine Kontaktaufnahme dieser Art war nie zuvor von ihr initiiert worden. Was dürfte sie sagen? Wie hätte es weitergehen können? Ihm ohne Umschweife zu gestehen, dass sie ihn liebend gern wiedersehen wollte, wäre keinesfalls in Frage gekommen. So hatte sie für einen kurzen Augenblick ratlos geschwiegen, was von dem Geschäftsmann jedoch, bevor es hätte unangenehm werden können, charmant durchbrochen worden war.

»Ich denke, da wir schon miteinander telefonieren, sollten wir uns auch duzen. Mein Name ist Lorenz.«

 

Die Funken des vergangenen Freitags stoben erneut; schnell hatten sie zurück in ihren lockeren Flirt gefunden, als wäre ihr Gespräch im Coffeeshop des Flughafenterminals nie unterbrochen worden. Die Anziehung füreinander war nahezu greifbar gewesen, prickelnd wie Champagner hatte sie jeden ihrer Sätze durchzogen, insbesondere die unausgesprochenen, deren vielsagende Gesprächspausen der andere jedoch richtig zu deuten gewusst hatte.

 

Nach ihrer Gedankenreise in frühere Zeiten fühlte Alexandra sich besser, ein Teil ihrer Niedergeschlagenheit war in den aufregenden Bildern des ersten Kontakts untergegangen. Sogar ein leichter Anflug von Stolz erfasste sie – darauf, dass Lorenz erneut das Risiko eingegangen war, für sie zu lügen und sich von zuhause fortzustehlen.

Waidmannsheil

 

Einen Tag später, Sonntag …

 

Kaum, dass seine Frau das Haus verlassen hatte, zog Lorenz das Mobiltelefon aus der Hosentasche. Um sicherzugehen, dass sie tatsächlich davonfuhr, stellte er sich an das Fenster seines Arbeitszimmers im ersten Stockwerk. Von hier aus hatte er eine gute Sicht auf die Grundstückseinfahrt, aus der soeben Judiths Auto rollte. Von einem Vorhang verborgen, gab er mit fliegenden Fingern Alexandras Telefonnummer in das Ziffernfeld des Handys ein.

»Hallo Kleines«, meldet er sich vertraulich, nachdem sie das Gespräch entgegengenommen hatte.

»Ich habe zwei Stunden. Können wir uns sehen?«

»Ja, sehr gern. Wollen wir spazieren gehen? Im Wald vielleicht?«

»Um ehrlich zu sein, dachte ich an etwas ganz anderes …«

»Ach, bitte.« Alexandra hoffte inständig, er würde einwilligen – die Gelegenheit war günstig, endlich das verwegene Vorhaben in die Tat umzusetzen, das sie seit längerem für einen Ausflug wie diesen geplant hatte.

»Gut, ich hole dich ab. Bis gleich!«

 

Als er sich von ihr verabschiedete, nahm er bereits die Treppe nach unten. Rasch warf er sich seinen Mantel über, zog den Schlüsselbund vom Haken und trat aus der Tür heraus. Ein stürmischer Wind empfing ihn, die feuchtkalte Herbstluft kroch ihm unter die Kleidung. Ein Spaziergang, das kann nicht ihr Ernst sein, dachte er gereizt und zog auf dem Weg zur Garage automatisch den Kopf zwischen die Schultern, um eilig durch das aufwirbelnde Laub zu hasten.

An einem Sonntagnachmittag wie diesem kam er in der Stadt gut voran, so gestaltete sich die Fahrt vom Stadtteil Winterhude bis hin zu Alexandras Wohnung nach Eppendorf kürzer, als zuvor angenommen.

Während er vor ihrem Wohnhaus hielt und auf sie wartete, fiel ihm siedendheiß ein, dass Judith unter diesen Voraussetzungen ebenso zügig zu ihrem Ziel kommen und entsprechend früh wieder daheim sein könnte. Er musste diese Gegebenheit zwingend berücksichtigen. Wie bei jeder ihrer heimlichen Begegnungen mahnte er sich, auf keinen Fall die Uhr aus dem Blick verlieren zu dürfen, sei Alexandra noch so verlockend.

 

Es war nicht der erste Sonntag, an dem er die nachmittägliche Abwesenheit seiner Frau nutzte, um seine jüngere Geliebte zu treffen. Speziell seit Beginn der Affäre kam es ihm mehr als gelegen, dass es für Judith und ihre Schwester Tamara zur Gewohnheit geworden war, regelmäßig zum Haus der Eltern nach Finkenwerder zu fahren, um dort nach dem Rechten zu sehen. Den alten Herrschaften fiel es zunehmend schwerer, die Alltäglichkeiten des Lebens im Griff zu behalten.

