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Executive

von Alexandra Scherer (Autor:in)
250 Seiten

Zusammenfassung

Vermisst, wahrscheinlich ertrunken: J.K. Maierling, durch rücksichtsloses Geschäftsgebaren erfolgreicher Unternehmer, ist unauffindbar. Zuletzt wurde er in der Nähe eines reißenden Gebirgsbaches gesehen. Ist Maierling einem Unfall zum Opfer gefallen - oder einem Mord? Personen mit möglichen Motiven sind im Hotel Tobelweiler genug versammelt. Angefangen von seinen Angestellten, über seine erwachsenen Kinder, bis hin zu seiner jungen Geliebten. Allerdings fehlt die Leiche. Der Hotelbesitzer Til Bullreitner kennt Maierling und seine Methoden von früher. Til startet eigene Nachforschungen und macht dabei interessante Entdeckungen. Ein neuer Allgäu-Krimi von Alexandra Scherer.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Executive

Ein Allgäu-Krimi


Alexandra Scherer

Vergangenheit

Seit einigen Tagen trieben Dauerregen und Hagel die Temperaturen und die Stimmung konsequent nach unten. Feuchtigkeit legte sich als spiegelglatte Haut auf die Straßen. Wer nicht unbedingt nach draußen musste, blieb zu Hause. Wer es nicht vermeiden konnte, fuhr langsam und vorsichtig, fast schon im Schritttempo.

Auf einer engen, kurvenreichen Landstraße war dies nicht beherzigt worden.

Gerade eben hatte die Feuerwehr Glut und Flammen gelöscht. Die Rettungskräfte standen in wütender Hilflosigkeit neben dem bis zur Unkenntlichkeit verkohlten Bündel Mensch. Eine goldene Rettungsdecke verbarg das Grauen.

Der Geruch von verbranntem Fleisch drang in die Nasen und blieb lange in den Haaren und Kleidern, aber noch länger in der Erinnerung haften.

Vom Tal näherte sich ein Auto.

Nun da die Flammen erloschen waren, konnte man von der Unfallstelle aus beobachten, wie sich das Licht der Scheinwerfer durch die Dunkelheit fraß und schnell näher kam. Wenn der Fahrer nicht aufpasste, würden die Rettungskräfte vor Ort gleich ihren nächsten Einsatz haben.

Der Wagen kam vor der Absperrung zum Stehen. Ein junger Mann stieg aus. Ein kurzes Gerangel, als versucht wurde, ihn zurückzuhalten. Die Helfer waren zu langsam. Bevor jemand reagieren konnte, hatte er die gnädig verhüllende Decke zurückgezogen.

Ungläubig erstarrte er. Seine Haut nahm die Farbe der Nebelschwaden an, ein Zittern durchlief seinen Körper. Laut schrie er seinen Schmerz und Kummer in die gleichgültige Landschaft hinaus.

1. Tag 6: Freitagabend, nach dem Vorfall – Til

Die letzte Woche war nicht leicht gewesen. Aber dieser Freitag übertraf alles, was ich erleben durfte, seitdem Biggi Zirkowski und ihre Seminarteilnehmer bei mir in der Tobelmühle eincheckten.

Ich hatte die Nase gestrichen voll von den Angestellten der Maierling International Inc. Mich interessierte nur noch das Feierabendbier im Ochsen.

Meine Kräfte gingen dem Ende zu – körperlich wie seelisch. Solche Tage sind dafür verantwortlich, dass man vorzeitig altert. Die Schreckgespenster von Herzinfarkt, Schlaganfall und Impotenz hoben ihre Köpfe. Ich würde sie noch ein paar Jahre ignorieren.

Jetzt gegen Ende September wurde es früh dunkel. Am Tag zuvor tobte über Heimkirch und die umgebenden Berge ein heftiges Gewitter. Das Radio berichtete von abgehenden Muren im Bregenzerwald. Der Regen hatte zwar nachgelassen, die Straße von der Tobelmühle runter ins Dorf war aber noch rutschig. Auch in meinem geländegängigen Toyota forderte das Fahren mir Konzentration und Energie ab.

Vor dem Ochsen angekommen, zog ich meine Lieblingsjacke an. Weiches Wildleder außen, innen Lammfell. Während eines Spontanurlaubs in Italien stieß ich auf diesen Laden in Rom. Der Kürschner hatte mir das Teil auf den Leib geschneidert. Damen meiner Bekanntschaft versuchten immer wieder, mir die Jacke abspenstig zu machen. Vor die Wahl gestellt, ob ich meine Jacke hergebe oder das Mädel, war die Entscheidung bis jetzt einfach gewesen.

Der Parkplatz am Ochsen stand voller Autos. Klar, heute am Freitag. Hoffentlich hatte Horst, der Ochsenwirt, was Leckeres gekocht, denn mein Magen knurrte gewaltig. Ich wusste, wenn ich auf mein Essen warten müsste, könnte es zu unfreundlichen Zwischenfällen kommen. Ich öffnete die Tür zur Wirtschaft und sofort umhüllte mich der Lärmpegel. Die Luft war zum Schneiden. Wenn mein Magen mich nicht knurrend wie ein wilder hungriger Bär vorangetrieben hätte, wäre ich sofort rückwärts wieder hinaus.

Die Ochsenwirtin bewegte sich zusammen mit ihren zwei Bedienungen hurtig zwischen den Tischen. Auf dem Rückweg zur Theke bemerkte sie mich.

„Griaß di, Til! Die warten alle auf dich. Du kannst gleich durchgehen. Ich hab euch heute im Nebenzimmer untergebracht. Die Martha Huber, die dreht hohl. Sie hat Angst, der Todesfall könnte negative Auswirkungen auf den Tourismus nach sich ziehen. Kennst sie ja, unsere Dorfvorsteherin.“

Martha Huber, die Bürgermeisterin, immer in Sorge, dass der Fremdenverkehr nicht genügend einbringt.

Persönlich konnte es mir egal sein. Ich besitze private Einnahmequellen. Die Tobelmühle betreibe ich als Hobby. Nur durfte ich das nicht so offen sagen, denn hier im Allgäu werden die wenigsten Höfe noch als Vollzeitbetriebe geführt. Fast jeder Hof braucht die zusätzlichen Einkünfte, die die Bäuerinnen über ‚Ferien auf dem Bauernhof‘ erwirtschaften.

Martha mutierte über die Jahre zu einer ewig sich sorgenden Übermutter, mit der Gemeinde Heimkirch als spezielles Sorgenkind. Wenn es drei Tage regnete, bekam sie Angstvisionen: frühzeitige Abfahrt von Besuchern, kein Einkommen über die Kurtaxe, somit drohender Bankrott der Kommune.

Seit vor ein paar Jahren die Stadt Aulendorf im Nachbarkreis Konkurs angemeldet hatte, hielt man es mit Martha manchmal nicht mehr aus.

Diesmal hatte sie Grund zum Jammern. Schließlich war Josef Konrad Maierling heute im Tobel vermisst gegangen und die Bergwacht suchte nach ihm.

Mir entfuhr ein Seufzer.

Maierlings einziger Daseinsgrund schien darin zu bestehen, mein Leben zu verkomplizieren. Denn Fritz, mein Koch, war Mitglied der Bergwacht und zur Zeit im Einsatz. Wenn ich nicht verhungern wollte, blieb mir nur der Ochsen und seine Küche oder Spiegelei. Mein Magen protestierte. Spiegelei war definitiv nicht, was er wollte.

„I schick dir des Übliche oder willst was Stärkeres?“, brach Maria in meine Gedankengänge.

Ich blickte der Wirtin bewundernd in die braunen Augen und grinste. „Du kannst Gedanken lesen. Bring mir an Weiza und was zum Essa.“

Mir stand der Sinn nach Wildgulasch. Der Ochsenwirt machte hervorragendes Rehgulasch und seine Semmelknödel: Genauso lecker wie die vom Fritz. Ich durfte das nur nicht laut sagen. Leider kultivierte mein Koch ein volatiles Temperament. Ich hege den Verdacht, er versucht sich da ein Image zusammenzubasteln, angelehnt an fiktive französische Chefköche.

„Was magsch denn? A Brotzeit?“, schlug die Ochsenwirtin vor.

Ich schüttelte den Kopf. „Was Gscheites. Ich hab den ganzen Tag nichts gegessen. Erst die Gäste von der Tobelmühle, dann des Theater mit dem Depp und die Bergwacht und die Polizei und alles. Mein Magen hängt in den Kniekehlen. Hat dein Mann noch was von dem Reh und den Semmelknödeln?“

Maria nickte.

„Gut. Bitte gleich doppelt. Den Salat kannst behalten.“ Ich schlängelte mich durch die voll besetzte Schankstube und erwiderte die mir zugerufenen Grüße. Da hinten bei der Tür zum Nebenzimmer saßen die Leute von der Bergwacht. Mist. Fritz saß auch dabei. Wenn ich jetzt nicht schnell reagierte, würde er mir morgen mein kulinarisches Fremdgehen mit temperamentvollem Töpfeklappern und Geschirrzerdeppern kommentieren.

Eine von Marias Kellnerinnen flitze an mir vorbei.

Kurzentschlossen stoppte ich sie. „Eine Lokalrunde für alle und den Leuten von der Bergwacht sagsch, was sie heut’ verzehren und trinken, geht auf meine Rechnung.“

Schließlich war es ja einer von meinen Gästen, der das ganze Theater heute ausgelöst hatte. Mit etwas Glück hätte Fritz morgen einen Kater, der sich gewaschen hatte. Schon aus Eigenschutz würde er folglich nicht mit den Töpfen klappern.

Ich betrat das Nebenzimmer. Wie erwartet saßen da die Dorfhonoratioren und die, die sich dafür hielten.

„Griaß eich Gott!“

„Griaß di Til, mir hont scho auf di gwartat. Des war heit scho so a Sach. Setz di her. So ein Unglück“, jammerte Martha Huber.

Ich setze mich, dankte der Bedienung, die mir mein Kristallweizen hinstellte und gleich Besteck und Serviette auflegte.

„Der Til gibt eine Lokalrunde aus. Was darf i eich bringa?“ Das Mädchen war geschäftstüchtig.

Ich nahm einen tiefen Zug aus meinem Glas und bestellte ein zweites Bier.

„Jetzt spann uns nicht auf die Folter, erzähl endlich. Was ist passiert?“, nahm Wilfried Wunder das Gespräch auf.

Wilfried war unser rasender Reporter: Immer auf der Suche nach einer Sensation, die er in dem Käseblatt unterbringen konnte.

„Wir haben alle mitgekriegt, wie der Widerling sich hier im Dorf aufgeführt hat“, bohrte der Reporter nach. „Erinnert ihr euch an den Tag, an dem seine Frau mit der Tochter hier war?“ Er schüttelte angewidert den Kopf, während er weiter sprach. „So ein Ekel. Es würde mich nicht wundern, wenn jemand nachgeholfen hätte.“

Ich sah, wie Martha das Gesicht verzog. Der Gedanke, Heimkirch und Umgebung mit schlechten Nachrichten in der Zeitung wiederzufinden, verursachte ihr körperliche Schmerzen.

Willi ging zum Frontalangriff über: „Da müssen Sie durch oder möchten Sie, werte Frau Bürgermeisterin, die Freiheit der Presse beschneiden? Es wäre nicht im Interesse der Öffentlichkeit, wenn ich meine Artikel auf reinen Gerüchten und Vermutungen basierend schreiben müsste. Es gibt Anfragen über die Lokalzeitung hinaus. Wenn wir das richtig anfangen, steigen die Besucherzahlen.“

Wilfried war im Gegensatz zu Martha der Meinung, schlechte Nachrichten waren die besten Nachrichten.

