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Das Meer so tief

von Barbara Schinko (Autor:in)
105 Seiten
Reihe: Die Gänsemagd, Band 1

Zusammenfassung

Eine falsche Prinzessin Ein riskantes Spiel Ein Rätsel, das den Tod bringt Die Studentin Deirdre wollte bloß ihrer nervigen, verwöhnten Mitbewohnerin eins auswischen, indem sie zu einem Date deren neues Kleid trug. Wer konnte ahnen, dass sie in einem Herrenhaus an der Küste landen würde, und das mit jeder Menge Verrückter, die alle glauben, sie wolle sich hier einen Prinzen angeln? Um nicht ertappt zu werden, fügt sich Deirdre in ihre Rolle. Bald fliegen zwischen ihr und dem sogenannten „Prinzen“ Murrough nicht nur die Fetzen, sondern auch die Funken. Doch für wen spioniert der geheimnisvolle John Fallada? Viel zu spät erkennt Deirdre die Gefahr, in der sie schwebt ... „Die Gänsemagd“ im heutigen Irland: In ihrer spannenden Geschichte über Rebellion, vertauschte Identitäten und ein Spiel, das tödlicher Ernst wird, erzählt Barbara Schinko, wie es der Magd ergeht, die in die Kleider der Prinzessin schlüpft.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


  1. Da […] empfand sie heißen Durst und rief ihrer Kammerjungfer: steig ab und schöpfe mir mit meinem Becher, den du aufzuheben hast, Wasser aus dem Bach, ich möchte gern einmal trinken.

    „Ei, wenn ihr Durst habt, sprach die Kammerjungfer, so steigt selber ab, legt euch an’s Wasser und trinkt, ich mag eure Magd nicht seyn!“

(aus: Brüder Grimm, Die Gänsemagd in: Kinder- und Hausmärchen Band 2, 1. Auflage 1815)

2

Obwohl das An Saol Sona keine zwanzig Minuten entfernt lag, hetzte Deirdre die Straße entlang. Sie wurde erst langsamer, als sie den Merrion Square Park fast durchquert hatte und damit absolut sicher war, dass Dianaimh sie nicht durch eines ihrer Zimmerfenster erspähen könnte.

Bist du bescheuert? Du willst doch nicht wirklich zu diesem Date, oder? Lauf lieber zum Busbahnhof und hau ab, so schnell es geht!, warnte sie ein pessimistisches Stimmchen in ihrem Kopf. Maureen hätte darüber gelacht, aber …

Kaum dachte Deirdre an sie, fiel ihr ein, dass Maureen noch heute Abend mit dem Überlandbus nach Waterford fahren würde. Sie hatte sich doch mit ein paar Mädchen aus ihrem Lehrgang zu einer Wanderwoche in den Comeragh Mountains verabredet und angedroht, ihr Handy die ganze Zeit über ausgeschaltet zu lassen: „Wenn Ihre königliche Hoheit glaubt, dass ich dort abhebe, kann sie mich mal!“

Vor der Statue von Oscar Wilde am Parkausgang blieb Deirdre so abrupt stehen, dass ein Geschäftsmann im Anzug fast gegen sie geprallt wäre. Ihr erster Impuls bestand darin, Maureen anzurufen und sie anzubetteln, sie möge als eine Art menschlicher Schutzschild für sie zu Hause bleiben. Aber das konnte sie unmöglich verlangen. Immerhin war es Deirdres bescheuerte Idee gewesen, in Dianaimhs Kleid mit Dianaimhs Datingpartner zu telefonieren! Trotzdem, sie hätte alles dafür gegeben, nicht allein in Dianaimhs Schusslinie zurückzubleiben.

Die Sache mit dem Kleid durfte nicht auffliegen, koste was wolle.

Die Westland Row war wie gewohnt zugeparkt. Ein weiteres Mal blieb Deirdre stehen. Sie atmete tief durch. Aufrecht und königlich schritt sie dann an der langen Reihe der Autos vorbei und überprüfte dabei verstohlen in jeder zweiten Fensterscheibe ihr Spiegelbild.

Wie würde Dianaimh einem Datingpartner wohl am schnellsten das Herz brechen? Mit dauerndem Herumgezicke oder eher, indem sie ihr Opfer völlig ignorierte?

Überpünktlich erreichte sie das An Saol Sona, das einzige Lokal in dieser Gegend mit einem irischen Namen. Es war eine Mischung aus Bar und Café: ein langgestreckter Raum mit Mosaikfußboden, rechts eine Theke aus dunklem Holz, links entlang der Wand Stühle und Tische und in den Fensternischen gepolsterte Bänke. Vergoldete Statuen rundeten den geschmackvollen Dekor ab.

Dianaimhs neuestes Opfer wartete schon an einem Zweiertisch mit Blick zur Tür. Deirdre reckte das Kinn und zwang sich, scheinbar sorglos auf ihn zuzuschlendern, statt gleich wieder nach draußen zu stürmen und Dianaimh ihre Missetat zu gestehen.

„Da ist sie ja – Dianaimh, die Schönheit!“, begrüßte er sie mit einem Lächeln. Er wirkte erfreut und auch ein bisschen überrascht, sie zu sehen. Deirdre hoffte bloß inständig, dass ihn Dianaimh nicht schon mehrmals versetzt hatte. Ein hartnäckiger Verehrer war das Allerletzte, was sie gebrauchen konnte.