Annemarie und Wilhelm Seiler waren bodenständige Menschen, die es sich zum Ziel gesetzt hatten, ihre Töchter zu Tugenden wie Ordnungssinn, Pflichtbewusstsein und Fleiß zu erziehen. Sie nannten ein kleines, weiß verputztes Haus ihr Eigen, das unmittelbar an der Elbe gelegen, eine idyllische Gemütlichkeit ausstrahlte.

In den letzten Monaten jedoch waren die beiden Senioren spürbar gealtert; es ließ den Frauen keine Ruhe, nicht zumindest einmal wöchentlich bei ihnen vorbeizuschauen. Oftmals wechselten sie sich ab, an manchen Wochenenden aber trafen sie gemeinsam dort ein, um mit Mutter und Vater bei Kaffee und selbstgebackenem Kuchen zu plaudern, die Post durchzusehen und demnächst Anliegendes zu besprechen.

Judith schätzte es, wenn er sie dorthin begleitete, dessen war Lorenz sich bewusst, doch an diesem Tag wollte er es ebenso wenig wie in den Wochen davor.

 

Süße, einmalige Stunden, unerlaubtes Vergnügen – wie magnetisch angezogen hatte es ihn zu seiner Gespielin getrieben. Als er am Morgen von Judith gefragt worden war, ob er mit ihr zu den Eltern kommen würde, hatte er seiner Ehefrau unverfroren ins Gesicht gelogen: Er müsse die Papiere durchsehen, die er am Abend zuvor aus der Firma geholt hatte.

Mit Alexandra wehte einen Schwall frischer Herbstluft in das Innere des Wagens hinein. Sie strahlte ihn an, zwinkerte ihm unbeschwert zu und strich ihm zur Begrüßung mit ihren Fingerspitzen aufreizend durch die Handfläche. Augenblicklich flutete die Wärme ihrer Haut seinen gesamten Körper. Verheißungsvolle Berührung – alles in ihm verlangte nach mehr davon. Er legte seine Finger über ihre und hielt sie einige Sekunden lang fest in seiner Hand. Wenig später fuhr er los.

Ihrem Wunsch entsprechend steuerte er das Waldgebiet außerhalb der Stadt an. Ein beliebtes Ausflugsziel für Familien, speziell an den Wochenenden. Angesichts des überfüllten Besucherparkplatzes zog Lorenz missbilligend die Stirn in Falten.

»Großer Gott, was ist hier denn los? Gibt’s etwas umsonst oder sind wir auf einem Volksfest gelandet? Hier bleiben wir auf keinen Fall.« Sich mit Alexandra unter die zahlreichen Waldspaziergänger zu mischen, kam für ihn nicht in Frage. Für seine verbotene Liebschaft konnte er kein Publikum gebrauchen.

»Nein, das geht schon! Aber wir parken woanders. Du musst an der Einfahrt vorbei und dann gleich wieder rechts!« Alexandra wedelte mit der Hand in die von ihr angegebene Richtung.

»Und du meinst, dort ist weniger Betrieb?«

»Ja, bestimmt. Da ist garantiert niemand.« Um ihm die Skepsis zu nehmen, berichtete sie lebhaft aus Kindertagen, in denen sie sich mit Freunden, die in dieser Gegend wohnten, zum Spielen in jenem Wald verabredet hatte. Aus dieser Zeit wusste sie von einer Zufahrt, die abgelegen und äußerst versteckt lag. Nur wer sich auskannte, war imstande, sie zu finden, erläuterte sie. Nachdem er sich einverstanden erklärt hatte, lotste sie Lorenz mitsamt dem breiten Audi ortskundig durch enge Waldwege zu einem von dichten Sträuchern und hohen Bäumen flankierten Sandplatz.

 

Sie lösten den Sicherheitsgurt und fielen einander in die Arme. Alexandra beugte sich weit über Lorenz, ihr langes Haar kitzelte sein Gesicht. Als ihre Lippen seine berührten, stützte sie sich auf der Schulter und seinem Oberschenkel ab.

Nur zu gern erwiderte er ihren zärtlichen Kuss, streichelte unter der Bluse zuerst ihre Taille, gleich darauf den zarten Ansatz ihrer Brüste, wobei er seine Fingerspitzen in das raffinierte Oberteil ihrer Wäsche schickte. Ihr gemeinsames, leises Stöhnen mischte sich mit dem Herbstwind außerhalb des Fahrzeugs.

Das Zentrum seiner schwarzen Jeans hob sich sichtbar an; mit leichtem Druck schob Alexandra ihre Hand auf die harte Ausbeulung. Ein Gefühl, verzehrend und überwältigend zugleich. Lorenz ahnte, dass er in einen lustvollen Strudel zu geraten drohte, dem er bald nicht mehr würde entkommen können.