Ich zuckte mit den Schultern. „Ihr seid genauso schlau wie ich. Heute Nachmittag standen plötzlich Bergwacht und Polizei bei mir vor der Tür. Jemand sei im Tobel in die Ach gestürzt.“ Ich nickte Petra Weber zu, ihres Zeichens Schwester des Ochsenwirtes und Leiterin der Bergwacht. „Da müsstest doch du oder der Sepp mehr drüber wissen.“

Sepp Weiher, der Kommandant der Freiwilligen Feuerwehr schüttelte den Kopf. „Anonymer Anruf. Die Polizei hat die Leit von der Gesellschaft befragt, um herauszufinden, ob einer von ihnen mit dem Anruf zu tun hatte. Koina will’s gweasa sei.“

Petra bekräftigte: „Wir haben die ganze Schlucht abgesucht. Der Mann war seit nach dem Frühstück von niemandem mehr gesehen worden. Er ging auch nicht an sein Handy.“

Petra fuhr fort. „Wir haben das Handy kurz vor Einbruch der Nacht in der Tobelschlucht gefunden. Es war kaputt. Der Notruf ist davon abgesetzt worden. Von Maierling keine Spur.“

Die Bedienung kam mit meinem zweiten Bier und den anderen Getränken.

Willi hatte fleißig mitgeschrieben und blickte von seinen Notizen auf. „Und wie haben deine Gäste so reagiert?“

Der Kerl nervte.

„Was glaubst du denn?“, fragte ich zurück. „Die Leut‘ waren fertig. Die Freundin nur noch am Heulen, die Tochter ganz bleich. Der Sohn vom Maierling ließ den Higher Executive raus hängen. Die Ehefrau vom Maierling war unauffindbar. Wir dachten schon, die sei auch abgestürzt oben im Tobel und im Fluss gelandet.“ Ich nickte dem Sepp zu. „Der Sepp kam auf die Idee, dass sie nach Hause gefahren sein könnte. Also wurde eine Streife bei ihr vorbeigeschickt. Die Frau ist nach dem Streit mit ihrem Mann weggefahren, nur hatte das keiner mitgekriegt. Ich kann euch sagen, so a Theater brauch i ’net noch mal.“

„Wenn der Maierling in die Ach gestürzt ist, wird’s noch ne Weile dauern, bis die ihn hergibt“, warf Petra ein. „Vor allem nach dem Regen und dem Gewitter gestern. Erinnert ihr euch noch an den Studenten vor fünf Jahren? Der kam erst sechs Wochen später wieder zum Vorschein.“

„Jetzt wo es dunkel ist, sucht ihr nicht weiter“, warf ich ein.

„Wir haben den Tobel gründlich durchkämmt. Es war sogar die Hundestaffel aus Kempten da.“ Petra klang, als wollte sie sich rechtfertigen. „Wenn der Mann dort noch wo wäre, hätten wir ihn gefunden. Morgen wollen wir noch mal schauen. Wenn er in einen der Kessel im Flussbett geraten ist, dann …“ Sie musste sich nicht weiter ausführen. Wir alle kannten die speziellen geologischen Begebenheiten. Wer dort im Tobel in einen Strudel kam, der blieb lange unter Wasser.

Die Bedienung setzte meine doppelte Portion Semmelknödel mit Rehragout vor mir ab. Maria hatte den Salat nicht mitgeschickt, dafür extra Soße, Preiselbeeren und ihr gutes Blaukraut. Gierig schob ich mir die erste Gabel Fleisch und Knödel in den Mund. Mein Magen knurrte noch einmal hungrig auf und gab endlich Frieden, als die erste Portion bei ihm ankam. Ich zwang mich, bewusst langsam zu essen. Erst ein Stück des Knödels getunkt in Soße. Ein Stück Reh mit Preiselbeeren. Etwas Blaukraut. Kauen. Schlucken. Etwas Bier. Perfekt.

Ich konzentrierte mich auf den wunderbaren Geschmack und die Konsistenz des Fleisches. Die anderen am Tisch hechelten frühere Unglücksfälle durch. Ich hörte mit halbem Ohr zu.

„Wisst ihr noch als das Ehepaar und der Hund ertrunken sind?“, jammerte die Bürgermeisterin. „Oifach schrecklich. Domols hom ma so gut wie keine Besucher ghabt. Des Jahr war des mit den geringsten Einnahmen aus ’em Tourismus, das mir in über dreißig Jahre ghabt hont.“

„Der verregnete Sommer. Drei Monat nur Reaga“, nickte der Weiher Sepp.

„Die Frau hot versucht, den Hund aus der Ach zum ziah, als dees bleede Vieh nei gsprunga isch und der Ma hot sei Frau retta wolla.“

Wilfried Wunder runzelte die Stirn „Waren das die, wo der Mann unten im Bodensee trieb, acht Wochen später?“

Ich erinnerte mich. Die Besucher waren ausgeblieben, wie Martha richtig wusste. Aber das lag eher an dem drei Monate langen Dauerregen mit sommerlichen Temperaturen um die 10° Celsius, nicht an dem verunglückten Ehepaar.

Wilfrieds Artikel hatte es in die bundesweite rot umrandete Tageszeitung geschafft. Mit dem Foto des armen ertrunkenen Hundes.

2. Tag 1: Sonntag gegen 10:00 Uhr – Til

Eigentlich hatte das Ganze vielversprechend angefangen.

Letzten Sonntagmorgen saß ich in meinem kleinen Büro und kämpfte mit der Buchhaltung. Natürlich beschäftige ich einen Steuerberater und eine Buchhalterin. Aber ich behalte gerne den Überblick. Deshalb zwinge ich mich einmal im Monat dazu, die Buchhaltung querzulesen.

Damit ich über den Zahlen nicht einnickte, hatte ich gerade meine dritte Tasse Kaffee durch die Maschine gejagt, da hörte ich einen Wagen vor dem Haus auf dem Kiesbelag halten. Dankbar für die Ablenkung blickte ich durch das offene Fenster und mein Männerherz schlug höher.

Draußen stand das Dorftaxi vom Müller Franz. Aus dem Wagen stieg eine junge Frau, die unsicher auf High Heels über den Kiesweg zur Eingangstür trippelte. Ich konnte mir das Grinsen nicht verkneifen. Fünfzehn Zentimeter Stöckelschuhe, ein Minirock, der sein Dasein wohl als breiterer Hüftgürtel begonnen hatte und ein üppiges Dekolleté, – mindestens DD – das von dem leichten Hemdchen mühsam im Zaum gehalten wurde. Während sie sich vorwärtsbewegte, erklang sanftes Gebimmel. Verwirrt suchte ich nach der Ziegenherde. Dann dämmerte es mir: Diverse Ketten, Kettchen und andere hochkarätige Schmuckstücke untermalten ihre Bewegungen musikalisch.

Füllige, overdressed Blondinen fallen nicht in mein Beuteschema, aber von der Bettkante hätte ich sie jetzt auch nicht gestoßen.

Hinter ihr kämpfte Franz mit dem Gepäck. Während ich durch das Fenster beobachtete, wie er vergeblich versuchte, alle ihre verschiedenen bunten Gepäckstücke auf einmal zum Eingangsbereich zu tragen, dachte ich: Die hat für eine Weltreise gepackt.

Es wurde Zeit, den ersten Teilnehmer der Zirkowski Event and Motivational Week zu begrüßen.

Die schnuckelige Blondine wirkte überrascht, als ich die Haustüre in dem Moment öffnete, während sie am altmodischen Klingelzug zog.

Ich blickte in, dick mit schwarzer Schminke umrahmte, babyblaue Augen, was mich an einen Pandabären denken ließ. Ihre perfekt zu einem knallroten Schmollmund geschminkten Lippen hoben sich zu einem erstaunlich natürlichen Lächeln. Sie streckte mir ihre sorgfältig manikürte Rechte hin. Zögerlich ergriff ich diese. Ich wollte mich nicht an den langen mit bunten Bildchen verzierten Fingernägeln verletzen.

„Hallo, ich bin Birgit Zirkowski, Executive Consulting Manager der Zirkowski Erlebniskultur. Herr Bulleitner? Wir haben, denke ich, miteinander telefoniert.“

Ich nickte und berichtigte freundlich: „Der Name ist Bullreitner, bitte treten Sie doch ein.“

Neugierig blickte sie sich im Foyer um, während sie weiter plapperte: „Erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich leite die Event and Motivational Week hier. Mein Freund und Auftraggeber, Herr Maierling, wird etwas später eintreffen. Veranlassen Sie bitte, dass mein Gepäck auf unsere Suite gebracht wird. Wir könnten dann noch gemeinsam das Programm durchgehen und ein paar Feinabstimmungen vornehmen.“

Mir wurde übel. Das Ohrensausen nahm zu. Der Name Maierling ließ unangenehme Erinnerungen aufkommen. Ich hoffte, es war nicht DER Maierling. „Maierling? - Wie von Maierling International Inc?“, hakte ich nach.

„Ja, Josef Konrad Maierling, mein Verlobter.“ Mir blieb die Luft weg, während sie mir lächelnd ihre linke Hand präsentierte. Aber nicht wegen des protzigen Klunkers. „Seine Firma ist in der IT-Branche. Sie haben sicher von ihr gehört.“

Hatte ich. Das Rauschen in den Ohren wurde so laut, dass es das Geplapper der Pandabärin übertönte. Als ich jünger und unbedarfter war, hatte Josef Konrad M. Mein Leben ruiniert. Meines und das meiner Schwester. Vor langer Zeit.

Jetzt war ich finanziell unabhängig und betrieb meine Tobelmühle mehr aus Liebhaberei, denn aus wirtschaftlicher Notwendigkeit. Die J.K. Maierlings dieser Welt konnten mir nichts mehr anhaben und Anita auch nicht.

Franz‘ keuchende und schwitzende Ankunft im Foyer stoppte meinen beginnenden Privatalbtraum. Er stellte das Gepäck polternd ab.

Das Weib redete immer noch wie ein Wasserfall. Ihr war entgangen, dass ich nicht zugehört hatte. Ich brauchte Abstand, um mich zu sammeln und die Geräusche in den Griff zu bekommen. Laut, um das innere Störkonzert zu übertönen, unterbrach ich ihren Redefluss mit Banalitäten.

„Frau Zirkowski …“

„… Nennen Sie mich doch Biggi.“

Da würde sie lange warten.

„Frau Zirkowski, die Zimmer sind alle vorbereitet. Monika und Karin, die Mädchen, kommen bald. Der Herr Müller ist sicherlich bereit, Ihnen zu helfen, Ihre Koffer nach oben zu schaffen. Es ist hier üblich, dass sich jeder selber um sein Gepäck kümmert.“

Wenn Birgit Zirkowski die Manieren ihres Liebhabers übernommen hatte, würde die Woche extrem nervig werden. Also gleich Grenzen setzen und von Anfang an klarstellen, dass ich mir von Maierling und Co. Nicht auf der Nase herumtanzen ließ. Schließlich war die Tobelmühle nicht das Ritz und ich auf die Kundschaft nicht angewiesen.

„Wenn Sie die übrigen Taschen tragen, ist alles gleich in Ihrem Zimmer. Das Zimmer Ihres Freundes ist das angrenzende. Es gibt eine Verbindungstür.“

Birgit nickte. „Ja klar, das geht auch. Zeigen Sie mir, wo die Räume sind. Ich suche mir gleich mal den Schöneren aus.“ Sie schnappte sich die zwei kleinsten Taschen und folgte mir die Treppe hinauf. Franz bildete den Schluss der Karawane.

Oben angekommen kramte sie in ihrer Handtasche und gab Franz, dem menschlichen Packesel, ein saftiges Trinkgeld. Der strahlte. Sein Blick blieb an ihrem Dekolleté hängen. Franz sollte aufpassen, dass seine Moni das nicht mitbekam.

„Til, man sieht sich. I find selber raus.“ Er nickte mir grüßend zu und verschwand.

Biggi Z. sah sich in den Zimmern gründlich um und lächelte mich an.