„Du siehst wirklich fabelhaft aus, alle Achtung.“ Diensteifrig zog er einen Stuhl für sie unter dem Tisch hervor. Kaum nahm Deirdre Platz, merkte er beiläufig an: „Deine Haare sind dunkler. Wann hast du sie dir gefärbt …?“

Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus. Was jetzt?

Sei Dianaimh!

Sie erwiderte seinen Blick und gab hochmütig zurück: „Müssen wir darüber reden?“, legte dabei einen Vorwurf in jedes Wort.

„Nein, nein“, wehrte er sogleich ab, und sie konnte gerade noch verhindern, dass sie erleichtert auf ihrem Stuhl zusammensackte. „Aber wir haben ein wenig Zeit, möchtest du hier etwas trinken?“ Auf seinen Wink eilte ein Kellner mit der Karte herbei.

Deirdre bestellte das teuerste Glas Wein, das sie finden konnte. Ihr Datingpartner zuckte mit keiner Wimper, sondern gratulierte ihr noch zu ihrer „guten Wahl“. Mist! Wie sollte sie es bloß anstellen, ihn zu vergraulen? Als der Kellner gleich darauf mit einem Glas und der Weinflasche kam und diese am Tisch öffnete, nahm er sie ihm sogar aus der Hand und schenkte ihr selbst ein. Sein Eifer entlockte ihr ein Lächeln, für das er wiederum so dankbar wirkte, als hätte sie ihm ein kostbares Geschenk gemacht.

Dieses Date verlief ganz eindeutig nicht nach Plan. Um Zeit zu gewinnen, nippte Deirdre am Wein. Er war immerhin besser als jener, den Maureen zum Kochen verwendete.

„Du trinkst nichts?“, entschlüpfte ihr, als sie bemerkte, dass ihr Datingpartner fasziniert jede ihrer Bewegungen betrachtete. Er schüttelte den Kopf, und sie fühlte sich schäbig. Womöglich war er ja genauso pleite wie sie und hatte sein Sparschwein geschlachtet, nur um Dianaimh standesgemäß ausführen zu können? Auch wenn der Designer-Strickpulli unter dem Sakko nicht unbedingt danach aussah. Konnte gut sein, dass der genauso wie ihre Boutique-tauglichen Klamotten aus einem Laden der Heilsarmee stammte.

Ob sie die Outfits nun wohl weiterverkaufen und wenigstens ein paar Euro dafür kriegen könnte?

Sie riss sich von diesen trübsinnigen Gedanken los. „Wie viel Zeit haben wir noch?“, erkundigte sie sich möglichst unverfänglich und wagte nicht zu fragen, was für danach geplant war. Vielleicht ein Kino- oder Theaterbesuch oder Dinner.

Ihr Interesse schien ihn zu erstaunen. Hastig setzte Deirdre eine gelangweilte Miene auf, spreizte die Finger und betrachtete eingehend ihre Nägel, wie es Dianaimh gerne tat.

Das musste wohl jeden Verdacht ihres Gegenübers zerstreuen. Bereitwillig warf er einen Blick auf die Uhr und erwiderte: „Nicht mehr viel – der Wagen sollte in fünf Minuten da sein. – Brighid hat dir mit deinen Sachen vom Landsitz für das Wochenende zwei Koffer gepackt“, ergänzte er.

Für einen Herzschlag erstarrte Deirdre.

Hastig riss sie sich zusammen, lächelte wieder verträumt und hoffte nur, ihr Datingpartner hätte ihr die jähe Panik nicht vom Gesicht abgelesen. Ein Treffen mit ihm in einem Café war das eine; aber gleich ein Wochenende zu zweit? Das ging ihr dann doch zu schnell!

„Ich habe angerufen, man erwartet dich also.“ Er lehnte sich zurück.

Dich. Man erwartete sie, besser gesagt Dianaimh – ihn aber nicht? Bevor ihr die Frage entschlüpfen konnte, biss sich Deirdre auf die Lippe. Was zum Teufel ging hier vor?

Sie musterte ihr Gegenüber angestrengt, hoffte in seinem Gesicht, seiner Haltung, seinen Klamotten irgendeinen Hinweis darauf zu finden. Schließlich blieb ihr Blick an dem cremefarbenen Pulli und dem beigen Sakko darüber hängen. Cremefarben und Beige waren Dianaimhs Farben … Ein jäher Gedanke drängte sich ihr auf: Hatten sie und Maureen die Situation völlig falsch interpretiert? War das hier gar kein Date, gehörte der junge Mann vielmehr zu der Armee von Laufburschen und Bediensteten, die Dianaimhs reiche Familie beschäftigte?

Spontan beschloss sie, diese Theorie zu testen. „Was ist in den Koffern?“, fragte sie in einem möglichst gelangweilten Ton und richtete dabei ihr ganzes Augenmerk wieder auf ihre frisch lackierten Nägel.

„Eine Auswahl an Abendkleidern. Und natürlich Bikinis.“ Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er sie angrinste – verschwörerisch, so als wäre irgendwas von dem Gesagten ein Insider-Witz, den sie verstehen müsste. Sie lächelte unverbindlich. Und war sich nun fast sicher, dass ihre Theorie stimmte. Wohin würde der Wagen, der jeden Moment aufkreuzen konnte, sie bringen? Abendkleider und Bikinis … Vielleicht plante Dianaimh ja übers Wochenende eine Minikreuzfahrt in der Irischen See? Wahrscheinlich aber eher eines der luxuriösen Wellnesswochenenden in irgendeinem Resort, mit denen sie so gerne prahlte.