»Stopp, Lexi …«, flüsterte er daher entschlossen, »lass uns jetzt in den Wald aufbrechen.« Doch sie tat, als hörte sie ihn nicht. Ihre Finger lagen warm in seinem gut gefüllten Schritt, begannen, ihn behutsam zu massieren. Ihr verlockender Mund verwöhnte ihn mit heißen Küssen. Unwillkürlich schloss er seine Augen und konnte ein weiteres genussvolles Seufzen nicht unterdrücken. Wie von selbst drängte er sich ihrer Hand entgegen, stieg auf ihre Liebkosungen ein. Als er jedoch spürte, dass Alexandra sich auf sein Knie hob, öffnete er die Augenlider.

»Nein, warte!« Er umfasste ihre Hand mit seiner. »Was machst du, du willst doch wohl nicht hier …?« Für die Dauer eines Wimpernschlags trafen sich ihre Blicke. Er brauchte seine Frage nicht zu beenden, das verwegene Aufblitzen ihrer Augen war ihm Antwort genug.

»Lexi, nein! Die Leute könnten uns sehen.«

 

Im nächsten Moment berührten ihre Lippen sanft seine Ohrmuschel; sie wisperte ihm lächelnd Anzüglichkeiten zu, die ihre Wirkung nicht verfehlten. Die Worte heizten seine Phantasie zusätzlich an, gossen Öl in das Feuer seiner Libido. Gleichzeitig führte sie seine Finger verspielt unter ihren Rock, was er ihr angesichts des nicht vorhandenen Höschens mit einem hemmungslosen Aufstöhnen quittierte.

»Du scharfes Biest, von wegen Spazierengehen …«, keuchte er und glaubte seine gewaltige Erektion müsste ihm die Hose geradezu sprengen. Und obwohl er bereits fern jeder Vorsicht weilte, gelang es ihm, den Rest seiner Selbstbeherrschung zusammenzuraffen. Seine Stimme bebte vor Erregung, als er Alexandra bat, ihre unwiderstehliche Verführung in einem anderen Umfeld fortzusetzen:

»Bitte mach nicht weiter, auch wenn du es noch so gern möchtest. Glaube mir, ich will den Sex nicht weniger als du, aber nicht hier. Wir fahren schnell in deine Wohnung, was sagst du?«

»Nein, es ist wunderbar hier, perfekt dafür geschaffen. Versuche einfach, dich fallenzulassen und zu genießen«, forderte sie ihn mit unverhohlener Lust auf. Lorenz jedoch wollte achtsam bleiben, traute sich nicht, das Risiko einzugehen, an einem öffentlichen Platz wie diesem mit seiner Geliebten erwischt zu werden.

»Gott, Lexi«, flüsterte er heiser, »ich muss dir nicht sagen, wie geil ich auf dich bin und wie gern ich’s mit dir treiben würde.« Bei diesen Worten wanderten seine Finger ihren glattrasierten Venushügel abwärts.

»Dann lass es uns tun«, schlug sie lasziv vor, »ich will es auch. Fühlst du, wie sehr?« Ihre Hand legte sich um seine, dirigierte sie tiefer, bis er die reichhaltige Nässe ihres Eingangs an seinen Fingerkuppen spürte. Lorenz’ Atmung beschleunigte sich, seine Vernunft kapitulierte. Doch Fortuna war auf ihrer Seite; keine Menschenseele kam vorbei, um sie bei ihrem unerlaubten Liebesspiel auf dem Fahrersitz seines Autos zu entdecken.

 

Auf der Rückfahrt verspürte Alexandra neben einem betörenden Glücksgefühl eine tiefgehende Zufriedenheit. Sie ging fest davon aus, dass es ihr einmal mehr gelungen war, Lorenz zu überzeugen, dass sie die Frau war, die ideal zu ihm passte. Aufgeschlossen, wagemutig und offen für erotische Überraschungen. Völlig anders, als seine Ehefrau sich ihm gegenüber gab.

Herbstabend in Hamburg

 

Am Nachmittag des folgenden Mittwochs …

 

Vier Tage war es schon her, dass Störtebeker in ihrer Chat-Unterhaltung bereits von einem Gefühl der Verliebtheit gesprochen hatte, und noch immer waren die Schmetterlinge in Julianes Bauch nicht zur Ruhe gekommen. Sie fühlte sich wie in einem Rausch, und es verging kein Tag, an dem sie sich nicht mit ihm ausgetauscht hatte. Sie genoss den Kontakt und seine Komplimente – ständig bekräftigte er seine große Zuneigung und schrieb, dass er pausenlos an sie denken müsse, selbst während er vor der Klasse stehen und unterrichten würde.

In ihrem heutigen Chat-Talk offenbarte er ihr, dass er gern mehr über ihr Äußeres wüsste. Er brenne darauf, der süßen Juli, die er sich bisher ausschließlich in seinen Gedanken vorstellte, ein Gesicht zuordnen zu können. Juliane überlegte nicht lange. Warum nicht? Was ist schon dabei, dachte sie und tauschte, um ihm später ein Foto übersenden zu können, kurzerhand ihre E-Mail-Adresse mit ihm aus.

