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Vor dem Tor lauert Gefahr

von Petra Breuer (Autor:in)
140 Seiten
Reihe: Abenteuer in München, Band 2

Zusammenfassung

Im Jahr 1183 leben Anna und Benedictus glücklich mit ihren Enkelkindern in der aufstrebenden Siedlung apud Munichen. Ein sicherer Mauerring und bewachte Einlasstore schützen die Einwohner zu jeder Tageszeit. Davon lassen sich die unternehmungslustigen Kinder jedoch nicht abhalten und stürzen sich mitten in der Nacht in ein spannendes Abenteuer. Sie retten Leben und geraten dabei selbst in große Gefahr. In der Gegenwart erkundet Anna mit ihrem Opa die heute noch vorhandenen Stadttore sowie Reste des zweiten Mauerrings. Angereichert werden die Erzählungen des Großvaters durch Sagen und Anekdoten.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


1. Auf dem Flohmarkt

An einem Spätnachmittag im Juni schlenderte ein älterer Herr mit seiner Enkelin Anna über den Flohmarkt. Es war ein perfekter Tag für einen Bummel, denn die Sonne schien angenehm warm und es wehte ein mildes Lüftchen. So war es nicht verwunderlich, dass viele Flohmarktbesucher in bester Kauflaune waren und mit vollbeladenen Taschen und Tüten den Heimweg antraten. Auch Anna hatte bereits ein paar Kleinigkeiten erstanden. Besonders freute sie sich über eine türkise Teedose aus England. In einer größeren Tasche befanden sich die Schätze von Opa Leander: ein wunderschöner Bilderrahmen aus Kirschholz, ein alter Globus in der Größe einer Orange sowie ein alter Füller, den er sich schon immer gewünscht hatte. Nun waren beide hungrig, wollten nach Hause und schlenderten in Richtung Trambahn. Plötzlich blieb Anna abrupt stehen, deutete mit dem Zeigefinger auf einen Tisch und rief aufgeregt:

»Schau mal, Opi, da vorne! Ich habe ein Buch entdeckt, das so ähnlich aussieht wie das, das du mir kürzlich geschenkt hast! Du weißt schon, das über die Gründung Münchens. Lass uns bitte sofort da hingehen.«

»Wenn du meinst. Das Buch würde sogar noch in unsere Tasche passen«, schmunzelte der Großvater.

Die beiden näherten sich einer Mutter und ihren Zwillings­kindern. Auf ihrem Verkaufstisch lagen unterschiedliche Dinge, wie große Teller, alte Pfannen, zwei Kerzenleuchter aus Holz, gut erhaltene Kinderbekleidung, ein Puzzle, Spielzeug, diverse CDs und DVDs sowie viele Bilder- und Lesebücher. Anna griff nach dem Buch, das sie erblickt hatte.

»Mensch, Opi, ich glaub’s nicht!«, rief sie überschwänglich.

»Das ist tatsächlich der zweite Teil aus der Reihe ›Abenteuer in München‹. Da! Schau dir das mal an!«

Opa Leander nahm das Buch, blätterte neugierig darin und gab es mit einem Lächeln auf den Lippen wieder zurück.

»Das ist unser Lieblingsbuch und wir haben zwei davon. Zwillinge werden manchmal doppelt beschenkt und deswegen verkaufen wir jetzt ein Exemplar«, erklärte das Mädchen.

»Meine beiden Kinder würden am liebsten den ganzen Tag nur lesen. Besonders diese spannende Reihe über München. Ich kann dir das Buch wärmstens empfehlen. Bist du auch so lesebegeistert?«, wandte sich die Mutter lächelnd an Anna.

»Ja, bin ich schon. Worum geht es im zweiten Band?«

Diesmal antwortete der Junge. »Im Folgeband geht es um die stark wachsende Siedlung apud Munichen. Du erfährst sehr viel über die Stadtmauern und Einlasstore, den Handel und das Handwerk. Dieses Buch hat uns noch mehr gefesselt als der erste Band, denn Anna und Ben erleben eine unglaubliche Geschichte mit einem Kohlrabi.«

»Kohlrabi?«, fragte Anna zögerlich.

»Ja, vertrau mir! Du wirst das Buch lieben. Wenn dir der erste Teil genauso gefallen hat wie uns beiden, hörst du mit dem zweiten Band nicht mehr zu lesen auf. Versprochen!«

»Ja, das kann ich bestätigen«, stimmte seine Schwester ihm zu.

»Anna, das musst du unbedingt kaufen und zu Hause neben den ersten Band ins Regal stellen. Wer weiß, vielleicht ist irgendwann das Bücherbord voll mit dieser Reihe«, drängte Opa Leander seine Enkelin.

»Wie viel soll es denn kosten?«, fragte Anna.

»Ach, weißt du was? Wir schenken es dir. Es macht uns Freude, eine Gleichgesinnte gefunden zu haben«, antwortete das Mädchen und grinste.

»Wow, cool ... das ist ja fast wie Weihnachten ... äh, … Tausend Dank ... äh, ... jetzt muss ich aber los«, stotterte Anna hocherfreut und ergänzte: »Ich glaube, ich bin vom Lesevirus befallen und muss sofort nach Hause in mein weiches Bett.«

Anna nahm ihr Geschenk entgegen, lächelte den Geschwistern glücklich zu und trieb ihren Großvater an. Sie wollte nach Hause, um zu lesen – und das nicht später, sondern sofort. Eine lächelnde Mutter und ein verschmitzt dreinschauendes Zwillingspärchen sahen den beiden hinterher.

2. Kohlrabi

Die alte Anna spielte mit der Zunge an ihrem letzten, stark wackelnden Zahn.

»Bald wird er ausfallen«, dachte sie traurig und ließ
ihre Schultern hängen. »Wie soll ich dann überhaupt noch kauen?«

Sie griff mit der linken Hand in den Futtereimer, um die bettelnden Enten mit Körnern zu versorgen. Ein aufgeregtes Geschnatter machte sich breit, denn auch die verfressenen Hühner versuchten, ein paar Leckerbissen abzubekommen. Anna scheuchte den Gockel um die Ecke. Da erblickte sie ihren Mann Benedictus, der sich mühevoll auf seinen Gehstützen näherte. Er kam von der Brücke, die über die Isar führte.

»Bist du hungrig, Benedictus? Ich habe Suppe gekocht.«

»Nein, Anna, danke. Ich habe heute auf dem Markt von einem italienischen Händler einen besonders würzigen Hartkäse namens Parmitschaaanoo probiert und ich bin immer noch satt. Hier sind ein Paar Stückchen für dich.«

Seine Frau nahm den Käse entgegen, schnupperte neugierig daran und ging ins Haus, um die Gemüsesuppe umzurühren.