Ihr Gegenüber stützte plötzlich die Ellbogen auf den Tisch und lehnte sich weit auf sie zu. „Wir sind alle froh“, raunte er, „dass du deine Meinung geändert hast und doch gekommen bist.“

Deirdre musste an das Bild vorhin in Dianaimhs Zimmer denken – an ihre Mitbewohnerin, die vermutlich noch immer auf der Couch lag, Musik hörte und von all dem hier nichts ahnte. Es sah Dianaimh ähnlich, zu einem sicher bereits bezahlten Wellnesswochenende nicht mal aufzukreuzen.

Und nun hatte Deirdre die Chance, an ihrer Stelle hinzufahren. Warum eigentlich nicht? Ein paar Gurkenmasken und Massagen waren das Mindeste, was ihr Dianaimh für ihre ständigen Sklavendienste schuldete!

Besser das, als nach Hause zu gehen und dort die ganze nächste Woche ohne Maureen zu verbringen. Womöglich würde Dianaimh verlangen, dass Deirdre mit ihr zum tausendsten Mal Dirty Dancing guckte und ihr dabei die Zehennägel lackierte … Sie mochte sich ja wundern, wenn Deirdre einfach ausbliebe – aber wahrscheinlich würde sie bloß glauben, diese wäre zu ihren Eltern in der Nähe von Cork gefahren. Sofern sie sich überhaupt daran erinnerte, dass Deirdre Eltern hatte, geschweige denn wo diese wohnten.

Deirdres Entschluss stand fest. Sie kippte den Rest ihres Weins in einem Zug runter, um sich Mut anzutrinken, und erhob sich dann. „Worauf warten wir noch? Ich bin hier fertig.“

Ein nie zuvor gekanntes Machtgefühl durchflutete sie, als ihr Gegenüber eifrig aufsprang, dem herbeieilenden Kellner einen Fünfziger und ein „Hier, der Rest ist für Sie“ hinwarf und im Laufschritt zur Tür eilte, um diese für sie zu öffnen.

Das Timing war perfekt: Eine schwarze Limousine bremste gerade vor dem Café. Der Fahrer blieb auf einer Parkverbotsfläche stehen und ließ den Motor laufen, als er ausstieg. Er trug eine altmodische, beige Uniform mit Goldknöpfen an der Brust und eine Chauffeurkappe, die er vor Deirdre lüpfte, so dass sie sein schütteres graues Haar sah.

„Darf ich bitten, Miss Ó Cinnéide?“ Die gälische Version von „Kennedy“ war Dianaimhs Nachname.

Galant öffnete der Fahrer für Deirdre die hintere Tür. Letzte Chance, abzuhauen, warnte sie das Stimmchen in ihrem Kopf – doch sie nahm auf der Rückbank Platz und schlug die Beine übereinander.

Ihr Begleiter eilte herbei und beugte sich zu ihr herab, bevor sie die Tür schließen konnte. „Mach uns stolz, Prinzessin“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Bring die Krone nach Hause.“

3

Die schwarze Limousine quälte sich durch den zähen Feierabendverkehr, der genauso ein unvermeidlicher Teil Dublins war wie die Touristenfallen im Stadtteil Temple Bar oder „The Spire“ in der Mitte der O'Connell Street. Sie kamen nur im Schritttempo voran, und Deirdre beschwichtigte die ersten in ihr auftauchenden Zweifel mit dem Hinweis, dass sie jederzeit raushüpfen und abhauen könnte. Bei der nächsten Ampel. Oder der übernächsten. Einstweilen massierte sie ihre schmerzenden Füße – Dianaimhs Sandalen waren eine Spur zu klein – und genoss den seltenen Luxus, durch die Stadt kutschiert zu werden.

Erst als sie sich dem Fluss näherten, gewann der Zweifel die Oberhand. Die Butt Bridge – deren Name bei Collegestudenten ein Hit war, Deirdre heute aber kein Lächeln entlockte – brachte sie ans Nordufer des Liffey Rivers und durch die Fensterscheibe konnte Deirdre sehen, dass der Custom House Quay vor dem Zollamtsgebäude so gut wie autofrei war. Ihre letzte Chance, um … Nervös krampften sich ihre Finger um die Schnalle des Sicherheitsgurts. Aber sie hatte den perfekten Zeitpunkt verpasst, alle Ampeln standen plötzlich auf Grün und der Fahrer beschleunigte. Von hier aus ging es zügig weiter – entlang des Flusses zum Hafen, dann weiter auf die M50, den Autobahnring um Dublin, und anschließend auf der M1 in Richtung Norden. Deirdre reckte den Hals. Die Nadel des Tachometers stieg unaufhaltsam höher, jetzt noch rauszuspringen wäre reiner Wahnsinn. Mal davon abgesehen, dass sie, selbst wenn sie sich bei einem Aufprall nicht Arme und Beine oder gleich den Hals bräche, auf der Autobahn gestrandet wäre.