Für Zwecke wie diese verwaltete sie mehrere elektronische Postfächer: Ihre Eltern, Kollegen und enge Freunde nutzten das, in dem ihr voller Name enthalten war. Für lockere Kontakte aus dem Internet, aus Bars und Clubs hingegen, hielt sie eine Mailadresse parat, die zur Vorsicht nichts über ihre Identität verriet. Auf diese Art ging sie kein Risiko ein, dennoch verlangte sie von ihm, dass er ihr zuerst schrieb. In diesem Fall, so kündigte sie an, würde sie sein Entgegenkommen mit einem Bild von sich in ihrer Antwortmail honorieren.

 

Es dauerte keine drei Minuten, bis ihr Laptop anzeigte, dass sie eine E-Mail erhalten habe. Sogleich schaute sie nach. Wie erwartet kam sie von Störtebeker. Der Inhalt war kurz, lediglich zwei Sätze, die er ihr auf die Schnelle getippt hatte:

 

Hallo Juli,

 

da bin ich, alles okay. Ich warte seeehnsüchtig auf Post von dir!

 

Alles Liebe

Thomas

 

Julianes Herz schlug höher; zum ersten Mal las sie seinen realen Namen. Er gefiel ihr. Begeistert und leise vor sich hin murmelnd wiederholte sie ihn mehrmals hintereinander. Sie benahm sich wie ein Teenager, verliebt und vollkommen verrückt. Ihr Gesicht fühlte sich heiß an, im Gegensatz zu ihren Händen, die bei Aufregung stets kalt wurden.

»Na, Paul, dann wollen wir Thomas mal flink zurückschreiben, hm?« Fröhlich sprach sie ihren Kater an, der zusammengerollt auf ihrem Schoß schlief. Als sie auf den Antwort-Button klickte und zu schreiben begann, flossen die Worte wie von selbst aus ihr heraus:

 

Hallo Thomas,

 

wie schön, von dir eine Mail zu bekommen, und noch schöner, nun deinen echten Namen zu kennen. Meiner lautet übrigens Juliane. Hast du vielleicht Lust, mir auch deinen Nachnamen zu verraten? Keine Angst, bei mir ist er in guten Händen, das verspreche ich dir! Und damit du dir endlich ein Bild von mir machen kannst, schicke ich hier das zugesagte Foto! Auf ihm sind meine Haare noch ein wenig kürzer, inzwischen fallen sie mir bis über die Schulter. Ansonsten sehe ich aber genauso aus. Ich hoffe, ich gefalle dir. :-)

 

1000 liebe Grüße zurück und ich freue mich auf den nächsten Chat!

Juliane

 

Um ein Foto von sich zu finden, brauchte Juliane nicht lange auf der Festplatte ihres Computers zu suchen. Es gab eine Auswahl von drei Bildern, die sie routinemäßig für eine erste Vorstellung von sich verwendete. Auf ihnen gefiel sie sich besonders gut und der entscheidende Vorteil war, dass es sich hierbei um Porträtaufnahmen handelte, die lediglich ihren schlanken Oberkörper, nicht aber ihre rundliche Hüfte zeigten. Dazu war ein freundlich lächelnder Mund mit gepflegten Zähnen zu sehen, und helle, naturblonde Haare, die sie bis auf Kinnlänge geschnitten trug. Allerdings waren diese Fotos bereits ein Jahr alt, daher schrieb sie grundsätzlich hinzu, dass ihr Haar seitdem kräftig gewachsen war. Ein Satz, der ihr Tür und Tor öffnete. Mit dem Eindruck der langhaarigen Blondine, den sie ihren Verehrern in die Köpfe pflanzte, gelang es ihr allzeit, beim männlichen Geschlecht zu punkten; kaum einer konnte diesem Typ Frau widerstehen. So zumindest bewiesen es ihre eigenen Erfahrungen.

Ein Bild, auf dem sie komplett abgebildet war, erhielt keiner ihrer potenziellen Partner. Zu sehr schämte sie sich ihres molligen Hinterns, den sie selbst als dicker einschätzte, als er es in Wirklichkeit war. Diese Ansicht ihres Bodys hob sie ihren Liebschaften für den Moment auf, an dem sie ihr zum ersten Mal begegneten. Und sollte der Zeitpunkt kommen, an dem sie ihre Hüllen fallen lassen würde, verließ sie sich auf ihr Charisma und eine schummrige Zimmerbeleuchtung – eine Kombination, die zusammen hervorragend funktionierte.

 

Seine Reaktion kam ohne Umwege. Es war ein einziger Satz, der Juliane voller Freude auflachen ließ: Dein Wahnsinns-Foto hat mich umgehauen! Ein Kompliment, das von herbem Charme zeugte, wie sie entzückt dachte.

