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Broken Love: Verhängnisvolle Nähe

von Ana L. Rain (Autor:in)
339 Seiten
Reihe: Broken Love, Band 1

Zusammenfassung

Sie will von ihm nur eines, doch er will alles von ihr Weglaufen ist das Einzige, was Amelia Hasley kann - Vor allem vor der Liebe. Als Amelias Mann stirbt, schließt sie ihre Gefühle hinter einer großen Mauer, bewacht von starken Rittern, ein. Nach einem Zwischenfall in ihrem Präsidium, nimmt sie sich schließlich Urlaub und reist von Berlin nach Hamburg. Dort stößt sie mit dem gutaussehenden Neal Arndt zusammen. Während Amelia noch die Scherben ihres Lebens zusammenkehrt, ist er Lebensfroh und stets auf der Suche nach der hellen Seite. Neal weiß sofort, er muss jeden Ritter auf Amelias Mauer bekämpfen, wenn er eine Zukunft mit ihr haben will. Doch auch Neal trägt mehr als nur ein unliebsames Päckchen mit sich.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Ana L. Rain

Broken Love

Verhängnisvolle Nähe

Roman

Band 1

Für meine

Eltern,

meine Schwester

und

meine Großeltern

Erstes Kapitel

 

»Eine wirklich schöne Wohnung, und Sie sind sich sicher, dass Sie sie verkaufen wollen, Frau Hasley?«

»Ja, ganz sicher.« Ich versuche zu lächeln, während mir tausend Gedanken durch den Kopf gehen. Jetzt stehe ich in unserer Wohnung und überlege für einen Moment, ob ich nicht doch alles abblasen soll. Der Verkauf dieses Objekts ist ein Schlussstrich. Damit soll ein neuer Lebensabschnitt beginnen, will ich das? Hier begann alles, also sollte es auch hier enden.

Ich beobachte die Maklerin, wie sie durch unsere Wohnung läuft, und ihre Absätze klackern laut auf den Fliesen. »Nun gut, wenn Sie sich wirklich sicher sind, werde ich sie annoncieren. Bestimmt wird sie schnell verkauft werden. Bitte unterschreiben sie hier und ich brauche einen Schlüssel, um den möglichen Käufern das Prachtexemplar zeigen zu können.« Währenddessen legt mir Frau Schöne den Kaufvertrag auf den Holztisch. »Ich werde Sie auf dem Laufenden halten«, sagt sie schließlich. Ihre Lippen sind zusammengepresst und ihr Blick wirkt kühl.

Ich habe das Gefühl, dass mir die Maklerin diesen Kauf unbedingt ausreden will. Jedoch hat sie keine Ahnung, woran mich dieses Prachtexemplar erinnert.

Es fühlt sich wie gestern an, als Jason und ich die Eigentumswohnung gekauft und eingerichtet haben. Weil jeder seinen Dickkopf durchsetzen wollte, hatten wir viel Spaß beim Renovieren und noch dazu fantastischen Versöhnungssex. Jeder einzelne Raum bringt seine eigene Erinnerung mit sich.

»Frau Hasley.« Die Maklerin reißt mich aus meinen Gedanken. »Ich brauche eine Unterschrift, dort, und einen Schlüssel. Haben Sie noch einen zweiten?« Sie zeigt auf die Linie, auf der ich unterschreiben muss.

Ich nehme den Kugelschreiber, unterzeichne den Vertrag und setze dabei ein gespieltes Lächeln auf. Jenes, welches ich mir in den letzten Jahren sehr gut antrainiert habe. Es ist nicht einfach, alles alleine durchzuziehen, aber ich bleibe stark. Wie immer. Deshalb stehe ich an dieser Stelle ohne Bill und Harin, die mich begleiten wollten. Ich musste bei ihrem Angebot stark bleiben, sonst hätte ich jene Nähe zugelassen, die ich nicht brauche.

Aus meiner braunen Lederhandtasche hole ich meine Schlüssel heraus und gebe ihr den Wohnungs- und Kellerschlüssel und jenen für die Schranke in der Tiefgarage. Es waren Jasons Schlüssel, Bill hat auch noch einen.

Mir fällt jetzt erst auf, dass Frau Schöne sogar kleiner ist als ich, trotz ihrer hohen Plateaupumps. Sie ist etwa um die fünfzig und hat zarte Fältchen im Gesicht. Sie lächelt und atmet tief aus. Wahrscheinlich vor Zufriedenheit, dass sie Geld verdienen wird. Gutes Geld.

Endlich gehen wir gemeinsam raus. In diesen vier Wänden zu sein, welche einst Jasons und mein Zuhause waren, ist immer ein komisches Gefühl; zerstörerisch auf irgendeine Weise. Ich schließe ab. Das war‘s. Diese Hürde ist geschafft und bald ist dieser Ballast weg. In der letzten Stunde habe ich das Gefühl gehabt, als hätte ich nicht richtig atmen können, als hätte die Teufelsschlinge mich gefesselt und fast zerdrückt. Jede Treppenstufe erinnert mich daran, wie Jason und ich die Möbel hier hochgetragen haben. Mein ganzer Körper fühlt sich taub und schwer an. Ich ringe nach Luft und ich höre das Pulsieren meines Herzens. Tränen schießen mir in die Augen. Mir wird schwindelig und meine Schritte werden immer schneller. Ich muss schnellstmöglich raus und öffne die Tür des Gebäudes.

»Darf ich Sie noch fragen, warum Sie die Wohnung verkaufen wollen? Ich meine, Sie könnten sie ebenso gut vermieten, 140 Quadratmeter in einer Toplage in Berlin Charlottenburg.«

Meine Hände ballen sich zu Fäusten und ich pressen meine Zähne zusammen. Nein, das darf sie mich nicht fragen.

»Mama!« Das schönste Geräusch dringt in meinen Kopf und lässt für einen kurzen Moment die Sonne hinein. Schnelle Kinderschritte ertönen und ich drehe mich um. Mell läuft genau auf mich zu. Ich schaue die Maklerin an, bedanke mich im Voraus für ihre Bemühungen und wende mich von ihr ab, ohne auf ihre Frage einzugehen, die sie sowieso nichts angeht. Frau Schöne läuft über die Straße und steigt in einen dunkelblauen VW Scirocco ein.

»Sie wollte zu dir, ich konnte sie nur noch zu einem Stiel Zuckerwatte vom Zuckerschlösschen überreden«, sagt Harin. Er ist so ein toller Mann. Schon alleine weil er sich um Mell kümmert, als wäre er ihr Papa.

»Das ist nicht schlimm, ohne dich wäre ich sowieso aufgeschmissen gewesen«, danke ich ihm und widme mich meinem Löckchen. »Hallo meine Kleine.« Ich gebe ihr einen Kuss und merke den klebrigen Zucker an ihrem Mund.

»Mama, wer war das?« Sie redet schon so deutlich und gut, dass es mich jedes Mal fasziniert.

»Das war die Frau, die unsere Wohnung verkaufen soll.«

»Warum verkaufen wir unsere Wohnung? Ziehen wir zu Harin und Anna?«

Harin schaut mich mit seinen großen, kastanienbraunen Augen an und versucht offensichtlich, ein Grinsen zu unterdrücken. Ich weiß, er genießt es, dass Mell ihn so mag. Mich wundert es nicht, er ist ein toller Typ, doch für mich zu gewöhnlich. Das zwischen mir und ihm funktioniert einfach nicht. Er ist eben nicht Jason.

Ich knie mich auf den Asphalt und schaue meiner dreijährigen, wunderschönen Tochter in die Augen. »Wir ziehen nicht zu Harin, wir suchen uns eine neue eigene Wohnung. Irgendwo, wo es schön ist. Ich möchte nicht mehr hier leben.« Für einen Moment halte ich inne. »Sie ist für uns beide zu groß. Ich suche uns eine Kleinere, wenn ich zurück in Berlin bin.« Der Gedanke daran, ohne Mell wegzufahren, beengt mich. Ich arbeite viel, trotzdem sehe ich sie täglich, seit ich mich wieder im Griff habe.

»Ich will aber ein grünes Zimmer, hast du gehört, Mama?«

Ich verdrehe die Augen.

Harin lacht und ich bin mir ziemlich sicher, was er denkt.

Nachdem ich Melanie angeschnallt habe, steige ich neben Harin ins Auto ein. Kinderlieder erklingen aus den Lautsprechern, als er das Auto startet. Wir schweigen und hören dieser seltsamen Musik zu. Schon merkwürdig, dass Kinder so eine komische Musik mögen.

Mell summt mit, bis es plötzlich still hinter uns wird. Ich drehe mich um und sehe, dass Mell eingeschlafen ist. Das passiert oft.

Als wir bei Harin ankommen, trage ich sie in meinen Armen und Annamaria, seine Mutter, öffnet uns die Tür.

Sie flüstert, um Mell nicht zu wecken. »Ich habe dir Essen aufgehoben, wie war der Termin mit Frau Schöne?«

Wir gehen in die Wohnung und bevor ich irgendetwas anderes tue, lege ich Mell in ihr Bett. Sie schläft seelenruhig. Wie gerne würde ich so bedenkenlos schlafen können …

Anschließend laufe ich in die Küche und beginne, Annamaria alles zu erzählen. Währenddessen wärmt sie mir ihren Kartoffeleintopf auf. Würde ich ihr nicht alles berichten, würde sie bis ins kleinste Detail nachfragen und das möchte ich vermeiden.

Sie hat es mit ihren Söhnen nicht einfach gehabt. Farin ist ausgezogen und kommt nur ab und zu her. Er hat sein Leben ziemlich gut im Griff: eine Freundin und eine gut bezahlte Arbeit als Ingenieur. Als Schüler und auch kurz nach seinem Abitur war Farin sehr faul und lebte in den Tag hinein. Irgendwann kam der plötzliche Sinneswandel und er bewarb sich an sämtlichen Universitäten.

Harin ist da etwas anders. Er hatte Probleme in der Schule und hat ein paar Vorstrafen, jedoch nichts Schlimmes. Inzwischen versucht er, ein Unternehmen aufzubauen. Irgendetwas mit Medien, anscheinend funktioniert das gut. Er hat für sich und seine Mutter eine schöne große Wohnung gemietet, in der Mell ein eigenes Zimmer hat, solange wir es brauchen. Ich habe nie darum gebeten, das Zimmer zu bekommen, aber Harin hat darauf bestanden, weil Mell sowieso so gut wie bei ihnen wohnt und ich irgendwie auch. Harin ist einfach Gold wert.

Annamaria schnippst mit ihren Fingern vor meinen Augen.

»Amelia … Du solltest ins Bett gehen, du fährst morgen früh weg. Hast du deinen Koffer schon gepackt?«

»Annamaria, du weißt, dass ich keinen Koffer brauche. Ich habe dort Kleidung.«

»Das war eine gute Idee, dich in den Urlaub zu schicken, das wird dir guttun. Hamburg ist nicht weit von der See entfernt, vielleicht kannst du dort hinfahren und durchatmen. Du kannst nach dem letzten Jahr mit Harin, den Streitereien mit deinen Eltern und der Entscheidung über den Verkauf der Wohnung abschalten. Harin und ich passen auf Mell auf. Das weißt du doch. Sie ist bei uns in guten Händen. Sei froh, dass du dieses Haus geerbt hast. Auch wenn du deine leiblichen Eltern nicht kanntest. Die beiden wollten nur dein Bestes. Wenigstens kannst du dir dort eine Auszeit nehmen. Und jetzt ab ins Bett. Husch husch«, predigt sie wie eine waschechte Mutti, während sie mir Teller und Glas aus der Hand reißt. Dieser kleinen brünetten Frau sollte man besser nicht widersprechen.