Sie ließ die Schnalle des Sicherheitsgurts los, konnte jedoch nicht verhindern, dass sich ihre Fingernägel in das weiche Leder der Rückbank krallten. Worauf hatte sie sich bloß eingelassen – wohin würde man sie bringen? Irland war zum Glück eine kleine Insel, versuchte sie sich zu trösten. Selbst wenn der Chauffeur sie bis hinauf nach Belfast verschleppen sollte, wäre sie mit dem Überlandbus in weniger als drei Stunden wieder zurück.

Vorausgesetzt natürlich man ließe sie gehen.

Bring die Krone nach Hause. Was sollte das bedeuten? Es konnte sein, dass in dem Wellnesshotel ein Schönheitswettbewerb stattfand. Zu dieser Vorstellung passte auch das mit der Auswahl an Abendroben und Bikinis, und Deirdre fing schon an zu hoffen, dass sie verglichen mit den zumeist älteren Damen, die in solchen Hotels abstiegen, tatsächlich eine gute Figur machen könnte – bis ihr klar wurde, wie absurd der Gedanke war. Ihr einziges Ziel sollte darin bestehen, nicht aufzufliegen.

Kurz nach Drogheda verließen sie endlich die Autobahn und zuckelten bald darauf über eine Küstenstraße zwischen sanft geschwungenen, grünen Hügeln. Der Himmel war wolkig. Nur ab und zu blitzte ein Sonnenstrahl hervor. Die Straße erwies sich als so holperig, dass der Chauffeur langsam fahren musste, und Deirdre entspannte sich ein wenig. Es konnte nicht mehr weit sein. Sie sah durchs Fenster und begann nach einer Bushaltestelle Ausschau zu halten, aber das Erste, was ihr ins Auge sprang, war ein Ortsschild. Drei, vier Häuser aus grauem Stein folgten diesem. Aus einer der Fassaden ragte der Mast eines Segelschiffs. Ein löchriges schwarzes Segel hing daran. Die Guinness-Reklame darunter verriet, dass es sich um ein Pub handelte: The Wind in the Sails. Zwei schwarze Kreidetafeln links und rechts der Tür priesen das Tagesgericht, irischen Eintopf, sowie eine große Auswahl an Bier und Cider an.

Der Wagen bremste abrupt.

„Was ist los?“, entschlüpfte Deirdre. War etwa der Pub das Ziel ihrer Reise? Das wäre nicht so schlimm, wenn auch schwer zu glauben. Bestimmt wurden hier nicht die Champagner-Cocktails serviert, die Dianaimh bevorzugte!

„Die Gardaí, Miss Ó Cinnéide.“ Der Wagen hielt an. Und tatsächlich entdeckte Deirdre erst jetzt, halb hinter dem Pub versteckt, das weiß-blau-neongelb gemusterte Fahrzeug der Polizei.

Eine Gestalt in einer Warnweste mit dem blauen Schriftzug „GARDA“ auf der Brust hielt bereits auf sie zu. Wie von Geisterhand glitt Deirdres Fenster herunter.

Deirdres Herz fing an zu rasen. „I-ist etwas nicht in Ordnung?“, stammelte sie. In Sekundenbruchteilen schossen ihr alle möglichen Gedanken in den Sinn: Hatte der Chauffeur sie längst enttarnt, sie in diese Einöde verschleppt und die Polizei hierher gerufen, damit diese sie mitnähme? Er hatte sie doch gerade noch mit Dianaimhs Namen angesprochen! Machte er sich über sie lustig? Und würden ihr die Polizisten glauben, dass sie unschuldig war – könnte sie behaupten, das alles sei bloß eine dumme Verwechslung? Warum nur war sie je in diesen Wagen gestiegen?

Der Inspektor, er trug eine schwarze Kappe mit einem goldenen Stern, lehnte sich durchs Fenster. „Sie wollen bestimmt nach An Mhuir.“ Er mochte im selben Alter wie ihr Vater sein und klang halb vorwurfsvoll, halb resigniert – in etwa so als wäre Deirdres Auftauchen nur eines seiner vielen Probleme. Dabei konnte sein Tag bisher unmöglich schlimmer gewesen sein als ihrer.

„Ja?“, erwiderte sie unverbindlich und kratzte dabei ihre paar Brocken Gälisch zusammen, wünschte sich zum ersten Mal, sie hätte die Sprache in der Schule nicht so bald wie möglich abgewählt und durch Französisch ersetzt. „An Mhuir“ hieß „Das Meer“, oder etwa nicht? Klang passend für ein Wellnesshotel an der Küste.

Er lehnte sich noch weiter vor. Deirdre hoffte bloß, der Chauffeur würde nicht ausgerechnet jetzt ihr Fenster wieder raufkurbeln und ihn versehentlich köpfen. „Und was genau ist der Zweck Ihres Besuchs?“

Ich bin hier, um meiner Hexe von Mitbewohnerin eins auszuwischen, lag ihr auf der Zunge. Sie schluckte die Worte gerade noch runter und erwiderte so hoheitsvoll wie möglich: „Ich bin eingeladen.“ Kratzte dann ihren Mut zusammen und fügte hinzu: „Warum fragen Sie, gibt es ein Problem?“

Der Inspektor antwortete darauf nicht. Er sagte nur: „Wenn Sie etwas Merkwürdiges sehen, lassen Sie es uns wissen.“ Der Satz klang irgendwie nach einer Floskel und irgendwie auch nicht; als wäre er überzeugt, dass sie etwas Merkwürdiges sehen würde, aber genauso überzeugt, dass sie nicht vorhätte es ihm zu sagen.