»Gut, dann esse ich jetzt ein paar Löffel Suppe – solange es halt noch geht.«

»Was meinst du damit, Anna?«

»Ja mei, mein letzter Zahn im Mund wackelt so narrisch hin und her, der fällt bestimmt bald aus«, rief sie nach draußen.

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»In unserem Alter ist das normal, dass die Zähne ausfallen. Schau in meinen Mund, da sind noch fünf Stumpen übrig«, versuchte Benedictus sie zu trösten.

Anna nahm sich eine Holzschale, füllte Suppe hinein und bröselte die Käsereste darüber. Dann löffelte sie genüsslich ihr flüssiges Mittagessen.

Plötzlich stürmte ihre Enkelin Klein-Anna in die Stube und rief: »Oma, Oma, rate mal, was Ben und ich gefunden haben!«

»Ja, was denn?«, fragte die alte Anna neugierig.

»Komm raus und schau es dir an.«

Die Großmutter schlurfte vor die Tür und staunte, denn ihr Enkel Ben hatte ein winziges Vögelchen in seinen Handflächen sitzen.

»Was ist denn das?«

»Na, was wohl, Oma! Ein kranker Singvogel. Die Vogelfänger wollten ihn einfangen, haben dann aber ihre Leimrute vergessen. Der arme Vogel klebte mit seinem Gefieder daran und konnte sich nicht mehr befreien. Ben und ich haben ihn ganz vorsichtig abgenommen und jetzt wollen wir uns um ihn kümmern.«

»Ja, Oma, ganz gemeine Vogler waren das«, bekräftigte Ben die Schilderung seiner Zwillingsschwester Anna.

»Benedictus, komm doch bitte zu uns und schau dir das mal an«, rief die alte Anna ihren Mann herbei.

Dieser humpelte um die Ecke und fragte neugierig: »Was ist denn los?«

»Einen fluglahmen Vogel haben die beiden angeschleppt. Was sollen wir damit machen? In die Suppe werfen?«

»Das wirst du nicht wagen, Oma!«, riefen die Geschwister entrüstet.

»Anna, das kannst du wirklich nicht machen«, pflichtete der Opa den Kindern bei. »Erstens hast du nur noch einen Zahn und mit dem nagt es sich recht schwer an einem dürren Vogel, und zweitens hast du doch ein weiches Herz, oder?«

Die Kinder sahen ihre Großmutter fragend an. »Oma, was ist denn in dich gefahren? Du bist doch sonst immer so tierlieb!«

»Ich denke, sie ist grantig, weil sie in Zukunft ihr Essen lutschen muss«, lachte Benedictus und duckte sich gerade noch rechtzeitig, denn ein hölzerner Kochlöffel kam direkt auf seine Stirn zugesaust.

»Ist ja schon gut, Anna. Ich werde dem Vögelchen
einen Käfig bauen. Dann wird dir sein Gesang den Tag versüßen.«

»Wie soll denn der Piepmatz heißen?«, wollte Oma Anna wissen.

Die Kinder sahen sich ratlos an.

»Hm, darüber haben wir uns noch keine Gedanken gemacht. Wir denken uns gleich einen Namen aus«, schlug Ben vor.

»Ich bin für Piepmatz«, platzte die alte Anna heraus.

»Nein, der Name klingt nicht schön. Wie wäre es mit Flügelchen?«, fragte Ben. »Das ist doch ein passender Name für unseren kranken Vogel, oder?«

»Ihr müsst schon einen Namen finden, der auch zu seinem Aussehen passt«, schlug Benedictus vor.

»Er hat einen schwarzen Kopf, die Wangenflecken sind weiß und sein Bäuchlein ist von einem schwarzen Streifen durchzogen, aber sonst ganz gelb«, meinte Ben.

»Na, das klingt ja so, als ob ihr eine Kohlmeise vor dem sicheren Tod gerettet habt«, lachte der Großvater und blickte prüfend auf den kleinen Patienten. »Ja, tatsächlich! Euer Findelkind hat ein kohlrabenschwarzes Köpfchen. Das ist ganz sicher eine Kohlmeise.«

»Nennt ihn doch Kohlrabi«, kicherte die alte Anna.

»Kooooohlraaaabiiii?«, riefen beide Kinder wie aus einem Munde.

»Ja, ich hab grad einen aus der Suppe gefischt. Als Benedictus euch erklärt hat, dass der Piepmatz einen kohlrabenschwarzen Kopf hat, ist mir der passende Name eingefallen«, gluckste sie.

»Oma, ein Kohlrabi kann nicht fliegen«, lachte Ben.

»Euer Piepmatz doch auch nicht, oder? Außerdem kann mein gekochter Kohlrabi aus der Suppe nicht singen. Hat euer Federvieh bisher irgendein Liedchen geträllert? Nein! Also könnt ihr ihn ruhig Kohlrabi taufen. Beide – das Gemüse und euer Federknäuel – können weder fliegen noch singen.«

Die Zwillinge sahen sich sprachlos an. Warum sollte das kleine Vögelchen nicht so heißen? Beide fanden den Namen passend, denn er war etwas Besonderes. Benedictus nahm den kleinen Patienten aus Bens Händen.

»Kinder, saust los und bringt mir lange Weidenruten. Kohlrabi braucht ein neues Zuhause.«

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Die Zwillinge rannten pfeilschnell die Gasse entlang in Richtung Marktplatz, am Petersbergl und an den beschäftigten Wachen vorbei durch das Talburgtor, hinaus vor die Mauern der Siedlung. Sie kullerten die saftig grüne Wiese hinab in Richtung des Bächl im Tal, rappelten sich flink wieder auf und liefen laut lachend weiter.

Kohlrabi saß in der Zwischenzeit auf der Holzbank vor der Stube und wusste nicht, wie ihm geschah.

»Anna, komm bitte an den Tisch. Das Essen wird kalt.«

»Ja, Mama. Ich habe gerade das Kapitel zu Ende gelesen«, erwiderte Anna und erhob sich vom Bett. »Was gibt es denn Feines?«

»Fleischpflanzerl mit Petersilienkartoffeln und Kohlrabi­gemüse.«

»Das esse ich nicht!«

»Wieso? Seit wann magst du denn das nicht mehr?«

»Seit gerade eben, denn da hat sich nämlich der Kohlrabi einen Flügel gebrochen.«

»Hä?«

»Ich esse keine Vögel«, antwortete Anna.