„Herrlich, ich freue mich schon total.“ Sie klatschte doch tatsächlich in die Hände. „Mein Schatzi setzt großes Vertrauen in mich. Ich bin seit kurzem Coach für Management Motivation and Team Training. Es war gar nicht so einfach, die ganzen Kurse und Seminare zu machen und daneben noch meinen Schatzi nicht zu vernachlässigen.“ Sie kicherte. „Mein dicker Bär, ich hab manchmal echt gedacht, er ist eifersüchtig auf die Zeit, die ich mit den Leuten im Seminar verbringe. Er ist schon nicht zu kurz gekommen. Jetzt habe ich meine eigene kleine Firma gegründet und gleich dieser Auftrag. Ist das nicht geil?“ Sie fing an, in ihrer bunten Handtasche zu kramen, und hielt mir einen Flyer hin. „Hier, den habe ich entworfen. Sehen Sie: Designed by B.Z.“ – Sie sprach es Be-Punkt-Zet-Punkt aus – „Mein allererster Auftrag: Die Werbebroschüre anlässlich des 20-jährigen Firmenjubiläums.“

Obwohl ich aufgewühlt war, konnte ich nur mühsam den Impuls unterdrücken, ihr freundlich den Kopf zu tätscheln. Sie wirkte auf mich wie ein kleines Mädchen, das stolz sein Gebasteltes den Erwachsenen präsentiert und Lob erwartet. Automatisch griff ich nach dem Flyer und hörte mich unverbindliche Konversation machen: „Interessant, ich werde ihn mir später genauer anschauen.“

Sie strahlte mich an und witterte gleich eine Gelegenheit, ihren Stöckelschuh in die Türe zu stellen, wie ein tüchtiger Handelsvertreter. „Super! Sicher benötigen Sie für Ihr Haus auch Flyer. Ich kann Ihnen da etwas Tolles zaubern. Wenn das hier gut läuft, veranstalte ich meine Events öfters bei Ihnen. Wo haben Sie meine Kartons? Bevor J.K. ankommt, habe ich Zeit, die Sachen auszupacken und alles noch mal kurz durchzuschauen.“

Was für Kartons meinte sie?

„Es sind keine Kartons angekommen.“ „Sind Sie sicher? Ich habe die Sekretärin von J.K. explizit angewiesen. Das sind Materialien, die ich für das Event brauche. Das Ganze habe ich vor einer Woche verpackt. Die Paketdienste benötigen normalerweise nur ein oder maximal zwei Tage. Das ist ärgerlich. Frau Western hat zwar einen miserablen Kleidergeschmack, ist aber zuverlässig. Sieht der effizienten Chefsekretärin gar nicht ähnlich.“ Ihr perfekt geschminkter Mund verzog sich kurz zu einer Schnute. „J.K. wird lästern, von wegen planlos und blond. Entschuldigen Sie, ich muss kurz telefonieren. Ich komme nachher runter zu Ihnen und wir besprechen alles Weitere.“ Sie zückte ihr iPhone, ignorierte mich und fing an, heftig auf den Gesprächspartner am anderen Ende einzureden.

Irgendwie schaffte ich es die Treppe hinunter in die Vorhalle. Dort standen Monika und Karin und unterhielten sich. Noch ganz in Gedanken über Maierling und die Vergangenheit brütend, erwiderte ich den Gruß meiner zwei Angestellten kurz angebunden. Dies trug mir von beiden schräge Blicke ein. Über kurz oder lang würden sie mir mein stoffeliges Verhalten aufs Butterbrot schmieren. Egal. Ich musste Abstand gewinnen und raus. Angriff war immer die beste Verteidigung. Ich gab ihnen Anweisungen.

„Die Frau Zirkowski ist vorhin angekommen. Geht nachher zu ihr und besprecht alles Nötige. Sind der Fridolin und der Xaver schon da? Die andren Gäste werden auch bald eintreffen. Ihr schaut nach den Leuten. Ich muss weg.“

Ohne mich weiter um die zwei Frauen zu kümmern, stürmte ich von meinen inneren Dämonen getrieben nach draußen. Ich nahm den Pfad von der Tobelmühle hinauf zur Schlucht, wie immer, wenn es mir nicht gut geht, zieht es mich zum Achtobel.

Der Kauf der Tobelmühle war ein Gottesgeschenk. Vor fünf Jahren hatte das Pfeifen in meinem Ohr so stark zugenommen, dass ich teilweise wie taub war. Die Ärzte hatten mir klipp und klar gesagt, dass alle meine Beschwerden, – und das waren einige – auf Stress zurückzuführen waren. Ich sollte drastisch etwas in meinem Leben ändern, sonst könnte es sein, dass dieses Leben bald ein Ende fände.

Mein Umdenken fing an, als ich in einer Privatklinik in Bad Waldsee von einem Therapeuten gefragt wurde: „Für wen buckeln Sie denn so? Sie haben keine Familie, keine Freunde, wofür häufen Sie das ganze Geld an?“

Recht hatte er. Ich hatte Geld ohne Ende, aber niemand profitierte davon. Nicht einmal ich selbst. Nach dem Klinikaufenthalt begann ich zu reisen. Ich suchte nach einem Ort, an dem ich mich niederlassen wollte. Ich dachte an die Toskana oder Schottland.

Meine alte Heimat spielte bei diesen Überlegungen nie eine Rolle.

Ich hatte hier in der Gegend noch ein paar Dinge abzuwickeln. Dabei stieß ich während eines ausgedehnten Spazierganges eher zufällig auf den Achtobel. Damals wie heute verspürte ich eine tiefe innere Ruhe im Tobel.

Der unscheinbare Pfad zwängt sich etwas unvermittelt zwischen zwei Felswänden hindurch in eine Schlucht. Ein schmaler steiler Trampelpfad läuft den ganzen Tobel neben der Ach her.

Obwohl ich aufgewühlt war, bewegte ich mich vorsichtig. Als ich vorhin so spontan geflohen war, hatte ich nicht auf mein Schuhwerk geachtet. Einfache Sneaker sind für einen Spaziergang auf diesen Wegen ungeeignet. Zum Glück war der Boden in dem engen Tal nach längerer regenfreier Zeit verhältnismäßig trocken. Bei Regenwetter wäre ich gnadenlos abgerutscht und von dem reißenden Wildwasserfluss mitgerissen worden.

Egal was war: Hier im Achtobel fand ich immer meinen inneren Frieden. Der Fluss toste über mehrere Wasserfälle ins Tal Richtung Heimkirch. Dieses Rauschen übertönte jedes Geräusch in meinem Kopf. Das Wasserrauschen gab mir mein Gleichgewicht zurück.

Auch jetzt, als ich leicht keuchend dem höchsten Punkt über der Schlucht zustrebte, dort wo die große Kaskade aus dem kleinen stillen Bergsee am oberen Tobeleingang gespeist wurde, fiel die innere Anspannung von mir ab und der Lärm in meinem Kopf trat in den Hintergrund. Meine Schritte wurden langsamer, der Weg immer steiler und rutschiger, ich wurde ausgeglichener. Endlich stand ich auf dem kleinen Holzsteg, der über ein Wehr führte. Langsam beruhigte sich mein Atem.

Ich sah mich um und genoss wie immer die Aussicht: Am oberen Ende des Tales entsprang die Ach aus einem kleinen Bergsee. Geschickte Ingenieure brachten vor fast hundert Jahren dort, wo der See sich über einen Wasserfall in die Tiefe des Achtobels stürzte, ein Wehr an, um die Kraft des Wassers zur Stromerzeugung zu nutzen. Wenn man den Steg überquerte und dem Pfad weiter folgte, verließ man den Tobel und fand sich oberhalb der tiefen versteckten Schlucht im Wald wieder.

Mein Kraftort befand sich genau hier. Ich nahm mitten auf dem Steg Platz und ließ meine langen Beine über den Abgrund baumeln. Unter mir schoss das Wasser über das Wehr hinunter in den Tobel und nahm alle aufgewühlten Gefühle mit sich. Genau wie vor fünf Jahren saß ich hier, eingehüllt in das Rauschen des fallenden Wassers, taub für jedes andere Geräusch. Die warme Mittagssonne in meinem Rücken wie eine stützende Schulter, an die ich mich anlehnen konnte. Meine verkrampften Hände öffneten sich. Den Flyer hatte ich die ganze Zeit gehalten. Abwesend glättete ich das zerknüllte Hochglanzpapier und nahm die dort stehenden Informationen in mich auf.

Der Flyer stellte solide Arbeit dar: Ansprechendes Design, die Fotos professionell. Der Text entsprach dem üblichen nichtssagenden optimistischen ‚Wir sind eine super Firma und uns gibt es schon sehr viele Jahre‘-Einerlei, das man oft in solchen Informationsbroschüren fand.

Es geht ja nicht um Information, spottete ein Teil von mir, sondern darum, möglichst gut dazustehen. Was für ein Scheißtyp der Maierling in Wirklichkeit ist, das geht aus so einer Firmenbroschüre nicht hervor. Das Mädel ist gut. Sie verkauft ihn als freundlichen Onkel, der eine große glückliche Firmenfamilie streng aber gerecht führt. Ob sie den Scheiß selber glaubt? Kann man wirklich so blond sein?

Hasserfüllt betrachtete ich das freundlich lächelnde Bild des Josef Konrad Maierling, aufgenommen anlässlich der Zwanzig-Jahr-Feier seines Betriebs. Man sah ihn umgeben von wichtigen Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft. Im Werbetext war die Rede von über 2500 Mitarbeitern weltweit. Ein weiteres Bild zeigte ein Modell des neuen Firmengebäudes, laut Text innovativ, kreativ und umweltfreundlich.

„An Schmarrn! Kreativ ist der Kerl doch nur, wenn es drum geht, andren ihre Ideen zu klauen“, knurrte ich und zerriss das Bild des edlen Firmengründers. Der leichte Wind über dem Wasserfall erfasste die Papierschnipsel. Für einen kurzen Augenblick wünschte ich mir, dass die in den Wasserstrudeln versinkenden Schnipsel den Körper von Josef Konrad Maierling darstellten. Wir hatten uns nie persönlich kennengelernt. Ich war mir sicher, dass Maierling die feindliche Übernahme der Bull IT mit dem Namen Bullreitner nie in Verbindung bringen würde, vorausgesetzt, dass sich dieser halbseidene Kriminelle überhaupt noch daran erinnerte, dass er damals stark jenseits der Legalität gehandelt hatte. Der Schmerz bohrte wie Dauerzahnweh. Es war ja nicht einmal gesagt, dass er sich an Anita erinnerte. Meine Schwester und ihr ungeborenes Kind.

3. Tag 1: Sonntag, gegen 15:00 Uhr – Til

Nach und nach wurde ich ruhiger. Das wilde Achwasser, das unter mir gischtete, schien den wiederaufgeflammten Schmerz mit sich zu nehmen und von meiner Seele zu waschen. Die wärmende Sonne in meinem Rücken wanderte weiter, als wollte sie mir bedeuten, dass ich nun genug Kraft besaß, um weiterzumachen.

Es wurde Zeit, sich meinen Gästen zu stellen. Langsam wanderte ich den Tobel hinunter zurück zur Mühle. Die eine Woche würde ich überstehen. Mein Personal ist kompetent und ich kann mich jederzeit auf meine Leute verlassen. Wenn ich nicht wollte, würde ich nichts mit den Gästen zu tun haben.

Birgit Zirkowski hatte nur die Räumlichkeiten gemietet. Die Events würde sie selber gestalten. Ich könnte morgen wegfahren und einen Kurzurlaub nehmen. Vielleicht München oder Rom.

Ja, das war eindeutig die Lösung. Ich ignorierte die leise Stimme, die mir Feigheit vorwarf. Dieser innere Wächter meines Charakters war ein unbequemer und langweiliger Typ. Sarkastisch erwiderte die nun etwas lauter werdende Stimme in mir, dass diese Einstellung nicht wirklich von reifem Verhalten geprägt sei. Ein dritter Teil meiner Persönlichkeit wollte es sich gerade mit einer Tüte Popcorn in einem Sessel bequem machen, um den Schlagabtausch zu genießen, da brachte mich eine Stimme aus dem Konzept, die nicht zu meinem inneren Dialog gehörte.