Nach kurzem Überlegen ergänzte er: „Und wenn es doch ein Problem geben sollte, sind wir dafür zuständig. Nichts von diesem“, er trat einen Schritt zurück und wedelte abfällig mit einer Hand, „'für uns gelten die Gesetze gewöhnlicher Sterblicher nicht'. Ist das klar?“

„Kristallklar“, log Deirdre zuckersüß. Ihr Fenster schloss sich und der Wagen rollte los. Erst als der Inspektor und das Polizeiauto aus dem Rückspiegel verschwunden waren, beruhigte sich ihr Herzschlag allmählich. Sie konnte fast nicht glauben, dass sie soeben einem Polizisten ins Gesicht gelogen hatte – vermeinte zugleich Maureens triumphierendes Gackern zu hören: „Ich wusste, du hast es in dir!“ Und was bedeutete diese merkwürdige Warnung? Immerhin, versuchte sie sich zu trösten, klang es, als hätten die Gardaí dort, wo sie hinfuhren, nicht viel zu melden. Was wohl hieß, dass man sie mit ein bisschen Glück auch nicht verhaften würde.

Sie ließen das Dorf hinter sich. Die Straße wand sich aufwärts in die Hügel. Deirdre spähte nach Wegweisern oder sonstigen Beschilderungen für „An Mhuir“ aus, doch sie entdeckte keine. Auch ansonsten gab es wenig zu sehen; nur ein paar Hinweise auf Golf- und Segelclubs, dann – gut zu wissen – eine einsame Bushaltestelle und kurz darauf den Beginn einer steilen Klippe, die zum Meer hin abfiel.

Schließlich endete die Straße vor einem Herrenhaus. Deirdres erster Eindruck, ohne dass sie erklären hätte können warum, war der einer in Stein gehauenen Welle. Der Gedanke blieb in ihr hängen, auch als der Wagen um die letzte Kurve bog und vor ihr nichts mehr als ein wuchtiger, rechteckiger Bau aus grauem Kalkstein aufragte. Das Haus musste Hunderte Jahre alt sein, wirkte aber sauber und gepflegt. Ein paar Sonnenstrahlen brachen sich in den spiegelnden Fenstern. Der Rasen, der von der Türschwelle sanft abwärts verlief, die Sträucher und Büsche, ja selbst der rote und grüne Efeu an den Mauern waren professionell gestutzt und kunstvoll in Form gebracht.

Der Wagen blieb stehen. Der Chauffeur stieg aus und öffnete Deirdres Tür für sie, verschwand dann ums Heck. Sie hörte den Kofferraumdeckel klicken. Steifbeinig stieg sie aus und verrenkte sich den Hals, doch sie sah nirgendwo auch nur ein kleines, diskretes Schild, das auf ein Wellnesshotel hinwies.

Bis ihr Blick wieder zum Chauffeur schweifte, marschierte jener schon mit zwei cremefarbenen Hartschalenkoffern, einem in jeder Hand, über den Pfad, der durch den Garten zu den Eingangsstufen verlief.

Für einen Moment zögerte Deirdre. Sie könnte abhauen – aber wohin? Der Ort mit dem Pub und die vorhin entdeckte Bushaltestelle lagen jeweils mehrere Kilometer von hier entfernt, und es gab nur diese eine Straße. Sie tastete nach dem Handy in ihrer Tasche. Sie könnte natürlich den Notruf der Gardaí wählen. Und ihnen was genau sagen? Dass sie versucht hatte, sich als jemand anderer auszugeben, aber nun kalte Füße bekam?

„Djee!“

Deirdre riss den Kopf herum. Auf einem Weg, der zwischen den Sträuchern links hinters Haus führte, eilte ihr ein Junge entgegen und winkte.

Nein: ein Mädchen, erkannte Deirdre auf den zweiten Blick. Die Fremde mochte ungefähr in ihrem Alter sein und trug eine schwarze Hose, dazu ein knallrotes, ärmelloses Seidentop, das sich an ihre Kurven schmiegte. Ihre schwarzen Haare waren in einem flotten Kurzhaarschnitt gestylt.

Ein paar Schritte vor Deirdre blieb sie stehen. Und Deirdres ganze Haltung und Miene mussten wohl „Äh, wer bist du?“ schreien, denn das Mädchen rollte die Augen. „Jetzt tu nicht so, als würdest du mich nicht mehr kennen.“

„Sorry …“ Sie ließ die Aussage unvollendet.

„Erin.“ Das Mädchen schnitt eine Grimasse, ehe sie hinzufügte: „Oder hier Éireann.“ Ihre Betonung des irischen Namens klang spöttisch und übertrieben, vielleicht war das ja der Grund, warum sich Deirdre sofort an Maureen erinnert fühlte. „Sag bloß, du erinnerst dich echt nicht mehr? Es ist zwar ein paar Jahre her, aber wir haben beim letzten Treffen miteinander Medb und Ailill gespielt.“

Medb und Ailill … Sie kannte diese Namen aus ihrer Schulzeit, aber was … Natürlich! Medb hatte die sagenumwobene Königin von Connacht geheißen, Ailill ihr Ehemann.

„Wer von uns war noch mal Medb und wer Ailill?“, gab sie zurück. Und das schien die richtige Erwiderung gewesen zu sein, denn Erin lachte und hakte sich vertraulich bei ihr unter.