»Kohlrabi ist ein Gemüse. G-e-m-ü-ü-ü-s-e. Verstehst du, Anna?«

Die Mutter füllte beide Teller und wechselte das Thema.

»Ich freue mich übrigens über deine zwei Einser in
HSU. Hast du dich schon bei Opa Leander für seine Hilfe bedankt?«

Anna schüttelte den Kopf. »Nein, noch nicht.«

»Aber mal ehrlich, du hättest mir euer Geheimnis schon verraten können. Ich schimpfe dich doch nicht wegen einer schlechten Note.«

»Sei nicht sauer, Mama. Ich habe mich nicht getraut. Es ist dank Opi ja alles gut gegangen. Jetzt starte ich gerade mit dem zweiten Band aus dieser Abenteuerserie. Das Buch haben wir auf dem Flohmarkt entdeckt.«

»Ist die Geschichte auch so spannend wie der erste Band mit diesem Löwen?«

»Hm, na ja. Etwas komisch, wegen so einem Kohlrabi, der nicht mehr fliegen kann. Übrigens, den Löwen, den du meinst – das war Heinrich der Löwe! Nur mal so zur Information, damit du auch mitreden kannst«, gab Anna kokett von sich.

Die Mutter blickte etwas verdutzt von ihrem Teller auf und nickte sprachlos.

»Ja, und die Anna aus dem ersten Band ist mittlerweile alt und hat nur noch einen Zahn. Sie ist mit dem behinderten Benedictus verheiratet. Ihre beiden Enkelkinder heißen Anna und Ben und sind Zwillinge.«

»Aha, ist ja interessant, Anna. Das bedeutet, dass die Geschichte und das Leben der beiden weitergehen. Der erste Band handelte im Jahr 1158 zur Gründungszeit Münchens und diese Hauptpersonen sind nun alt. Kann das sein? Jetzt beginn doch bitte mit dem Essen.«

»Nein, Mama. Ich lese lieber weiter.«

Anna stand auf, ließ Fleischpflanzerl, Petersilienkartoffeln und Kohlrabigemüse auf dem Teller unberührt zurück und ging in ihr Zimmer, um die Geschichte weiterzulesen.

3. Wie alles begann

Der fertige Käfig aus Weidenruten stand auf dem Stubentisch. Kohlrabi saß auf einer Sitzstange, legte den Kopf schief und betrachtete die Zwillinge aufmerksam.

»Zizibäh, zizibäh.«

»Er hat was gesagt!«, jubelten die Kinder.

»Was spricht denn euer Kohlrabi? Ich hab nichts verstanden außer einem Gekrächze. Vielleicht sollten wir ihn doch lieber in die Suppe werfen?«

»Anna, du alte Grantlerin. Jetzt hör mit deinem Gemurre auf und freu dich über so eine nette Unterhaltung in unserer Stube. Du wirst sehen, der kleine Vogel wird viel Heiterkeit und Freude in unser Leben bringen«, versuchte der alte Benedictus seine Frau umzustimmen.

»Zizibäh, zizibäh«, antwortete der Vogel.

»Hast ja recht«, kicherte die alte Anna.

»Dürfen wir den Vogel an das Grab von Mama und Papa mitnehmen und ihn vorstellen?«, fragte Anna.

»Nein, gleich wird es dunkel und die Einlasstore im
neuen Mauerring werden geschlossen. Mir ist lieber, ihr bleibt hier.«

»Einlasstore?«, wunderte sich Anna und ging zu ihrer Mutter in die Küche.

»Du, Mama, gab es damals um München tatsächlich einen Mauerring mit Einlasstoren?«

»Ja, Anna. Heinrich der Löwe hat etwa um das Jahr 1175 mit dem Bau einer Befestigung samt Wassergraben begonnen. Die Bürger der Siedlung ›apud Munichen‹ lebten innerhalb des Wallgrabens und waren geschützt vor Überfällen.«

»Wow, interessant! Die kleine Siedlung ist also gewachsen. Das Mädchen vom Flohmarkt hat mir doch keinen Schmarrn erzählt. Ich glaube, ich vertiefe mich schleunigst in mein Buch, denn das scheint jetzt wirklich richtig spannend weiterzugehen.«

Anna schnappte sich zwei Bananen aus dem Obstkorb und verschwand in ihrem Zimmer. Schnell riss sie nochmals die Tür auf und rief kichernd in Richtung Küche: »Mama, so ahnungslos bist du ja gar nicht, wenn es um die Historie Münchens geht!«

Die Geschwister beobachteten fasziniert den kleinen Vogel, als Anna plötzlich fragte: »Was frisst denn eine Kohlmeise?«

»Na, dem Kohlrabi schmecken kleine Insekten. Mit einem Stein könnt ihr zusätzlich morgen ein paar Haferkörner platt klopfen. Was meint ihr?«

»Opa, was geben wir ihm jetzt?«, fragte Anna besorgt.

Der alte Benedictus schmunzelte und öffnete seine Faust.

»Großartig, das sind sieben Fliegen«, rief Ben begeistert aus. »Du denkst wirklich an alles.«

»Das war übrigens nicht ich, sondern eure liebe Oma. Die hat im Stall mal kräftig mit einem Hadern nach den Fliegen geschlagen. Gleich sieben auf einen Streich hat sie erwischt. Das behauptet sie jedenfalls.«

Ben griff sich mit den Fingerspitzen eine Fliege und hielt sie dem Vogel hin. Kohlrabi legte den Kopf schief und rief: »Zizibäh, zizibäh.«

»Na, schlecht scheint es ihm ja wohl nicht zu gehen. Er singt, springt und macht einen recht wackeren Eindruck«, schmunzelte Benedictus. »Lasst ihn besser mal in Ruhe, er muss sich noch eingewöhnen.«

Kohlrabi bekam einen Platz über dem Strohlager. Benedictus hatte den Käfig an der Stubendecke mit einem Strick befestigt. So hatte das Meiserl einen hervorragenden Blick auf den Tisch, die Feuerstelle, die Eingangstür und natürlich auf den Schlafplatz seiner beiden Ersatzeltern Anna und Ben. Es schien ihm zu gefallen.