„Nein, Schatz. Ich versuche, hier so schnell wie möglich wegzukommen. … Ich weiß … Dieses Zusammenkommen für seine Führungsriege ist reine Schikane. Er will seinem Betthäschen eine Freude machen. Das Ganze ist für die Tonne. Aber wenn ich gehe, dann bin ich den Job los. … Ja, er kann mir nicht kündigen, aber er kann mir das Leben zur Hölle machen. Er findet garantiert Möglichkeiten.“

Ich war inzwischen aus dem Tobel heraus und hatte den kleinen, sich windenden Trampelpfad durch den Wald zurück zur Tobelmühle erreicht. Ich blieb stehen. Hier schien jemand ein privates Gespräch zu führen, das definitiv nicht für fremde Ohren gedacht war. Nur was sollte ich tun? Einfach um die nächste Ecke biegen und in das Gespräch platzen? So tun, als ob ich nichts bemerkt hätte? Stehenbleiben und warten? Was, wenn mir jemand entgegenkam? Das sah auch nicht gerade gut aus, wenn er mich hier als offensichtlichen Lauscher ertappte. Bevor ich das Ganze sorgfältig abwägen konnte, stellte ich mich vorsichtshalber einen Schritt vom Weg entfernt hinter einen Baum. So ganz wohl fühlte ich mich als Mithörer zwar nicht, aber andererseits …

„Ja, ich würde auch am liebsten hinschmeißen. Was ist, wenn sie länger krank ist? Dann brauchen wir jeden Pfennig. Ich kann nicht einfach gehen, ohne eine andere Stelle in Aussicht … Wein doch nicht … Du musst jetzt tapfer sein. Liebling, ich muss jetzt Schluss machen. Ich ruf dich nachher noch mal an. Sag ihr, ich hab sie lieb und ich bin so bald wie möglich wieder bei euch … Ja, ich dich auch.“

Gut. Das Gespräch schien beendet. Ich würde noch fünf Minuten hier hinter meinem Baum verharren.

Aber so einfach war es dann doch nicht.

Als ich fünf Minuten später aus dem Wäldchen trat, sah ich einen Mann auf dem Bänkchen am Waldrand sitzen und auf die Tobelmühle starren. Es gab keine Möglichkeit, ungesehen an ihm vorbeizukommen. Die Frage war nur: grüßen und weitergehen oder ein Gespräch beginnen?

Ich beschloss, offensiv vorzugehen.

„Grüß Gott. Sind Sie unterwegs zum Achtobel? Hoffentlich haben Sie gutes Schuhwerk, der Weg dort ist tückisch.“

Der Angesprochene zuckte erschrocken zusammen.

„Habe ich Sie erschreckt? Das wollte ich nicht. Entschuldigung.“ Der Mann sah mich durch seine randlose Brille an und lächelte entschuldigend. „Ich war ganz in Gedanken. Da habe ich Sie nicht bemerkt. Mein Name ist Frank Munter, ich bin Gast in der Tobelmühle.“ Er streckte mir seine Hand zur Begrüßung entgegen. Mir fiel sein schlichter goldener Ehering auf und seine abgekauten Fingernägel.

„Erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Tilman Bullreitner. Ich bin der Besitzer der Mühle. Dann gehören Sie zu den Teilnehmern des Seminars. Schön, dass Sie da sind. Haben Sie schon eingecheckt?“

Munter seufzte, „Ja, ich bin Teilnehmer. Ich wollte kurz telefonieren, bevor ich mich in das Getümmel stürze. Meine kleine Tochter ist krank. Ich wäre lieber bei meiner Familie als hier.“

„Ja, das kann ich gut nachvollziehen. Können Sie sich nicht freinehmen?“

Er schüttelte den Kopf. Mit seinem blonden Meckischnitt, dem karierten Baumwollhemd und der leicht verwaschenen Jeans wirkte er auf mich wie einer dieser sauberen naiven amerikanischen Collegeboys, nicht wie ein Familienvater. Er rieb sich den Nacken. „Herr Maierling ist nicht bekannt dafür, seinen leitenden Angestellten zu erlauben, persönliche Belange vor seine Interessen zu stellen. Ich glaube, ich sollte jetzt einchecken.“

Wir gingen die kurze Strecke zur Mühle nebeneinander. „Sie sind jung für einen leitenden Posten. Was genau ist Ihre Position, wenn ich fragen darf?“, versuchte ich Konversation zu machen.

Munter lachte spontan. „Ich nehm‘ das als Kompliment. Ich bin dreißig, also gar nicht so jung. Ich bin einer der Chefinformatiker. Gerade erst vor Kurzem ging meine Beförderung durch. Entschuldigen Sie, ich muss noch meine Sachen aus dem Auto holen. Wir sehen uns sicher später.“

Er ging zu einem blauen Opel Astra, der neben anderen Wagen auf dem Parkplatz stand. Einige Teilnehmer waren in der Zeit, in der ich im Tobel gewesen war, angekommen.

In der Mühle stand Karin vorne an der Rezeption und machte sich Notizen. „Hallo Til, die Hälfte von de Leit sind do. Der große Boss isch au schon komma.“

Etwas an ihrem Tonfall verriet mir, dass J.K. Maierling sich nicht beliebt gemacht hatte. Mir konnte es egal sein, ich würde morgen für die Woche verschwinden.

„Mir hont im Speisesaal Kaffee und Kuchen hingstellt und dia Frau Zirkowski hot au scho noch dir gfrogt. Es geht um irgendwelche Pakete.“

Ich nickte ihr zu. Ich würde mich später um alles kümmern.

„Passt scho. Karin, wenn mi jemand sucht. I bin erst mol in der Küch. I hab Hunger.“

4. Tag 1: Sonntag, gegen 15:00 Uhr – Til

Mein Büro war so weit aufgeräumt, dass ich die Buchhaltung für die nächsten vier Wochen wieder meinen Angestellten überlassen konnte. Ich durchquerte das Foyer, um zwei Ordner zurückzustellen. Monika und Karin richteten im Speisesaal das Buffet für das Abendessen her. Vor dem Essen sollte es ein erstes Orientierungstreffen geben. Dafür und für den Rest der Woche hatte die Zirkowski den großen Seminarraum gebucht.

„Entschuldigen Sie bitte, können Sie mir helfen?” Ich drehte mich um. Vor mir stand eine ältere Frau und blickte mich Hilfe suchend an. Etwas deplatziert, wie ich fand, waren doch die anderen Gäste eher leger in Jeans und T-Shirt unterwegs. Diese Dame war in ein schlichtes dunkelblaues Kostüm mit weißer Bluse gekleidet. Der einzige Farbfleck war ein hübsches buntes Tuch um ihren Hals, das ihre halblangen silberfarbenen Haare geschickt zur Geltung brachte. Das dezent geschminkte Gesicht und die ganze Aufmachung verrieten, dass ich hier einer echten Dame gegenüberstand. Dass sich ihre Kleidung eher für ein Business Meeting als für ein Event à la Zirkowski eignete, ließen mich ein gewisses unabhängiges Denken vermuten. Wenn sie zwanzig Jahre jünger gewesen wäre oder ich fünfundzwanzig Jahre älter, ich hätte sie vom Fleck weg geheiratet. Ich setzte mein Lieblingsneffen-Lächeln-für-ältere-Tanten auf. „Gerne, sagen Sie mir wie.” Ihre Lachfältchen vertieften sich und waren durch ihre Brillengläser vergrößert. „Ich suche den großen Seminarraum.”

„Der ist drüben in der Mühle.” Sie sah mich verwirrt an. „Ich dachte, das hier sei die Mühle.”

„Das hier ist das Vogteihaus. Ursprünglich war die Tobelmühle ein klösterliches Gut. Die Wassermühle, ein Vogteihaus, diverse Stallungen und Gebäude. Ein kleines Dorf. Hier in der Vogtei sind die Gästezimmer und der Speisesaal untergebracht. Die Tobelmühle hat der Anlage ihren Namen gegeben, ist aber das kleinere Gebäude schräg gegenüber.”

„Oh wie spannend, ich interessiere mich sehr für mittelalterliche Geschichte. Da würde ich gerne mehr darüber erfahren.”

„Halten Sie den Mann nicht mit Ihrem dummen Geschwätz auf Frau Western”, mischte sich die poltrige Stimme eines Mannes in unseren beginnenden Flirt ein. Die Angesprochene zuckte kurz zusammen und verdrehte leicht genervt die Augen. Ich war mir sicher, sie zwinkerte mir zu, bevor sie sich mit ausdrucksloser Miene umdrehte und ihren Arbeitgeber begrüßte. „Hallo Herr Maierling, ich habe Sie gar nicht kommen hören. Der Herr war so freundlich, mir den Weg zu weisen.”

„Jetzt wissen Sie doch, wo Sie hinmüssen. Und sagen Sie mal, haben Sie denn überhaupt keinen Sinn für Mode? Wie Sie wieder angezogen sind.” Josef Konrad Maierling wirkte durch seine Körperfülle kleiner und gedrungener als seine 1,80 m. Er trug einen dunkelgrünen Trachtenanzug, Haferlschuhe und eines dieser leicht rosa gefärbten Trachtenhemden mit Rüschen. Die Rüschen sollten den starken Bauchansatz verdecken, scheiterten jedoch kläglich. An seinem rechten kleinen Finger prangte ein goldener Herrenring mit glitzernden Diamanten.

Frau Western blickte mich entschuldigend an, ähnlich wie ein Erwachsener den anderen, beim stummen Austausch über ein verzogenes Kind, und wandte sich ihrem Arbeitgeber zu: „Ich kann mich leider nicht so gut wie Sie der Umgebung anpassen. Ich hatte Ihren Sohn noch gefragt wegen des Dresscodes, aber Paul meinte nur, ich solle kommen so, wie ich mich wohlfühlte. Natürlich habe ich auch etwas Legeres dabei. Aber bevor ich hierherkam, habe ich noch einen Krankenbesuch gemacht. In Wolfegg.”

„Sie meinen wohl Peter, was hat er damit zu tun? ICH bin Ihr Chef.“

„Habe ich nicht Peter gesagt? Da muss ich wohl was verwechselt haben.” Sie blickte ihrem Chef direkt in die Augen „Ach ja. Wissen Sie, die Person, die ich besucht habe, heißt Paul. Ein sehr lieber Mensch, er ähnelt Peter sehr.”

Der bullige Mann senkte seinen Blick zuerst.

Sie lächelte mir noch einmal zu und ging dann Richtung Mühle davon.

Maierling war blass geworden und blickte ihr eine Weile brütend nach. Dann schien er sich wieder zu fangen, und fischte eine dicke fette Zigarre aus dem Inneren seiner Jankertasche. Er biss das eine Ende ab, spuckte es auf den Boden und zündete sie umständlich an. „Die dumme Pute ist meine Chefsekretärin. Total inkompetent. Hässliche vertrocknete dumme Kuh. Ich hab sie nur noch nicht rausgeschmissen, weil ich Mitleid mit ihr hab. Aber sie wird immer fahriger. Wenn sie ein Hund wär’, würde ich sie einschläfern lassen. So muss ich sie noch ertragen, bis sie in Pension geht, wenn sie nicht selber kündigt. Ein Kreuz mit dem Personal.”

Ich unterdrückte nur mühsam den Impuls, dem Typen einen Tritt zu versetzen, während er mit seiner Zigarre mein Foyer vernebelte.

„Verzeihen Sie, die Anlage ist ein reines Nichtraucherareal. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie die Zigarre ausmachen.”

Er lachte und paffte noch dickeren blauen Dunst in meine Richtung. „Ich bin Josef Maierling. Ich zahle für den ganzen Quatsch hier. Sie können mir gar nichts verbieten. Wenn ich will, kaufe ich Ihren ganzen Laden auf!”

Ich musterte ihn von unten bis oben und lächelte dünn. Das schien ihn etwas aus dem Konzept zu bringen.

„Es steht Ihnen frei, Herr Maierling, sofort wieder abzureisen, wenn Sie das wünschen. Das Seminar und die Räumlichkeiten wurden, soweit ich weiß, von einer Zirkowski Erlebnisagentur gebucht und nicht von Ihnen. Wir können es gerne darauf ankommen lassen.”

Heute war nicht sein Tag. Für einen Augenblick hielten seine Augen den Meinen beim Wettstaren stand, dann lenkte er mit einem nicht ganz echt klingenden Lachen ein und drückte seine Zigarre auf dem von mir gereichten Unterteller aus. „Wir sind Männer von Welt. Schön, wie Sie meinen Scherz so schnell durchschaut haben. Ich muss jetzt los. Mal schauen, was meine kleine Blonde da drüben so veranstaltet. Sie ist ein echt heißes Teil. Wir sehen uns.”

