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Rockstars haben schöne Augen

von N. Mary D. (Autor:in)
115 Seiten

Zusammenfassung

Als Louisa sich zu einem musikalischen Wettbewerb anmeldet, ist sie sich sicher, mit ihrem Talent weit zu kommen. Die Vorausscheidungen laufen gut, und die neuen Eindrücke, die sie gewinnt, eröffnen ihr eine neue Welt. Sie freundet sich mit dem Casting-Mitstreiter Jo an und erwartet mit ihm die spannenden Herausforderungen, denen sie sich stellen müssen. Sie ist sich sicher, dass ihre Musik, die ihr die Welt bedeuten, sie leiten wird; aber ganz andere Ereignisse kommen ihrer beginnenden Karriere dazwischen.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Kapitel 1

„Lisa, kannst du mal ein bisschen Gas geben? Du bist jetzt schon ewig im Bad und wir müssen noch lange fahren“, rief Jenna aus ihrem Wohnzimmer. Sie war übrigens die Einzige, die mich so nannte. Es gefiel ihr einfach besser und mich störte es nicht.

„Moment, ich hab‘s gleich“, antwortete ich und verdrehte dabei die Augen. Ich stand vor ihrem weißumrahmten Wandspiegel und trug Mascara auf. Das brachte meine blauen Augen schön zur Geltung. Meine glatten, braunen Haare ließ ich offen über meine Schultern fallen. So gefielen Sie mir am besten. Ich trug meine angerissene Lieblingshüftjeans und eine neue, blaue Chiffonbluse. Als ich ins Wohnzimmer kam, schlüpfte ich noch schnell in meine schwarzen Pumps, die neben dem Sofa bereit standen.

Jenna stand schon mit Handtaschen und Koffer in den Startlöchern. „Du siehst toll aus. Können wir jetzt endlich fahren?“

„Sollte nicht ich die Nervöse sein? Wir haben doch noch Zeit!“, rechtfertigte ich mich.

„Vergiss deine Gitarre nicht und komm jetzt!“, meinte sie nur stumpf. Jenna fuhr einen VW Polo, weswegen es schon schwierig war, die Gitarre unterzubringen, aber mit ein bisschen Geschick passte sie quer auf den Rücksitz. Den Rest brachten wir im Kofferraum unter.

Ich konnte ihr gar nicht genug danken, denn sie war so nett und fuhr mich. Ich selbst hatte nämlich nur einen knallroten Roller. Wenn ich mit meiner Gitarre auf dem Rücken in die Musikschule fuhr, kassierte ich einige amüsierte Blicke. Jedoch störte mich das kein bisschen. Meine Ausbildung als Bankkauffrau hatte ich gerade erst beendet und meine Prioritäten lagen erst einmal woanders. Demnächst wollte ich aus meinem Elternhaus ausziehen und dazu benötigte man ein gewisses Startkapital. Die ersten Monate wollte ich nicht mit zwei mobilen Kochplatten leben oder an meinem Schreibtisch frühstücken.

Im Auto Platz genommen fing Jenna an auf dem Navigationssystem herumzutippen. „Wir müssen nach Mannheim, … aktueller Standort Bayern, Dachau … 3 Stunden, 6 Minuten, Ankunftszeit 08.14 Uhr. Das sieht doch gut aus. Um 10.00 Uhr musst du dort sein. Ich würde sagen, es kann losgehen“, jubelte Jenna voller Vorfreude.

„Na dann, tritt drauf“, erwiderte ich und warf erst mal meine 80er-Jahre-Best-Of-CD in den Player. Wir fingen an zu lachen und stimmten zusammen das erste Kultlied der CD an. Nach einer halben Stunde drehten wir die Musik leiser, damit Jenna den Ansagen des Navi besser folgen konnte.

„Meinst du, ich schaffe das?“, fragte ich besorgt.

„Lisa, du wirst doch jetzt nicht zum ersten Mal in deinem Leben an dir zweifeln. Die warten nur auf dich. Du bist die Beste!“

„Danke, und ich zweifle auch nicht an mir, aber da werden bestimmt so viele hervorragende Sänger sein.“

„Ach, glaube mir, die müssen Angst vor dir haben“, bestärkte sie mich.

„Ich werde wohl langsam nervös, jetzt wo es endlich so weit ist.“

In dem Moment klingelte mein Smartphone mit dem Song ‚La Bamba‘ von Los Lobos, ebenfalls aus den 80ern. Ich war nicht zwanghaft auf die 80er fixiert; eigentlich mochte ich alles, was sich nach Musik anhörte, aber dieses Lied hatte ich als Anrufer-Klingelton für meine Mom eingestellt, weil sie es stets beim Kochen oder Putzen hörte und dabei durch das ganze Haus tanzte.

Ich nahm ab. „Hi, Mom! Na, schon ausgeschlafen?“

„Ach hör doch auf. Ich konnte die halbe Nacht nicht schlafen. Ich kann es immer noch nicht glauben, dass es schon so weit ist. Mein kleines Mädchen startet ihre Gesangskarriere.“

„Ja, wenn nichts dazwischenkommt.“

„Und du triffst endlich Carol Summer. Vergiss mein Autogramm nicht!“

Carol Summer war seit 20 Jahren sehr erfolgreich mit Schlagermusik und meine Mom gehörte zu ihren größten Fans. „Du weißt ja, dass ich nicht so der Schlagerfan bin, aber an dein Autogramm werde ich auf jeden Fall denken.“

„Jedenfalls drücken dein Vater und ich dir ganz fest die Daumen und denken an dich.“

„Das weiß ich doch, Mom. Ich melde mich sofort bei dir, wenn sich irgendwas ergibt. Macht euch nicht verrückt.“

Wir verabschiedeten uns und legten auf.

Am liebsten hätten meine Eltern mich gefahren, aber die zwei hätten mich wahnsinnig gemacht, weswegen ich auch bei Jenna übernachtete, das sie verständnisvoll akzeptierten. Mit Jenna war es um einiges entspannter und lustiger. Sie war schon seit der ersten Klasse meine beste Freundin und wir verstanden uns blind. Unsere Interessen lagen aber eher auseinander. Während ich mich höchstens dazu durchrang, sie meiner Kondition und Figur zuliebe zweimal die Woche ins Fitnessstudio zu begleiten, war sie das totale Sportass: viermal in der Woche Fitness, Tennisklub- und das sonntägliche Joggen oder Radeln nicht zu vergessen. Außerdem studierte sie Gesundheitswissenschaften in München und suchte nach einem Studentenjob in einem Fitnessstudio. Zurzeit hatte sie Semesterferien und hin und wieder half sie im Schreibwarenladen ihrer Mutter aus, was sie aber extrem nervte. Eigentlich hatten die beiden ein gutes Verhältnis, doch während der Arbeit zickten sie sich ständig an.