Als abends alle vier im Kerzenschein um den Holztisch saßen und Fladenbrot mit einem Stück Käse aßen, wollten die Zwillinge eine Geschichte hören und bettelten: »Oma, bitte erzähl uns und dem Kohlrabi noch einmal wie es war, als du Opa kennengelernt hast und ihr beide den Bau der ersten Brücke von Heinrich dem Löwen aus eurem Versteck heraus beobachtet habt.«

»Den Kohlrabi wird das wohl kaum interessieren. Aber euch erzähle ich gerne, wie das damals alles begann, hier in unserer schönen Siedlung.«

Die alte Anna lächelte, lehnte sich zurück und fing an zu erzählen.

»Heinrich der Löwe hatte im Jahr 1158 das Dorf Föhring, die dortige Brücke und das Zollhäuschen überfallen und niedergebrannt. Er wollte den fälligen Salzzoll auf seinem eigenen Grund und Boden abkassieren. Mein damals noch junger Benedictus saß in diesem brennenden Zollhaus in der Falle und konnte sich durch einen waghalsigen Sprung kopfüber aus dem Fenster retten. Mit einem Ochsengespann kam er hier nahe unserer Siedlung an. Während er mir damals die schreckliche Geschichte vom Überfall auf Föhring erzählte, versorgte ich ihn mit Essen und Wasser. Ab diesem Moment waren wir eng befreundet und saßen fast jeden Tag hinter einem Busch oberhalb der Isar und beobachteten, wie die Männer von Heinrich dem Löwen eine neue Brücke bauten. Benedictus, der beim Pfarrer von Sankt Peter wohnte, wurde dann aber leider sehr krank und ins Kloster Schäftlarn zur Versorgung seiner Wunden gebracht. Da verlor ich ihn etwas aus den Augen. In der Zeit als er gesund gepflegt wurde, transportierten die Salzhändler nun ihr Salz über die neu erbaute Isarbrücke und bezahlten dort ihren Salzzoll.«

»Ja, das ist richtig«, unterbrach Benedictus seine Frau. »Der Pfarrer war ein herzensguter Mensch. Er sorgte dafür, dass mir die Mönche auch das Zählen der Münzen beibrachten. So kam es, dass ich nach einiger Zeit wieder nach ›apud Munichen‹ zurückkam und an der neu errichteten Zollstation der frischgebackene Brückenwart wurde. Anna hat mich damals gelegentlich mit Essen versorgt. Mit der Zeit kamen immer mehr Händler und Handwerker zu uns in die Siedlung und ein reges Markttreiben begann. Da wir beide keine Zeit mehr füreinander hatten, sah ich sie immer seltener. Und, na ja, eines Tages stellte ich fest, dass sie mir fehlte und ich auf ewig mit ihr zusammen sein wollte. Da haben wir in Sankt Peter beim alten Pfarrer geheiratet. Annas Brüder halfen uns, dieses solide Haus hier zu bauen. Wir waren sehr glücklich und haben vier Kinder bekommen. Eines davon war eure Mutter, die leider bei eurer Geburt starb. Heute leben noch drei unserer Kinder, nämlich Jacob der Goldschmied, Sebastian der Bäcker sowie eure Tante Resl, die jeden Tag in der Weinschänke die Reisenden versorgt.«

»Und wie ging es weiter?«, wollte Ben wissen.

»Viele Händler und Kaufleute wurden sesshaft und der Ort wuchs rasant an. Heinrich der Löwe beschloss, die Siedler und vor allem den Markt vor Überfällen zu schützen und ließ einen Mauerring mit einem vorgelagerten Wassergraben errichten. Davon profitierte der Ort und seitdem haben wir einen wachsenden Markt mit einem täglich größeren Warenangebot sowie unterschiedliches Handwerk in der Siedlung«, ergänzte die alte Anna stolz.

»Und weil mein Weiblein und ich sehr schlau sind, haben wir unsere Münzen stets vermehrt. Meine liebe Frau hat damals mit ihren drei Brüdern eine neue Herberge für die reisenden Händler im Tal in Betrieb genommen. Die starken Burschen haben gleich hinter der neuen Brücke ein solides Holzhaus und eine Pferde- und Ochsentränke gezimmert. Ich, der junge Brückenwart, habe alle Hungrigen und Müden, die bei mir an der Brücke den Zoll bezahlten, zu ihr in die Wirtsstube geschickt. Annas Spezialität ist auch heute noch deftiger Erbseneintopf mit Speck, und den wollte sich damals kein Reisender entgehen lassen. Das hat sich natürlich herumgesprochen unter den Händlern und Handwerkern und es kamen mit der Zeit noch weitere Herbergen, Wirtshäuser und eine Weinschänke für die besonders Durstigen hinzu. Den Weinausschank und die Unterkünfte bewirtschaftet mittlerweile unsere Resl mit ihrem Mann Taddäus.«

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»Ja, und unser Cousin Michi und unsere Cousine Ursl helfen mit, wenn es hoch hergeht«, unterbrach Anna ihren Großvater.

»Seit dem Tod eurer Eltern verbringen wir unsere Zeit mit euch Waisenkindern und ab heute sogar noch mit einem fluglahmen Kohlrabi«, schmunzelte Benedictus.

Ben und Anna gähnten herzhaft.

»Ab in euer Strohlager«, scheuchte Benedictus beide auf. »Morgen gibt es viel zu tun. Wir müssen hinter dem Haus den Gemüsegarten von Unkraut befreien und ich möchte auf dem Rossmarkt einen anständigen Gaul kaufen. Wollt ihr mit und beim Verhandeln des Preises helfen?«

Freudiges Nicken war die Antwort der Zwillinge.