Ich starrte ihm nachdenklich hinterher. Mein innerer Schweinehund zog sich schmollend in seine Ecke zurück. Es würde keinen Kurztrip geben. Zumindest nicht, solange Josef Maierling in der Tobelmühle weilte.

5. Tag 1: Sonntag Abends – Til

Ich verließ die Vogtei, um in meine eigene Wohnung zu gehen. Die Seminarteilnehmer waren alle in der Mühle, Karin und Moni hatten im Speisesaal alles soweit vorbereitet. Nach dem Abendessen würden sie noch kurz bei mir vorbeischauen, um sich mit mir abzusprechen. Eigentlich unnötig, die Zwei führten das Seminarzentrum Tobelmühle seit seiner Eröffnung in eigener Regie.

Karin hatte lange im Ausland in den unterschiedlichsten Hotels gearbeitet. Sie war mir während eines Urlaubs in einem Ressort aufgefallen, weil sie ihr deutschsprachiges Personal in breitestem Allgäuer Dialekt instruierte, ansonsten perfektes Oxford Englisch sprach.

Moni war nicht weit über Heimkirch hinausgekommen. Ihre Ausbildung absolvierte sie in einem der großen Luxushotels in Lindau. Sie hatte ihren Franz fest im Griff. Die Hochzeit war für November geplant. Die zwei Turteltauben würden von mir ein besonderes Hochzeitsgeschenk bekommen. Die Planung hatte mir großen Spaß gemacht.

Auf dem Weg durch mein Dorf zu meiner Wohnung kam ich mir wie ein feudaler Großgrundbesitzer vor.

Der Tobelmühlenweiler war wie einer dieser Geisterstädte in einem Western. Aber eben nicht im Wilden Westen, sondern im Wilden Allgäu.

Das Anwesen stand sehr lange zum Verkauf. Eine Kombination von Erbstreitigkeiten und Auflagen des Denkmalamtes hatten jeden potenziellen Käufer abgeschreckt. Im alten Knechtehaus hauste ein verschrobener Eigenbrötler. Ich kaufte den ganzen verfallenen Weiler inklusive Fridolin.

Auch als reicher Mann konnte ich nicht alles auf einmal renovieren lassen. Ich überlegte bei meinem Spaziergang, was wohl als Nächstes gerichtet werden sollte. Ich schwankte: entweder das alte Backhaus oder die Mostpresse.

Als erste Baumaßnahme ließ ich damals einen der zahlreichen alten Schuppen zu einer Garage für meine Wagen und den Fuhrpark umbauen. Darüber wurde eine kleine Wohnung für Fridolin eingerichtet. Bei näherer Bekanntschaft war er gar nicht so spinnert. Er kümmerte sich nun um die ganzen Außenanlagen und die Obstwiesen und bekam von mir ein kleines Taschengeld. Die saubere warme Unterkunft und die regelmäßigen Mahlzeiten hatten dem alten Mann gutgetan.

Die Vogtei und die alte Wassermühle ließ ich anschließend nach und nach restaurieren. Es hatte drei Jahre gedauert, bis sie bezugsfertig waren.

Für mich wurde das alte Knechtehaus umgebaut. Dort war viele Jahre Fridolins primitive Behausung gewesen: ohne fließend Wasser, elektrischem Licht oder ausreichender Heizung.

Es lag ein bisschen abseits von den restlichen Gebäuden im Weiler und garantierte mir dadurch genügend Privatsphäre. Mein Personal musste ja nicht alles mitkriegen, was ich so trieb.

Ich folgte dem sanften Glimmern der Solarleuchten, die die Wegränder säumten.

Die abendliche Luft war frisch. Über mir schienen die Sterne, der fast volle Mond hing vor mir am Himmel. Um meine Beine spielten Nebelschwaden, die von den taunassen Wiesen aufstiegen.

Es knackte. Ich machte meine Taschenlampe an und leuchtete die Umgebung ab. Das grelle LED-Licht nagelte Fridolins dürres faltiges Gesicht fest.

„Hallo Fridolin, bist heute aber noch spät unterwegs.“ Normalerweise stand der alte Mann bei Sonnenaufgang auf und ging bei Sonnenuntergang ins Bett. Bei Vollmond wurde er etwas spinnert. Vielleicht war es schon wieder soweit.

„Pass bloß auf, dass der di it holt“, bruddelte der alte Mann undeutlich.

Es war nicht immer einfach, ihn zu verstehen. Fridolin besaß nur noch wenig Zähne, was seiner Aussprache nicht förderlich war und seinen breiten Dialekt auch für Sprachkundige in Kauderwelsch verwandelte. Außerdem vermutete ich, dass er einen Sprachfehler hatte.

Wenn der Mond ihm zusetzte, wurde es noch schlimmer. Er war unruhig, sprach wirr und manchmal wurde er verbal ausfällig.

„Der Huraseggl, der saubleede. Dem wird no ganz andersch werda. Wenn der it aufpasst, dann holt den no da Deifl. Der soll bloß aufpassa! Guck du nur, dass er di it mitnimmt!“

Ich hatte mit dem alten Arzt im Dorf besprochen, was zu tun war, wenn Fridolin einen dieser Anfälle bekam. Es war vielleicht nicht ganz das, was die moderne Medizin oder manche Moralapostel gut heißen würden, aber wir waren uns einig, dass es auf alle Fälle die bessere Lösung war, als den alten Mann in ein Heim zu stecken und ihn mit Beruhigungsmitteln vollzupumpen.

„Fridolin, komm mit. Es ist an der Zeit, deine Medizin zu nehmen. Ich hab noch was im Haus.“

Das dürre alte Männchen, das mir bis zur Brust ging, wenn er sich gerade hinstellte, folgte mir, weiter düster über Tod und Weltuntergang vor sich hin brummelnd.

Vor meinem Haus angekommen, bat ich ihn, zu warten, und kehrte kurz darauf mit einem Flachmann zurück, der für diesen Zweck immer gefüllt bereitstand.

Fridolin würde sich in seine Bude zurückziehen, den Schnaps trinken, einschlafen und morgen früh so normal sein, wie er sein konnte.

„Vergelts Gott!“, war noch undeutlich zu verstehen und weg war er.

Die Nacht war noch jung, dennoch war ich ziemlich erledigt. Unvorbereitet hatten mich heute Ereignisse konfrontiert, die für mich schmerzlich waren. Verarbeitet hatte ich sie noch lange nicht. Das Beste wäre, jetzt heiß zu duschen und hinterher ein Glas Tullamore Dew, ein Buch und etwas Musik. Erst gestern hatte ich die letzten Kartons mit Büchern ausgepackt und in den Regalen verstaut. Dabei waren mir ein oder zwei Romane in die Hände gefallen, die ich mir zum Lesen gleich auf die Seite gelegt hatte. Duschen konnte ich erst, wenn meine zwei Damen hier gewesen waren. Ich wollte nicht hetzen und ich hatte auch keine Lust, von ihnen aus der Dusche geholt zu werden.

So verschob ich mein Glas Whiskey erst einmal und kruschtelte im Haus herum. Karin und Moni ließen nicht lange auf sich warten.

„So an hundsmiserabler Haderlump woisch aber au“, platzte es aus Moni heraus. Sie war eine kleine rundliche Person. Wenn sie sich ärgerte, erinnerte sie mich stark an einen wütenden Gummiball. Ich hob meine Augenbrauen fragend und blickte über Moni hin zu Karin, die sie um gut zwanzig Zentimeter überragte.

„Der Maierling hat seine Grenzen getestet. Der hat vielleicht doofe Anmachsprüche drauf. Do woisch echt it, über was di mehr ärgern sollst: Weil die Sprüche so doof sind und deine Intelligenz beleidigen oder der Westentaschencasanova echt moint, er könnt mit so was landen.“

„I sag Dir, wenn der mir noch mal so kommt, dann werd ich ihm zeigen, zu was die Frau mit dem Holz vor der Hüttn fähig isch, des woisch aber au!“ Moni hatte wie die meisten kleinen Frauen Temperament für zwei und konnte selber recht ausfallend werden.

„Solange du ihm nicht ein Messer in die Rippen stichst, oder dich erwischen lässt, wie du ihm in die Suppe spuckst“, meinte ich trocken. „Ich werd morgen mit dem Herrn noch mal reden und ihm klipp und klar sagen, dass, auch wenn er Gast ist, er sich an Regeln zu halten hat, sonst erteile ich ihm Hausverbot.“

Meine zwei Damen wirkten erleichtert. Konnte es sein, dass sie wirklich gedacht hatten, ich würde sie nicht in Schutz nehmen?

„Sind die andren Gäste auch solche Kotzbrocka?“ Moni beruhigte sich. „Noi, die sind echt nett. Die Frau Western ist höflich und sogar die Freundin von dem Lombaseggl ist eigentlich a ganz Liebe. Ich glaub, der geht bei der auch neaba naus. Sonst würde der uns doch nicht so anbaggern.“ „Meinst nicht, dass das eher so eine Art Reflex ist? Wenn er ’ne attraktive Frau sieht, muss er baggern?“, versuchte ich sie aufzuziehen.

„Kennt au sei, aber woisch, i glaubs it. I hob do was mitkriegt, als i des Buffet abgräumt hob. I denk, der versucht seine Freundin irgendwie auszutricksen.“

„Nun erzähl scho, spann uns net auf die Folter.“ „Also i war gerade am Abräumen und die Frau Western, die Sekretärin von dem Maierling, die war gerad am Gehen. Da kommt die Zirkowski und fragt sie, warum die Paket it abgeschickt worda seiat. Die Frau Western hat ganz verdutzt guckt. Und hat dann gemeint, der Chef hätte ihr ausdrücklich gesagt, sie soll die Pakete doch nicht rausschicken, er täte sie selbst mitbringa.“ „Ach hat der Maierling die Pakete mitgebracht? Dann ist ja alles gut.“ „Noi isch es it. Der Maierling kam dann gerade noch dazu und hat gehört, was die Frau Western erzählte. Der wurde richtig fuchsig. Der hat doch behauptet, er hätte so was nie gesagt und die Frau Western sei jetzt schuld, dass die Zirkowksi ihr Event da Bach ’nunter ganga dät.“

„Wie hat denn die Frau Western darauf reagiert?“, wollte ich wissen.

Moni grinste: „Woisch des war lustig. Sie wurde blass, aber dann sah sie dem Arsch ins Gesicht und meinte: ‚Dann muss ich mich entschuldigen, dass ich das falsch verstanden habe. Ich habe persönlich gesehen, wie der Bürobote die Pakete in Ihren Kofferraum geladen hat. Er wird das gerne bezeugen. Vielleicht haben Sie ja den Kofferraum gar nicht aufgemacht und Ihr Gepäck einfach hinten auf den Rücksitz gestellt.‘ Des war schon lustig, die sind zu dritt raus auf den Parkplatz. Ich war inzwischen fertig mit dem Abräumen und hab dann was im Foyer gerichtet. Als die drei von draußen reinkamen, hatte Maierling ein rotes Gesicht, an seiner Schläfe, da pochte eine Ader. Der war so was von stinkig. Seine Freundin sah extrem nachdenklich aus.“

6. Tag 2: Montag in der Früh – Til

Das Licht stahl sich in mein Schlafzimmer. Ausgeschlafen war anders. Also konnte ich genauso gut aufstehen und etwas unternehmen. Ich wählte Joggen als Option, die Müdigkeit aus meinen Knochen und die beginnenden Kopfschmerzen zu vertreiben.

Die Septembersonne kämpfte sich durch die morgendlichen Wolken, während ich über die Wald- und Wiesenwege lief. Je heller und sonniger der Tag wurde, desto mehr hob sich meine Stimmung. Das Rauschen in meinem Ohr hatte sich zurückgezogen. Ich wusste, es lauerte knapp hinter der Grenze des Hörbaren, aber momentan war es gut.

Keuchend hielt ich oben auf dem Hügel an. Von hier hatte ich einen allumfassenden Blick über die Tobelmühle. Das war mir zuvor gar nicht so aufgefallen. Ich würde öfters hierherkommen. Es roch nach nassen Blättern, Spinnweben, Pilzen, frisch gemähtem Gras und Ruhe.