Ich lebte für die Musik. Schon seit neun Jahren besuchte ich dreimal in der Woche eine ortsnahe Musikschule und trat regelmäßig bei Schul- und Dorffesten auf. Trotzdem konnte Jenna und mich nichts trennen, denn der Eine interessierte sich für den Andern. Sie kam zu meinen Auftritten und ich sah mir ihre Sportveranstaltungen und Wettkämpfe an. Außerdem konnten wir uns immer aufeinander verlassen.

Aus meinen Tagträumen aufgewacht, stellte ich fest, dass wir fast da waren. Jenna meinte, dass der Verkehr dichter wurde und die wahrscheinlich alle zu dem Casting wollten. Je näher wir dem Ziel kamen, desto schlimmer wurde es. Überall standen Autos und wollten irgendwo parken. Die Anderen wiederum hupten, weil die Parkplatzsucher die Straße blockierten. Etwa siebenhundert Meter vor der Adresse hatten wir tatsächlich Glück und ein Wagen fuhr gerade aus einer Parklücke, das Jenna sofort nutzte.

„Armageddon oder was?“, staunte sie.

Wir stiegen aus und ich nahm fürs Erste nur meine Gitarre und Handtasche mit.

Jenna hielt mir Brötchen und Obst hin: „Schau mal, was ich uns gemacht habe! Für jeden ein Vollkornbrötchen mit Käse, Tomate, Ei und Gurke und danach darfst du wählen, Apfel oder Banane“.

Vor lauter Aufregung hatte ich gar nicht ans Essen gedacht, aber als ich es sah, merkte ich, dass mein Magen sich darüber freuen würde. „Oh, lecker. Gut, dass du dabei bist, sonst hätte mir vor der Jury der Magen geknurrt.“ Ich wählte den Apfel.

Dank unseres frühen Ankommens konnten wir gemütlich spazieren und unser Frühstück essen. Dabei staunten wir weiterhin über den Massenandrang, der immer mehr wurde, je näher wir kamen. Ich war das erste Mal in Mannheim. Es war zwar nicht ganz so grün wie bei uns in Dachau, aber auf den ersten Blick schien es eine schöne Stadt zu sein.

Als wir bei unserem Ziel ankamen, trauten wir unseren Augen nicht. Vor dem riesigen Gebäude, das man nicht verfehlen konnte, weil überall Banner in rot-schwarz mit der Aufschrift „Star Voice 2018“ hingen, befanden sich Wasserspiele, die umgeben von Blumen waren. Es war eine sehr schöne Grünanlage mitten in der Stadt und Jenna meinte, auf diesem Platz würde immer der Weihnachtsmarkt stattfinden. Das stellte ich mir traumhaft vor und nahm mir fest vor, an Weihnachten mal wieder zu kommen. Die Fassade selbst bestand überwiegend aus Glas und dasGebäude war offenbar sehr aufwendig erbaut worden. Einige Leute standen schon in den Startlöchern und spielten auf ihren Gitarren; manche sangen und einer spielte sogar Saxofon. Sofort fanden wir die geschätzt zehn Meter lange Schlange zur Anmeldung. Dort saßen eine junge Frau und ein Mann mittleren Alters mit Vollbart.

Ich war froh, dass wir nicht später gekommen waren. Es dauerte circa 20 Minuten, bis ich an der Reihe war.

Der bärtige Mann war gerade frei geworden. „Willkommen bei Star Voice! Gibst du mir bitte deine Anmeldenummer und deinen Personalausweis?“, bat er.

Ich hatte mich online für das Casting angemeldet. Dabei hatte jeder eine Anmeldenummer bekommen. So war es für die Aufnahme heute leichter, da sie schon alle wichtigen Informationen von den Teilnehmern hatten.

„Ich hab die Nummer 928“, antwortete ich, als ich ihm meinen Ausweis reichte.

Er tippte auf seinem Laptop herum. Nach kurzer Zeit meinte er: „Alles klar, Louisa, hier ist dein Ausweis und ein Teilnehmerarmband, auf dem deine Nummer steht. Die wird aufgerufen, wenn du an die Reihe kommst. Wir haben jetzt 9 Uhr. Du kannst dich also noch eine Stunde entspannt umsehen. Vorher passiert noch nichts, aber sei pünktlich wieder da. Wer aufgerufen wird und sich nicht meldet, für den ist es gelaufen.“ Danach schob er mir noch eine Einverständniserklärung entgegen und tippte auf das Unterschriftenfeld, wo ich mit meinem Namen bestätigte.

Jenna und ich wollten uns in das Cafè auf der anderen Straßenseite setzen, doch den Kaffee gab es nur noch zum Mitnehmen, denn der Laden war brechenvoll. Es standen zwar ein paar Wolken am Himmel, trotzdem war es ein angenehm warmer Augustmorgen. Also schlenderten wir durch den wunderschönen Park und beobachteten die Musiker. Einige von ihnen sangen richtig gut, während sich andere bei dem Casting wohl eher lächerlich machen würden.

Bei einer mochte ich gar nicht hinsehen, so peinlich war ihre Showeinlage. Sie wog geschätzte 80 Kilogramm auf 1,60 Meter verteilt, trug ein bauchfreies Top und Hotpants. Die blond gefärbten Haare mit schwarzem Ansatz und der rote Lippenstift, der weit über die Lippen geschmiert war, waren zusätzlich ein übler Hingucker. Als würde das nicht schon reichen, legte sie eine Britney-Spears-Nummer vom Feinsten hin, so dass der ganze Park, außer ihre drei Freundinnen, die so ähnlich aussahen wie sie selbst, in lautes Gelächter ausbrach. Die Freundinnen applaudierten und bestärkten sie, wie toll sie doch sei.

Jenna lachte ebenfalls und meinte: „Die nehm ich später mit nach Dachau aufs Laufband. Mal schauen, wie lange die Schminke dann noch hält!“

So langsam bewegten wir uns in Richtung Casting und öffneten eine der vier Glastüren des Gebäudes. Wir traten in eine gigantisch große Lobby ein, die modern gestaltet wurde. An den weißen Wänden hingen stilvoll gerahmte Bilder von den berühmtesten Musikern. Auf den ersten Blick sah ich Elvis, Michael Jackson, Eric Clapton und Elton John. Graue Fliesen zierten den Vorraum, die von der LED-Beleuchtung angestrahlt glitzerten. Mittlerweile war es hier so voll, dass man kaum noch zwei Schritte am Stück gehen konnte.