Den Rest des Nachmittags verbrachte sie mit einem breiten Lächeln auf den Lippen. Jeder ihrer Gedanken kreiste um Thomas; sie freute sich irrsinnig auf die virtuelle Begegnung am Abend. Keine Frage, dass sie sich auch heute wieder einloggen würde. Außerdem setzte sie voraus, bei dieser Gelegenheit ebenfalls ein Bild von ihm zu bekommen. Ein Ereignis, das sie so wenig erwarten konnte wie ein Kind die Bescherung am Heiligabend.

 

Vor Aufregung schmeckte sie kaum etwas von ihrem Abendessen. Das Fernsehprogramm registrierte sie lediglich am Rande, und wenn er nicht durch beharrliches Maunzen darauf bestanden hätte, gefüttert zu werden, wäre Juliane Gefahr gelaufen, im Zustand der Euphorie zum ersten Mal ihren Kater Paul zu übersehen.

 

Mit ihrem Laptop auf dem Schoß saß Juliane wartend auf dem Sofa, den hellgrünen, mit Tee gefüllten Becher vor sich auf dem Couchtisch.

Kurz vor acht hatte das Ausharren ein Ende: Sie begrüßten einander in einem privaten, abgeschirmten Raum des allgemeinen Flirtchats. Wie gewohnt kamen sie schnell in ihre Unterhaltung hinein, die Thomas mit einem erneuten Kompliment zu ihrem Äußeren eröffnete. Er schwärmte von ihrem Stupsnäschen, wie er es beschrieb, von ihren hübsch geformten Lippen und ihrem weizenblonden Haar. Eine Farbe, für die er seit jeher eine Schwäche hätte, wie er mehrfach betonte. Julianes Herzschlag beschleunigte sich bei jedem seiner Worte, keiner der Sätze verfehlte seine schmeichelnde Wirkung. Sie dankte ihm mit reichlich Herzchen-Emoticons, erklärte, wie sehr seine Begeisterung sie freue und wie gut sie ihr tat.

 

In der Annahme, er könnte es vergessen haben, fragte sie ihn bald, ob er im Gegenzug gleichfalls ein Foto von sich versenden möge. Am anderen Ende des Computerdialogs breitete sich ein auffälliges Schweigen aus. Juliane hoffte aufgekratzt, er würde während dieser Zeit ein Bild von sich hervorsuchen, das er für geeignet hielt, doch nichts dergleichen geschah.

Nach einigen Minuten meldete er sich zurück. Er tippte ohne Unterlass, versuchte von ihrer Idee, ihr einen Abzug von sich zukommen zu lassen, abzulenken. Unter anderem erzählte er ihr, dass sein Nachname Heldt lautete, um auf die Frage in ihrer E-Mail vom Nachmittag zu antworten. Weiterhin berichtete er ausführlich von seinem Tag, dass er sein Auto demnächst zum TÜV bringen müsse, er keine Lust zum Geschirrspülen hätte und was es bei ihm zum Abendbrot gegeben habe, nachdem er zwischendurch im Supermarkt zum Einkaufen gewesen sei. Im Überschwang der Gefühle nahm Juliane ihm seinen plötzlichen Eifer, ihr ausgerechnet in diesem Moment von unzähligen verschiedenen Themen schreiben zu wollen, ab, doch binnen kürzester Zeit siegte ihre Neugier und sie wiederholte ihre Bitte. Er verlor sich in Ausflüchten, gab vor, kein Foto von sich auf dem neuen Notebook zu haben, und dass der alte Computer sowie sämtliche andere Bilder noch tief in den Umzugskartons steckten.

Obwohl sie ihm glaubte, war sie enttäuscht. Eine Stimmung, die Thomas im Dialog mit ihr nicht ertrug. Er versprach, nach einer Lösung zu suchen und bat seine Chatpartnerin um wenige Minuten Geduld.

 

Juliane nutzte die kleine Pause, um sich einen frischen Tee zuzubereiten. Im Vorbeigehen kraulte sie ihrem getigerten Kater, der ausgestreckt schlafend in der gegenüberliegenden Ecke des Sofas lag, durch das weiche Fell. Auf ihre Berührung hin streckte er sich und gähnte wohlig.

Nachdem sie mit ihrem dampfenden Becher in der Hand an den Computer zurückgekehrt war, und sich das Gerät auf den Schoß hob, sah sie schon das Zeichen in der Taskleiste, das ihr den Eingang einer neuen E-Mail anzeigte. Augenblicklich breitete sich eine schier unerträgliche Anspannung in ihr aus. Die Vorfreude war beinahe greifbar, als sie sich die Nachricht auf den Bildschirm holte. Herzliche Worte empfingen sie, gespickt mit liebevollen Anzüglichkeiten und verträumten Phantasien. Doch das Beste: Im Anhang wartete eine Bilddatei mit der vielbenutzten und dafür üblichen Endung ›jpg‹.