Unten am Waldrand sah ich zwei Gestalten die nebeneinander hertrotteten. Teilnehmer des Zirkowski Zirkus, die dem morgendlichen Ritual des Joggens frönten. Beide trugen dunkle Trainingsanzüge. Soweit ich das aus der Entfernung sehen konnte, hatte ich sie noch nicht kennengelernt. Sie waren etwa gleich groß. Der eine hatte dunkle Haare, der andre helle blonde. Von hier oben wirkten sie ein bisschen wie Brüder. Die Zwei wurden langsamer und blieben stehen. Der Blonde stand vor dem Dunkelhaarigen, sie schienen sich kurz zu unterhalten. Dann hob der Dunklere seinen Arm und fuhr dem anderen mit einer, auch aus der Distanz, zärtlich wirkenden Geste übers Gesicht. Sie küssten sich kurz und verschwanden Händchen haltend im Wald.

Ich blickte den Zweien etwas neidisch nach. Ich bin kein Kind von Traurigkeit, aber in all den Jahren begegnete ich noch keiner Frau, bei der ich diese Vertrautheit empfunden hätte, die ich bei diesen zwei Männern zu sehen glaubte.

Ob Maierling wusste, dass er ein homosexuelles Paar in seinem Führungsstab hatte? Ich bezweifelte es. Wäre interessant, Mäuschen zu spielen, wenn er es je herausfände. So wie ich ihn einschätzte, würde er sich in seiner Männlichkeit bedroht fühlen.

Es war Zeit fürs Frühstück. Auf der schmalen Straße von Heimkirch her sah ich den Fiat Panda von Karin die Kurven herauf schnaufen. Ich grinste. Der Wagen war ein Witz auf Rädern. Sie hatte ihn vor ein paar Jahren bei einem Wettbewerb gewonnen. Er war knallgelb mit löchrigen Schatten und auf den Wagentüren stand das sinnige Logo des damaligen Sponsors in schwarzen Lettern. Karin hätte ihn umlackieren lassen können, stattdessen hatte sie den Wagen in Anspielung auf den Sponsor Käsimir getauft.

Ich joggte zurück zu meiner Wohnung. Ich würde heute noch einige Telefongespräche führen. Es war an der Zeit, den Plan, der sich in der unruhigen Nacht vage abgezeichnet hatte, in eine konkretere Form zu bringen.

Unten im Weiler wollte ich zu meinem Haus abbiegen, als mich ein „Juhu, Herr Bullreitner!“, erreichte. Ich blieb stehen und blickte mich um. Meine Augen wurden durch Biggi Zirkowski in einem eng anliegenden Jogginganzug geblendet, die zielstrebig auf mich zu trabte. Diverse üppige Körperteile hoben und senkten sich dabei auf eine Art und Weise, die bei mir pawlowsche Reflexe auslöste.

„Sind Sie auch ein Fitness-Anhänger? Mein Bär schläft noch. Aber ich muss mich bewegen, sonst wird das mit den Pfunden zu viel. Seitdem ich die Ausbildung zum Coach für Management Motivation and Team Training gemacht habe, bin ich mir erst so richtig bewusst geworden, wie wichtig es ist, auf seine körperliche Fitness zu achten. Seitdem treibe ich regelmäßig Sport und es geht mir wirklich sehr viel besser. Und hier ist es ja wirklich herrlich. Die frische saubere Luft, einfach wunderbar. Habe ich Ihnen schon erzählt, dass mein Brummbär die Pakete mitgebracht hat? Ich muss mich beeilen, denn ich will noch vor dem Frühstück alles auspacken und soweit vorbereiten. Sie entschuldigen mich?“

Damit winkte sie mir noch einmal fröhlich zu. Während sie zur Tobelmühle trabte, wurde mir der erfreuliche Anblick ihres verlängerten Rückens geschenkt, der sich rhythmisch auf und ab bewegte. Maierling war ein Schwein, aber ein kleines Bisschen beneidete ich ihn schon. - Nein, eigentlich nicht, das Weibchen wär‘ mir schnell auf den Keks gegangen. Meine körperlichen Reaktionen ließen eher darauf schließen, dass ich nicht fürs Zölibat geeignet war. Es war eindeutig Zeit, für eine lange kalte Dusche und einen Urlaub mit schönen und willigen Frauen.

Ich duschte dann doch lieber warm und gönnte mir anschließend meinen ersten Kaffee des Tages. In meinem kleinen Büro erledigte ich einige Telefonanrufe und schrieb Mails. Nach einer Stunde konzentrierter Arbeit konnte ich zufrieden sein. Für J.K. Maierling würde es in der nächsten Zeit einige unangenehme Momente geben. Mit etwas Glück schon heute im Laufe des Tages.

7. Montag, Vormittag, gegen 8:00 Uhr – Til

Höchst zufrieden mit meinen morgendlichen Aktivitäten, beschloss ich, nach Fridolin zu schauen, um ihn zum Vesper mit ins Haupthaus zu nehmen. Er isst wenig, deshalb achten meine Leute und ich darauf, dass er nicht ganz vom Fleisch fällt.

Ich bin mir nicht sicher, ob Fridolin wirklich so wirr ist. Einige seiner rätselhaften Äußerungen treffen erstaunlich oft den Punkt. Ich hege den Verdacht, dass er, wie viele Allgäuer, hellsichtige Veranlagungen besitzt, aber nicht immer unterscheiden kann zwischen den eigenen Gefühlen und denen der Anderen. Das würde auch erklären, warum er sich hier verschanzt hat. Die Gefahr, hier Gefühle und Gedanken von anderen Menschen aufzunehmen, war gering, bis ich das Anwesen erwarb.

Wenn Gäste auf dem Gut sind, hält Fridolin Abstand. Er sucht sich Arbeit, die ihn weit weg von den Leuten hält. Die Gruppe um Birgit Zirkowski stellt die bis jetzt größte Menschenmenge auf der Tobelmühle dar. Eine Herausforderung, vielleicht eine Bedrohung seines brüchigen inneren Gleichgewichts. Deshalb entwickelte ich einen Plan, der ihn ablenken sollte.

Ich fand den alten Mann auf der Streuobstwiese. Er hatte begonnen, die Äpfel zu ernten. Jetzt aber stand er bewegungslos mit einem verzückten Gesichtsausdruck vor einem Baum. Er summte.

Als er mich bemerkte, lächelte er mich mit seinen zahnlosem Gaumen an.

„Imma! Machat Honig. Wo dia wohnat gibt’s koin Streit. Hörsch se?“

Genau um die Bienen ging es. Letzten Frühling verirrten sich ein paar Bienenschwärme hierher. Wir merkten es erst, als die Bienen sich schon häuslich in einigen hohlen Bäumen auf der Streuobstwiese eingerichtet hatten. Fridolin liebt Bienen. Das Summen scheint ihn zu beruhigen.

„Alter Freund, du weißt, die Bienen können hier nicht bleiben. Wenn der Winter kommt, sterben sie. Es ist zu kalt.“

„Die Imma diarfat it fort vom Hof, des bringt Unheil.“ „Nein, nicht weg. Aber in ein Bienenhaus. Was meinst? Das alte Bienenhaus, das kannst du zusammen mit dem Xaver richten. Wir versuchen dann, die Bienen umzusiedeln.“ Xaver Endres besitzt den angrenzenden Bergbauernhof. Er macht die Arbeiten, für die Fridolin kein Interesse zeigt oder für die er zu schwach ist. Am Anfang gab es ein paar Reibereien. Der junge Kerl kapierte schnell, dass er von dem wunderlichen Alten viel lernen kann.

Fridolin strahlte mich an.

„Gut, dann komm mit, der Xaver kommt nachher gleich zum Haupthaus, dann könnt ihr zusammen losziehen und einkaufen.“

Wenn Fridolin sich darauf vorbereiten kann und ein Ziel hat, kann er auch einige Zeit unter Fremden verbringen. Seine Sensibilität würde ihn nicht in Schwierigkeiten bringen, wenn er mit Xaver als seinen Anker zur Sägemühle und in den Baumarkt fahren würde, um einzukaufen.

In einvernehmlichen Schweigen gingen wir zum Haupthaus, um dort in der Gesindestube zu frühstücken. Xaver, von mir heute Morgen telefonisch angefordert, würde dort zu uns stoßen.

Wir wollten gerade ins Haus eintreten, als uns J.K. Maierling in Begleitung eines anderen Mannes den Weg blockierte.

Nach einem kurzen Blick auf Fridolin, ignorierte er ihn komplett und blaffte mich an:

„Wissen Sie, wo Biggi abgeblieben ist? Ich suche sie schon seit einer ganzen Weile. Der Herr Gruber ist gerade angekommen. Ich habe ihn kurzfristig eingeladen. In ihrem Saftladen scheint niemand zuständig zu sein. Ich habe Ihrer Angestellten gesagt, ich will noch ein Zimmer für ihn und sofort ein Frühstück. Das freche Mensch meinte, sie wird sich drum kümmern, wenn sie Zeit findet. Außerdem müsste sie erst mit Biggi Rücksprache halten. Schließlich sei kein Zimmer für Sven reserviert worden. Also ich muss schon sagen. Wenn das mein Personal wäre, die würde sofort fliegen. So unfreundlich und patzig wie die sich benimmt. Ich bin ein wichtiger Kunde, ich hätte nicht übel Lust sofort abzureisen.“

Maierlings Begleiter war die Szene sichtlich peinlich. Bevor ich zu einer Antwort ansetzen konnte, streckte er mir und anschließend auch Fridolin die Hand zum Gruß entgegen.

„Sven Gruber. Es tut mir leid, wenn ich Ungelegenheiten bereite. Der Herr Maierling rief mich gestern Abend an und meinte, es würde mir sicher Spaß machen, an dem Event hier teilzunehmen. Da der Landtag gerade pausiert, ergriff ich die Gelegenheit beim Schopf und fuhr spontan her.“

Wahrscheinlich versprach sich Maierling irgendeinen Vorteil davon, den Politiker hier zu beherbergen. Ich schätzte Gruber auf Mitte dreißig. Mit seinen 1,80 m und seinem eher stämmigen Körperbau würde er in ein paar Jahren, wenn er nicht Gegenmaßnahmen ergriff, dem verstorbenen Landesvater Franz-Josef ähnlich sehen.

Was bei den Landeskindern hier nicht unbedingt ein Manko darstellen dürfte. Momentan wirkte er auf mich in seinem dunklen Anzug, dem weißen Hemd, dem sauber rasierten Gesicht und dem blonden Kurzhaarschnitt nichtssagend, wie viele aufstrebende Jungpolitiker.

„Erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Herr Gruber“, ignorierte ich Maierling bewusst. „Es ist sicherlich nur eine Formalität. Meine Mitarbeiterin verhielt sich korrekt. Frau Zirkowski zeichnet verantwortlich für das Event. Sie muss ihre Einwilligung geben, bevor wir ein weiteres Zimmer zur Verfügung stellen. Mein Personal bereitet gerade das Frühstücksbuffet vor, das von Frau Zirkowski explizit ab 8:30 Uhr für heute bestellt wurde. Ich zeige Ihnen gerne, wo das Frühstückszimmer ist. Ich denke, einen Kaffee können Sie sich jetzt schon einschenken. Es gibt einen Kaffeeautomaten, damit die Gäste eine größere Auswahl haben.“

Fridolin stand die ganze Zeit neben mir und betrachtete die zwei Männer eingehend. Er hatte die Hand von Sven Gruber zögernd genommen und ebenso zögerlich losgelassen. Jetzt kam Bewegung in den alten Mann. Er blickte dem Politiker direkt in die Augen und sagte erstaunlich deutlich: „Pass auf, mit wem du Freind sei willsch, Kerle. Wenn ma dem Deifl die Hand reicht, sollt ma hinterher seine Finger zähla. Was als Gfalla agfanga hot, ka schnell im Knascht enda.“

Gruber sah Fridolin verständnislos an.

Maierlings Gesicht imitierte die Farbe einer reifen Tomate. Eine kleine Ader an seiner Schläfe fing an zu pochen. Schon brach der Sturm los.