Auf dem Weg ins Zimmer denke ich über ihre Worte nach. Wahrscheinlich hat sie recht; ich bin keine schlechte Mutter, wenn ich mir eine Auszeit nehme. Ich war eine schlechte Mutter, als Jason starb. Zwei Jahre habe ich den Mörder meines Mannes gesucht, bis ich ihn endlich fand. Ich dachte, es würde mir helfen, den Tod zu verarbeiten, wenn ich seinem Mörder in die Augen schaue und ihn verhafte.

Leider war es nicht so. Ich drehe mich zur Seite und umschlinge meine Beine mit meinen Armen. ›21, 22, 23‹, zähle ich, während ich mir auf die Lippe beiße, damit sie aufhört zu zittern. Ich unterdrücke die Tränen, die mir jedes Mal in die Augen schießen, wenn ich an Jason denke. Es ist nicht fair, dass er niemals seine Tochter aufwachsen sehen wird und sie nie erfahren wird, wie sehr ihr Papa sie geliebt hat. Mein Herz zieht sich zusammen und ich schließe die Augen, um endgültig die Tränen zu stoppen.

 

Ich höre Schreie, Melanies Schreie. Ich sitze auf dem Fußboden, kämpfe mit mir selbst. Steh auf, komm schon Amelia, steh auf. Die Schreie werden immer lauter. Ich bin mein eigener Feind.

Ein Alptraum. »Amelia, es war nur wieder ein Alptraum.« Bei dem Versuch, mich selbst zu beruhigen, ringe ich ständig nach Luft. Mein Herz rast und ich orientiere mich. Langsam werden die Umrisse des Zimmers in der Dunkelheit sichtbar. Ich stehe auf und hole mir ein Glas Wasser aus der Küche. Mein Kopf ist voll, voller Gedanken und Erinnerungen. Manchmal habe ich das Gefühl, er platzt und ich fühle mich gequält; gequält von meinen Taten, meiner Vergangenheit. Leise lege ich mich zurück auf die Couch und versuche zu schlafen. Drehe mich hin und her, bis mir irgendwann die Augen zufallen.

 

Annamaria hat Mell auf ihrem Arm und Harin steht neben den beiden. Mir steigen Tränen in die Augen. »Wir werden gut auf sie aufpassen, entspann dich und genieße es«, tröstet mich die Mutter meines besten Freundes.

Ich hole Mell auf meinen Arm und sie guckt mich mit ihren großen grünen Augen an, die sie eindeutig von ihrem Papa hat. Zum Abschied gebe ich ihr einen Kuss auf den Mund und sie mir einen. »Ich hab dich lieb, mein Löckchen.« Ich drücke sie dicht an mich. Meine Hände verkrampfen sich, denn ich will sie nicht gehenlassen. Dass es mir so schwerfällt, verstehe ich nicht, schließlich wohnt Melanie hier und ich bin meistens arbeiten. Offenbar ist es jetzt etwas anderes. Ich bin wirklich mies im Muttersein.

»Ich dich auch, Mami. Harin und Anna passen auf mich auf. Wir haben so viel vor und …« Sie streckt ihre Arme aus, um es zu verdeutlichen.

Ich liebe Mell unwahrscheinlich, auch wenn viele das in Frage stellen.

»Nicht weinen, Mami.« Sie wischt mir meine Tränen weg. Wie kann eine Dreijährige so tapfer sein? Ich drücke sie noch einmal und gebe sie dann Annamaria auf den Arm. Wenn ich den Abschied jetzt noch weiter hinauszögere, fahre ich womöglich gar nicht mehr.

Also steige ich ins Auto und fahre los. Die drei winken mir und ich halte nur kurz meine Hand hoch, mehr schaffe ich nicht, denn ein Kloß bildet sich in meinem Hals.

 

 

 

 

 

 

Zweites Kapitel

 

Knapp viereinhalb Stunden, zwei Staus wegen Elefantenrennen, hundert Idioten, die nicht wissen, dass man links überholt, und mehreren Tobsuchtsanfällen meinerseits später stehe ich vor dem Tor, tippe meinen Code ein, damit es sich öffnet, und parke anschließend mein Auto in der Einfahrt.

Elizabeth öffnet mir die Tür und kommt auf mich zu. »Amelia, hätten wir gewusst, dass du kommst …« Elizabeth ist Engländerin und nur der Liebe wegen nach Deutschland gezogen. Obwohl sie sehr gut Deutsch spricht, hört man immer einen leichten Akzent. Sie umarmt mich und gibt mir einen dicken Kuss auf die Wange. Mir fällt sofort auf, dass ihre Haare grauer geworden sind seit meinem letzten Hamburg Besuch, der schon eine Weile her ist. Möglicherweise färbt sie ihre Haare nicht mehr.

 »Ich habe mir unterwegs etwas zu essen geholt. Mir wurde empfohlen, meinen Jahresurlaub zu nehmen, und Harin passt auf Mell auf. Er und seine Mutter dachten, es würde mir guttun, alleine herzufahren und zu entspannen.« Ich muss selbst darüber lachen und grinse sie an. Dieses Mal konnte ich mich nicht wehren und Alex, mein Chef, hatte recht. Er musste handeln und die beste und einfachste Lösung war, mir den sowieso zustehenden Jahresurlaub zu geben.

»Dann solltest du das tun, Amelia. Es ist zwar kalt und windig, trotzdem kannst du an den Hafen gehen und dich entspannen. Die Gummistiefel stehen bereit.« Ben steht am Türrahmen, wie ein großer, alter, grauer Teddybär, der sehr oft geknuddelt und überall mit hin gezerrt wurde.

»Hallo, Ben«, begrüße ich ihn. »Ich glaube, ich werde zuerst meine Tasche hochbringen und mir nach der Fahrt ein Bad einlassen.«

Ben hat mit Elizabeth vorher für meine leiblichen Eltern gearbeitet. Sie wohnen und arbeiten schon seit fünfunddreißig Jahren an diesem Ort. Die beiden kümmern sich um alles und sind dankbar dabei. Außerdem war im Testament festgelegt, dass sie auch nach dem Tod meiner leiblichen Eltern hier leben dürfen. Dieses Haus ist sowieso viel zu groß für mich alleine. Vor allem kann man sich gut aus dem Weg gehen. Einfach perfekt für jemanden wie mich, der gerne seine Ruhe hat.

Ben nimmt mir die Tasche ab und bringt sie nach oben. Ich bedanke mich, gehe die Treppen hinter ihm her und biege Richtung Bad ab. Als ich zuletzt in Hamburg war, hatte ich mich frisch von Harin getrennt und wusste nicht, wohin mit Mell und mir. Ich hatte keine Ahnung, ob er mir die Trennung verzeihen würde. Unsere Beziehung war nicht mehr als ein Versuch gewesen, der gnadenlos gescheitert war. Da konnte der Sex noch so gut gewesen sein. Es hatte einfach nicht gepasst.

Ich drehe den messingfarbenen Wasserhahn auf und lasse warmes Wasser in die Badewanne ein. Der Badezusatz riecht nach Mandel und Sheabutter, ich liebe diesen Geruch.

Ich versinke im heißen Wasser und schließe meine Augen. Meine Gedanken kreisen in meinem Kopf herum. Mir schießen hunderte Aspekte zu meinen letzten Fällen in den Kopf, bis ich es schaffe, sie einzudämmen und mich nur noch an einen Gedanken halte. Melanie.

Was sie wohl gerade macht?

Bevor ich nach meinem Handy greife und Harins Nummer wähle, steige ich aus der Badewanne und wickle mich in ein Handtuch ein.

»Du sollst entspannen und dir nicht ständig Sorgen machen.«

»Ich weiß Harin, aber …«

»Nichts aber, uns geht es gut, Melanie liegt auf dem Sofa und wir schauen ›Barbie und die geheime Tür‹.« Er hebt seine Stimme bei Barbie an und ich grinse. »Ich mache ein Foto und sende es dir. Auf Wiedersehen.«

Harin legt auf und schickt mir gleich darauf ein Bild. Ich hasse es, wenn er mich so abwimmelt.

Ich fokussiere das Bild auf meinem Display. Mell sitzt im Pyjama auf dem Sofa und kuschelt sich an Annamaria und an ihr Einhorn. Sie sehen entspannt aus. Mein Handy ist voll von solchen Momenten. Nur dass ich selten dabei bin.

Nach dem ich mich angezogen und die Haare geföhnt habe, gehe ich in die Küche und setze mich zu Elizabeth und Ben. Sie trinken einen Grog und reden über alte Zeiten und Neuigkeiten aus der Stadt. Vor allem die Geschichten über meine leiblichen Eltern finde ich interessant. Ich erfahre dadurch mehr über mich. Woher ich manche Eigenschaft habe … Mein leiblicher Vater war akkurat, jovial und hatte einen schwarzen Humor. Meine Mutter war authentisch und ehrlich, auch wenn es dem Gegenüber nicht gefiel. Beide waren freundlich und hatten viele Freunde. Sie waren richtige Partygänger. Ben sagte, ich würde äußerlich meiner Mutter Madeleine ähneln.

 

Am nächsten Morgen erschrecke ich, als ich auf die Uhr gucke. Es ist schon 9:00 Uhr. Ich habe schon ewig nicht mehr so lange geschlafen, dafür war der Alptraum heute besonders schlimm. Als ich aufstehe und herunterlaufe, merke ich, dass ich alleine bin und die Küche eindeutig zu groß ist. Ich werde meinen Lieblingstee nie in den vielen Regalen finden, nachdem Elizabeth offenbar umgeräumt hat. Also schlüpfe ich in meinen Mantel und laufe aus dem Haus. Die raue Luft schlägt mir sofort ins Gesicht, als ich die ersten Schritte laufe. Meine Hände vergrabe ich tief in den Manteltaschen und ich atme die klare Luft ein.

Endlich bin ich bei Karlson, einem Bäcker, der noch selbst backt. Während ich bei ihm anstehe, frage ich mich, wieso Elizabeth ständig alles umräumen muss. Ob sie es aus Langeweile macht? Kaum habe ich mich einmal an die Standorte gewöhnt und weiß, wo sich alles befindet, steht es bei meinem nächsten Besuch wieder woanders. An Bens Stelle würde ich wahnsinnig werden.

Ein Räuspern reißt mich aus meinen Gedanken. Tief und dennoch angenehm. Vor mir steht ein großer Mann und tippt ununterbrochen an seinem Handy herum. Ich verstehe diese Smombies nicht. Natürlich sind Handys in unserer Zeit nicht mehr wegzudenken, muss man sie deswegen unaufhörlich bei sich haben oder immerzu in Kontakt mit anderen stehen?

Er flucht und stöhnt beim Tippen vor sich hin. Bestimmt war das Räuspern von ihm. Es hatte ungefähr dieselbe Stimmlage wie sein Fluchen. Ab und zu fasst er sich mit der freien Hand an den Kopf.

Von hinten sieht er eigentlich ganz attraktiv aus. Er trägt eine Jeans, die seinen Po perfekt in Szene setzt. Ich trete einen Schritt näher an ihn heran. Diesen Geruch, ich kenne ihn. Dior Fahrenheit. Jason trug es täglich. Tränen reichern sich in meinen Augen an. Ich schließe die Augen, um sie verschwinden zu lassen. Dabei habe ich das Gefühl, er würde direkt neben mir stehen. Ich öffne sie wieder, um nicht in eine Illusion zu gelangen.

Der Mann ist an der Reihe und bestellt einen großen Kaffee mit wenig Milch zum Mitnehmen und neigt seinen Kopf erneut zum Bildschirm seines Handys.

»Ich frage mich, wie es ist, wenn man eine Beziehung zu seinem Handy führt und von seiner Umwelt so abgeschottet ist«, murmle ich vor mich hin und der Mann dreht leicht seinen Kopf zu mir. Er hat es gehört, ignoriert es jedoch. Die Kellnerin macht seinen Kaffee und nickt mir zu. Endlich bin ich dran. Ich bestelle mir einen großen Pfefferminztee und drei Brötchen zum Mitnehmen. Die Frau stellt den Kaffee des Typen vor mir auf die Theke und er legt fünf Euro hin.