Um kurz nach 10 Uhr gab es eine Lautsprecherdurchsage. „Guten Morgen, liebe Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei Star Voice 2018“, grüßte eine freundliche, weibliche Stimme. „Ihr seid heute hier, weil wir das beste Gesangstalent des Landes suchen. Ihr werdet mit eurer Anmeldenummer nacheinander aufgerufen und einem unserer Vorcasting-Räume zugewiesen. Manche von euch müssen sich auf eine lange Wartezeit einstellen, denn wir haben heute 2343 Anmeldungen vorliegen. Wie ihr sicher wisst, gibt es auch ein paar Kameraleute, die heute und auch in Zukunft das ganze Geschehen filmen werden, ihr habt ja die Einverständniserklärung unterschrieben; und ab nächster Woche wird jeden Tag ein Zusammenschnitt von 30 Minuten bei zwei bekannten Streaming-Anbietern online gestellt. Es handelt sich um eine seriöse Castingdokumentation, die fünf Folgen beinhaltet. Mit den letzten zehn Kandidaten werden vier Live-Shows aufgebaut, die jeden Freitag stattfinden. Bis dorthin ist es aber noch ein langer Weg. Das Star Voice Team wünscht euch einen erfolgreichen Tag.“

Wir suchten uns eine Ecke und setzten uns erst mal auf den Boden. Alle Stühle und Tische waren besetzt, viele saßen ebenfalls auf dem Boden oder standen herum und warteten auf ihren Auftritt. Einige wirkten angespannt, während andere die Ruhe selbst zu sein schienen. Ich gehörte eher zu den Entspannteren. Schließlich war ich mehr als gut auf den heutigen Tag vorbereitet und wusste genau, was ich konnte.

Wir saßen jetzt schon eine Weile hier, aber immerhin ging es recht schnell voran. Gerade wurde Nummer 675 aufgerufen.

Jenna checkte die Jungs ab und meinte hin und wieder: „Der geht ja mal gar nicht! Sieh dir mal seine Haare an! Hat der die frittiert?“, oder: „Siehst du den da hinten? Der Typ ist der Hammer!“ Sie hatte jedenfalls eine Beschäftigung gefunden.

Normalerweise hätte ich mit eingestimmt, aber heute war mir nicht danach. Ich zupfte an meinen Gitarrensaiten und stimmte kleine Feinheiten nach.

In dem Moment kam ein junger Typ auf uns zu. Er war ziemlich groß und schlank. Ein schmaler Mund und selten grüne Augen zierten sein Gesicht. Ein hübscher, junger Mann, aber für meinen Geschmack etwas zu brav mit seiner dunkelblonden Föhnfrisur. Er sprach uns an: „Hi, Mädels, ich bin Jonas, aber nennt mich Jo. Könnte ich kurz meine Tasche und Gitarre bei euch abstellen? Ich müsste dringend mal aufs Klo und hab kein Bock, alles mitzuschleppen.“

„Ja klar, ich bin Louisa und das ist meine Freundin Jenna“, gab ich zurück.

Er schüttelte jedem von uns die Hand. „Freut mich. Ich bin dann mal kurz weg.“

Ich äffte ihn nach, als er um die Ecke war, und Jenna machte sich fast in die Hose vor Lachen.

„Er ist aber ein hübscher Kerl. Das muss man ihm lassen“, sagte Jenna.

„Vielleicht ein bisschen plump, aber wir sind nicht voreingenommen. Warten wir mal ab, was er noch so von sich gibt.“

Kurze Zeit später kam er auch schon wieder zurück. „Danke, ihr zwei. Müsst ihr noch lange warten? Was habt ihr denn für eine Nummer?“, fragte er.

Jenna antwortete: „Also ich bin nur die Begleitung. Wenn ich anfangen würde zu singen, würden die euch den Laden sofort dicht machen.“

Ich musste laut lachen und nickte zustimmend.

Er fing an zu grinsen. „Jeder hat seine Stärken und Schwächen. Mit der Gitarre kann ich zum Beispiel ganz gut umgehen, aber ihr müsstet mich mal mit einem Hammer sehen.“ Dann fing er an zu lachen.

„Ich hab die Nummer 928 und du?“, fragte ich ihn.

„Oh, dann bist du ja schon bald an der Reihe. Ich hab die verdammte Nummer 1746.“

Er setzte sich zu uns und wir plauderten über alles mögliche, bis plötzlich meine Nummer aufgerufen wurde. Jenna umarmte mich fest und wünschte mir kein Glück, denn das würde ich eh nicht brauchen, meinte sie. Ich ging zu dem Mann mit Klemmbrett, der die aufgerufenen Teilnehmer empfing, und zeigte ihm mein Teilnehmerband. Er schickte mich in den Raum zwei Türen rechts neben ihm. Ich öffnete sie.

Dort saßen drei Männer und eine Frau an einem langen Tisch der Tür gegenüber und jeder von ihnen hatte ein Tablet in den Händen oder vor sich liegen. Vor ihrem Tisch stand ein Mikrofon. Der Raum glänzte nicht unbedingt mit Größe und es gab auch kein Fenster.

Ich trat ein und begrüßte sie mit einem einfachen „Hallo“; auch wenn ich es versuchte, mein Lächeln mag dabei etwas gequält gewirkt haben, denn ein bisschen seltsam war mir jetzt schon zumute.

Der Mann, der außen saß, meinte: „Guten Tag, was möchtest du denn singen? Ich sage dir gleich, das Lied, das du uns vorsingst, müsstest du bei einem Weiterkommen auch den richtigen Juroren vorsingen. Wir sind dazu da, schon einmal vorab auszusortieren. Unsere fünf Teams sind aber alle musikalisch ausgebildet und wissen, ob jemand Talent hat, denn wir können nicht jeden zu Carol, Bill und Harald schicken. Das wäre zu aufwendig und zeitintensiv.“

Die erfolgreiche Schlagersängerin hatte ich ja schon erwähnt. Bill war Bill Fender, ein junger, deutscher Hard-Rock-Sänger, der auch international sehr erfolgreich agierte. Seine Karriere lief in den letzten zwei Jahren steil bergauf, aber auch mit seiner Musik konnte ich nicht viel anfangen. Bei Harald Weidner sah das ganz anders aus und er war auch der Grund, warum ich mich zu diesem Casting angemeldet hatte. In den vergangenen dreißig Jahren hatte er 32 Nummer-1-Hits; überwiegend Pop produziert und in einigen Filmen bei den Soundtracks mitgemischt. Auch dieses Casting basierte auf seiner Idee und der Gewinner kam bei ihm unter Vertrag.