Ein Foto, endlich!, dachte Juliane und beeilte sich, es mit einem Doppelklick zu öffnen. Aufgeregt fieberte sie dem Eindruck entgegen, den sie nun auch optisch von Thomas Heldt bekommen würde, doch ihre berechtigte Erwartung, das Gesicht ihres neuen Bekannten zu erblicken, erfüllte sich nicht. Zwar ein wenig abgekühlt, doch nach wie vor interessiert, betrachtete sie das Bild. Es zeigte eine schlanke, schmale Hand, die auf der Tastatur seines Rechners ruhte und die eines Pianisten würdig wäre. Zusätzlich entdeckte sie oberhalb des Handgelenks vereinzelte blonde Härchen, die sich unter dem Bündchen eines dunklen Wollpullovers hervorstahlen. Diese Aufnahme schien gerade erst entstanden zu sein.

Juliane atmete tief durch und schrieb ihm ehrlich, dass er hübsche Hände besäße, sie sich aber dennoch weiterhin auf einen Abzug seines Gesichts freuen würde. Wieder reagierte Thomas ausweichend, sprach erneut von seinen unausgepackten Kartons, und dass er sogar Führerschein und Personalausweis verkramt habe. Zu verliebt, um misstrauisch zu werden, sog die junge Frau jedes Wort leichtgläubig in sich auf.

 

Im weiteren Verlauf des Abends entspann sich ein Dialog, der sie in einen regelrechten Gefühlstaumel versetzte. Ständig hoffte sie auf das ersehnte Foto und immer wieder wurde sie mit Momentaufnahmen seiner verschiedensten Körperteile vertröstet. Sein Gesicht zu fotografieren, so erklärte er ihr zwischendurch, sei nicht möglich, da er selbst zu nah mit der Kamera davor sein würde und das Bild auf diese Weise eine zu schlechter Qualität bekäme, um es versenden zu können. Auch diese Erläuterung erschien ihr einleuchtend. Da die übrigen Abbildungen von vielen sympathischen Äußerungen begleitet wurden, fiel Juliane nicht auf, in welch gekonntem Maße er sie hinhielt. Ohne dass sie es bemerkte, gelang ihm ein perfekter Balanceakt zwischen einlullender Schmeichelei und der Enthaltung des gewünschten Fotos seines Antlitzes. Die Unsicherheit war der Grund dafür und die Angst ihr idealer Komplize.

 

Währenddessen in Talbachs Schlafzimmer …

 

Die streichelnden Hände ihres Mannes berührten sie unter der Bettdecke, seine Stimme lag dicht an ihrem Ohr, als er sie fragte, ob sie in der Stimmung für Zärtlichkeit sei. Im Zimmer war es dunkel; von Lorenz’ Worten und dem Ticken des Weckers auf dem Nachtschränkchen abgesehen, herrschte Stille. Der Mondschein warf einen fahlen Streifen Licht an den heruntergelassenen Rollos der Dachfenster vorbei auf das Doppelbett.

Judith seufzte innerlich, sie würde Lorenz enttäuschen müssen. Nach einem anstrengenden Arbeitstag in der Buchhaltung, in der bereits mit Hochdruck der Jahresabschluss vorbereitet wurde, stand ihr nicht der Sinn nach einem Austausch von Intimitäten. Selbstverständlich war sie sich ihrer ehelichen Pflichten bewusst, und meist ließ sie ihn gewähren, doch heute siegte ihr Ruhebedürfnis. Sie verstand ohnehin nicht, weshalb der geschlechtliche Akt im Leben eines Menschen einen dermaßen hohen Stellenwert einnehmen konnte. Die Erziehung der Eltern hatte ihr und ihrer Schwester andere Werte vermittelt.

Unbarmherzig fielen ihr die Augen zu; in dieser Nacht musste sie ihn vertrösten:

»Bitte nicht, Lorenz, ich bin müde.« Seine Finger schoben sich ungeachtet ihrer ablehnenden Haltung unter das Baumwollnachthemd, näherten sich ihren intimsten Zonen. Sein unbekleideter Körper drängte sich an sie, sein aufgerichtetes Verlangen bereitete ihr Unbehagen.

»In der letzten Zeit haben wir nicht oft miteinander … Seit fast zwei Wochen nicht …« Er raunte die Worte eindringlich in ihr Ohr, während seine Hand wie beiläufig über ihre Haut glitt. Unbewegt lag sie da – sie glaubte zu spüren, dass er ein Einlenken von ihr erwartete, doch es war ihr nicht möglich, nicht an diesem Abend. Sein großer Phallus pochte hart, schürte ihr Schuldbewusstsein, ihm aufgrund der Müdigkeit nicht zur Verfügung stehen zu können.

»Nein, nicht. Wir verschieben es auf das Wochenende.«

»Judith, bitte.« Ohne es zu beabsichtigen, war sein Ton schärfer geworden. Sie reagierte nicht, wandte lediglich ihr Gesicht von ihm ab.