4. Buntes Markttreiben

Der Platz im Herzen der Siedlung ›apud Munichen‹ war seit dem Bau der Brücke zu einem gut besuchten und wichtigen Markt angewachsen. Aus nah und fern kamen Bauern, Kaufleute und Handwerker. Sie nahmen tagelange Reisen auf sich, um ihre Produkte zu verkaufen. Auch heute war wieder Markttag – und einiges los: Händler priesen lautstark ihre Waren an, um möglichst viel Kundschaft anzulocken. Käufer feilschten mit den Verkäufern um den besten Preis, denn jeder wollte ein gutes Geschäft machen. Am Fischbrunnen verkaufte der Fischer Frösche sowie seine fangfrischen Forellen und Flusskrebse, die ihn ab und zu in den Finger zwickten. Fleißige Mägde bugsierten ihre vollen Körbe durch das Gewühl, denn bald mussten sie das Mittagessen für die reichen Herrschaften zubereiten. Genervte Mütter trugen weinende Kleinkinder auf dem Arm und die größeren Kinder quetschten sich durch die Menschenmenge hindurch und spielten Fangen. Unzählige Tiere gackerten, krähten, schnatterten oder zwitscherten aus den Käfigen heraus. Zwei Diebe suchten nach der besten Möglichkeit, den Marktbesuchern das Münzsäckel aus der Tasche zu ziehen, und ein hungriger Langfinger stibitzte einen Apfel vom Obststand, lief um die Ecke und biss gierig hinein. Die Marktaufsicht indes kontrollierte strengen Blickes das Marktgeschehen, um die Schurken auf frischer Tat zu ertappen. Vereinzelt standen Gaukler und Sänger an den Ecken und unterhielten die Besucher mit allerlei Gesang, Verrenkungen und künstlerischen Darbietungen. Arme Bettler saßen am Rande des Markts und hofften auf milde Gaben. Auf dem Turm des Einlasstors stand der Türmer Ortolf, blickte über den Markt und prüfte, ob alles seine Richtigkeit hatte. Zum täglichen Gewimmel kam heute noch das Gedränge der Schrannenhändler hinzu, die ihr Getreide in prall gefüllten Säcken feilboten. Seit mehr als 25 Jahren gab es nun bereits die Brücke über die Isar. Täglich überquerten unzählige Menschen den Flussübergang und quetschten sich mit ihren Ochsen- und Pferdekarren durch das sogenannte Grieß bis zum Talburgtor hoch. Sie waren mit Schranne, Salz oder sonstiger Marktware beladen. Damit der Markt zu Munichen überschaubar blieb, gab es strenge Verkaufsregeln, die von jedem eingehalten werden mussten. So gab es montags an der Einmündung zur Weinstraße einen Weinmarkt und dienstags und am Samstag wurde Korn verkauft. Am Mittwoch und Donnerstag wurde Salz feilgeboten und donnerstags und freitags gab es fangfrischen Fisch am Brunnen. Samstags boten Händler lebende Singvögel und Hunde an und an Sonn- und Feiertagen war Taubenmarkt. An allen Wochentagen gab es Eier, Backwaren, Honig, Schmalz, Butter, Öl, Kräuter, Käse, lebendes Geflügel wie Hühner und Enten, Pilze, erntefrisches Obst und Gemüse – insbesondere Kraut und weiße Rüben sowie bunte Blumensträuße und gebundene Kränze, aber auch Gebrauchsgegenstände wie Seifen, Wolle, Kerzenwachs, Schuhe aus Holz und Leder, Seile, Kessel, Korbwaren, Besen und Bürsten, Gürtel, Brustbeutel für die Münzen, verschiedenste Werkzeuge sowie unterschiedlichstes Geschirr für Pferde und Ochsen zum Einspannen der Zugtiere. Am Ende eines Markttages erwarb so mancher noch schnell einen Pflug, eine Sense oder ein scharfes Messer und lud beim Salzstößler einen Sack Salz auf seinen Karren.

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Die Zwillinge zwängten sich durch das Gedränge. Ihr Ziel war der Stand ihres Onkels Sebastian, denn sie mussten Brot kaufen. Um sie herum priesen die Händler ihre Waren an:

»Feine Tuche, schöne Tuche. Kommt ihr Leute, kommt und schaut!«

Anna richtete ihren Blick auf die wunderbaren Stoffe, die der Tuchhändler anbot.

»Heilsalben, Heilsalben, für jedes Gebrechen!«, schallte es vom Stand nebenan, wo eine Heilerin ihre Kräutersalben anbot. Viele kauften diese Wundermedizin, da sie sich Linderung für ihre Gebrechen erhofften. Ein alter Waldarbeiter schob sich an den Stand heran.

»Was hast du denn für ein heilendes Sälblein?«, fragte er die Heilerin.

»Feinste Zutaten gab ich in meine Paste. Das Ei einer
fetten Henne, Wacholderkörner und ungesalzenes Schweine­schmalz. Alsdann habe ich gestoßen, gerührt und alles zu einer sämigen Masse verarbeitet, ein paar Beschwörungen geflüstert und bei Vollmond noch sieben schwarze Hundehaare untergemengt. Du kannst es gerne ausprobieren.«

Der Waldarbeiter nickte und kaufte etwas Salbe, die ihm die Heilerin in einem zusammengefalteten Ahornblatt überreichte.

»Exotische Spezereien. Safran, Pfeffer, Zimt und Kardamom. Feinste Qualität aus fernen Ländern, nur hier bei mir!«, rief der Gewürzhändler laut.

Ben sog mit einem tiefen Atemzug die würzigen Gerüche ein.

»Wunderbar, dieser Duft! Vielleicht sollten wir unserer Oma etwas Zimt kaufen. Den kann sie sich auf ihre Radieserl streuen. Was meinst du Anna, könnten wir sie damit überraschen?«

»Zimt kenne ich nicht. Ich denke, die Oma mag das Radieserl statt mit diesem komisch duftenden Pulver viel lieber zu einem frisch gebackenen Brot von Onkel Sebastian. Lass uns schnell zu ihm gehen.«

»Brot, feines Brot. Frisch gebacken und ganz resch!«

»Ich höre Onkel Wastl schon, komm Anna, beeil dich.«

»Jetzt schubs mich nicht so durch das Gedränge. Ich falle ja noch über einen Korb voller Eier.«

Ben war etwas ungeduldig, denn er wollte schnellstens auf den Rossmarkt, um ein neues Pferd zu kaufen.

»Guten Tag, Onkel Wastl«, grüßten die Zwillinge.

»Braucht meine Mutter wieder Fladenbrot? Kann die das überhaupt noch kauen oder lutscht sie es mittlerweile?« Er grinste und reichte das Brot über den Verkaufstisch. »Da, grüßt sie lieb von mir.«

»Danke, Onkel Wastl, richten wir gerne aus«, sagte Anna und nahm die duftende Backware entgegen.

Mit halbem Ohr hörten die Geschwister auf ihrem Rückweg über den Markt die Händler, die unaufhörlich ihre Kostbarkeiten und Leckereien anpriesen.

»Wertvolles Geschmeide. Für jede Schönheiten habe ich was!«, rief der Goldschmied Jacob und winkte den Kindern fröhlich zu.

»Wein von meinem sonnigen Weinberg in Sendling! Probiert einen Schluck!«

»Feine Saiblinge, frische Huchen, Karpfen – wunderbar zart. Fangfrischer Isarfisch. Kommt an meinen Brunnen und sucht euch ein Prachtexemplar heraus. Heute habe ich besonders feine Mäuchen

»Uiii Anna, hast du das gehört? Frische Mäuchen hat
der Fischertoni im Bach gefangen. Die sollten wir kaufen
und der Oma aufs Strohlager legen. Dann kreischt sie wie wild.«

»Die Oma wird die Mäuchen in die Suppe schmeißen, wirst schon sehen«, lachte Anna und warf noch schnell einen Blick auf die scharfen Scheren der Flusskrebse.