»Stimmt so«, sagt er, ohne den Blick vom Handy zu wenden. Der Kerl greift nach seinem Kaffee und dreht sich in meine Richtung.

»Oh Gott, das tut mir leid. Ich habe Sie nicht gesehen, es tut mir leid. Wirklich, es tut mir leid.«

Ich schaue mit geweiteten Augen auf meinen klitschnassen Mantel hinab. Ist das sein Ernst? Mein Kopf wird schlagartig heiß, ich koche vor Wut, meine Hände ballen sich zu Fäusten und ich atme schnell ein und aus.

»Sie hätten weniger auf Ihr scheiß Handy glotzen sollen und das viele Entschuldigen bringt mir auch nichts. Wie kann man nur so minderbegabt sein!«, schnauze ich ihn an. Der erste Tag in Hamburg und dann passiert so etwas. Während ich mich echauffiere, schaue ich den Mann das erste Mal von vorne an. Gott, nicht nur sein Po ist ein Hingucker. Meine ganze Wut verblasst bei diesem Anblick.

Er sieht gleichermaßen erschrocken und verwirrt aus und schüttelt seinen Kopf. »Sie haben recht, es tut mir leid. Ich werde Ihnen natürlich die Reinigung bezahlen!« Noch eine Entschuldigung.

Unsere Blicke treffen sich und er versucht offenbar, sich sein Lächeln zu verkneifen.

»Nein, Sie müssen mir die Reinigung nicht bezahlen, ich wasche den Mantel einfach«, sage ich ruhiger. Heidewitzka. Ich habe das Gefühl, mir reißt jemand den Boden unter den Füßen weg. Er schaut mich an, diese Augen … Mein Herz, es schlägt mir bis zum Hals. Warum fühle ich mich gerade so? Ich müsste eigentlich richtig wütend sein.

»Nein, ich werde Ihnen die Reinigung bezahlen. Ich habe schließlich nicht aufgepasst. Leider muss ich jetzt zur Arbeit. Ich bin schon spät dran. Sie können mir Ihre Adresse geben, ich würde den Mantel heute Abend gegen 19:00 Uhr abholen.« Innerhalb der neun Stunden hätte ich den Mantel auch selbst waschen können.

Ich gebe ihm meine Adresse und er tippt sie in sein Handy ein.

Er bedankt sich und ruft mir »Bis heute Abend« zu. Sein Lächeln hat etwas Fesselndes an sich.

Ich nehme meinen Becher und die Brötchen von der Theke und bemerke erst jetzt, dass mich alle in der Bäckerei anschauen. Sie gaffen regelrecht. Haben diese Leute noch nie eine Frau gesehen, die mit Kaffee vollgeschüttet ist?

Schließlich laufe ich zurück in die Villa und muss die ganze Zeit an diesen Mann denken. Eine halbe Ewigkeit habe ich nicht mehr so auf einen Mann geachtet. Sein Lächeln und die Augen … Ein Auge war grün und  das andere war grün mit einem sehr starken Braunstich.

Ich beschließe, auf dem Sofa zu frühstücken, und zappe gelangweilt durch die TV-Programme. Es kommt wirklich nur Mist im Fernsehen. Kein Wunder, dass die Menschen verrückt werden. Einen Tag Urlaub und ich fühle mich so nutzlos und mitleiderregend wie schon lange nicht mehr. Selbst während der Schwangerschaft war ich nicht zu Hause, sondern im Innendienst. Wie soll das die nächsten vier Wochen werden?

Mein Handy klingelt. ›Mama‹ prangert auf dem Display und ich überlege, ob ich das Telefonat annehmen soll. Ich entscheide mich dafür und gegen ›Trovatos-Detektive decken auf‹.

»Amelia?«

»Ja, Mama.« Obwohl sie mir das Herz gebrochen haben, bleiben sie meine Eltern.

»Amelia, warum bist du beurlaubt worden? Und warum bringst du uns Melanie nicht? Wir hätten auf sie aufpassen können, wenn du Ruhe brauchst.«

»Mama, mir wurde empfohlen, meinen Jahresurlaub mal zu vernichten, weil mein Chef meinte, es müsste sein, und Melanie … Ich finde, wenn sie ihren festen Alltag behält und er konstant bleibt, ist es für sie das Beste. Harin und Annamaria gehören nun mal dazu. Sie bringen sie in die Kita, holen sie ab und sie hat dort ihr eigenes Zimmer.« Mir wird eins gerade klar, ich sollte weniger mit meiner Schwester schreiben. Ich bereue schon, dass ich mich gegen die Trovatos entschieden habe. Wenn ich mich nicht beruhige, wird es nur in Streit ausarten. Nach heute Morgen brauche ich das nicht auch noch.

Ihre Stimme ist schrill und ich halte den Hörer von meinem Ohr.

»Amelia, ich meine ja nur, du hättest sie zur Abwechslung zu uns bringen können. Wie lange bist du denn beurlaubt? Bist du dir wirklich sicher, unser Angebot abzulehnen?«

Genau, ich fahre von Berlin nach Ravenstein und anschließend weiter nach Hamburg? Was stellt sie sich vor? Cool bleiben, Amelia.

»Ab heute noch vier Wochen, vielleicht fange ich früher an zu arbeiten, abwarten. Ich werde in Berlin wohnen bleiben.«

»Wir leben sehr ruhig, Berlin ist kein Ort, um ein Kind großzuziehen und …«, sie stoppt. Atme, Amelia, atme.

»Wie war denn das Treffen mit der Maklerin? Hast du schon nach einer neuen Wohnung gesucht?« Anscheinend hat sie genauso wie ich keine große Lust zu streiten und bekommt gerade noch so die Kurve. »Du kannst auch nicht die ganze Zeit bei Harin wohnen. Melanie gewöhnt sich daran. Dieses Hin und Her mit euch letztes Jahr war schon schlimm und Harin ist nicht ihr Vater«, sagt sie in ihrem Belehrungston und es geht wieder los ... Warum bin ich nur an das verdammte Telefon gegangen? Normalerweise lasse ich sie auf die Mailbox sprechen und rufe später zurück. Meistens habe ich keine Zeit, das Gespräch anzunehmen.

»Mama, bitte.« Ich hole tief Luft.

»Wir sind ihre Großeltern und wollen sie auch mal zu Gesicht bekommen. Vielleicht könnten wir sie abholen und sie bleibt ein paar Tage bei uns und wir bringen sie später zu Harin?«

»Wie wäre es damit: Wenn ich von Hamburg zurück bin, kommen wir euch ein Wochenende besuchen?«, sage ich schnell und versuche, sie zu besänftigen.

»Ja, das klingt gut. Einverstanden. Wie lange gedenkst du, in Hamburg zu bleiben?« Ihre Stimme wird ruhiger, sie freut sich anscheinend über mein Angebot.

»Annamaria sagte, ich soll auf jeden Fall eine Woche bleiben und die Seele baumeln lassen.«

»Warum Annamaria?«, sie klingt verwirrt.

Hätte ich bloß nichts gesagt …

»Mama, mach keinen Stress, sie meinte bloß, ich soll alleine wegfahren, okay?«

»Okay«, ich höre sie deutlich ausatmen. »Also sehen wir uns bald. Ruf bitte an, wenn ihr kommt, damit ich für euch Platz machen kann.«

Ich verdrehe die Augen. Sie hasst Übernachtungsgäste genauso wie ich.

»Ansonsten nehmen wir uns ein Zimmer im Hotel.«

»Amelia, mach dich bitte nicht lächerlich, ruf bitte einfach vorher an.«

»Ja, Mama, ich rufe an.« Ich versuche, nicht so genervt zu klingen, wie ich es bin.

»Mach’s gut, Amelia, und pass auf dich auf, ich grüße alle von dir«, schlägt sie vor und legt auf, bevor ich etwas dazu sagen kann.

Es ist vorbei. Endlich. Ich versinke im Sofa und zappe im Fernsehen die Programme durch. Ich entscheide mich, für Two and a half Men.

An der Eingangstür höre ich einen Schlüssel klappern, wahrscheinlich ist es Elizabeth. Ich gehe in den Flur und sehe sie mit zwei Öko-Papiertragetaschen die Tür schließen und helfe ihr, den Einkauf in die Küche zu tragen. Dabei fällt mir der Mann ein. »Elizabeth, kannst du mir einen Gefallen tun?«, frage ich vorsichtig. Ich möchte ihr nicht zur Last fallen.

»Natürlich, Darling.«

»Kannst du heute Abend kochen? Ich weiß, du kochst immer abends, aber könntest du heute für vier Personen kochen?«

»Oh, Darling, Ben und ich sind heute zum Essen eingeladen. Ich dachte, ich koche dir zum Mittag etwas?«

Mist, entweder gibt es nichts zum Essen oder ich muss meine Kochkünste herausfordern. Auf der anderen Seite will er doch nur die Jacke holen, vielleicht hat er eine Frau und Kinder und ich koche für ihn. Andererseits … Ich lasse das Schicksal entscheiden; wenn wir die Zutaten haben, koche ich, wenn nicht, dann koche ich nicht. »Haben wir alles für ein Gemüseragout?«

»Soll ich es dir kochen?«, fragt Elizabeth und ich schüttle den Kopf.

»Nein, ich koche heute Abend selbst und ihr beide geht Essen.«

»Von wem bekommst du Besuch?«

»Mir hat heute ein gut aussehender, jedoch leicht ungeschickter Mann seinen Kaffee über den Mantel geschüttet. Er will ihn heute Abend holen und reinigen lassen.« Sie schaut mich verblüfft an und ich kann es ihr nicht verdenken, weil ich noch nie jemanden in dieses Haus eingeladen habe. Kein Mann außer Jason war jemals hier.

Elizabeth grinst, ich weiß genau, was die ergraute Dame denkt, und ziehe die Braue hoch.

»Amelia, du brauchst keinen Grund, einen Mann zum Essen einzuladen. Du musst dich nicht rechtfertigen. Wo ist denn der Mantel? Du machst es richtig, anständige Männer mögen es, bekocht zu werden. Und wenn es nur Gemüseragout ist. Ben habe ich auch mit Kochen bezirzt. Man kann sehen, was es für ein Mann ist.« Sie stemmt die Arme in die Hüfte und nickt rechthaberisch. Sie erzählt mir, dass Männer, die Interesse an einer Frau haben, alles essen würden, was man ihnen serviert. Ben hat damals einen Fischauflauf gegessen und ihr gesagt, er würde super schmecken, als sie selbst probierte, wusste sie, dass er es nur gegessen hatte, weil er sie liebte.

»Elizabeth, ich will ihn nicht bezirzen. Der Mantel liegt in der Wäschekammer.« Sie wissen alle, wie ich zu Männern stehe. Ich würde mich nicht als Schlampe bezeichnen, so viele hatte ich nicht … nur komme ich im Bett eines Mannes herunter und meine Gedanken, meine Gefühle sind für einen kurzen Moment beiseitegeschoben. Ich packe den Einkauf weiter aus und gehe zurück zum Sofa. Für einen Moment halte ich inne und entscheide mich um. Mein Weg führt mich hoch ins Ankleidezimmer. Hier schaue ich mich um und ziehe meine Sportkleidung an.

Dieses Haus ist viel zu groß für mich alleine. Ich frage mich oft, warum meine leiblichen Eltern so ein großes Haus hatten und mich trotzdem weggaben.

 

Meine Hände sind einbandagiert und ich stülpe mir die Boxhandschuhe über. Meine rechte Faust schlägt zuerst auf den Sandsack ein und ein dumpfes Geräusch erklingt in meinen Ohren. Voller Energie schlage ich links-rechts-links-rechts, während ich mir den Typ vorstelle, der der Grund für meinen Zwangsurlaub ist. Bis ich k.o. bin und den letzten Schlag deutlich in den Händen spüre, die zittern. Ich husche die Treppe herunter ins Badezimmer.