„Ok, ich würde gerne einen Song von Roxette singen. Dazu spiele ich Gitarre.“ Meine Aufregung machte sich jetzt deutlicher bemerkbar. Mein Herz schlug etwas schneller und ich hatte feuchte Hände, aber das würde gleich vorüber gehen. Mit diesen Symptomen hatte ich schon mehr als genug Erfahrung, denn dies war nicht mein erster Auftritt.

Nun sprach die Frau zu mir: „Na dann würde ich sagen, verschwenden wir keine Zeit! Du kannst anfangen.“

Ich stellte mich an das Mikrofon und atmete noch einmal tief ein. Dann zupfte ich die ersten Saiten auf meiner Gitarre an. Sofort merkte ich, wie sich mein Herzschlag wieder verlangsamte. Die Musik wirkte auf mich wie ein Beruhigungsmittel. Ich fing an zu singen und wie auf Knopfdruck tauchte ich in meine eigene Welt ein. Es gab nur noch mich, meine Gitarre und das Lied, das ich gerade sang. Darin bestand ein großer Vorteil, weil mich die Nervosität selten aus der Bahn werfen konnte. Jeden Song, den ich für mich vorbereitete, versuchte ich zu meinem eigenen zu machen. Die Gitarre erleichterte mir das enorm. So konnte ich einem langsamen Lied mehr Pep geben oder ein schnelleres, lauteres Lied gefühlvoll und langsam singen. Bei diesem Lied behielt ich die Geschwindigkeit, setzte jedoch eigene Akzente.

Erst als ich das Lied mit der Gitarre langsam ausklingen ließ, nahm ich die vier wieder wahr. Ein leichtes Grinsen kam über mich, denn sie starrten mich wie versteinert an und die Frau hatte den Mund offen stehen. Diese Reaktion löste ich mit meiner Musik schon öfter aus, aber ich hörte den Stein von meinem Herzen fallen, dass sie das hier auch bewirkt hatte.

Einer der Männer wachte wieder auf und warf seiner Kollegin und seinen Kollegen links und rechts einen Blick zu. Dann meinte er: „Ich denke, ich spreche für uns alle, wenn ich sage, du bist weiter.“

Der Herr ganz links bestätigte seine Aussage mit „Ja“, während die Frau und der dritte Mann nur nickten. Die Frau tippte auf ihrem Tablet herum und der Drucker auf dem Highboard hinter ihnen fing an zu drucken.

„Nimm diesen Zettel und geh durch diese Tür hindurch. Dort geht es für dich weiter. Viel Spaß!“, fügte sie hinzu.

Ich verabschiedete mich und tat, was die Frau sagte.

Ich kam wieder in einem Vorraum heraus. Dieser war um einiges kleiner, jedoch genauso modern. Auf dem Zettel standen all meine Daten, die ich bei der Online-Anmeldung angegeben, und der Song, den ich gerade vorgesungen hatte. Sofort kam mir eine jungen Frau entgegen. Ich erkannte, dass es dieselbe Frau war, die heute morgen an der Anmeldung saß.

Sie jubelte: „Herzlichen Glückwunsch! Bis hierher hast du es schonmal geschafft. Das Formular ist wichtig. Du musst es der Jury geben. Es sind noch zwei Teilnehmer vor dir dran, aber es geht ziemlich schnell. Vielleicht zehn Minuten.“

Ich dankte ihr. Über ein Headset bekam sie jeweils Bescheid, wann der Nächste eintreten durfte.

Sie schickte eine junge Frau mit knallroten Haaren und sehr speziellem Kleidungsstil in den Raum. Mit ihren pinkfarbenen High-Heels und dem getigerten Minirock wollte sie wohl um jeden Preis auffallen. Es dauerte keine drei Minuten, bis sich die Tür wieder öffnete und die Frau hysterisch heulend an uns vorbeirauschte. Der Typ, der ebenfalls noch mit mir wartete, und ich sahen uns etwas verstört an.

Die Empfangsdame wandte sich zu uns und entschuldigte sich für diesen Ausbruch. Eigentlich sollte sie einen anderen Ausgang nehmen. Sie vermutete, dass die Rothaarige wohl einfach abgezischt wäre. Jetzt fragte ich mich natürlich, was die da drinnen mit einem machten und musste mir ein Lachen verkneifen. Die Empfangsdame nickte meinem Mitstreiter zu, dass er jetzt dran wäre, doch der Vorfall mit der Rothaarigen hatte ihn wohl aus der Bahn geworfen. Ich sah ihm seine Nervosität an. Gerne hätte ich Mäuschen gespielt, aber die Empfangsdame stand ja auch noch da. Jedenfalls dauerte es weitere fünf Minuten, bis sie mich durch die Tür schickte.

Beim Öffnen der Tür fiel mir sofort auf, dass es diesem Raum an Größe nicht mangelte. Hier war ebenfalls alles sehr aufwendig hergerichtet worden. Allein schon die Beleuchtung überwältigte mich und in der Mitte des Raumes stand ein riesiges, klavierlack-schwarzes Pult, an dem die drei Stars saßen. Hinter ihnen befand sich eine gigantische Glasfront mit einer tollen Aussicht über den Park. Von der Decke herab hing nochmal ein Star Voice-Banner in Rot-Schwarz. Des weiteren verteilten sich drei Kameraleute im Raum.

Mein Herz schlug jetzt noch schneller als anfangs. Ich hoffte, dass mein persönliches Beruhigungsmittel auch hier wirkte. Ich ging auf das Pult zu und gab jedem Einzelnen die Hand. Bill analysierte mich, als wäre ich eine Schaufensterpuppe. Jedoch wurde mir gerade bewusst, wie gut er aussah. Seine schwarzen, vollen Haare waren top gestylt, er hatte große, dunkelbraune Augen, die mich nicht mehr weg sehen ließen und unter seinem Drei-Tage-Bart konnte ich ein markantes Kinn erkennen. Seine braune Haut glänzte im Licht. Ich fragte mich, ob sie ihn in Öl gebadet hatten, und musste mir schon wieder ein Grinsen verkneifen.