Lorenz atmete tief durch. Er näherte sich ihr einzig an, um den Schein einer intakten Ehe zu wahren und wurde harsch abgewiesen. Natürlich wusste sie nichts von seinen Beweggründen, und obwohl er auf den Sex mit ihr keinen Wert legte, verärgerte ihn ihre Abfuhr. Verstimmt rollte er sich zurück auf seine Seite des Bettes und zog sich die Decke bis zum Kinn. Und noch während er darüber nachdachte, ob es besser sei, sich für die Nacht etwas anzuziehen, da er es als unangenehm kühl im Raum empfand, schlief er ein.

 

Judiths spröde, zugeknöpfte Art – er hatte sich in den Jahren seiner Ehe mit ihr arrangiert. Da er unmittelbar nach Beendigung seines Wirtschaftsstudiums geheiratet hatte, war sein Beruf schnell an die erste Stelle gerückt. Das Streben nach Erfolg, sein Ehrgeiz und lange Arbeitszeiten hatten den Alltag bestimmt, in dem für nächtliche Eskapaden wenig Energie geblieben war. In dieser Zeit hatte er nichts vermisst, weder Freiheit noch Abenteuer. Er war aufgestiegen, hatte Karriere gemacht und sich bis an die Führungsspitze des Unternehmens hochgearbeitet. Eine tüchtige Partnerin an seiner Seite zu wissen, die ihm den Rücken freihielt und ihn bei seinen Karrierebestrebungen unterstützte, war ihm stets wichtiger gewesen.

Erst als er in die leidenschaftliche Affäre mit Alexandra hineingeraten war, hatte er sich erinnert, wie abwechslungsreich und freudvoll die Sexualität sein konnte. Das erhebende Gefühl begehrt und lustvoll verführt zu werden, sich vor Sehnsucht nach dem anderen zu verzehren – all das war in Vergessenheit geraten. Seit einigen Wochen jedoch gab es dieses unbeschreibliche Mädchen in seinem Leben, das wie ein Aphrodisiakum auf ihn wirkte. Im Gegensatz zu Judith genoss sie es, ausgiebig mit ihm zu schlafen, mit ihm zu lachen und ausgelassen zu sein. Es war für ihn kaum vorstellbar, doch in ihren Augen war er sexy. Sie tat unanständig schöne Dinge mit ihm und bereitete ihm wohltuende Komplimente. Dass er einen knackigen Hintern habe oder er außergewöhnlich gut ausgestattet sei, waren nur zwei von vielen, die seinem Ego schmeichelten und dazu beitrugen, dass er sich bei jedem ihrer verborgenen Treffen mehr und mehr für sie begeisterte.

Typisch Lehrer?

 

Samstag, der 12. November …


Eine Woche war vergangen, seitdem Alexandra ihre Freundin nach Lorenz’ überraschendem Anruf aus der Wohnung komplimentiert hatte. Um sich hierfür zu entschuldigen, erschien es ihr angemessen, sie zum Essen einzuladen, wofür sie einer Empfehlung gefolgt war und den Portugiesen in der Innenstadt ausgewählt hatte. Im Gegensatz zu den Verabredungen mit Lorenz hatte sie sich zu diesem Anlass nicht aufwendig zurechtmachen müssen, so dass es ausreichend gewesen war, ihre alte Lieblingsjeans anzuziehen, die sie mit einem bequemen Pullover kombiniert hatte. An den Füßen trug sie hohe Stiefel, die nach vielen Jahren zwar ausgetreten waren, von denen sie sich bis heute jedoch nicht hatte trennen können. Ihr langes, rotbraunes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, die Augen dezent geschminkt, erwartete sie ihre engste Vertraute zu einem fröhlichen Abend unter Frauen.

 

Kurz nach ihr betrat Juliane das Restaurant. Sie begrüßten einander und umarmten sich über den Tisch hinweg. Daraufhin legte die Blondine ihre Jacke und Tasche neben sich ab und nahm gegenüber ihrer Freundin Platz.

Zwei Speisekarten wurden gebracht; die Servicekraft entzündete den Docht der Kerze in der Mitte des Holztisches. Als sie fragte, ob schon ein Getränkewunsch bestehe, bestellte Alexandra sich ein Glas Mineralwasser, Juliane einen trockenen Weißwein.

Während die Freiberuflerin noch in die Menüauswahl vertieft war, klappte die andere bereits die Karte zu.

»Ich nehm den Fisch aus dem Tagesangebot. Und du?«

»Weiß noch nicht …« Juliane wartete ungeduldig auf die Entscheidung ihrer Tischnachbarin.

»Nun mach schon, ich hab Hunger!«, lachte sie und trommelte unruhig mit den Fingerspitzen.

 

Nachdem Alexandra die Speisekarte geschlossen hatte, sprudelte es freudig aus der jungen Callcenter-Angestellten heraus:

»Willst du mal gucken? Ich hab ein Bild von ihm dabei!« Juliane wühlte in ihrer orangefarbenen Umhängetasche und zog gleich darauf ein DIN-A4-Blatt daraus hervor.