»Frische Eier, heute bei Sonnenaufgang von meinen besten Legehennen Gundl und Walli gelegt. Meine Hennen sind die gesündesten. Hierher ihr Leute!«

»Stabile Körbe. Gekonnt geflochten und ein Leben lang haltbar. Körbe, große und kleine!«

»Butter, rahmige und streichzarte Butter. Das kann sich jeder leisten, hier bei mir!«

»Gürtel, Geldsäckchen und Pferdehalfter aus Leder! Feinste Handarbeit.«

»Besen, stabile Besen. Damit wird jede Stube wieder rein und fein!«

»Rüben und Kraut, Pastinaken und Kohlrabi.«

»Kohlraaaabi?« Hast du das gehört, Anna? Die verkaufen unseren Vogel«, rief Ben entsetzt.

»Ach was, die meint das Gemüse aus ihrem Garten und nicht unseren Piepmatz.«

»Seile, lange und dicke, kurze und dünne. Hier gibt es die stabilsten Seile zu kaufen!«

»Feinste Lederschuhe, handgefertigt. Nie wieder kalte oder schmutzige Füße!«, bot der Schuhmacher wunderschönes Schuhwerk und hölzerne Überschuhe, sogenannte Trippen, an.

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Die Kinder hatten den Marktplatz fast vollständig
überquert, da blieb Ben plötzlich stehen und sagte zornig zu Anna:

»Nicht zu fassen, Lambert, der Wächter vom Oberen Tor, hat tatsächlich einen Vogelfänger auf den Markt gelassen. Komm, das schauen wir uns genauer an.«

Die Zwillinge näherten sich vorsichtig dem Vogler. In den Käfigen drängten sich die unterschiedlichsten Singvögel, Gefieder an Gefieder. Und schon rief er wieder über den Markt: »Leckere Vögel für den Sonntagstisch. Kommt ihr Mägde und kauft bei mir die beste Qualität.«

Anna und Ben waren entsetzt. Hier wurden in großen Mengen Vögel verkauft. Der Vogler hatte sie mit Fangnetzen und Leimruten vor den Mauern der Siedlung gefangen und bot sie nun hier feil.

»Anna, weißt du was?« Bens Stimme zitterte. »Den legen wir herein. Was hältst du davon? Wir fragen Michi und Ursl, ob sie mitmachen und schmieden einen Plan.«

»Das ist eine großartige Idee. Wir sollten auch noch Ulli und Bärbl fragen. Was hältst du davon?«

»Finde ich gut. Dann wären wir drei Cousinen und drei Cousins. Gemeinsam sind wir unschlagbar!«

»Darf es auch noch eine Wacholderdrossel sein, die Dame?«, versuchte der Vogler der Magd ein weiteres Tier anzudrehen. »Lecker in einer Soße mit etwas Rosinen und Zimt angemacht – einfach vorzüglich! Oder dürfen’s noch ein paar Vogelzungen sein? Besonders zart, versteht sich natürlich. Die habe ich den Viechern eigenhändig ausgerissen.«

Die Magd hatte noch nie Vogelzungen gesehen und schaute interessiert auf die angebotene Ware.

»Ja, da nehme ich dann auch noch zwei Hände voll
mit. Über diese neuartige Spezialität wird sich mein Herr,
der Salzsender, sicherlich freuen. Der ist ja durch den
Salzhandel so reich geworden, der kann sich sogar Vanille leisten. Die kaufe ich jetzt auch gleich noch und lege die Vogelzungen in Wein und Vanille ein. Das wird ihm bestimmt munden.«

Die Magd packte alles in ihren Korb und verschwand im Gedränge Richtung Spezereienhändler, um die teuren Gewürze für die Soße zu besorgen.

»Hast du das gehört? Eigenhändig ausgerupft, hat der Vogler gesagt. Das heißt doch, dass da draußen vor den Toren ganz viele Vögel jammervoll gestorben sind, weil sie keine Zunge mehr haben. Die hat ihnen dieser Lump bei lebendigem Leibe ausgerissen.«

»Jetzt beruhige dich Anna, ich bin auch wütend. Aber ich glaube, wir müssen gut überlegen, wie wir den Vogler vertreiben können. Lass uns erst mit Opa zum Rossmarkt gehen und danach schmieden wir einen Plan.«

»Ben, wie könnte dein Plan aussehen?«

»Na ja. Ähm, ganz einfach. Wir zerstören oder verstecken die Fanggeräte beim nächsten Vollmond«, stammelte Ben.

»Sehr gut! Wir retten unsere Singvögel und jagen den Vogler weg«, lachte Anna.

Die Zwillinge kamen leicht außer Puste in die Kuchl gerannt und legten das Brot auf den Tisch.

»Opa, Oma wo seid ihr denn?«, rief Anna laut.

»Hinten im Gemüsegärtchen. Kohlrabi ernten. Hi, hi, hi. Nein, Unkraut jäten«, kicherte Benedictus. »Ich wollte eigentlich schon längst auf dem Rossmarkt sein. Nur Ben zuliebe habe ich gewartet und hier in der Erde für unser Meiserl nach Würmern gesucht. Um diese Uhrzeit bekomme ich jetzt sowieso kein gutes Pferd mehr.«

»Lass uns bitte noch schauen«, bettelten die Kinder.

Kurz darauf ging er mit den beiden in Richtung Pferdemarkt. Vielleicht hatten sie ja Glück und fanden ein kräftiges Ross.

»Anna, der Papa kommt in ein paar Minuten nach Hause. Bitte deck den Tisch.«

»Ja, gleich«, brummte es widerwillig aus dem Kinder­zimmer heraus.

»Nicht gleich. Bitte jetzt.«

»Was gibt es heute zu essen?«, fragte Anna neugierig.

»Seezunge mit Zucchinigemüse und Butterkartoffeln.«

»Pfui Teufel, das esse ich nicht!«

»Alles im grünen Bereich, du Prinzessin? Seezunge ist so ziemlich der teuerste Speisefisch. Ich habe uns ein besonderes Abendessen zubereitet, denn Papa und ich kennen uns auf den Tag genau seit 15 Jahren.«

»Ich esse keine Zunge. Damit ist Ende der Ansage.«

»Oh, Anna. Seezunge ist ein Fisch.«

»Fisch?«

»Ja, Fisch. Blubb, blubb. Verstehst du?«

Anna nickte nur.