Mal schauen, ob der Fremde kommt. Ich ziehe mir eine Jeans und einen Pulli an. Mit meiner Jogginghose punkte ich bestimmt nicht. Ich sah heute Morgen schon furchtbar aus, er soll nicht denken, dass ich immer so zerstört aussehe. Es ist 18:30 Uhr. Elizabeth hat mir einen Weißwein in den Kühlschrank gestellt und schrieb mir einen Zettel. Have fun. Bevor ich zu kochen beginne, trinke ich zur Beruhigung ein Glas Wein und schließlich noch eines. Seit Jasons Tod habe ich für keinen Mann mehr gekocht. Vor Aufregung spüre ich die Unruhe in mir.

 

 

Drittes Kapitel

 

Es ist 20:00 Uhr und der Fremde ist nicht gekommen. Dafür ist die Weißweinflasche halb leer – oder halb voll, jeder wie er meint. Ein wirklich guter Riesling, den mir Elizabeth hingestellt hat.

Tausend Gedanken gehen mir durch den Kopf und Panik macht sich in mir breit. Mein Herz rast, meine Hände sind feucht und mir wird ganz flau im Magen. Ich reibe meine Hände ständig an meiner Jeanshose und trinke noch mehr Wein, um mich zu beruhigen. Vielleicht war der Zusammenstoß Absicht. Warum habe ich nicht nach seinem Namen gefragt?

Ich starte meinen Laptop und schreibe währenddessen Harin und frage, ob alles okay ist.

Er antwortet gleich:

Was soll denn sein?

 

Keine Ahnung, ich bin Mama, ich mache mir immer Sorgen.

 

Mell geht’s gut, wir waren heute im Tierpark und jetzt schläft sie.

Dafür arbeitest du aber nur.

 

Er hat recht. Ich arbeite wirklich viel und ich sorge mich um Melanie. Immer. Während ich die SMS lese, schaue ich mir meine letzten Fälle am Laptop an. Das Gesicht von dem Fremden ist nicht bei meinen letzten Fällen zu sehen. Ich atme durch und lehne mich am Sofa zurück, als es plötzlich klingelt. Ich schaue auf die Uhr. Mittlerweile ist es schon 20:45 Uhr. Elizabeth und Ben haben einen Schlüssel. Mein angedudelter Kopf geht alle erdenklichen Personen durch. Mir fällt nur eine Person ein, die in diesem Augenblick klingeln könnte. Ich schaue auf den Bildschirm und sehe den Handysüchtigen in einer A-Klasse sitzen. Anstatt sich solch ein Auto zu leisten, sollte er sich besser eine Uhr kaufen. Ich drücke das Tor auf, sodass er in den Hof fahren kann, und öffne schließlich die Tür.

Der Fremde steigt aus dem Wagen; sein Gang ist steif und seine Hände vergräbt er in den Jackentaschen. Er wirkt ernst, kein Lächeln ist zu sehen, nicht wie heute Morgen. Wahrscheinlich will er nur den Mantel holen und wieder fahren und ich Doofe habe gekocht.

»Es tut mir leid, dass ich Sie habe warten lassen, ich musste länger arbeiten.«

Wenn er so gut im Bett ist, wie er aussieht, vergesse ich seine Unpünktlichkeit. »Schon wieder eine Entschuldigung.« Ich musste es einfach laut sagen und beiße mir auf die Lippe. Seine zweifarbigen Augen ruhen lange auf mir und sein Kopf ist leicht zur Seite geneigt.

»Ich hoffe, Sie haben Hunger. Als Dankeschön für die Reinigung habe ich gekocht. Wenn Sie möchten, mache ich es Ihnen warm«, sage ich und sehe ihn beschuldigend an. »Gemüseragout!«, informiere ich ihn zusätzlich und muss ein bisschen lächeln. Gott, bin ich gerade aufgeregt.

»Ja gerne, wo ist denn der Mantel?« Seine Mundwinkel ziehen sich beim Sprechen nach oben und er lächelt mich an. Herr im Himmel, hat er tolle Zähne. Ich nehme ihm seine Jacke ab und hänge sie an die Garderobe. Darunter trägt er einen schicken dunkelbraunen Pullover. Mal schauen, wie lange es dauert, bis ich ihm den herunterreißen und das weiße Hemd darunter aufknöpfen darf. Er folgt mir in die Küche und ich werde das Gefühl nicht los, dass er sich gerade lustig darüber macht, dass ich gekocht habe. Vielleicht ist es nur mein Misstrauen.

»Der Mantel hängt auf der Wäscheleine und trocknet. In den zweieinhalb Stunden, die Sie zu spät gekommen sind, habe ich ihn selbst gewaschen.« Immerhin bin ich auf etwas anderes aus als auf einen gereinigten Mantel. Dabei ziehe ich meine Augenbraue hoch.

»Oh«, antwortet er verlegen. Ich stelle ihm das aufgewärmte Essen ins Esszimmer und er folgt mir. Schließlich schenke ich mir noch ein Glas Wein ein. Bald habe ich die Flasche alleine leergetrunken.

»Wollen Sie auch ein Glas?«, winke ich mit der Flasche.

»Sehr gerne, wie heißen Sie eigentlich?«

Ich hole ihm ein Weißweinglas aus der Vitrine und schenke ihm ein. »Amelia Hasley, und Sie?«

»Neal Arndt. Sind Sie Engländerin?«

»Nein, nur die Familie meines Mannes väterlicherseits kommt aus Amerika.«

»Also sind Sie verheiratet? Und Lehrmann ist Ihr Mädchenname? Es schmeckt übrigens sehr lecker.« Er führt seine Gabel zum Mund.

Hauptsache ein Gericht kann ich gut kochen. Ein hoffnungsloser Fall nannte mich Annamaria, als sie mir Lasagne beibringen wollte, weil ich die Nudeln vorher kochen wollte und noch ein paar Missgeschicke passierten.

»Ja und nein, mein Mann ist gestorben. Lehrmann heißen Ben und Elizabeth, sie wohnen hier«, antworte ich und versuche, keine Gefühle zu zeigen. Warum habe ich das gerade erzählt? Das tue ich sonst nicht.

»Das tut mir leid mit Ihrem Mann.« Das Thema sollte schnellstmöglich gewechselt werden, sonst verlier ich mich selbst und aus meinem Plan wird nichts mehr. Ich versuche, ein Lächeln aufzusetzen. »Und Sie? Schütten Sie gerne heißen Kaffee auf Menschen?«

Neal Arndt lacht und wird leicht rot – ertappt.

»Nein, eigentlich nicht. Dieses Handy macht mich nur …« Er hört auf zu reden und starrt hinter mich. Er bewegt sich nicht mehr, als wäre er eine Skulptur. Ich drehe mich um und … An der Couch ist das Jagdgewehr von Ben noch angelehnt, Mist! Ich habe vergessen, es wegzuschließen. Ich frage mich, warum Menschen so erschrecken oder erstarren, wenn sie eins sehen. Was er wohl denkt? Ich schaue ihn an und lächle. Sein Blick wechselt zwischen mir und der Waffe.

»Was haben Sie vor?« Er legt das Besteck langsam und vorsichtig auf den Teller. »Geld brauchen Sie scheinbar nicht, also was wollen Sie?«, flüstert er und richtet den Blick auf das Haus. Er will kühl klingen, aber er hat Angst, ich sehe es in seinen Augen.

»Was?« Ich bin verwirrt und nicht, weil ich vom Wein angeheitert bin.

»Sie wollen doch bestimmt irgendetwas von mir oder besser gesagt von meiner Familie. Die meisten wollen Geld, das Ihnen offenbar nicht fehlt.« Er reibt sich vorsichtig mit einer Hand über seinen Kopf und ich fühle mich, als wäre ich im falschen Film. Ich verstehe gar nichts mehr, was denkt er von mir? Ich muss lachen und bin gleichermaßen entrüstet. Allerdings sollte ich mich beherrschen. Dieser Neal Arndt schaut mich fassungslos an und ich hole tief Luft.

»Ich bin Polizistin, ich dachte, Sie haben mir möglicherweise mit Absicht den Kaffee über die Jacke geschüttet und bin meine letzten Fälle durchgegangen. Sicherheitshalber habe ich das Gewehr von Ben herausgeholt«, kläre ich das Missverständnis auf.

Augenblicklich fängt er an zu lachen. »Also wollten Sie mich tatsächlich jagen?« Er zwinkert mir zu und ich verschlucke mich fast an meinem Wein.

»Ja«, flüstere ich. Seine Augen glänzen förmlich.

»Sie wissen also nicht, wer ich bin, oder besser gesagt, wer meine Familie ist?«, fragt er mich mit seiner dominanten und dennoch herzlichen Stimme.

Ich merke gerade den Alkohol und fange erneut an zu lachen und kann nicht mehr aufhören. Gott, mir ist plötzlich total heiß durch den Lachflash. Mein »Nein!« schallt nur aus mir heraus, was mir ziemlich unangenehm ist. Sein Lachen klingt so warm und geht mir durch und durch, vor Schreck höre ich abrupt auf.

Er bemerkt es und schaut mir in die Augen. »Tut mir leid, ich habe nur den Laptop und das Gewehr gesehen und habe an alles gedacht, bloß an das Plausibelste nicht. Tut mir leid.«

Schon wieder eine Entschuldigung, ich beruhige mich langsam. »Und wer sind Sie oder besser gesagt Ihre Familie?«                                  

»Ein ganz normaler Mann mit einer ganz normalen Familie«, sagt er und lächelt verschmitzt.

Ich stehe auf, laufe zum Couchtisch und biete ihm einen Platz auf dem Sofa an. Ich nehme die Flinte und bringe sie dorthin, wo sie sein sollte. Während ich durch das Haus laufe, überlege ich, wie ich ihn aus der Reserve locken kann. Mir dämmert es, warum die Leute in der Bäckerei mich so komisch angeschaut haben. Anscheinend ist der Fremde bekannt in Hamburg. Irgendwie nimmt das Ganze nicht die Richtung an, die ich gerne hätte. Flirten ist wirklich nicht mein Ding, nur wenn ich der Arbeit wegen verdeckt ermitteln muss, klappte es. Das ist kein Job, sondern mein Leben, hole ich mir in Erinnerung. Vielleicht muss ich einfach ein paar Fragen stellen, damit er warm wird. Hoffentlich wird das hier kein Reinfall. Wenn er einen gewissen Bekanntheitsgrad hat, wird er bestimmt vorsichtig sein.

Als ich ins Wohnzimmer komme, sitzt er auf dem Sofa und kommt mir zu vor.

»Ist Ihr Mann im Dienst gestorben?«

Ich bleibe direkt vor ihm stehen.

Er schaut mich an, beugt sich vor und nimmt meine Hand in seine.

Mir stockt der Atem, nicht wegen der Frage, sondern wegen dieser Berührung. Wir schauen uns an und keiner sagt etwas, als würde kurz die Zeit stehen bleiben. Es ist komisch, wir sind zwei Fremde, doch die Berührung fühlt sich vertraut an. Als hätten wir uns schon einmal berührt.

»Sie müssen nicht antworten«, ergänzt er.

Ich setze mich im Schneidersitz neben ihn auf die überteuerte, braune Wildleder-Wohnlandschaft. Jason fand sie toll und ich ließ mich zum Kauf überreden.

Ich schaue Neal an und überlege kurz, was ich sage. »Ja, er ist im Dienst gestorben«, antworte ich ehrlich. Neal ist ganz still und wendet den Blick von mir ab und reibt sich am Kopf. Es ist ihm unangenehm, mir so eine persönliche Frage zu stellen, obwohl wir uns nicht kennen. »Es passierte vor rund drei Jahren. Berufsrisiko. Sie haben also ein Problem mit Handys?«, wechsle ich das Thema und versuche, meinen Kloß, den ich gerade im Hals habe, zu unterdrücken. Er verzieht seinen Mund und seine Zähne kommen wieder zu Geltung.