»Das habe ich mir ausgedruckt«, fügte sie erklärend hinzu, »klar, es ist kein echtes Foto, aber immerhin weiß ich jetzt endlich, wie er aussieht!«

»Dein Störtebeker? Zeig mal her …« Alexandra angelte sich das Papier.

»Wow, nicht schlecht, dein Freibeuter«, kommentierte sie die Abbildung offenherzig.

»Ja, das meine ich auch! Er sieht sogar ziemlich gut aus, finde ich.« Juliane grinste stolz angesichts ihrer neuesten Eroberung.

»Warum steht er auf dem Bild denn so weit weg? Und weshalb ist es so unscharf?«

»Weil er in der Pause wohl einen seiner Schüler fragen musste, ob der ihn mal eben mit dem Handy fotografieren könnte. Da er doch kürzlich erst hergezogen ist, sind alle seine Fotos noch in Kisten und Kartons verstaut.« Alexandra nickte, während sie den Computerausdruck weiterhin anschaute.

»Die Klamotten sind typisch Lehrer, findest du nicht auch? Jeans, ne olle Jacke, Hemd und Pulli. Aber ich mag das, ist so herrlich leger«, redete Juliane ihrer Freundin in die Bildbetrachtung hinein. Wieder nickte ihr Gegenüber zur Zustimmung.

»Stimmt, der sieht zu einhundert Prozent nach Pädagoge aus. Irgendwie lässig. Schön groß scheint er zu sein, und unglaublich schlank. So wie Lorenz.« Bei dem Gedanken an den souveränen Geschäftsmann überzog ein Lächeln Alexandras Gesicht.

»Ist das nicht klasse? Nun sitzen wir beide hier und strahlen verliebt wie die Honigkuchenpferde!« Juliane lachte bei ihrer Feststellung.

»Und wie! Dann läuft es zwischen dir und Störtebeker also richtig gut?«

»Oh ja! Inzwischen weiß ich übrigens, dass er Thomas heißt, Thomas Heldt. Und er unterrichtet am Gymnasium. Er ist einfach toll! Wir schreiben uns erotische Mails und quatschen nächtelang im Chat. Und am Mittwoch, als ich wegen eines Fotos von ihm hartnäckig geblieben bin, hat er mir ein Bild nach dem anderen von sämtlichen Teilen seines Körpers geschickt. Das war ziemlich kurios und irgendwie auch sexy; er hat einen echt schrägen Humor. Im Übrigen mag er das Bild von mir, das ich ihm am Mittwochnachmittag gemailt habe. Er schrieb, dass es ihn umgehauen hätte, ist das nicht klasse?«

»Ja, total!« Alexandra nickte begeistert. Sie freute sich von Herzen für ihre Freundin. Sie auf der rosaroten Welle der Verliebtheit schwimmen zu sehen, tat auch ihr gut.

 

Inzwischen hatten sie ihre Bestellung aufgegeben und warteten auf die Speisen. Juliane kam aus dem Schwärmen nicht mehr heraus:

»Dass ich in diesem Leben noch einen derart großartigen Typen treffen würde, hatte ich fast selbst nicht mehr geglaubt. Sensationell! Mich freut besonders, dass er dir auch gefällt. Du stehst doch sonst nur auf Dunkelhaarige.« Alexandra zog die Augenbrauen nach oben und erwiderte selbstbewusst:

»Unterschätze mich nicht. Einen hübschen Mann erkenne ich immer, egal, welche Haarfarbe er hat.«

»Ach ja …«, Juliane kicherte bei ihrer Antwort, »wie hatte mir das nur entfallen können?«

»Habt ihr eigentlich mal miteinander telefoniert?«, erkundigte ihr Gegenüber sich interessiert, »ihr schreibt euch doch schon ’ne Weile?«

»Acht Tage … Du hast recht, so langsam könnten wir in die nächsthöhere Ebene wechseln. Ich werde ihn bald mal danach fragen.«

 

Die Getränke wurden serviert, sofort nahm Juliane einen Schluck ihres gekühlten Weins. Alexandra tat es ihr mit dem Mineralwasser gleich. Im nächsten Augenblick wechselte die jüngere der beiden das Thema:

»Und bei dir? Auch alles okay?«

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739348964
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2016 (Mai)
Schlagworte
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Autor

  • Rebecca Arens (Autor:in)

Rebecca Arens, geboren 1969, lebt in ihrer Heimatstadt Eckernförde. Die Lust am Schreiben wurde mit dem Verfassen von Kurzgeschichten geweckt; aus einer von ihnen entstand schließlich die Idee zu ihrem ersten Roman "... und zweitens als man denkt", der 2010 veröffentlicht wurde. Ihm folgten weitere Titel, in denen in spannender und humorvoller Weise die Skurrilitäten des Alltags und der Menschen beschrieben werden. Allem voran die Liebe spielen in ihren Büchern eine wichtige Rolle.
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Titel: Nur zweite Wahl?