„Hallo! Mein Name ist Louisa Wegner“, stellte ich mich ihnen vor. Den Zettel gab ich Carol, die in der Mitte saß.

Sie war für ihr Alter noch äußerst attraktiv. Ihre blonden Haare waren zu einem eleganten Dutt gebunden und ihr indigoblaues Kleid betonte ihre wunderschönen dunkelblauen Augen; links von ihr saß Bill, entsprechend rechts Harald Weidner. Ich betrachtete ihn und sah überwiegend Haare. Zu seiner grauen Mähne trug er einen ebensolchen Vollbart. Auf seiner Nase thronte eine braune Brille mit runden Gläsern. Ich fand, er sah eher aus wie ein Wissenschaftler. Sie erwiderten die Begrüßung und Harald meinte, ich könne mich schon einmal an das Mikrofon stellen. Ihre Köpfe rückten näher zusammen, um die Informationen auf dem Zettel zu lesen.

Bill las ein paar Brocken laut vor: „26.07.1997 geboren, lebt in Dachau, Gesangsunterricht, Gitarrenunterricht, von Beruf … Bankkauffrau? Ernsthaft?“ Seine Reaktion darauf irritierte mich. Was war daran bitte so seltsam?

„Ja, ernsthaft!“, gab ich etwas unfreundlicher als beabsichtigt zurück.

„Na ja, Liz, dann sing mal deinen Roxette-Song“, sagte er und wedelte abwertend mit der Hand.

Ich fragte mich, ob ich mich verhört hatte, aber er nannte mich tatsächlich gerade Liz und was bitte sollte diese Handbewegung? Es ärgerte mich ein wenig, aber ich wollte keinen auf Oberzicke machen und ließ es auf sich beruhen. Meine Nervosität hatte sich jedenfalls verzogen und das passte mir ganz gut.

Plötzlich sprang Bill auf, als hätte ihn eine Tarantel gestochen. „Moment mal, hast du da eine Gibson?“

„Ähm, ja!“, antwortete ich.

Er stürmte auf mich zu und fragte: „Darf ich mal?“

Ich löste den Gurt und gab ihm meine Gitarre - vorausgesetzt, er würde sie nicht kaputt machen. Das fanden Carol und Harald sehr amüsant, aber ich meinte es mehr als ernst.

Mein Opa hatte sie mir zum achtzehnten Geburtstag geschenkt. Er spielte jahrelang selbst auf ihr und früher, wenn er uns besuchen kam, sangen wir gemeinsam Kinderlieder. Aus diesem Grund wollte ich auch unbedingt selbst spielen lernen. Mein Opa war meine Inspiration und die Gitarre war mein Heiligtum. Leider war er im Jahr zuvor an einem Herzinfarkt gestorben, was mich sehr mitgenommen hatte.

Bill inspizierte die Gitarre, hängte sie sich um und zupfte an den Saiten. Seine ausgeprägten Muskeln zuckten dabei, was mich etwas aus der Fassung brachte, und ich stellte fest, dass er ausgesprochen gut spielen konnte. In dem Moment verstand ich, warum er so erfolgreich war. Auch wenn seine Musik nicht meinem Geschmack entsprach, verdiente er sich seinen Erfolg mit unglaublichem Talent. Sein gutes Aussehen sorgte vermutlich zusätzlich für einige Groupies. In seinem Gesicht machte sich beim Spielen Freude breit und von seiner anfänglichen von mir wahrgenommenen Arroganz war nichts mehr zu erkennen. Tatsächlich ertappte ich mich dabei ihn anzuhimmeln und erkannte mich selbst nicht wieder.

Ich sammelte die umherliegenden Stücke meines Verstandes ein und beschimpfte mich in Gedanken: ‚Hast du denn nichts Besseres zu tun, du blöde Kuh? Du bist hier, um deine Karriere anzugehen und nicht um ebenfalls ein Groupie zu werden.‘

In dem Moment beendete Bill seine Showeinlage und meinte: „Das Teil ist der Hammer.“

Carol klatschte für Bill. „Da hat der Bill ganz schön einen vorgelegt. Jetzt musst du alles aus dir rausholen, Mädchen!“. Sie sah auf den Zettel und ergänzte: „Louisa.“

Er gab mir die Gibson wieder und jetzt wollte ich unbedingt zeigen, was ich so drauf hatte. Bill nahm wieder Platz und ich begann im selben Moment zu spielen.

Mein Drang, die Jury zu begeistern, stieg ins Unermessliche. Ich kniete mich voll rein und spielte und sang, als würde es um Leben und Tod gehen. Ich konnte den Song förmlich spüren und es kribbelte in meinem ganzen Körper. Die hohen Töne brachte ich kraftvoll hervor und die ruhigeren ließ ich leise und gefühlvoll über meine Lippen kommen. Dann kam ich zum Schluss und spürte die Gänsehaut auf meinen Armen.

Kurz herrschte absolute Stille, bis Harald sich von seinem Stuhl erhob und in die Hände klatschte. „Carol, du hast eben Bill applaudiert und diese Leistung ist für mich auch einen Applaus wert. Leute wie du, liebe Louisa, bereiten mir Freude an meinem Beruf und dieses Casting hat sich heute schon für mich gelohnt. Es freut mich, zukünftig mit so guten Kandidaten wie dir zu arbeiten. Von meiner Seite bist du in der zweiten Runde“, lobte er mich in den höchsten Tönen.

Ich musste schlucken, um meine Freudentränen zu unterdrücken.

Dann ergriff Carol das Wort: „Deine Performance gefiel mir außerordentlich gut. Mit so viel Kraft und doch so viel Gefühl hast du gesungen und dein Gitarrenspiel ist auf höchstem Niveau. Für mich bist du auch weiter.“

Zum Schluss sprach Bill: „Du hast das Zeug dazu, hier weit zu kommen, und aus der Gibson kommt ein echt geiler Sound. Für mich auch ein 'Go'.“

Und schon war seine Arroganz zurück, dachte ich bei mir und ärgerte mich darüber, dass er mein Können mit der Gitarre so runterspielte, weshalb ich ihn fragte: „Bill, wer genau ist denn jetzt weiter? Die Gitarre oder ich?“

Er grinste nur.

Harald erklärte mir noch kurz, dass alle, die hier weiterkamen, sich am Abend um 19 Uhr in der Lobby am Eingang treffen sollten. In letzter Sekunde fiel mir meine Mom ein. Ich erklärte Carol, dass sie ein großer Fan von ihr war und ob sie so freundlich wäre, mir ein Autogramm für sie zu geben. Sie überlegte kurz und gab zurück, dass sie mir heute Abend eins mitbringen würde. Sie notierte sich den Vornamen meiner Mom und wir verabschiedeten uns. Ich nahm den mir zugewiesenen Ausgang.