»Nein, technisch gesehen ist ein Handy kein Problem. Sagen wir, es bringt einen in einen Teufelskreis.«

»Also, du bist viel beschäftigt?«

Er nimmt sich die Weinflasche, schenkt sich noch ein Glas ein und verzieht das Gesicht. Die Flasche ist somit leer. »Ich wusste gar nicht, dass wir nun beim du angekommen sind.« Ernsthaft, das stört ihn?

»Mein Großvater hat ein Bauunternehmen aufgebaut. Dieses Unternehmen ist ziemlich bekannt, ich bin sozusagen Architekt und Immobilienhändler, kaufe Häuser, renoviere sie und lasse sie verkaufen. Dasselbe mache ich mit Firmen.« Er ist also Architekt und Unternehmer. Ich wohne nicht hier, ich muss dieses Unternehmen nicht kennen. Rede es dir nur ein. Amelia, du lebst hinter dem Mond.

»Du sitzt auf meinem Sofa und trinkst meinen Wein, ich denke, ich darf Du sagen«, kontere ich und ziehe meine Augenbraue hoch. Eins zu Null für mich.

»Tja, was soll ich da noch sagen? Wenigstens kenne ich die Menschen, die man in unserer Stadt kennen sollte.« Okay, er ist ganz schön eingebildet oder seine Familie scheint wirklich bekannt zu sein – oder beides, eingebildet, weil er bekannt ist. Das wird es wohl sein.

»Ich komme nicht von hier, ich wohne in Berlin. Dieses gigantische Haus habe ich geerbt und komme nur her, um die Ruhe zu genießen.«

»Aus Berlin? Du sprichst nicht wie eine Berlinerin … und wir sind ebenso dort tätig.« Er ist besser im Ausfragen als ich. Amelia, was ist nur los mit dir? Das ist dein Job.

»Du redest auch nicht wie ein Hamburger.« Ich muss anfangen zu lachen, weil ich an das Essen, Hamburger, denken muss. Ja, ich bin eindeutig angedudelt und muss mich beruhigen. Neal schaut mich an, ich werde ganz rot und mir ist heiß, als ob er mein Innerstes sehen könnte.

»Du siehst wunderschön aus, weißt du das?« Er leckt sich über die Lippe und ich … ich starre ihn an und kaue auf meiner Unterlippe wie ein nervöser Teenager.

Was macht dieser Kerl nur mit mir? Ich will nur vögeln, doch wir führen gerade eine Konversation, wie ich sie schon lange nicht mehr geführt habe. Ich stelle das Glas auf den Tisch und setze mich aufrecht auf das Sofa. Wir schauen uns in die Augen und keiner sagt etwas. Mein Herz rast und meine Hände zittern. Er kann mir doch nicht nach so kurzer Zeit so ein Kompliment machen. Das ist nicht Teil des Plans. Es kommen Gefühle hoch, die nicht abgemacht waren. Bekommt er so Frauen ins Bett?

Ein Handy surrt. Die Vibration holt mich zurück in die Realität. »Das ist meins!«, springe ich auf und gehe schnell dran.

»Harin, Harin, was ist los?«, rufe ich ins Telefon und gehe ein Stück vom Sofa weg.

»Melanie hat schlecht geschlafen und wollte mit dir telefonieren. Ich gebe sie dir.« Mir steigen Tränen in die Augen. Mein Löckchen, wie gerne würde ich sie in diesem Augenblick auf den Arm nehmen.

»Mami, ich hab böse geträumt, ich vermisse dich.« Warum bin ich nur ohne sie hier her gefahren?

»Ich vermisse dich auch mein Schatz, willst du mir erzählen, was du geträumt hast?« Sie träumte von riesigen Monstern und Geistern. Wie kommt sie darauf? Man verarbeitet doch sein Erlebtes, Ängste oder Ähnliches, wenn man schläft. Wenn ich zu Hause bin, muss ich mich danach erkundigen.

»Mama, kannst du ein bisschen singen für mich?«

Ich gehe aus dem Wohnzimmer heraus. Neal muss mich nicht singen hören und vor allem keine Schlaflieder.

Alle Strophen von dem Lied ›Wisst ihr, was die Bienen träumen‹ singe ich und wenn mir der Text nicht einfällt, summe ich die Melodie.

»Siehst du, du kannst auch so für Melanie da sein.« Harin ist am anderen Ende zu hören.

»Das ist nicht dasselbe, Harin, ich sollte vielleicht morgen wieder kommen. Ich …«

Er unterbricht mich. »Nein, du brauchst die Zeit für dich, Annamaria stimmt mir zu, bleib in Hamburg.«

Ich höre Annamaria ins Telefon rufen: »Es war nur ein Alptraum, du entwickelst dich in null Komma nichts zur Übermutti, vertrau mir.«

Ich rolle die Augen und drehe mich um, um zu Neal ins Wohnzimmer zu gehen. Wir stoßen beinahe zusammen, als er plötzlich im Türrahmen auftaucht. Hoffentlich hat er nicht alles mitbekommen. Ich möchte nicht, dass er etwas missversteht. Ich weiß wirklich nicht, was ich hier mit ihm überhaupt mache, ich wollte nur … »Okay, ich bleibe. Oder ich hole sie her?«

»Gib sie mir bitte«, höre ich Annamaria. »Du bleibst dort, komm ja nicht auf die Idee, zurückzufahren. Ich wünschte, ich hätte diese Auszeit früher manchmal bekommen. Genieße es. Und nein, du holst sie auch nicht. Keine Widerrede.«

Ich ziehe eine Augenbraue hoch und gebe klein bei. »Gute Nacht«, sage ich und lege auf.

Neal steht noch immer in der Tür und beobachtet mich. Seine Hände haben in seiner Hosentaschen am Po Platz gefunden.

»Wie lange stehst du schon da?«

»Sagen wir es so, ich empfehle dir keine Gesangskarriere. Trotzdem war es sehr schön mit anzuhören. Wie alt ist sie?«

»Drei Jahre.«

Er nickt.

Dieses Gefühl, das ich eben gespürt habe, kommt erneut in mir auf. Neals zweifarbige Augen ruhen einen Tick zu lange auf mir. Was hat dieser Kerl nur an sich? Ich würde ihn so gerne sofort auf die Arbeitsplatte ziehen und ihn zwischen meinen Beinen spüren.

Der Anruf hat mich komplett nüchtern werden lassen. Ich war ja nicht betrunken, leicht angetrunken würde ich es nennen. Mein Blick schwenkt zur Uhr, es ist halb zwölf. So spät ...

»Ich sollte fahren, ich muss morgen früh aufstehen und möchte niemanden mit Kaffee bekleckern.«

Neal hat recht – oder hat ihn das Telefonat mit Melanie verschreckt? Andererseits gehört sie zu mir und ich will sowieso keine Beziehung mit ihm beginnen. Ich wollte nur … aber es ist egal. Er geht und ich werde ihn nicht mehr sehen. Dann habe ich eben völlig umsonst gekocht. Morgen könnte ich mir einen anderen Kerl suchen, vielleicht wird das einfacher. Es ist wirklich erbärmlich, mein letztes Mal war mit Harin.

»Okay.« Ich bringe ihn zur Tür und reiche ihm seine Jacke.

»Das Essen war sehr lecker, danke dafür.« Neal gibt mir einen Zettel, auf der eine Nummer steht, welche doppelt unterstrichen ist. »Ich würde dich gerne wiedersehen. Melde dich, Amelia.«

Ich halte ihn fest und er schaut mich mit seinen unwiderstehlichen Augen an. Wie er meinen Namen gesagt hat ... Ein Gefühl krabbelt meinen Rücken hoch und ich bekomme Gänsehaut. Dieses Gefühl berauscht mich. Ich ziehe ihn ein Stück zu mir und küsse ihn ohne Vorwarnung. Er drückt mich gegen die Wand und erwidert meinen Kuss. Wir atmen schwer, seine Hände halten mein Gesicht fest, seine Zunge will Einlass in meinen Mund und ich gewähre sie ihm.

Jetzt bekomme ich doch noch das, was ich will. Mir wird ganz heiß. Sein ganzer Körper drückt sich gegen meinen und ich spüre, wie erregt er ist.

Plötzlich hört er auf, schaut mir in die Augen und lächelt. Was ist los? Er soll weitermachen. »Ich muss, melde dich.« Neal löst sich von mir, läuft die Stufen herunter, steigt in sein Auto und fährt weg, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Ich schaue ihm nach und schließe das Tor und die Tür. Dieser Mann. Was hat dieser Mann nur an sich? Ich habe noch nie einen Mann aus heiterem Himmel geküsst und habe ebenso wenig Verlangen danach, geküsst zu werden, seit Jason tot ist.

Im Wohnzimmer räume ich noch auf und meine Gedanken sind bei Neal. Später, als ich im Bett liege, tippe ich die Nummer von Neal in mein Handy. Ob ich ihm schreiben soll? Oder wäre das zu aufdringlich? Ich möchte keinesfalls wie eine einsame, verwitwete Frau wirken, die es nötig hat. Auch wenn es stimmt. Es hilft mir, für ein paar Minuten Luft in meine gequälten Gedanken zu bekommen. Warum bringt mich dieser Kerl nur so um den Verstand?

Ich öffne den Nachrichtendienst, tippe auf seinen Namen und schaue mir sein Profilbild an. Auf dem Bild sieht er ganz anders aus. Er ist bis zu den Schultern sichtbar, er trägt ein schwarzes Sakko und ein weißes Hemd. Sein Lächeln reicht nicht bis zu den Augen. Er sieht angespannt aus. Ich tippe.

 

Ich hoffe, du bist gut nach Hause gekommen.

Ich wünsche dir eine gute Nacht.

Amelia

 

War doch gar nicht so schwer. Ich lege mich auf die Seite und schaue mir Bilder von Melanie an.

 

 

 

 

 

 

Viertes Kapitel

 

Es ist neun Uhr und ich stehe langsam auf. Als ich unten in der Küche bin, sitzen Ben und Elizabeth noch am gedeckten Frühstückstisch. Für mich ist auch schon gedeckt. Anscheinend bin ich nicht die Einzige, die lange geschlafen hat. Ich kann mich nicht daran erinnern, in den letzten drei Jahren zwei Nächte hintereinander so lange geschlafen zu haben und das ohne Alptraum, wie in der letzten Nacht. Das liegt bestimmt an der Hafenluft.

Während Ben die Zeitung liest und Elizabeth den Rätselteil löst, sehen sie glücklich aus. Manchmal sind die beiden echt gruselig, weil sie sich nur mit Blicken verständigen oder stundenlang miteinander reden; offenbar ist es nach dreißig Jahren Ehe normal. So wäre es mit Jason und mir sicherlich ebenfalls gelaufen.

Elizabeth schaut zu mir und hat ein Lächeln im Gesicht. Schließlich wirft sie Ben einen Blick zu und stupst ihn mit dem Fuß unter dem Tisch an. Als ob ich das nicht mitbekommen würde. Sofort hört Ben auf zu lesen und guckt mich an.

Da fällt mir ein, dass ich noch nicht nachgesehen habe, ob Neal geantwortet hat. Mein Handy liegt noch auf dem Tischchen neben meinem Bett. Mist.

»Du lächelst so. Dein Gast war wohl da?«, fragt Ben schmunzelnd.

»Hat ihm dein Essen geschmeckt? Und der Wein war bestimmt ein Genuss?« Elizabeth zeigt auf die leere Flasche neben der Spüle und quetscht mich weiter aus.

»Er kam zweieinhalb Stunden zu spät und schließlich dachte er, ich würde irgendetwas von ihm wollen, Geld oder so, weil seine Familie wohl bekannt sei. Ich war bereits etwas angeheitert vom vielen Wein, als er kam. Mein Essen hat ihm geschmeckt und er würde mich gerne wiedersehen.« Ich rümpfe die Nase beim letzten Satz. Es ist merkwürdig, dass er mich wiedersehen will. Das ist nun wirklich nicht meine Art. Doch irgendwas in mir will es auch.