„Hast du Murrough schon gesehen?“, raunte sie und beantwortete ihre Frage gleich selbst. „Klar hast du. Er ist echt heiß geworden, findest du nicht auch?“

„Nein, habe ich nicht. Wie denn auch? Ich bin gerade erst angekommen“, hörte sich Deirdre plappern, was immerhin besser war als das „Wer zum Teufel ist Murrough?“, das ihr auf der Zunge lag.

Trotzdem bedachte Erin sie mit einem erstaunten Blick. Zu spät fiel Deirdre ein, dass von ihr vielleicht erwartet wurde, Murrough-wer-auch-immer-das-sein-mochte schon aus Dublin zu kennen.

„Ich dachte …“, begann Erin auch sogleich.

„Du weißt doch, mit all dem Stress auf der Uni–“, übertönte Deirdre sie und wechselte verzweifelt das Thema: „Bist du auch allein hier?“

„Natürlich nicht.“ Zu Deirdres Erleichterung ließ sich Erin ablenken. „Meine Schwester ist doch im Rennen um die Krone. Sag bloß, du erinnerst dich auch nicht mehr an Emer? Du hast damals heimlich ihre Bikinis anprobiert“, sie kicherte. Und das klang zweifellos nach Dianaimh – vor allem aber sorgte die Bemerkung dafür, dass der letzte Rest von Deirdres Hoffnung schwand. An Mhuir war ganz offenbar kein Wellnesshotel, sondern vielmehr ein Herrenhaus im Privatbesitz, in dem sich Dianaimhs Verwandte und/oder Bekannte an diesem Wochenende trafen.

Und sie, Deirdre, platzte nun mitten in so ein Treffen hinein.

„Geht es dir gut? Du wirkst irgendwie blass. Blasser als sonst, meine ich.“ Erin musterte sie sorgenvoll.

„Ja, alles bestens“, log Deirdre, und diesmal kam ihr das reflexartige Lächeln, das die Worte begleitete, gerade recht.

Mit Gewalt riss sie sich zusammen. Noch war nicht alles verloren: Zwar konnte sie nicht länger darauf hoffen, unter Dutzenden Hotelbesuchern anonym zu bleiben – doch Erin und Dianaimh kannten einander offenbar nur flüchtig. Wenn sich Deirdres eigene Großtante seit neunzehn Jahren nicht merken konnte, ob ihre Großnichte nun Deirdre, Deena oder Dorothy hieß, würde es Deirdre doch wohl schaffen, Dianaimhs Familie ein oder zwei Tage lang zu täuschen.

Sie räusperte sich. „Und du? Bist du auch im Rennen um die Krone?“

Verständnislos blickte Erin sie an. „Ich? Nein, ich bin doch nur die jüngere Tochter. Auch wenn Murrough weit näher an meinem Alter wäre als an ihrem. Er ist ja erst dreiundzwanzig, sie fast dreißig, aber die Tradition …“

Abrupt unterbrach sie sich und starrte an Deirdre vorbei. „Guck mal! Wer kommt denn da?“

Deirdre drehte sich um und folgte ihrem Blick. Soeben hielt eine weitere schwarze Limousine in der Einfahrt. Eine Frau um die fünfzig in einem blauen Blazer und mit einer Chauffeurkappe auf dem Kopf stieg aus und öffnete die hintere Wagentür für einen deutlich jüngeren Mann. Schwarze Locken umspielten sein gebräuntes Gesicht. Die Fahrerin stieg wieder ein, doch er eilte vor zu ihrer Tür, lehnte sich ins Wageninnere und sagte etwas zu ihr, lachte dabei wie über einen Scherz.

Verstohlen warf Deirdre einen Seitenblick auf ihre Begleiterin. Erin starrte den Neuankömmling so interessiert an wie eine Katze, die ein Mauseloch belauerte. Vielleicht waren ja Scherze mit dem Personal für sie etwas völlig Unbekanntes? Oder sie fand es komisch, dass die Chauffeuse ihrem Fahrgast nicht das Gepäck zum Haus schleppte, obwohl der Mann sein einziges kleines Trolleyköfferchen ganz sicher selbst ziehen konnte. Was wusste Deirdre schon darüber, wie reiche Leute zu reisen pflegten?

„Er sieht exotisch aus, findest du nicht?“, murmelte Erin in ihre Gedanken hinein. Und so wie sie das Wort „exotisch“ betonte, erinnerte sie Deirdre mehr denn je an Maureen, wenn sich diese beim Anblick eines heißen Jungen anzüglich die Lippen leckte. „Ich muss gleich mal meinen Vater fragen, wer er ist. Sehen wir uns nachher beim Dinner?“

Sie wartete kaum Deirdres Nicken ab, ehe sie sich abwandte und davonlief. Und obwohl sich das kurze Gespräch mit ihr wie ein Spaziergang durch ein Minenfeld angefühlt hatte, beschlich Deirdre die merkwürdige Ahnung, sie hätte eine Verbündete gefunden.

Der Gedanke machte sie mutig genug, um über den Hauptpfad zum Eingang des Herrenhauses zu marschieren. Über mehrere wuchtige Steinstufen gelangte man zu einer breiten, aber schlichten Tür. Dahinter erstreckte sich eine geräumige Eingangshalle, deren weiße Säulen und Stuckarbeiten an der Decke tatsächlich zu jeder Hotellobby gepasst hätten.