Sofort machte ich mich auf den Weg zurück zu Jenna. Ich musste mich erst orientieren, da ich im Gebäude einmal im Kreis geführt worden war. Zurück in der Lobby erblickte sie mich schon von Weitem. Ich hielt zwei Daumen nach oben in die Luft und sie fing an zu springen und kreischen wie eine Irre. Natürlich sahen sich alle nach ihr um, das sie keinen Funken interessierte. Dann kam sie mir entgegen, umarmte mich und drückte mir so einen festen Kuss auf die Wange, dass ich dachte, ohne blauen Fleck nicht davonzukommen.

„Ich habs tatsächlich geschafft, Jenna. Ich bin weiter!“, quiekte ich. Jo kam dann auch noch hinzu und gratulierte mir.

„Stell dir vor, Lisa, Jo wohnt gerade mal 120 Kilometer von uns entfernt. Wir könnten uns ja mal treffen!“, brachte Jenna hervor.

Im ersten Moment war ich etwas perplex. ‚Ich war doch nur dreißig Minuten weg. Was ist in der Zeit passiert?‘, dachte ich. „Okay,“ gab ich irritiert zurück „können wir ja mal machen.“

Jo und Jenna tauschten ihre Nummern aus, dann verabschiedeten wir uns, denn Jo musste auf seinen Auftritt warten, und wir gingen Mittagessen.

Während des Essens sprach ich sie auf Jo an: „Sag mal, du und Jo …“

Sie ließ mich nicht aussprechen und brach in Gelächter aus. „Na hör mal, er ist echt heiß!“, meinte sie und lachte weiter.

Nach dem Essen spazierten wir noch gemütlich durch die Stadt. Gegen 17 Uhr fand ich, dass es an der Zeit für sie wäre, nach Hause zu fahren. Ich wollte nicht, dass sie so spät alleine durch die Gegend fuhr. Sie war einverstanden und ich begleitete sie zum Auto.

Dort angekommen umarmte sie mich noch einmal und seufzte. „Ich weiß gar nicht, wie ich die Zeit ohne dich überstehen soll. Lisa, wenn irgendetwas ist, ruf mich an. Ich bin sofort da!“

„Du bist wirklich ein Schatz. Danke für alles, Jenna.“ Ich nahm meinen Koffer aus dem Wagen. Sie stand schon an der Fahrertür, stieg dann ein und fuhr los.

Ich winkte dem Wagen noch hinterher und mir wurde bewusst, dass ich jetzt auf mich allein gestellt war. Es beängstigte mich ein bisschen, denn ich war noch nie wirklich alleine gewesen und Jennas Optimismus würde mir fehlen; doch um meine Ziele zu erreichen gab es keine andere Möglichkeit.

Ich zog meinen Koffer hinter mir her und schlenderte zurück zum Casting, dachte über meine Zukunft nach und genoss die Abendsonne in meinem Gesicht, die hinter den fluffigen Wolken noch einmal zum Vorschein kam.

Um 18.40 Uhr stellte ich mich in die Lobby. Ich sah mich um und erblickte tatsächlich Jo. Ich rief ihn und er machte sich direkt auf den Weg zu mir.

„Hey, Louisa, ich bin auch weiter! Ist das nicht geil?“, freute er sich.

„Doch, das ist der Wahnsinn!“, gab ich ebenfalls erfreut zurück.

Er schaute sich irritiert um. „Wo hast du denn Jenna gelassen?“

Warum überraschte mich diese Frage kein bisschen? „Es tut mir leid, aber Jenna ist nach Hause gefahren.“

„Ah schade, aber ich hab ja ihre Nummer.“

Ein Schmunzeln konnte ich mir nicht verkneifen, jedoch nahm er es nicht wahr.

Um 19.15 Uhr kamen Bill, Harald und Carol, in Begleitung von vier Bodyguards und der drei Kameraleuten ebenfalls in die Lobby.

Harald ergriff das Wort: „Guten Abend! Wie ihr vielleicht schon bemerkt habt, hat sich die Anzahl der Kandidaten deutlich reduziert. Das liegt daran, dass wir nur mit außergewöhnlichen Talenten arbeiten möchten, und das seid ihr. Fünfunddreißig dürfen mit uns in das schöne Hotel nebenan ziehen. Jeder von euch bekommt ein eigenes Zimmer und muss sich keine Gedanken um Kost und Logis machen. Ihr seid schon eingecheckt und müsst an der Hotelrezeption nur noch euren Schlüssel abholen. Morgen um 09.30 Uhr treffen wir uns im Eventsaal im Hotel. Wir wünschen euch viel Erfolg und noch einen schönen Abend.“

Carol rief plötzlich meinen Namen. Ich ging auf sie zu und traute meinen Augen nicht. Sie hielt mir ihr Best-of-Album entgegen mit der Aufschrift ‚für Liliane liebe Grüße von Carol Summer‘. Ich dankte ihr tausendmal, machte glaube ich sogar einen Knicks und eine Verbeugung vor ihr, und freute mich so sehr darauf, später meiner Mom davon zu erzählen.

Dann löste sich die Gruppe auf und ich ging ins Hotel. Der Standard des Hauses war höchstes Niveau. Beige Marmorfliesen zierten den Boden und von den weißen Stuckdecken hingen funkelnde Kristallkronleuchter herab. In einem so atemberaubenden Ambiente hatte ich definitiv noch nie übernachtet.

An der Rezeption legte ich meinen Ausweis vor und der freundliche Concierge schob mir den Zimmerschlüssel 207 über den Tresen zu. Sofort stürmte ich mit Sack und Pack zum Aufzug. Oben angekommen schloss ich mein Zimmer auf und traute meinen Augen nicht.

Das traumhaft schöne Boxspringbett mit dunkelroter Tagesdecke fiel mir direkt ins Auge. Ich stellte mein Gepäck ab und setzte mich aufs Bett. Zuerst zog ich die Pumps aus, die sich mittlerweile anfühlten, als wären sie mit meinen Füßen zusammengewachsen.

Bis heute fand ich sie immer sehr bequem. Doch hatte ich sie noch nie einen ganzen Tag lang getragen und es war, als hätte ich meine Füße aus einer Bärenfalle befreit. Ich glitt mit den Zehen über den grauen Kuschelteppich und bekam langsam wieder Gefühl hinein. Bevor ich mir das Badezimmer ansah, nahm ich alle Hygieneartikel aus meinem Koffer.