„Was fällt dem Bachel denn ein? Wie kommen Sie denn dazu, einen hirnlosen Idioten hier frei herumlaufen zu lassen? So was gehört eingesperrt! Früher wusste man, was mit solchen Halbgaren zu tun war. Viel zu lasch heute. Der ist gemeingefährlich. Ich verlange, dass Sie diesen, falsche Beschuldigungen brabbelnden Säufer sofort entfernen! Wie komm ich denn dazu, mir so etwas anhören zu müssen?“

Ich befürchtete, dass er Fridolin tätlich angreifen würde, und wollte mich schon schützend dazwischen stellen.

Fridolin beachtete den Wutanfall nicht weiter, sah Maierling in die Augen und erwiderte: „Troffene Hunde bellat. Hosch it selber so an Bachel? Pass auf, dass di net der Gottseibeiuns holt. Der isch nah und hot di scho im Aug.“

Im Hintergrund bemerkte ich Xaver Endres, der die Szene sichtlich genoss. Auf ein Zeichen von mir setzte er sich in Bewegung, ignorierte Maierling und seinen Bekannten und sprach Fridolin an, während er ihn kameradschaftlich den Arm um die Schulter legte.

„Griass di Fridolin. Komm, mir gangat zum Vesper. Woist scho, was mir alles kaufen müssen für die Bienen?“

Fridolins Gesicht strahlte „D‘ Imma …“ Beide verschwanden Richtung Hintereingang.

Meine Lungen schmerzten. Vorsichtig begann ich wieder zu atmen. Fridolin im Sehermodus konnte einem Gänsehaut bescheren. Er traf oft ins Schwarze. Ein Glück, das er mich nicht auch noch ins Visier genommen hatte. Ich würde in den nächsten Tagen Abstand halten.

Sven Gruber löste sich als Erster aus der Starre. Sein Lachen klang gekünstelt. „Da haben Sie ein richtiges Unikum auf ihrem Hof. So ein Idiot Savant sieht man nicht alle Tage.“

Maierling war während Fridolins Rede blass geworden, sagte aber nichts.

„Fridolin lebt sein ganzes Leben hier auf der Tobelmühle“, erklärte ich. „Er kam in den 1950ern als kleiner Junge hierher, um als Knecht zu arbeiten. Er hat die Gegend nie verlassen, ging nie zur Schule. Ich hab ihn sozusagen mit dem Grund zusammen erworben. Er kennt nichts anderes und er wird hier bleiben, solange er möchte und solange ich hier das Sagen habe.“

„Juhu, Schatzi“, machte sich Biggi Z. bemerkbar.

Maierling erwachte aus seiner Starre und wandte sich seiner Herzensdame zu. Grubers Augen fingen an zu strahlen. Ihr Jogginganzug löste auch bei anderen Männern Reaktionen aus.

„Hast du mich vermisst? Das ist süß, mein Bärli.“ Biggi pflanzte ihrem Bärli einen dicken Schmatz auf die Wange. „Hach, ich bin noch ganz verschwitzt. Kannst du schon mal zum Frühstück vorgehen? Ich muss mich dringendst duschen. Kenne ich deine Begleitung?“

Maierling plusterte sich auf, nahm seine Biggi um die Hüfte und grapschte sie deftig am Arsch. „Das ist Sven Gruber, er wird am Seminar teilnehmen. Sven, lassen Sie sich von dem Herrn hier zeigen, wo es Frühstück gibt. Ich muss mit meiner Holden hier ein paar Dinge klären. Komm Süße. Papa seift dir den Rücken ein.“

Vielleicht irrte ich mich. Biggi Z. schien irritiert, Sven Gruber einfach der Gästeliste zugefügt zu bekommen. Das kurze Stirnrunzeln konnte auch darauf zurückzuführen sein, dass Maierling sie derb in den Hintern zwickte, während die Zwei durch die Eingangstür des Vogteihauses verschwanden.

8. Tag 2: Montagvormittag – Til

Beim gemeinsamen Angestelltenvesper versorgte Moni die Tobelmühlencrew mit Magenbrot und gerösteten Erdnüssen vom Rummel. „Der Franz und i, mir sind gestern noch nach Wanga gefahren, zum Matthäusmarkt.“ Sie gluckste. „Mein Kerle war echt süß, er hat mir ein riesiges Lebkuchenherz geschenkt.“

Fritz, mein Koch, rümpfte die Nase über das angebotene Magenbrot, nahm auf Monis Drängen doch ein Stück. „Nur, weil du es bist. Das Zeug ist doch reine Chemie. Würde einen Atomangriff überstehen. Schrecklich.“

Fridolin tunkte das dritte Stück in seinen Milchkaffee. Er liebte Krämermärkte. „Dees isch guat. Nimm no oins“, drängte er den Chef de Cuisine, der abwinkte.

„Ich weiß, du magst dies Süßzeugs. Damals in der guten alten Zeit, musstest ja auch das ganze Jahr schuften. Da waren Matthei und Martini die einzigen Zeiten, wo du ein bisschen auf den Putz hauen konntest“, spielte Fritz auf Fridolins hartes Leben als Schwabenkind und Knecht im Allgäu an. „Soll ich dir mal richtig gute Lebkuchen backen?“

Während ich meinen Angestellten zuhörte, kam mir eine Idee: Nicht ganz uneigennützig beschloss ich, Fridolin eine Freude zu machen. Der Markt würde ihn von dem, was ich mit Maierling vorhatte, ablenken.

„Was meinst Fridolin? Der Xaver und du, ihr fahrt nach Wanga in den Baumarkt, erledigt dort die Einkäufe und nachher geht ihr noch auf den Rummel? Ich lade euch ein.“

Fridolin strahlte und nickte stumm.

„Xaver, kommst nachher kurz ins Büro, holst das Geld ab. Macht Euch einen schönen Tag“, beschied ich.

Später klopfte Biggi Zirkowski an meine Bürotür. Ich erkannte sie fast nicht wieder: Die Klimperkettchen auf ein Minimum reduziert, trug sie Jeans, T-Shirt und Sneaker.

„Huhu, Herr Bullreitner. Darf ich kurz stören? Wir fangen gleich an mit unserer ersten Kennenlern-Session an. Ich freu mich richtig. Das wird einfach super! Aber ich hab noch ein oder zwei Kleinigkeiten, da benötige ich Ihre Hilfe.“ Sie blickte mich kokett an und klimperte mit den Wimpern.

Vielleicht ergab sich hier eine Gelegenheit, einen Teil meiner Anti-Maierling-Kampagne zu starten. „Wie kann ich denn helfen?“

„Das Erste ist ganz einfach. Ich möchte vermeiden, dass dauernd irgendjemand mit Handy oder Tablet hantiert, während des Seminars. Mit diesen Computermenschen ist das echt schwer zu erreichen. Deshalb habe ich mir gedacht, wir packen alles in einen Karton. Ich möchte den Karton bei Ihnen lagern, damit Sie ihn einschließen bis zum Ende der Tagung.“

Manche Leute hatten Ideen. „Das kann ich nicht tun, Frau Zirkowski.“

„Wieso nicht? Das ist doch ganz einfach. Es wird sicherlich keiner quer schießen.“

Das konnte ich mir denken, wenn die Freundin vom Chef was verlangte und der Chef im Hintergrund zuguckte.

„Das ist ein Eingriff in die Persönlichkeitsrechte. Einfacher ist es, Sie bitten Ihre Teilnehmer, die Handys und iPhones in den Zimmern zu lassen.“

Biggi Z. zog eine Schnute, runzelte die Stirn und nickte dann. „Ja das geht auch. Da wär ich nie drauf gekommen. Da gibt’s noch etwas: Ich habe vorhin aufgeschnappt, es findet hier irgendwo ein Jahrmarkt statt. Es wäre doch ganz lustig, wenn meine Gruppe heute Nachmittag da hinginge.“

„Das ist in Wangen. Krämermarkt und Rummel. Soll ich den Bus bereitstellen lassen?“

„Öffentliche Verkehrsmittel finde ich umständlich mit einer Gruppe. Wenn man den letzten Bus zurück verpasst, sitzt man fest. Ich glaube nicht, dass mein Bär da mitmacht. In manchen Dingen ist er ein bisschen faul und wird brummelig.“

Ich schüttelte den Kopf. „Das meinte ich nicht. Wir haben einen Fuhrpark. Dazu gehört auch ein kleiner Bus, den können Sie mieten. Der Franz, der Sie gestern zur Mühle gefahren hat, ist sicher bereit, gegen den entsprechenden Obolus, Ihr Chauffeur zu sein. Wenn Sie möchten, ruf ich ihn an und vereinbare einen Termin. Wann würden Sie gern fahren?“

„Supi! Sie sind wahnsinnig nett. Arrangieren Sie das mit dem Busfahrer für, sagen wir halb drei. Ich freu mich. Riesenradfahren, Zuckerwatte, das macht allen Spaß. Vielen Dank für Ihre Hilfe.“

Weg war sie.

Kurz darauf klopfte es wieder. Heute wollte wohl jeder etwas von mir.

Karins Kopf erschien im Türrahmen: „Du Til, die Frau Zirkowski hat mir grad gesagt, ich soll das Abendbrot streicha.“

„Sie hat mitgekriegt, wie ihr vom Rummel in Wangen geschwärmt habt. Ich hab grade den Franz angerufen, der fährt Sie nachher mit unserm Postbusle. Der Fritz soll trotzdem vorsichtshalber ein kaltes Buffet und Thermoskannen mit Tee herrichten.“

Karin machte ein unglückliches Gesicht: „Das darfst du dem Fritz selber ausrichten.“

„Ach komm, ihr könnt früher Feierabend machen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Fritz da querschießt.“ Ich wechselte das Thema: „Haben sich unsere Gäste eingelebt? Ich weiß, der Herr Maierling ist nicht so wirklich das Gelbe vom Ei. Aber die Anderen?“

Karin kam in den Raum, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und richtete sich auf einen kleinen Schwatz ein.

„Der Maierling ist echt ein Kotzbrocken. Wie kann jemand so konsequent unfreundlich und proletenhaft sein? Sein Sohn ist da anders.“

„Was für ein Sohn?“ Ich war verwirrt.

„Einer der Teilnehmer. Hast du noch nicht alle getroffen?“ Ich schüttelte den Kopf. „Ich war ja nicht die ganze Zeit da. Wie viel sind’s denn?“ Es klopfte und Moni öffnete die Tür: „Karin, dich hab i gesucht.“ „Komm rein, Moni“, forderte ich sie auf. „Mir ratschat. Macht euch doch ’nen Kaffee. Karin wollte mir gerade ein bisschen über unsere Gäste erzählen.“ Moni schloss die Tür und übernahm die Bedienung der Kaffeemaschine.

Ich stellte die Keksdose, die immer gut gefüllt in einer der Schubladen auf ihren Einsatz wartete, auf den Schreibtisch.

„Wie viel Leut‘ sind es denn jetzt? Ich hab ein wenig den Überblick verloren, nachdem noch der Politiker dazugekommen ist“, brachte ich das Gespräch wieder in Gang.

Karin nippte an ihrem Kaffee „Sieben. Die Zirkowski, ihr Typ, der Maierling. Sein Sohn Peter. Die Sekretärin, die Frau Western. Die ist echt a Liebe. Dann noch zwei Kerle: der Herr Munter, der ist dauernd am Telefonieren und ein Herr Petersen. Der Sven Gruber ist ja noch dazu gekommen.“

Moni strahlte. „Der Gruber ist ein VIP, eine kommende Größe in seiner Partei. Woisch, wenn der so weiter macht, ist der in ein paar Jahren Ministerpräsident … Und so höflich. I hab gesehen, wie er der Zirkowski und der Frau Western immer den Vortritt lässt. Ganz alte Schule. An echter Kavalier. Der steht auf, wenn die ins Zimmer kommen, hält ihnen die Tür auf und grüßt total höflich. Woisch, solche Männer sind echt selta.“

Ich konnte mir gut vorstellen, dass die für einen Politiker notwendigen guten Manieren positiv auffielen, wenn sie in direktem Kontrast zu dem üblichen Verhalten von J.K. Maierling standen.