Und scheinbar diente sie im Moment auch als solche: An ihrer linken Wand war ein mit weißem Leinen bedeckter Tisch aufgebaut, an dem zwei Angestellte mit Laptops die Gäste begrüßten. Der „exotische“ junge Mann von vorhin verließ soeben mit einem Schlüssel in der Hand die Halle und hielt auf die Treppe an ihrem Ende zu.

Deirdre näherte sich langsam der Theke. Und überlegte dabei, was für sie der unverfänglichste Einstieg wäre – aber sie hätte sich die Mühe sparen können.

„Miss Ó Cinnéide!“, begrüßte die junge Hostess in einer hochgeschlossenen weißen Bluse und einem schwarzen Blazer sie freundlich. „Fáilte go an teach na mhuir!“ Was irgend so was heißen musste wie „Willkommen auf An Mhuir“, und während Deirdre den Gruß noch in Gedanken übersetzte, fügte der Mann im schwarzen Anzug schon auf Englisch hinzu: „Ihre Koffer wurden in die Suite Nr. 12 im ersten Stock gebracht. Das Dinner findet um acht Uhr im großen Saal statt.“ Er reichte ihr einen altmodischen, vergoldeten Schlüssel. Deirdre brauchte bloß noch „Danke“ zu murmeln, bevor sie zur Treppe eilte.

Wenig später stand sie in ihrem geräumigen, luxuriös ausgestatteten Zimmer, dessen begehbarer Kleiderschrank allein schon größer war als ihr Kämmerchen zu Hause in Dublin, und kniff sich erst mal in den Schenkel, um sicherzugehen, dass sie nicht träumte. Sie warf einen Blick in das private, an ihr Zimmer grenzende Bad und starrte dort ungläubig das weiße Marmorsims und die goldenen Wasserhähne an, bevor sie zurückkehrte und sich den beiden Koffern widmete.

Dianaimh besaß, wie Deirdre wusste, einen gigantischen Vorrat an Kleidern. Sie ging fast jeden Tag shoppen und wenn ihre Schränke in Dublin dann überquollen, schickte sie paketweise nach Hause „auf den Landsitz“, was aus der Mode war, nicht zur Saison passte oder ihr schlicht und einfach nicht mehr gefiel. Ein Teil wurde dort aufbewahrt, der Rest der Heilsarmee gespendet.

Einmal hatte Deirdre ihren Stolz runtergeschluckt und Dianaimh gefragt, ob diese ihr eine gerade ausgemusterte Rock-und-Blazer-Kombi als Arbeitskleidung für die Boutique verkaufen würde. Dianaimh hatte von oben herab entgegnet, das sei völlig undenkbar: Man könne ihr doch wohl nicht zumuten, mit anzusehen, wie ihre Mitbewohnerinnen ihre abgelegten Kleider trugen! Heißer Zorn stieg in Deirdre hoch, als sie sich nun beim Durchstöbern der Koffer daran erinnerte und an Maureens Geschichte mit dem Höschen dachte.

Aber wie hieß es so schön: Rache ist süß. Daher wählte sie, als es ihr endlich gelungen war, sich aus dem Kleid zu schälen, fürs Dinner aus all dem Luxus eine schimmernde, goldene Abendrobe aus. Das hauchdünne Material schmiegte sich an jede ihrer Kurven, und der Ausschnitt war hinten sogar noch tiefer als vorne. Nie im Leben hatte sich Deirdre so sexy und zugleich so elegant gefühlt!

Sie frischte ihr Make-up auf, fasste ihre Haare erneut zu einem strengen Dutt zusammen und ließ wie zuvor nur ein paar lockige Strähnen übrig, die ihr blasses, sommersprossiges Gesicht umspielen durften. Hoffentlich würden Dianaimhs entfernte Verwandte die dunklere Schattierung ihrer Haarfarbe nicht bemerken … Aber wenn doch könnte sie immer noch behaupten, der Stylist vom letzten Friseurbesuch wäre daran schuld.

Ausgiebig betrachtete sich Deirdre zu guter Letzt im Spiegel und wünschte sich dabei heimlich, Mrs Burke könnte sie so sehen. Wenn sie schon viel früher angefangen hätte, Dianaimhs Klamotten zu klauen und ihren Stil zu kopieren, hätte sie ihren Job vermutlich noch – aber der Gedanke war ernüchternd, und sie verdrängte ihn so gut es ging aus ihrem Kopf. Sie war heute Abend nicht Deirdre mit all ihren Geld- und sonstigen Sorgen; sie war Dianaimh, die ihr Leben lang alles auf dem goldenen Tablett serviert bekommen hatte.

„Königlich genug?“, fragte sie halblaut. Das Lächeln ihres Spiegelbilds gab ihr die Antwort.

So war es auch kein Wunder, dass ihr eine Welle anerkennender Blicke entgegenschlug, kaum dass sie in Dianaimhs Robe und Dianaimhs goldenen Glitzerpumps in den Saal glitt. Jener war riesig, und die Spiegel an den Wänden, die vom Boden bis zur Decke reichten, ließen ihn noch geräumiger wirken – auch wenn einige von ihnen ebenso wie die hohen, schmalen Fenster mit dunkelblauen Samtvorhängen verhüllt waren. Unter den Kronleuchtern, die den Saal erhellten, erstreckte sich eine Tafel für wohl an die zwanzig Personen.