»Warum dachte er, du wolltest etwas von ihm, du hast ihm hoffentlich keine Angst gemacht?«, hinterfragt Ben und schaut über seine silberne Brille. Er kennt mich einfach und weiß, wie schräg ich manchmal bin.

»Wer ist denn der Mann? Vielleicht ist er ja wirklich bekannt?«

Ich habe gehofft, sie geben sich mit meiner Antwort zufrieden. Sie wissen, dass ich es nicht mag, ausgefragt zu werden. Männergeschichten hören sie von mir gerne. »Neal Arndt hieß er. Keine Ahnung.« Ich zucke mit den Schultern, weil mir eigentlich egal ist, wer er ist oder wie sein Stammbaum aussieht.

»Arndt? Arndt das Bauunternehmen? Der Arndt?«

Ich nicke. Langsam vermisse ich die Gespräche über rosa Einhörner und Prinzessinnen. Da werde ich nicht ausgefragt. Nicht so jedenfalls. »Amelia, weißt du, was die machen?«

Warum betont Elizabeth das so? Sie hat für meine Eltern gearbeitet und die waren bestimmt auch reich. Ob eine Million oder mehr, das ist doch egal. Reich ist reich.

»Na, ich hoffe, das ist keine Mafia«, lehne ich mich zurück und trinke meinen grünen Tee genüsslich.

»Amelia, immer frech und einen Spruch auf Lager.« Ben lacht. Anscheinend findet er es genauso amüsant wie ich, dass Elizabeth so außer sich ist.

»Die Familie Arndt ist eine sehr wohlhabende Familie, Amelia. Sie engagieren sich wohltätig und machen oft Spendenveranstaltungen und sogar Galas. Das Bankett bezahlen sie selbst und die Spenden gehen wirklich an die Stiftungen. Sie sind in ganz Deutschland tätig. Hast du noch nie von ihnen gehört oder gelesen? Du solltest endlich anfangen, Zeitung zu lesen.«

»Nein, habe ich nicht, ich mache mir halt nichts aus reichen Menschen. Mir ist das egal. Zeitungen sind wie Nachrichten, sie schreiben oft nur die negativen und kaum freudige Ereignisse.« Ich stehe auf und räume meinen Teller in die Spülmaschine. »Ich komme gleich wieder«, rechtfertige ich mich und verlasse den Raum. Ich flüchte vor den vielen Fragen und hole mein Handy. Zwei Nachrichten. Beide von Neal. Offenbar bin ich relativ schnell eingeschlafen, die erste Nachricht kam unmittelbar nach meiner.

 

Bin gut nach Hause gekommen, danke der Nachfrage.

Wünsche eine gute Nacht und schöne Träume.

Neal

 

Guten Morgen,

bin kurzfristig zu einem Geburtstag eingeladen,

begleitest du mich? Ich würde mich freuen.

Falls du in Hamburg bleibst.

Neal

 

Anscheinend hat er mitbekommen, dass ich überlege, zurückzufahren.

Ich laufe zurück in die Küche.

»Na, dein Verehrer hat dir wohl eine Nachricht gesendet.«

Meine Augenbraue zieht sich nach oben, ich merke selber, dass ich am Dauergrinsen bin. Obwohl ich eigentlich nur flachgelegt werden wollte. Wenn ich mich entscheiden sollte, ihn zu begleiten, hole ich mir das heute ab.

»Sie spricht nicht mehr mit uns, Elizabeth.«

Ich hebe den Kopf. »Er ist nicht mein Verehrer. Was für Freunde hat denn die Familie Arndt?«

»Das wissen wir nicht, wahrscheinlich auch wohlhabende Menschen. Warum denn?«

»Elizabeth, sei nicht immer so neugierig«, mahnt Ben sie.

»Kind, was überlegst du denn?« Elizabeth kann einfach nicht aufhören.

»Er ist zu einem Geburtstag eingeladen und möchte, dass ich ihn begleite. Ich bin nicht sicher, ob ich ihm den Gefallen tun soll. Außerdem habe ich nichts Passendes zum Anziehen. Ich kenne ihn auch kaum.«

»Papperlapapp, sag zu, du hast nichts zu verlieren. Oder willst du an deinem ersten freien Freitagabend bei uns alten Leuten sitzen?«

Elizabeth hat recht, was habe ich zu verlieren? Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Wobei ich gerne bei den alten Leut sitze, wie sie sagt. Den Geschichten vergangener Tage lauschen und Karten spielen …

Ich ziehe mein Handy hervor und tippe:

 


Gerne. Gibt es einen Dresscode

oder sind Jeans und Pulli okay?

Amelia

 

Kein Dresscode ;)

Jeans und Pulli sind super.

Ich freu mich, bin um 19:00 Uhr da.

(Wirklich 19:00 Uhr)

Neal

 

Okay bis dann

Amelia

Ich hole tief Luft. »Ich habe zugesagt, um 19:00 Uhr holt er mich ab. Übrigens sitze ich gerne bei euch alten Leuten.«

Elizabeths Grinsen ist breit und ihre Lachfalten sind sehr ausgeprägt.

»Na siehst du, war doch nicht so schwer. Und wenn etwas sein sollte, rufst du an. Wir holen dich.« Sie klingen schon wie meine Eltern …

Ich nicke und helfe ihnen beim Tischabräumen. Danach rufe ich Bill an und frage, wie es bei der Arbeit aussieht. »Baby es läuft«, um es mit seinen Worten auszudrücken. Er erzählt mir, dass mein Ausraster ziemliche Wellen geschlagen hat. Nun versucht unser Chef zu schlichten. Tja, wer kann, der kann; mich zu reizen, ist oft nicht gut. Meine Gefühle lenken eben manchmal mein Handeln. Wobei das wirklich ein Fehler war, was ich letzte Woche abgezogen habe.

Danach rufe ich Harin an. Melanie erzählt mir, dass sie heute zu Hause bleiben darf und ich in Hamburg bleiben soll und sie mich vermisse. Harin und sie wollen noch ins Kino, ins Aquarium und zu einer Künstlerin, das wäre eine Überraschung für mich. Solange darf ich nicht nach Hause kommen. Sie ruft mich heute Abend an und ich soll für sie singen.

Wenn ich ihre Stimme höre, geht die Sonne in meinem Herzen auf, an Stellen, an denen es häufig kalt und dunkel ist. Im Kindergarten haben sie oft Spaß mit ihr. Von Kackklößchen, die Annamaria kocht, bis zur Aussage, sie wird Anwalt, weil die gut verdienen, weil das Opa Edmund sagt und Opa Edmund, der weiß alles und der weiß es, weil Oma Corinna Anwältin ist. Sie sagten, sie wüsste schon ganz genau, was sie will, vor allem hat sie alle im Griff. Ich möchte gar nicht wissen, was die Erzieherinnen über unser Leben alles erfahren. Ich schüttele den Kopf und lache.

Das heiße Wasser prasselt auf mich und ich genieße es. Ich steige aus der Dusche und ziehe mir eine enge schwarze Jeans und einen graublauen Pullover mit einem breiten Ausschnitt bis zu den Schultern an. Ich schminke mich dezent und lasse meine Haare offen.

Es klingelt, ich blicke auf die Uhr und tatsächlich, es ist Punkt 19:00 Uhr.

Elizabeth schaut mich an und drückt mich. »Have fun und wenn wir dich holen sollen, ruf uns an.«

Sie kümmern sich rührend um mich und das, obwohl ich mit achtundzwanzig Jahren schon alt genug bin, um selbst auf mich aufzupassen.

Neal steigt aus seinem Auto, gibt mir einen Kuss auf die Wange und öffnet mir die Seitentür. Gentlemanlike. Let’s go. Mein Herz rast. Das ist absolut nicht mein Ding. Abgeholt zu werden für etwas, das ebenso wenig mein Ding ist. Geburtstagsfeiern von Fremden.

»Du siehst wunderschön aus.« Schmeicheln kann er, das bin ich nicht gewohnt und es ist mir ein bisschen unangenehm, ständig Komplimente zu bekommen. Gestern tat er es auch schon.

»Danke, du auch.« Mir fällt nichts Besseres ein und er sieht wirklich gut aus.

»Danke, ich habe mir große Mühe gegeben, aber so einen schicken Mantel habe ich leider nicht«, antwortet er amüsiert.

»Vielen Dank. Er ist frisch gewaschen, irgendein Vollidiot hat mir gestern Kaffee darüber geschüttet«, feixe ich und drehe mich einmal um meine eigene Achse, bevor ich ins Auto steige. Neal lacht und schließt die Autotür. Er läuft ums Auto herum, steigt ein und startet das Auto.

»Wie war dein Tag?«, versuche ich, etwas Smalltalk zu beginnen, um die unangenehme Stille zu verhindern.

»Gut, ich freue mich, dass du mitkommst.« Ich lächle, denn er sagt es in einem ernsten und aufrichtigen Ton.

»Wer ist dein Freund und wie alt wird er?«

»Dominik Behren, er wird 34. Nichts Großes, nur eine kleine Runde mit Freunden, es gibt Essen und etwas zu trinken, ich möchte dennoch nicht lange bleiben.« Definiere ›nicht groß‹ und was heißt denn, er möchte nicht lange bleiben? Will er etwa noch etwas anderes machen? Mir reicht eine Aktivität am Abend. Außer er will mich vögeln, damit wäre ich einverstanden. So hätte ich mein geplantes Ziel mit ihm erreicht.

»Okay, hast du noch etwas anderes vor?«

Er lacht. »Natürlich habe ich noch etwas anderes vor, ich möchte dich kennenlernen und ein Geburtstag ist nicht der richtige Ort dafür. Meinst du nicht auch?« Mit dieser Antwort habe ich nicht gerechnet, ein richtiges Date hatte ich nie. Das heute Abend fühlt sich genauso wenig wie eins an, dennoch glaube ich, es kommt dem schon ganz nahe. Darauf bin ich überhaupt nicht eingestellt. Kennenlernen … Nicht mal mit Jason hatte ich ein Date.

Ich hoffe, ich habe mir nicht umsonst meine heißen Dessous angezogen.

Neal biegt in eine Einfahrt durch ein weißes Tor, welches offen steht. Wir fahren direkt auf einen großen, weißen Bungalow zu. Überall sieht man Lichter in den Fenstern. Fast wie an Weihnachten.

»Wir sind da«, sagt er und lächelt mir kurz zu.

Ich steige aus dem Auto und bin ein bisschen nervös. So reiche Leute wollen meistens irgendetwas bei uns im Revier, aber ich feiere keine Geburtstage mit ihnen.

Neal kommt zu mir, nimmt meine Hand und küsst sie. Es ist ein seltsames Gefühl. Mit einem fremden Mann, welchen ich kaum kenne und der so charmant ist, auf eine Geburtstagsparty zu gehen. Ich spiele das Spiel mit, nur um das zu bekommen, was ich will. Wenn ich in Berlin bin, sehe ich ihn sowieso nicht wieder.

Er klingelt. Ich kenne weder Gastgeber noch Gäste. Was habe ich mir nur eingebrockt?

»Du wirst dich bestimmt amüsieren. Dominik ist sehr nett, er ist mein bester Freund. Es ist wirklich ganz klein gehalten.« Na toll, der beste Freund. Nett? Ich verkneif mir jeglichen weiteren Kommentar. Nett ist die kleine Schwester von Scheiße. Die Tür geht auf.

»Neal, endlich, wir warten schon auf dich.« Es macht uns ein großer, dunkelbrünetter Mann die Tür auf. Der Typ sieht aus wie gemalt, keine Makel und er strahlt wie ein Honigkuchenpferd.