»Ah, da kommt Papa endlich nach Hause. Anna, beeil dich bitte, gleich ist die Seezunge fertig.«

»Seezunge! Oh, da freue ich mich aber!«, rief der Vater hungrig.

Nach dem Abendessen huschte Anna schnell in ihr Zimmer, schmiss sich auf ihr Bett, öffnete das Buch und befand sich augenblicklich um mindestens 800 Jahre zurückversetzt – auf den Rossmarkt im damaligen München.

Die Zwillinge und Opa Benedictus gingen durch die engen und verwinkelten Gassen zum Rossmarkt. Ein Wiehern und Schnauben, ein Rufen und geschäftiges Handeln war von Weitem zu hören und der süßliche Geruch der Pferdeäpfel wehte ihnen entgegen.

»Das ist mein bester Gaul im Stall. Fünf Silberstücke sind nie und nimmer zu viel. Da kannst du beste Würste daraus machen«, pries ein Mann sein Pferd einem Metzger an.

Einen Steinwurf weiter versuchte ein Bauer sein Glück: »Ich brauche ein kraftvolles Pferd, um meine zahlreichen Äcker vor den Toren unserer Siedlung bewirtschaften zu können. Der Gaul muss mir beim Lockern der Erde kräftig den Pflug ziehen können. Kann dein alter Klepper das?«

»Das ist das prächtigste Pferd auf dem ganzen Markt hier. Für zwölf Silberstücke ist es dein Pferd«, rief der hoffnungsvolle Pferdebesitzer und streckte seine flache Hand aus, damit der Bauer die Münzen hineinlegen konnte.

»Opa, hier ist ja echt was los!«, staunte Ben und zog den humpelnden Benedictus weiter in das dichte Gedränge der Händler, Käufer und Metzger. Alle wollten ein gutes Geschäft machen.

»Da, schau mal, Opa, der Braune dort.« Ben zeigte aufgeregt mit dem Finger auf ein braunes Pferd, das sich aufbäumte und mit den Vorderhufen ausschlug. Es sollte gerade verkauft werden.

»Das ist ja ein Teufelsbraten«, rief der interessierte Käufer wütend. »Den Gaul nehme ich nicht. Der trampelt mir meine Rüben im Acker zu Mus.«

»Nein, das ist ein ganz friedliches Pferd. Es ist heute nur wegen der vielen Leute aufgeregt«, versuchte der Händler den Mann zu beruhigen.

»Nein danke, mir drehst Du so ein wildes Ross nicht an. Gib mir meine sechs Silberstücke wieder zurück.«

Der enttäuschte Bauer bekam sein Geld zurück und ging weiter. Der Pferdehändler sah ihm wütend hinterher und murmelte vor sich hin: »So ein Mist. Jetzt muss ich den Gaul dem Metzger geben. Den kann ich nicht mehr nach Hause bringen. Die lachen mich alle aus, weil ich den Satansbraten niemandem andrehen konnte.«

Hätte er nur mal aufgepasst, denn das hörten Ben und Anna, die hinter dem Pferdekarren standen und das ganze Spektakel aus unmittelbarer Nähe verfolgt hatten. Schnell liefen sie zu Benedictus, der von einem Händler zum nächsten ging und Pferde begutachtete.

»Opa, komm schnell! Der Braune ist doch nicht verkauft worden und jetzt können wir ihn für wenige Münzen haben. Beeil dich«, drängte Ben und lief wieder zu seinem auserwählten Vierbeiner zurück.

Der Pferdehändler schaute missmutig vor sich hin und schlug das Pferd auf den Mähnenkamm, worauf es sich aufbäumte und wild wieherte. Ben näherte sich vorsichtig dem Tier.

»Hau ab, du kleiner Taugenichts«, wurde er vom Pferde­händler barsch angeschrien. »Verschwinde und lass mich in Ruhe. Den Teufel hier verkaufe ich jetzt an den Metzger und dann fahre ich heim nach Giesing. Der Markt hier in ›apud Munichen‹ taugt nichts.«

»Wie viel soll denn der alte Klepper kosten?«, wollte der soeben eingetroffene Benedictus wissen.

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»Aaaah, ein Interessent!« Der Händler wurde freundlich und seine Stimme überschlug sich fast. »Jaaaa, das ist mein bestes Ross im Stall. Viele wollten es heute schon kaufen, aber keiner konnte es bezahlen«, log er.

»Ist das denn ein friedlicher Ackergaul?«, fragte der Großvater scheinheilig.

»Friedlich wie ein Engelchen«, gurrte der Händler und klopfte seinem Pferd den Hals.

Ben näherte sich vorsichtig von der Seite und pikste den Braunen in die Flanke. Das Pferd bäumte sich erneut auf, ruderte mit den Vorderhufen wild in der Luft und wieherte laut.

»Ja, ja. Friedlich wie ein Engelchen, dass ich nicht lache. Eher wie ein Bengelchen«, meinte Benedictus und tat so, als wollte er wieder gehen.

»Jetzt warte doch«, rief der Händler. »Du kannst ihn für fünf Silberstücke haben.«

»Zwei Münzen, der Klepper ist mir zu bösartig«, murrte der Opa und bewegte sich langsam auf seinen Gehstützen weiter. Anna hopste aufgeregt neben ihm her.

Ben streichelte den Braunen sanft und pikste ihn dann erneut. Als ob das Pferd den Plan durchschaut hätte, begann es erneut, sich wild zu gebärden. Es wieherte, bäumte sich noch höher auf und boxte mit den Vorderhufen in die Luft.

»Eine Silbermünze, mehr nicht!«, begann Benedictus zu feilschen.

Der Händler wollte das Pferd unbedingt loswerden, um dem Gespött der Nachbarn und seiner Frau zu entkommen, und forderte: »Drei Silbermünzen.«

Benedictus schüttelte den Kopf und sagte: »Ich gehe, ich brauche keinen wilden Gaul. Ich suche mir ein folgsames Pferd.«

»Gut, eineinhalb Silberstücke. Dann ist mein bestes Pferd deins«, rief der Händler dem Großvater hinterher.

Dieser reagierte nicht und tat so, als ob ihn dieses Geschäft nicht mehr interessieren würde.