„Moni, du bist doch voreingenommen“, zog ich sie ein wenig auf. „Der Maierling hat dich geärgert und deshalb kann der doch gar nichts mehr richtig machen.“

Moni lief rot an. „Der Maierling isch an dreckiger alter Sack. Der hat mir doch glatt an da Busa grabscht. Aber dem hon i oine zunda, dees woisch aber sicher!“ Je mehr sich Moni aufregte, desto breiter wurde ihr Dialekt. „Wenn sowas nomol vorkommt, dann kann er seine Oier beim Fritz in da Kücha sucha ganga!“

Während ich darüber nachdachte, was mein Koch aus Hoden à la Maierling machen würde, hatte Moni sich wieder halbwegs beruhigt.

„Und glaub du ja nicht, dass seine Freundin das nicht weiß, dass der ein Eins-A-Arschloch ist. Die ist dabei, sich abzuseilen, die polstert nur ihr Nest vorher. Recht hat sie.“

Ich hatte versprochen, Maierling zu verwarnen, aber da waren wohl härtere Bandagen gefragt. Zwar wussten Moni und Karin sich zu wehren, aber solches Benehmen ging zu weit. Ich überlegte kurz, welche Art Botschaft Maierling verstehen würde. Vage formte sich eine Idee. Aber eins nach dem andern. Was meinte Moni mit ihrem Kommentar über Biggi Z.? Ich hakte nach.

„Ha, die trägt zwar Designerklamotten, aber ich würde mit dir wetten, dass die Second Hand einkauft. Karin, hast du ihre Koffer bemerkt?“

Karin nickte. „Ich glaub, du hast recht.“ Die zwei Frauen sahen sich an und waren sich einig. Ich kam mir vor wie jemand, der Mitgliedern einer Geheimorganisation zuhörte und die Codeworte nicht kannte.

„Was habt ihr denn gegen ihre Koffer? Ich fand die zwar etwas bunt, doch funktionell.“

Moni schnaubte „Kerle. Des war ein kompletter Satz Designer Koffer. Weißt du, was so was kostet?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Mehr, als du uns zusammen so in zwei Monaten zahlst. Obwohl man dich nicht geizig nennen kann.“

„Und was ist da jetzt so komisch dran? Sie hat einen reichen Freund, der ihr die Sachen schenkt.“

Moni grinste und Karin kicherte.

Karin erbarmte sich meiner: „I war grad zufällig im Raum, als die Frau Zirkowski ihrem Schatzi die Koffer zeigte und behauptete, die seien nigelnagelneu. Was moinsch Moni? I tipp auf eBay.“

Diese nickte, während sie einen Keks in den Kaffee tunkte. „Jo und mindestens letzte Saison. Hast du gesehen, wie die Ecken an der einen Tasche abgewetzt waren?“

Xaver unterbrach unsere gemütliche Tratschrunde, um das Geld abzuholen.

Mein Plan, wie ich Maierling einen Denkzettel in puncto Frauenbehandlung erteilen konnte, war ausgereift und nachdem ich Xaver instruiert hatte, verließ ich mit ihm mein Büro. Fridolin, der im Foyer wartete, kam auf mich zu und sah mir direkt in die Augen.

„Bua, lass das. Mein ist die Rache, spricht der Herr. Lad dir do koi Sünd auf.“ Das dürre Männchen hielt mich mit seinem Blick fest. Seine hellgrauen Augen blickten klar und ungetrübt in die tiefsten dunkelsten Ecken meiner Seele.

Zuletzt hatte ich mich mit vierzehn so gefühlt. Damals wurde ich beim Ladendiebstahl erwischt. Der Kaufhausdetektiv rief meine Mutter an, um ihr mitzuteilen, dass ich eine Großpackung Kondome geklaut hatte.

9. Tag 6: Freitag Abend – Anja

Mein Vater ist tot. Als Tochter sollte ich Trauer empfinden. Aber neben der Leere breitet sich Erleichterung aus, darüber, dass ich mich nie wieder dafür entschuldigen muss, die Tochter von J.K. Maierling zu sein.

Ich sitze im Aufenthaltsraum der Tobelmühle mit all diesen Leuten. Sicherlich ist kein Einziger wirklich traurig darüber, dass mein Vater ihnen in Zukunft das Leben nicht mehr zur Hölle macht. Seine Geliebte heult zwar Rotz und Wasser, aber ich halte das für Show.

Wie kann man sich nur so aufdonnern? Für diesen Minirock hat sie definitiv viel zu dicke Oberschenkel.

Dieser Lokalpolitiker. Wie heißt er doch gleich? Sven Grunzler, nein Gruber, scharwenzelt um sie herum und mir scheint es, sie ist nicht abgeneigt, sich trösten zu lassen. Mir ist kalt. Hilde schaut herüber. Ich weiche ihrem Blick aus.

Wir hatten ja nicht wissen können, dass sich das Problem von selbst erledigen würde.

Mein Vater: das Problem.

Ich versuche, mich daran zu erinnern, ob er irgendwann einmal anders gewesen ist. Sich um uns gekümmert hat. Eine Erinnerung an einen Moment, in dem er mit uns gespielt oder uns eine Gute-Nacht Geschichte erzählt hat.

Ganz weit weg, fast schon nicht mehr wahr, vor so langer Zeit, blitzt kurz eine Szene auf: Mein Vater, meine Brüder und ich auf dem Sofa vor dem Kachelofen und er liest uns aus einem Buch vor. Ich glaube, es war Karlsson vom Dach. Beide Jungs wollten immer der Welt-allerbester-Karlsson sein. Damals hat mein Vater gelacht. „Der dicke fette allerbeste Karlsson, das bin ich!“ Und uns ganz fest geknuddelt.

Bald danach wurde alles anders.

Kurz rieche ich Verbranntes, sehe Flammen, schwarze Folie. Ich merke, wie Tränen in meine Augen hochkommen und ich kämpfe sie nieder.

Dieser Mann war schon lange zu einem unsympathischen Fremden mutiert.

Mir fällt ein, dass ich noch mal versuchen muss, Mutter anzurufen. Nach dem Streit heute Morgen ist sie abgereist. Hilde und ich wollten am Abend nachkommen. Jetzt ist alles anders. Ich habe es vor einer halben Stunde schon versucht, als die Polizei nach ihr gefragt hat. Es ging nur die Mailbox ran. Wie üblich hat sie wohl vergessen, ihren Handy-Akku aufzuladen. Die Polizei hat mich nach ihrer Adresse gefragt, sie schicken eine Streife vorbei. Ich sollte noch mal auf der Festnetznummer anrufen, es wäre besser, wenn ich sie vorwarnen könnte.

Mist. Alles ist schief gelaufen. Was wird der Reporter nun für eine Story schreiben? Ich sollte auch noch dringend mit Peter reden. Der sitzt dort drüben mit seinem Robert und vermeidet es, mit mir Blickkontakt aufzunehmen. Das personifizierte schlechte Gewissen. Ich sollte ihn trotzdem warnen. Er hat ja von unserem Vorhaben nichts gewusst. Die Gefahr war viel zu groß, dass er Vater verständigt hätte. Aber jetzt sollten wir zusammenrücken.

Ich merke, wie Hilde aufsteht, hinüber zum Tisch geht und sich einen Tee aus der Thermoskanne, die die Bedienung vorhin bereitstellte, einschenkt. Sie tut fünf Stück Zucker in die Tasse. Ich höre in Gedanken jedes einzelne Plopp, wenn eines der Zuckerstückchen in die Flüssigkeit fällt. Das Plopp ist lauter als die leise geführten Gespräche von der Zirkowski mit ihrem Tröster.

Die Tasse ist orange, wie ein dicker fröhlicher Kürbis. Hilde rührt um. Das feine geschäftige Klirren, als der Löffel gegen die Tasse schlägt, klingt für mich wie ein startender Propeller.

Karlssons Hut.

Hilde durchquert den Raum und drückt mir den Kürbis in die Hand.

„Trink!“, befiehlt sie und setzt sich neben mich.

Ich betrachtete den Tee. Sie hat Milch hineingetan. Trübe milchige kleine Wellen in einem orangenen Kürbis. Milchig trübes schäumendes Wasser, das alles mit sich reißt.

Der Besitzer der Mühle Tilman Bullreitner betritt den Raum. Alle blicken auf. Er wirkt müde, seine dunklen kurzen Haare verstrubbelt und der Dreitagebart in dem blassen Gesicht lassen seine Augen noch tiefer eingesunken wirken. Die schöne dunkle Stimme, die mir schon bei unserer ersten Begegnung angenehm auffiel, klingt leicht heiser. Ich kann seine Erschöpfung heraushören.

„Es ist inzwischen dunkel. Die Bergwacht hat für heute die Suche eingestellt. Dass Herr Maierling noch am Leben ist, wenn er wirklich in die Ach gestürzt sein sollte, ist unwahrscheinlich. Die Polizei hat mich gebeten, Ihnen zu sagen, dass sie morgen noch einmal mit Ihnen reden möchte. Ihre Zimmer stehen Ihnen natürlich bis morgen zur Verfügung. Monika und Karin haben für Sie alle ein Vesper im Speisesaal hergerichtet. Sie werden Verständnis dafür haben, dass wir Ihnen keine warme Mahlzeit bereiten können. Unser Koch ist Mitglied der Bergwacht und war heute mit draußen, um Herrn Maierling zu suchen.

Die Polizei wird morgen gegen 10:30 Uhr hier sein, um Sie alle noch einmal kurz zu befragen. Anschließend dürfen Sie nach Hause fahren. Frühstück haben wir für 9:00 Uhr angesetzt. Wenn Sie jetzt so freundlich wären, in den Speisesaal zu gehen. Es war ein langer Tag und ich möchte mein Personal gerne nach Hause schicken.“

Aus den Augenwinkeln nehme ich wahr, wie Peter und sein Freund sich gemeinsam erheben und zur Tür streben. Die Zirkowski sieht Herrn Bullreitner aus tränenverschwollenen Augen an.

„Das ist sehr freundlich von Ihnen. Wir machen Ihnen so viel zusätzliche Arbeit. Schicken Sie die Moni und die Karin ruhig schon heim. Ich übernehme das Abräumen.“ Sie näselt total. Die Heulerei war wohl nicht nur geheuchelt. Typisch, dass sie sich doch gleich wieder in Szene setzt, die blonde Tusse. Gruber glotzt sie mit großen Kalbsaugen an und nickt.

„Ja, da helfe ich natürlich gerne. Wir haben unser Willkommen mehr als überbeansprucht. Eine hervorragende Idee, liebe Biggi, wenn ich das so sagen darf.“

Tilman Bullreitner scheint kurz zu zögern. Dann nickt er.

„Gut. Klären Sie das beim Rausgehen mit meinen zwei Damen. Ich wünsche Ihnen einen guten Appetit.“

Er lässt sie stehen und wendet sich mir und Hilde zu. Biggi wirkt leicht irritiert, weil er sie nicht weiter beachtet, zuckt mit den Schultern und wendet ihre Aufmerksamkeit dann ihrem Begleiter zu, der sie sorgsam am Arm stützend Richtung Speisesaal geleitet.

Als ich den beiden so nachsehe, fällt mir wieder auf, wie knapp ihr Minirock sitzt. Von hinten wirkt sie noch ordinärer. Definitiv zu dicke Oberschenkel. Wieso die Kerle wohl darauf reinfallen? Dass mein Vater auf sie stand, wundert mich nicht. Er war wie eine diebische Elster. Immer auf Glitzerdinge aus. Und Biggi, die glitzert und glänzt. Dass er nur billigen Talmi sammelte, hatte meinen Erzeuger wenig interessiert. Denn echte Werte schätzte er schon lange nicht mehr.

Dicker fetter Karlsson.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752127065
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Dezember)
Schlagworte
Wangener Krimis Krimi Allgäu Spannung Heimatkrimis Cosy Crime Whodunnit Ermittler Thriller

Autor

  • Alexandra Scherer (Autor:in)

Geboren und aufgewachsen in Wangen im Allgäu. Die Jahre 1985 bis 1997 verbrachte sie auf einer Insel im Pazifik. Dort verschlief sie die deutsche Wiedervereinigung und das Besserwessi – Jammerossi-Geplänkel. Ihre Schreibkarriere begann 2015 als Herausgeberin der Anthologie „Grenzenlos – Geschichten und Gedichte“. Seitdem veröffentlichte sie zahlreiche Kurzgeschichten und Romane. Näheres findet man auf ihrer Website.
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Titel: Executive