»Happy Birthday, alter Mann.« Er gibt ihm eine Flasche Whiskey in die Hand und klopft ihm auf die Schulter.

Dominik mustert mich und lächelt. Den Whiskey könnte ich gerade gut gebrauchen. »Du musst Amelia sein, ich bin Dominik. Neal, du hast nicht übertrieben, sie ist tatsächlich hübsch anzusehen.« Hübsch anzusehen? Ich bin doch keine Puppe.

»Danke schön, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.« Was hat denn Neal schon über mich erzählt? Wir kennen uns schließlich gar nicht.

Ich gehe mit den beiden Männern einen langen Flur entlang. Überall hängen Fotos von einer blonden Frau. Sehr gute Fotos, nichts Aufreizendes. Es sind Porträts. Ich höre Gelächter und Stimmen. Wir laufen direkt in ein großes Wohn- und Esszimmer hinein.

»Ihr könnt euch dort hinsetzen, wir haben mit dem Essen auf euch gewartet. Wir wissen ja, Pünktlichkeit ist keine Stärke von dir, Neal.«

Ich muss grinsen, wo Dominik recht hat, hat er recht. »Was ist so lustig?«, fragt Neal eingeschnappt. Man merkt sofort, dass es gespielt ist.

Ich zucke mit den Schultern. »Keine Ahnung.«

Es ist, wie Neal sagte: eine kleine Runde, mit ihm und mir sind es vier Männer und vier Frauen. Eine der Frauen ist die auf den Fotos im Flur. Real sieht sie noch schöner aus. Sie lächelt mich an und reicht mir die Hand. »Hi, ich bin Lilly, Dominiks Freundin.« Sie wirkt leicht aufgedreht.

»Amelia. Tolle Fotos sind das von dir im Flur«, stelle ich mich vor. Sie trägt ein rotes, hochgeschlossenes Kleid mit langen Ärmeln, das unten sehr kurz ist. Sie sieht genauso makellos aus wie Dominik.

»Danke, ich konnte Dominik leider nicht davon abhalten, sie hinzuhängen«, sagt sie lachend. »Wenn du willst, kann ich dir nach dem Essen das Haus zeigen.«

Neal läuft mit mir zu den anderen vier. Er gibt den Männern kumpelhaft die Hand und den Frauen bei einer flüchtigen Umarmung einen Kuss auf die Wange. Er schiebt mich vor sich und legt seine Hand um meine Hüfte.

»Ich möchte euch Amelia Hasley vorstellen«, sagt er und ich reiche meine rechte Hand der rothaarigen Frau.

»Hallo«, versuche ich mich vorzustellen, doch sie nimmt meine Hand nicht an und die anderen tun es ihr gleich. Die Rothaarige verzieht ihr Gesicht, obwohl sie bei Neals Umarmung noch so gestrahlt hat, als würde sie sich freuen, Neal zu sehen. Die andere schaut mich an, als wäre ich ein Niemand. Ihre Augen fahren meinen Körper ab und bleiben bei meinen Schuhen hängen. Es sieht aus, als würde sie meine Schuhe genau begutachten und feststellen, dass meine Stiefeletten nur von Gabor und nicht von irgendeinem High-Society-Modemogul sind. Sie richtet ihren Kopf wieder zu mir und zieht ihre Mundwinkel nach oben, doch ein Lächeln ist es nicht. Die zwei Männer achten überhaupt nicht auf mich und unterhalten sich weiter, als wäre nur Neal hier. Er räuspert sich bei dem Benehmen seiner Freunde. Seine Augen leuchten nicht mehr so hell wie vorher. Er schiebt mich von ihnen weg zu unseren Sitzplätzen, ohne mit mir oder ihnen weiterzureden.

Es steht ein großer Teller vor mir und drei Gläser. Ein Wasserglas, ein Rot- und ein Weißweinglas.

»Was möchtest du trinken, Amelia? Es gibt Pizza«, informiert mich Dominik.

Ich entscheide mich für Wasser. Ich kann nicht jeden Tag Wein trinken und falls mir jemand hier blöd kommt, muss ich bei klarem Verstand sein. Ich bin froh, dass es nicht so vornehm wie erwartet ist. Pizza ist nun wirklich kein Essen, welches man sich bei Reichen vorstellt. Während des Essens bekomme ich mit, dass die zwei anderen Frauen Nicole und Nadine heißen und die dazugehörigen Männer Elias und Lukas. Nicole hat naturrote gewellte Haare, ist klein und sieht aus wie aus einer Modezeitschrift. Sie ist mit Elias zusammen und tuschelt viel mit Nadine. Ab und zu bekomme ich Gesprächsbrocken von ihnen mit. Sie unterhalten sich über die neusten Modetrends und Maniküre. Nadine und Lukas sind auch ein Paar. Sie sehen aus, als wären sie im Urlaub gewesen und Nadines Sommersprossen im Gesicht kommen kaum zur Geltung. Lukas erinnert mich an diese typischen, amerikanischen Footballspieler: groß, breit und ansehnlich. Neal redet noch über einen Norman, der wohl auch zu diesem Freundeskreis gehört. Lilly mischt sich bei den Gesprächsthemen der vier Männer immer mal ein. Nicole und Nadine sind genauso verhalten zu ihr wie zu mir.

»Neal, du hast letztes Wochenende einen grandiosen Abend versäumt«, erwähnt Elias. Neal hebt seinen Kopf und nickt desinteressiert. »Nein, wirklich, es war sehr gut. Die Bar war ziemlich schick und es gab Champagner und Wein aus Frankreich«, redet Elias weiter und versucht, Neal in das Gespräch mit einzubeziehen. Neal schaut zu Lilly und Dominik.

»Es war ziemlich voll«, berichtet Dominik und Neal nickt. »Die Musik war gut und der Champagner hat nur 150 Euro die Flasche gekostet.«

Ich hoffe, ich schaue nicht so entsetzt, wie ich bin, als Lukas es erzählt. 150 Mücken für eine Flasche Champagner. Wir betonen das Wort NUR nochmal. Ich schaue in die Runde und höre weiter zu.

Lilly räumt den Tisch ab, ich stehe auf und helfe ihr. Ich muss unter diesen Leuten irgendetwas tun. Nur rumsitzen und mich beglotzen lassen kann ich nicht ausstehen. Das erinnert mich an die Zeit, als Jason starb. Keiner redete mit mir, alle glotzten mich bloß an.

»Du musst mir nicht helfen«, sagt Lilly freundlich.

»Ich möchte aber und es geht viel schneller so.«

Sie lacht. »Das stimmt und ich hasse es. Wenn wir fertig sind, zeige ich dir das Haus«, sagt sie, ohne dass ich darum gebeten habe. Wir entscheiden uns noch, abzuwaschen. Sie ist wirklich sehr lieb im Gegensatz zu den anderen beiden Frauen. Sie sehen sehr eingebildet und von sich selbst überzeugt aus. Wir gehen ins Wohnzimmer zurück und Lilly reicht mir mein Glas. Ich weiß eigentlich gar nicht, warum ich das gerade alles mitmache. Wenn Bill das wüsste, er würde sich kaputtlachen und blöde Witze reißen. »Komm mit, es dauert eine Weile. Neal, ich zeig Amelia das Haus. Ich hoffe, du schaffst das hier ohne sie«, betont sie zum Schluss.

Dominik schaut Lilly liebevoll an und gibt ihr einen Kuss. »Viel Spaß«, sagt er und sie schauen uns hinterher.

Sie zeigt mir jeden Raum. Das Haus ist atemberaubend und wunderschön eingerichtet, bis ins kleinste Detail ist alles bedacht. Die meisten Räume sind verputzt. Keine Tapeten, keine Fliesen. Der Flur ist mit Marmorfußboden ausgestattet, an den Wänden hängen Lillys Porträts. Jedes Zimmer ist stilvoll und modern eingerichtet. Man könnte denken, man ist in einem Möbelgeschäft oder Musterhaus gelandet.

»So wie du gerade alles anschaust, sieht Neal dich an. Er ist hin und weg von dir, Amelia. Man kann es ihm nicht verdenken.« Ich fühle mich geschmeichelt, warum ist sie bloß so lieb zu mir?

Neal und ich kennen uns seit gestern Morgen. Ich denke, sie bildet sich das ein. Ohne dass ich etwas sage, fährt sie fort.

»Das ist mein Ernst. Ich bin seit vier Jahren mit Dominik zusammen und seitdem hat Neal keine Frau mit zu uns gebracht. Soweit ich weiß, ist seine letzte Beziehung schon eine Weile her, sechs Jahre oder so. Kaum zu glauben, bei dem Anblick von einem Mann.« Sie lacht. Lilly scheint von fröhlicher Natur zu sein. Sie lacht viel, genauso wie Neal. Entweder grinst sie oder lacht eben.

Neal ist hin und weg von mir? Das kann ja was werden.

Ich bin nicht der Typ Frau, der jemandem das Herz bricht. Ich bin allerdings auch nicht der Typ Frau, dem das Herz gebrochen wird. Ich bin der Typ Frau, der nur gerne vögelt. Ganz einfach. Spaß haben und fertig.

»Ich bin froh, dass er endlich eine Frau mitbringt und du bist anscheinend ganz normal. Oder hast du irgendwelche Macken?« Dabei zeigt sie mit ihren Händen Gänsefüßchen in die Luft. Oh je, Macken habe ich genug. »Mal im Ernst, Amelia, die anderen beiden mag ich nicht, sie reden kaum und lächeln so dümmlich. Sie sind einfach nur gut im Bett und hinter dem Geld her, das Lukas und Elias verdienen. Sie haben noch nie gearbeitet. Sie sind Tochter von Beruf. Frag lieber nicht.«

Lilly schleudert ihre Hände hin und her und redet und redet und redet und ich bekomme ein schlechtes Gewissen gegenüber Neal, weil ich nur Spaß möchte und Lilly und Dominik so nett sind.

»Komm, ich zeig dir noch schnell den Pool und danach gehen wir zurück.« Sie redet extrem viel und erzählt mir alles über das Haus. Dennoch ist sie mir sympathisch, glaube ich. Irgendwie erinnert sie mich an Bill, nur in weiblich.

»Den Pool? Im Haus?« Oh Gott, habe ich das gerade wirklich laut gesagt?

Lillys dunkelgrünen Augen strahlen. »Ja, das ist das i-Tüpfelchen. Neal hat das extra für uns geplant.«

»Wahnsinn«, stolpert es aus mir heraus, als wir ein Stockwerk tiefer sind und ich ihn sehe.

»Danke«, sagt eine tiefe Stimme, die mir eine wohlige Gänsehaut gibt. Lilly und ich drehen uns um. Es ist Neal. »Wir sind doch noch gar nicht lange weg, Neal. Ist die Sehnsucht schon so groß?«

Er zieht eine Augenbraue hoch und gibt Lilly ein Zeichen, dass sie uns alleine lassen soll.

Sie zwinkert mir zu und winkt.

Das Wasser lässt das wenige Licht hier unten wie Kristalle schimmern, die durch den ganzen Raum schweben.

»Na, wie gefällt dir das Haus?«

»Es ist atemberaubend. Hast du es geplant?«

»Nein, nur den Pool. Dominik hat es gekauft und wollte im Keller einen Pool haben. Ich habe es möglich gemacht.« Er ist sichtlich stolz darauf, für seinen besten Kumpel so etwas gemacht zu haben.

»Wollen wir zurückgehen?«, frage ich ihn. Mein Herz schlägt bis zum Hals, ich habe das Gefühl, dass meine Stimme zittert.

Neal kommt näher. »Nein«, antwortet er und grinst anmutig, als ob er etwas im Schilde führt. Er nimmt meine Hand und zieht mich zu sich. Seine rechte Hand nimmt meinen Kopf und hebt ihn ein Stück. So schauen wir uns direkt in die Augen. Seine ruhen auf meinen und Neal atmet tief aus. Er lässt meine Hand gehen, drückt sie gegen meinen Rücken und küsst mich sinnlich. Er fängt an, schwer zu atmen. Seine Hände fahren an meinem Körper entlang und finden ihren Platz an meiner Hüfte. Überraschend hebt Neal mich hoch und ich klammere mich an ihn. Er läuft ein Stück und drückt mich gegen eine Wand.