»Einverstanden, ein Silberstück. Schlag ein, dann gehört es dir!«

Da drehte sich Benedictus ganz langsam um und feilschte erneut: »Ein Silberstück und einen Ballen Heu dazu.«

»Du Gauner, du Lump, du Bazi. Mit dir mache ich keine Geschäfte. Lieber nehme ich meinen Prachtgaul wieder mit nach Hause«, schimpfte der Pferdebesitzer.

Ben pikste das Pferd erneut und wie auf Kommando begann das bekannte Spektakel von vorne.

»Ein Silberstück und einen Ballen Heu dazu. Das ist mein letztes Wort«, wiederholte Benedictus sein Angebot.

»Du Schurke, du Halunke, du Halsabschneider.«

Dieser zuckte gelangweilt mit den Schultern und drehte sich endgültig weg.

»Halt, gut. Schlag ein, du Schuft. Abgemacht. Ein Silberstück und einen Ballen Heu dazu.«

Benedictus grinste und der Händler klatschte in die ihm dargebotene Hand ein. Das Geschäft war vollzogen. Ben und Anna hüpften ein Stück weit entfernt vor Freude von einem Bein auf das andere. Jetzt hatten sie ein Pferd!

Ben streichelte den Braunen und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Das Pferd scharrte mit den Hufen im sandigen Boden, blähte die Nüstern und wieherte leise.

»Was machst du da?«, wollte Anna wissen.

»Ich habe unserem neuen Familienmitglied gesagt, dass es ein schönes Zuhause bekommen wird und wir uns täglich um ihn kümmern. Außerdem habe ich versprochen, dass wir ihn niemals schlagen und schlecht behandeln werden. Das hat er verstanden, denn er ist brav wie ein Lamm.«

Benedictus lachte und nickte zufrieden, als die Kinder sich auf den Rücken des Pferdes setzten, um hoch zu Ross nach Hause zu reiten.

5. Die Nachricht des Boten

»Das ist eine riesengroße Gemeinheit! Die armen Vögel! Keine Frage, wir werden den Vogelfänger vertreiben«, riefen Michi und Ursl wie aus einem Munde.

Anna und Ben waren zu ihnen gegangen, um sie für den Plan zu gewinnen.

»Was heckt ihr denn für Geheimnisse aus?«, fragte Tante Resl die Kinder und reichte jedem einen Apfel.

»Ach, nichts. Wir wollen einen Obstbaum suchen, den wir plündern können«, erklärte die kleine Ursl ihrer Mutter.

»Ja, oder ein paar Beerensträucher. Die Früchte sind schon reif«, rief Michi.

»Warum nicht. Ihr habt die letzten Tage so fleißig beim Bedienen der Gäste geholfen, geht raus an die frische Luft.«

Die Kinder freuten sich und liefen vor das Gasthaus in die Gasse, die Tal genannt wurde. Es herrschte reges Treiben, denn Bauern, Salzhändler, Getreidehändler, Handwerker und Kaufleute zogen bergauf in Richtung Unteres Tor. Ihr Ziel war der Markt. Die Fuhrwerke waren voll beladen und die Pferde und Ochsen zogen schwer an ihrer Last. Alle kamen über die neu erbaute Isarbrücke, zahlten ihren Salzzoll am Zollhäuschen und folgten dem leicht ansteigenden Weg hoch durchs Grieß. Am Unteren Tor, an dem der Türmer Ortolf das Reisebüchlein eines jeden kontrollierte, warteten alle geduldig auf Einlass. Plötzlich entstand im dichten Gedränge eine Unruhe. Ein Reiter kam rasant von der Isarbrücke in Richtung der Siedlung galoppiert und blies in seine Fanfare. Die Reisenden bildeten schaulustig eine Gasse für den Heraneilenden. Neugierig reckten alle ihre Hälse, denn jeder wollte erfahren, was der Bote für eine Nachricht zu verkünden hatte. Dieser zügelte sein Pferd und rief laut in die Menge:

»… Regierungszeit verstorben …«

»Wer ist gestorben?«, fragte Ben die anderen.

»Woher soll ich das wissen?«, murrte Ursl.

»… bereits in Scheyern … beigesetzt …«

»Was? Scheyern? Da kommt doch unser Herzog Otto I. her«, rief Michi aufgeregt.

Endlich kam der Reiter so nahe an sie heran, dass sie die vollständige Nachricht erfuhren:

»Herzog Otto I. von Wittelsbach, Graf von Wittelsbach-Scheyern und Pfalzgraf in Bayern, ist vollkommen unerwartet nach nur dreijähriger Regierungszeit verstorben. Er wurde bereits in Scheyern im Beisein seiner Witwe, seines Sohnes Ludwig und seines Bruders Friedrich beigesetzt. Auch die Söhne des Kaisers nahmen an den Feierlichkeiten teil. Siedler von Munichen hört! Herzog Otto I. von Wittelsbach, Graf von …«, schallte die Nachricht des Boten weiter über die Köpfe der aufgeregten Menschenmenge.

Das Gedränge der Neugierigen wurde immer dichter und so verließen die Kinder die Siedlung über das Einlasstor und gingen den Wassergraben entlang. Die Türmer auf der Wehrmauer sollten eigentlich Wache halten, wurden aber von den lauten Rufen aus den Gassen abgelenkt. Die Nachricht über den unerwarteten Tod von Herzog Otto I. machte in der Siedlung rasend schnell die Runde. Keiner beachtete die kleine Gruppe, die sich ein gemütliches Plätzchen in einer Obstwiese suchte.

»Schaut, da vorne ist ein Kirschbaum. Die Früchte leuchten ganz rot«, rief Michi begeistert und kletterte bereits den Stamm hinauf. »Hier, fangt auf«, rief er und warf jedem reife Kirschen in die hochgestreckten Hände.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739400273
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Oktober)
Schlagworte
Einlasstore München Abenteuergeschichte Mittelalter Mauerringe München Stadtgeschichte Münchens Roman Abenteuer Kinderbuch Jugendbuch Humor

Autor

  • Petra Breuer (Autor:in)

Petra Breuer ist als Autorin und Verlegerin tätig. Sie schreibt Schulbücher, Sachbücher, Bildwörterbücher und Kinderbücher mit einem Schwerpunkt auf Wissensvermittlung – u.a. zu historischen Themen. Zudem unterstützt sie Volkshochschulen aus München und dem Umland sowie diverse Museen als freie Dozentin und Kursleiterin. Ein Schulklassenprogramm rundet das Programm ab. Weitere Informationen zur Person, den Werken und aktuellen Aktivitäten finden Sie im Netz.
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Titel: Vor dem Tor lauert Gefahr