Deirdres anfängliche Befürchtung, sie hätte sich für ein bloßes Abendessen allzu schick gemacht, verschwand im Nu. Alle Gäste waren gekleidet wie zum letzten Dinner auf der Titanic: die Herren im Frack, die Damen in langen Roben. Und nur die Hälfte von ihnen saß bereits am Tisch; der Rest hatte sich in Zweier- und Dreiergruppen entlang der Wände verteilt und unterhielt sich leise.

Unschlüssig blieb Deirdre auf halbem Weg zur Tafel stehen. Was jetzt? Nervös umklammerte sie die goldene Clutch, die sie in Dianaimhs Koffer gefunden hatte, während ihr Blick von einem Gast zum nächsten huschte. Endlich entdeckte sie Erin an der Tafel. Sie trug ein blassrosa Seidenkleid, das zwar optisch zu den Outfits der übrigen Gäste, aber irgendwie so gar nicht zu ihr passte, und rollte gelangweilt die Augen. Schlagartig fühlte sich Deirdre bei ihrem Anblick besser.

Leider war neben Erin kein Platz mehr frei: Sie saß zwischen einem Ehepaar - vermutlich ihren Eltern – und einer schwarzhaarigen jungen Frau in einem sehr ähnlichen Seidenkleid von einem dunkleren Rot. Das musste Emer sein. Deirdre umrundete kurz entschlossen die Tafel und hielt auf den freien Platz gegenüber Erin zu – doch Emer bedachte sie mit einem so vernichtenden Blick, dass sie es gar nicht erst wagte, sich zu setzen.

Wie auf ein unhörbares Signal schlenderten da auch die anderen Gäste herbei und nahmen ihre Plätze ein. Und bald begriff Deirdre, dass es trotz des Fehlens jeglicher Namenskärtchen eine Sitzordnung geben musste: Sie näherte sich diesem oder jenem freien Stuhl, doch ihre Nachbarn kräuselten stets missbilligend die Lippen oder hoben auch mal belustigt eine Braue, bis sie nach ein paar Fehlversuchen endlich den Platz ein Stück oberhalb von Erins Familie gefunden hatte, der ihrer zu sein schien. Ein Herr mit schlohweißem Haar erhob sich sogar zittrig und zog den Stuhl für sie heraus, bevor sie protestieren konnte.

Ihr anderer Nachbar – um die vierzig und blond – grinste sie an. „Miss Ó Cinnéide. Welche Freude!“

Deirdre murmelte hastig einen Gruß und tat ihr Bestes, um sich unsichtbar zu machen, bevor ihr verspätet einfiel, dass Dianaimh ganz bestimmt nicht so reagiert hätte. Sie spreizte also die Finger, ignorierte ihre beiden Tischpartner völlig und bemühte sich, den Eindruck zu erwecken, sie wäre ganz und gar in die Betrachtung ihrer lackierten Nägel vertieft.

Es dauerte nicht lange, bis mehrere diensteifrige Kellner herbei eilten und damit anfingen, den Gästen Wein einzuschenken. Niemand wollte Deirdres Ausweis sehen oder auch nur ihr Alter wissen. Außerdem eignete sich so ein Weinglas hervorragend dazu, es vors Gesicht zu heben, zu nippen und dabei verstohlen die anderen Gäste zu beobachten. Der „exotische“ junge Mann, der zugleich mit ihr angekommen war, saß auf einem Platz ganz unten an der Tafel, und Erin – ein Stück unterhalb von Deirdre, aber deutlich oberhalb von ihm positioniert – belauerte ihn, als hoffte sie, man würde ihn zum Dinner servieren.

Nur die beiden Plätze am Kopfende des Tischs waren noch frei. Wer dort wohl sitzen würde? Vermutlich der oder die Gastgeber. Deirdre bereute es nun, dass sie so gut wie nichts über Dianaimhs Familie wusste.

Was nicht etwa hieß, Dianaimh hätte nie über diese gesprochen: Sie prahlte oft genug damit, dass sie und ihre Eltern über Ostern schnell mal in die USA gejettet und dort bei allen möglichen Hollywoodstars zu Gast gewesen wären. Bloß war Maureen die absolute Expertin, was Klatsch und Tratsch über Promis anging, und sie machte sich oft darüber lustig, wie wenig von all dem Geprahle stimmen konnte: Dieser und jener Star wäre zu dem Zeitpunkt gerade in einer Entzugsklinik gewesen, der Zweite bei einem Filmfestival in Europa, der Dritte sogar schon tot.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752132120
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2021 (Februar)
Schlagworte
Wassermann Brüder Grimm Märchenspinnerei Dublin Grimms Märchen Romance Urlaub Irland irische Mythologie Liebesroman Liebe Fantasy Urban Fantasy

Autor

  • Barbara Schinko (Autor:in)

Barbara Schinko, geboren 1980, wuchs in einer österreichischen Kleinstadt auf. Ihre Kindheit spielte sich zwischen Bücherbergen und den Welten in ihrem Kopf ab. Später studierte sie internationale Wirtschaftsbeziehungen, lebte mehrere Monate lang in Irland und reiste im Wohnmobil durch die USA. Wenn sie nicht arbeitet, sitzt sie in ihrem geliebten Hängesessel auf dem Balkon und träumt sich ans Meer.
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Titel: Das Meer so tief