Beim Betreten fielen mir die Sachen beinahe aus der Hand, so überwältigte mich der Anblick. Der Boden war ganz aus Marmorfliesen, diese jedoch in Weiß-Grau. Das Waschbecken befand sich auf einer schönen Holzplatte und darüber hing ein großer, mit LEDs umrandeter Spiegel. In der Ecke stand eine Whirlpoolwanne, die mich förmlich zum Baden einlud. Das Zimmer übertraf jedenfalls meine kühnsten Vorstellungen.

Ich telefonierte noch mit meinen Eltern und erzählte ihnen von A bis Z den ganzen heutigen Ablauf. Das Album von Carol hätte ich besser nicht erwähnen sollen, denn ich dachte, meine Mom erlitt auf der anderen Seite einen Schlaganfall. Erst stotterte sie und dann ging das Gekreische los. Kurz wurde sie wieder zur Teenagerin. Ich konnte nur mit dem Kopf schütteln und schmunzeln. Wir sagten Gute Nacht und legten auf.

Der Tag war sehr lang und anstrengend gewesen. Ich packte meinen Koffer fertig aus, schwang mich noch schnell in die Wanne und fiel total fertig ins Bett.

Kapitel 2

Um Punkt 7 Uhr klingelte der Wecker meines Handys. Ich zog die Schals auf und stellte fest, das sich dahinter ein kleiner Balkon verbarg. Darauf standen zwei Rattansessel in Grau und der dazugehörige kleine Tisch. Ich öffnete die Balkontür und bemerkte schnell, dass es schon warm war, für heute waren 32 Grad vorhergesagt. Von meinem Platz aus sah ich den ganzen Park, das mich enorm freute. Ich schaute noch kurz den Wasserspielen zu, dann begann ich mich fertig zu machen.

Ich zog meinen kurzen Jeansrock an, ein gelbes Top und meine roten Chucks. Meine Haare schnürte ich zu einem sportlichen Pferdeschwanz. Jo und ich hatten uns am Vortag für heute um 8.00 Uhr zum Frühstück im hoteleigenen Restaurant verabredet, weshalb ich mich um zehn vor acht auf den Weg machte.

Im Speisesaal angekommen konnte ich schnell erkennen, dass Eleganz und Stil hier großgeschrieben wurden. Boden und Decke hielten sich optisch strikt an die Lobby, ebenso die Beleuchtung. Der Schnitt des Raumes verlief in einem Rundbogen, und abermals glänzte das Ambiente durch eine Glasfassade mit Blick auf einen sehr geschmackvoll gestalteten Teich. Aus der Mitte des Teiches stieg eine perfekte Wasserfontäne. Ihn umgaben Blumenbeete in den schönsten Farben und einer Mischung von grauen und weißen Kieselsteinen. Im Hintergrund befand sich eine akkurat geschnittene Kirschlorbeerhecke, die vermutlich als Sichtschutz diente.

Die Tische im Saal waren edel gedeckt mit weißen Tischdecken, die mit einem dunkelroten Zierstreifen versehen waren. Auf jedem Tisch stand mittig ein hohes Glas mit einer weißen Kerze und einer Steinpflanze. Die Stühle waren mit passendem dunkelroten Leder bezogen. Die Farbe zog sich auffällig durch das ganze Hotel, das aber keinesfalls aufdringlich wirkte. Es strahlte eher Klasse und zeitlose Eleganz aus.

Das Frühstücksbüffet haute mich völlig aus den Socken. Es gab eine riesige Auswahl an Brot und Brötchen, Croissants, Obst und Gemüse, Wurst, Käse, Müsli, hausgemachter Marmelade und vielem mehr.

Jo saß schon an einem Tisch an der Glasfront und schlürfte an seinem Kaffee. Ich winkte ihm zu. Dann nahm ich mir einen Teller und etwas Obst mit Joghurt, ein Brötchen mit Kürbiskernen, dazu eine Scheibe Käse und ein Croissant. Das Büffet regte meinen Appetit an. Bei Jo angekommen setzte ich mich auf den gegenüberliegenden Platz.

Schon kam eine weibliche Bedienung an unseren Tisch. „Guten Morgen! Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten oder vielleicht ein frisch zubereitetes Rührei?“, fragte sie mich.

Ich bestellte mir einen Milchkaffee und das Rührei-Angebot nahm ich ebenfalls dankend an. Jo und ich fingen an zu essen und erzählten uns von unseren Eindrücken. Er war von der Location ebenfalls begeistert und unsere Aufregung über das Zukünftige stieg ins Unermessliche.

Ich freute mich über sein Interesse an Jenna, denn ich sprach gern über sie. Tatsächlich aß ich meine übervollen Teller leer, weshalb Jo mir einen erstaunten Blick zuwarf. Ich lachte ihn an. Er fragte mich, wo ich das alles hinstecken würde, weil ich definitiv nicht danach aussah, so viel zu essen. Er fügte jedoch noch hinzu, dass er Mädchen, die ein Salatblatt auf dem Teller hin und her schoben, ohnehin nicht sonderlich mochte.

Um kurz vor Neun beendeten wir unser nettes Beisammensein, denn ich wollte mir unbedingt nochmal die Zähne putzen.

Nach der Zahnpflege machte ich mich auf den Weg zum Eventsaal. Ich traf um Viertel nach Neun ein und einige Castingteilnehmer hatten schon die umliegenden Stühle besetzt. Es blieb aber noch genug Auswahl, und ich ergatterte einen Fensterplatz.

Ansonsten wurde dieser Raum wohl vornehmlich zu Businesszwecken genutzt. Im Gegensatz zum restlichen Hotel war hier alles etwas nüchterner und kühler gehalten: ein anthrazitfarbener, melierter Teppich und schwarze Möbel. Die Tische standen direkt vor den weißen Wänden, damit man die Stühle in der Mitte des Raumes hinter- und nebeneinander aufstellen konnte. Wir saßen mit Blick auf einen Flipchart-Ständer, der schon mit Papier und Stiften ausgestattet war.

Jo war mittlerweile auch eingetroffen und so langsam füllte sich der Raum. Um 9.45 Uhr beehrten uns die Juroren ebenfalls mit Anwesenheit, ihr Anhang war natürlich auch mit dabei. Die Bodyguards stellten sich hinter dem Flipchart an der Wand auf, während die drei Kameraleute sich unauffällig im Raum verteilten. Carol, Bill und Harald blieben vor uns stehen und begrüßten uns zunächst, gleich darauf setzten sich Bill und Carol ebenfalls hin, jedoch auf zwei von den drei gegenüberstehenden Stühlen.

Harald blieb bei dem Flipchart stehen, nahm sich einen Stift und fing an, mit großen Buchstaben zu schreiben: ‚gutes Singen ist nicht = Star‘. Dann strich er sich über den Bart, stellte die Frage: „Was macht einen guten Sänger aus?“ und beantwortete sie gleich: „Ich kann es euch sagen. Er oder sie muss sich abheben von anderen Sängern. Man muss seine eigene Note mitbringen, Charakter besitzen. Jemand, der nicht tanzen kann, muss die Leute im Sitzen umhauen. Hat man keine herausragende Stimme, sollte man mit Selbstbewusstsein und guten Ideen etwas eigenes Neues präsentieren. Eines braucht ihr jedoch alle, und das ist Talent.“ Er holte kurz Luft.

„Das sehen wir in euch, doch jetzt dürft ihr euch nicht ausruhen. Ihr müsst hart an euch arbeiten und euch selbst übertreffen. Jeder von euch bekommt zwei Lieder zur Auswahl, die wir drei gestern Abend spezifisch für euch ausgesucht haben. Eines davon müsst ihr übermorgen vor uns allen darbieten. Wir treffen uns um neun Uhr im Castinggebäude nebenan. Ihr dürft selbst entscheiden, ob ihr a cappella singen möchtet oder instrumentale Begleitung wünscht. Selbstverständlich könnt ihr auch euer eigenes Instrument spielen. Falls jemand Tipps oder etwas Unterstützung braucht, könnt ihr gerne auf uns zu kommen. Heute und morgen stehe ich von 14 bis 17 Uhr in diesem Raum zur Verfügung. In den zwei kleineren Räumen nebenan werden Carol und Bill auf euch warten. Auf gutes Gelingen!“

Jo und ich warteten noch kurz, bis der größte Teil seine Songs hatte, erst dann nahmen wir unsere. Während Jo schon jubelte, weil eines seiner beiden Lieder ihm sehr gut passte, analysierte ich meine. Zur Auswahl bekam ich einen Schlagersong, den ich grundsätzlich schon ausschloss, und von No Doubt ‚Don’t Speak‘.

Das fand ich zwar sehr schön, aber wirklich beschäftigt hatte ich mich damit noch nicht. Ich fragte mich, warum die Juroren auf diese Stücke für mich gekommen waren. Für Herausforderungen war ich jedoch immer zu haben und meiner Meinung nach verlangte ‚Don‘t Speak‘ einiges von einem ab.

Jedenfalls beschloss ich keine Zeit zu verlieren und begab mich auf mein Zimmer. Ich klappte meinen Laptop auf und suchte mir die Noten zu dem Song, um sie auf der Gitarre zu spielen, denn ich wollte es mir nicht nehmen lassen, mich selbst zu begleiten. Beim Spielen üben summte oder sang ich ab und an mal mit. Dennoch konzentrierte ich mich erst auf die Gitarre, bis die Griffe einigermaßen saßen.

Nach circa 90 Minuten nahm ich mir den Songtext vor. Erst las ich ihn wieder und wieder. Dann fing ich erneut an zu spielen und sang mit. Gefühlte fünfzig Mal wiederholte ich es, unterbrach und fing wieder von vorne an. Schnell stellte ich fest, wie anspruchsvoll diese Nummer war. An der einen oder anderen Stelle hakte es gewaltig und nach vier Stunden schweißtreibendem Üben beschloss ich, etwas essen zu gehen. Meine Gitarre nahm ich mit. Vielleicht konnte ich mir nach der Mahlzeit bei Harald noch einen Rat einholen.

Im Restaurant angekommen, setzte ich mich wieder an den Platz vom Frühstück und beobachtete draußen die Fontäne. Ich bestellte mir eine vorzüglich schmeckende Gemüselasagne und nahm mir noch eine Brezel für den Abend mit, denn ich hatte nicht vor nochmal herzukommen.

Als ich an den Eventsälen ankam, fiel mir auf, dass fast alle Kandidaten anwesend waren, und beschloss, es lieber nochmal alleine zu versuchen. Falls es bis dahin immer noch nicht klappen sollte, könnte ich auch am nächsten Tag noch zu Harald, dachte ich mir.

Zurück auf meinem Zimmer übte ich erneut zweieinhalb Stunden und kam nicht wirklich weiter. Immer wieder blieb ich an denselben Stellen hängen.

Mittlerweile ging es auf 19 Uhr zu und ich beschloss in die hoteleigene Sauna zu gehen. Diese Art von Entspannung brauchte ich jetzt. Ich knotete meine Haare zu einem Dutt und zog meine Badeschuhe an. Ich packte frische Kleidung, Pflegeprodukte und Kleingeld für den Spind in eine Tasche, denn ich wollte im Anschluss dort duschen. Statt des Aufzugs nahm ich die Treppe.

Unten angekommen wollte ich gerade in den Wellnessbereich abbiegen, als mir plötzlich ein schlaksiger, großer Kerl mit Fünftagebart im Weg stand. Er trug ein schwarz-rotes Poloshirt mit der Aufschrift ‚STAR VOICE TEAM‘. Ich schätzte ihn auf Mitte dreißig, denn leichte Falten zogen sich um seine Augen.

„Hallo, Süße, wohin so eilig?“, gab er von sich und zwinkerte mir zu.

Ich ignorierte ihn und ging vorbei. Leider war der Flur extrem lang, so dass ich das Gefühl hatte, ich käme nicht von der Stelle, und wurde leicht nervös.

„Ach, so eingebildet?“, rief er mir noch hinterher.

Endlich an dieser blöden Tür angekommen, atmete ich erst einmal durch. Dann dachte ich darüber nach, was für ein widerlicher Kerl das doch war, und fragte mich, warum so jemand für Star Voice arbeitete. Jedoch wollte ich keinen weiteren Gedanken an ihn verschwenden und tat, wozu ich hergekommen war.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739447353
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (März)
Schlagworte
romantisch humor spannung liebesroman

Autor

  • N. Mary D. (Autor:in)

Hallo! Ich lese selbst für mein Leben gerne und freue mich, euch mein erstes Buch ‚Rockstars haben schöne Augen‘ zu präsentieren. Viel Spaß beim Lesen!
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Titel: Rockstars haben schöne Augen