Mir wird ganz anderes. Mir ist heiß und ich verspüre Lust. Lust, die ich schon ewig nicht mehr in dieser Art gespürt habe.

Er küsst meinen Hals und meinen Nacken, ich stöhne auf und spüre, wie gestern, zwischen meinen Beinen eine Wölbung in seiner Hose. Er ist hart. Das ging erstaunlich schnell. Ich halte mich an ihm fest. Küsse ihn an seinem Hals und hauche leicht in sein Ohr.

Er schaut mir in die Augen. Seine Augen sind dunkel und voller Sinnlichkeit. Die Pupillen sind geweitet. Er atmet tief aus und lacht dabei. Er lässt mich los und ich rutsche von ihm runter. »Wir sollten zu den anderen gehen und das hier später woanders weiterführen.« Er lacht wie ein kleiner sorgenfreier Junge und gibt mir einen Klaps auf den Po.

Ich richte meine Kleidung. Was war das gerade? Es ist verrückt. Verrückt, was dieser Neal Arndt mit mir macht.

Wir setzen uns zurück an den Tisch, ich fühle mich weiterhin willig und voller Leidenschaft. Er hätte von mir alles verlangen können und ich hätte ihm gerade alles gegeben. Ein merkwürdiges Gefühl. Das verspricht auf jeden Fall eine feuchtfröhliche Nacht. Ich schüttle die Gedanken ab und höre den anderen zu.

Nicole und Nadine tuscheln weiterhin. Lilly hört - so wie ich - zu. Die Männer reden über die Arbeit, über was sonst. Solche Leute reden doch nur über die Arbeit. Ich bin echt froh, dass ich Polizistin bin. Was die erzählen, klingt ziemlich langweilig. Dominik, Elias und Lukas sind wie Neal in ihre Familienunternehmen eingestiegen. Es wundert mich, dass jeder damit glücklich ist und nicht das Verlangen hat, sein eigenes Unternehmen auf die Beine zu stellen. Neal ist Architekt, weil er auf Bauingenieurswesen damals keine Lust hatte, arbeitet nun trotzdem in einem Bauunternehmen und ist dort als Juniorchef und weniger als Architekt tätig. Kaum zu glauben, ich musste nichts erfragen, dieses Wissen bekam ich innerhalb eines Abends.

»Amelia, wo arbeitest du? Oder bist du von Beruf Tochter wie Nicole und Nadine?« Dominik grinst mich an und amüsiert sich, sodass den beiden alles aus dem Gesicht fällt.

Ich richte mich voller Selbstbewusstsein auf und strecke die Brust heraus. »Ich bin Polizistin«, sage ich stolz. Denn das bin ich. Ich war die Beste im Studium und habe dafür hart gekämpft, dass ich jetzt da bin, wo ich bin. Ich würde keinen Schritt zurück gehen. Mir fällt auf, dass Lukas dämlich grinst, als seine Nadine ihm etwas ins Ohr flüstert.

»Und das ist, was dein Leben erfüllt? Wenig Geld und schlechte Arbeitsqualität?«

»Ehrlich gesagt, ja, zum Teil auf jeden Fall. Es ist spannend; jeder Tag ist anders, man weiß nie, was einen erwartet. Natürlich ist es manchmal gefährlich, aber ich würde nichts anderes lieber machen. Vor allem hätte ich keine Lust, in einem Büro zu sitzen und Leuten Lügen zu erzählen, nur damit sie etwas kaufen oder das tun, was ich will.« Ich schaue Lukas grimmig an. Mein Blick wandert geradeaus und ich sehe, wie Lilly ein riesen Lächeln im Gesicht hat, als ob sie sagen möchte: »Gut gesagt.«

»Du sagst selber, es erfüllt dich nur zum Teil, also ist es doch nicht so perfekt?«

Na toll. Alle schauen auf mich. Selbst Neal schaut zu mir. Er nimmt meine Hand und hält sie fest. Ich erzähle aus Angst kaum jemanden von Mell. Ich liebe sie und man weiß nie, wer hinter der nächsten Ecke lauert und ob ihr etwas zustoßen könnte. Die Menschen sind eigenartig und manche sind wirklich verrückt.

»Der Job als Polizistin ist mein Traum, vor allem wenn so Schnösel wie ihr ins Revier kommen und irgendetwas von uns wollen. Der andere Teil wird von einem wunderschönen Mädchen bestimmt. Ich habe eine kleine Tochter.«

Alle starren mich an. Lillys Lächeln ist verschwunden. Ihr Mund ist ein Stück geöffnet und ich bin mir nicht sicher, ob sie entsetzt oder entzückt von diesem Geständnis ist. Shit, wieso habe ich es ihnen erzählt? Die Luft wird hier gerade sehr stickig. Ich hätte mir ebenso irgendetwas ausdenken oder sagen können, der andere Teil wird von meiner Leidenschaft, dem Boxen, erfüllt. Aber nein, ich musste die Wahrheit sagen. Ich werde sie alle sowieso nicht wiedersehen, ich hätte ihnen wirklich irgendeinen Mist erzählen sollen. Ich lasse Neals Hand gehen, weil ich irgendwie schon mehr preisgegeben habe, als ich es sonst tue. Er weiß von Jason und von Mell. Das sind schon zwei Infos zu viel.

»Neal, bist du sicher, dass du so eine willst? Eine Polizistin mit Kind. Da ist wenig Platz für einen Mann.«

Innerlich muss ich über Nicoles Worte lachen. Die habe ich gefressen. Ich will nichts von Neal, dennoch muss ich mir das nicht bieten lassen.

Sein Blick verdüstert sich. Ich habe schon oft diesen Blick gesehen. Nicht bei ihm, sondern bei der Arbeit. Er ist zornig; nicht auf mich, sondern auf die vier. Ich frage mich, warum sie mit Neal, Dominik und Lilly befreundet sind. Sie sind ganz anders. Sie grinsen den ganzen Abend so selbstgefällig. Als wären sie etwas Besseres.

Genauso ist es mir immer noch ein Rätsel, was Neal von mir will. Aber ich weiß, was ich von ihm will.

Lilly atmet tief ein und aus, ihre Nasenflügel weiten sich. »Nicole, ich glaube, Neal kann sich glücklich schätzen, dass Amelia nicht hinter seinem Geld her ist. Du, nein, ihr seid geldsüchtige, eifersüchtige Kontrollfreaks. Hätten wir keine Polizei, würde viel Chaos überall herrschen. Ihr würdet keinen Fuß mehr vor die Tür setzen!«, stellt sie klar.

Dominik schaut mich ununterbrochen fragend an. Er sagt natürlich nichts.

Mein Handy klingelt. Es ist Harin, der wie vereinbart anruft, damit ich Melanie das Gute-Nacht-Lied vorsingen kann. Ziemlich spät …

Ich stehe einfach auf, ohne irgendetwas zu sagen, und hebe ab. Schnell suche ich mir eine ruhige Ecke. Was bin ich froh, dass sie in diesem Moment anruft. Es erlöst mich aus der angespannten Situation, in der ich fast geplatzt wäre. »Hey Melanie, du gehst heute ziemlich spät ins Bett.«

»Wir haben Fernsehen geschaut, jetzt liege ich im Bett und ich hab Harins Handy. Singst du für mich?«

»Wie war denn euer Tag?«

»Ich war nicht im Kindergarten, wir haben Spiele gespielt und ich hab ganz oft gewonnen, aber ich glaube, Harin und Anna haben mich gewinnen lassen.« Das mit dem Gewinnen flüstert sie.

Melanie gähnt und ich fange an zu singen.

»Sie schläft, was machst du gerade?«, fragt Harin am anderen Ende.

»Ich bin auf einem furchtbaren Geburtstag, erzähle ich dir, wenn ich zurück bin.« Wenn ich Harin das erzähle, lacht er mich aus oder wird sauer.

»Okay, also bleibst du die Woche?«

»Abwarten, das wird kurzfristig entschieden.« Es stimmt, ich entscheide es kurzfristig. Wird das weiter so laufen, fahre ich morgen nach Hause.

»Gut, dann wünsche ich dir noch viel Spaß auf der Feier und später eine gute Nacht. Wir reden, wenn du in Berlin bist.«

»Danke, dir auch. Und grüß Annamaria von mir«, verabschiede ich mich.

Ich bleib kurz sitzen und warte einen Moment, um über den heutigen Abend nachzudenken. Diese vier sind echt ätzend. Eigentlich habe ich gar keine Lust, raus zu gehen und mich von ihnen niedermachen zu lassen. Normalerweise müsste ich ordentlich Kontra geben und sie fragen, ob sie mit ihrem Leben zufrieden sind. Was sie erreicht haben, ob es ihnen gefällt, teure Sachen zu kaufen, während andere betteln müssen und nicht wissen, wo sie die nächste Nacht verbringen sollen. Ich hasse solche Snobs, die meinen, sie könnten die Welt regieren, nur weil Mami und Papi hart gearbeitet haben.

Warum bin ich überhaupt hier? Was mache ich hier? Nur wegen diesem blöden Sex? Okay, beruhige dich, Amelia, geh raus und setz dich hin. Neal wollte nicht lange bleiben. Es ist kurz nach zehn, ich hoffe, dass wir einfach bald fahren und dort weiter machen, wo wir eben aufgehört haben.

Ich habe eigentlich kein Problem damit, mich wie ein Arsch zu benehmen, aber irgendetwas in mir hindert mich heute daran. Als ich zu den anderen laufe, sehe ich nur noch Lilly, Dominik und Neal am Tisch sitzen. Sie schweigen. Neal lächelt mich an, als er mich sieht. »Hast du wieder gesungen?«

»Ja«, antworte ich leise. »Wo sind die anderen?«, frage ich in die Runde.

Dominik schaut in sein Rotweinglas, als ob er philosophieren möchte. »Sie sind gefahren. Nicole und Nadine waren ziemlich zickig, nachdem Lilly die beiden als geldsüchtige, eifersüchtige Kontrollfreaks bezeichnet hat.«

Sie strahlt förmlich und klopft sich selbst auf die Schulter.

»Danke, das hättest du nicht machen müssen.«

Sie winkt ab. »Ach, kein Ding, ich wollte ihnen schon oft meine ehrliche Meinung sagen, es gab nur nie eine Gelegenheit. Nun schon, dank dir.« Ihr Strahlen ist fast ansteckend.

»Es tut mir leid, wenn ich dir deinen Geburtstag versaut habe, das war nicht meine Absicht.« Es tut mir wirklich leid, weil Dominik freundlich ist und nicht so wie die anderen vier. Er hat es nicht verdient, so einen Geburtstag zu haben.

»Amelia, du hast mir meinen Geburtstag nicht vermiest, es ist alles in Ordnung, du hast ja nicht angefangen.« Er lächelt mich an.

Neal reibt sich über seine Haarstoppel am Kopf. »Wir sollten fahren. Dominik, heute ist dein Geburtstag ausnahmsweise schnell vorbei.« Dominik und Lilly schauen sich tief in die Augen.

»Wer sagt denn, dass mein Geburtstag vorbei ist? Vielleicht fängt er gleich erst richtig an.« Er wackelt mit den Augenbrauen und zieht eine Grimasse.

Neal hebt seine Hände. »Ich hab nichts gesagt, viel Spaß noch.«

Als Lilly mich zum Abschied umarmt, verkrampfe ich mich. »Das nächste Mal, wenn wir uns sehen, erzählst du mir von deiner Tochter«, sagt sie euphorisch und ich nicke. Was soll ich anderes machen? Ich werde sie nicht wiedersehen, also kann ich nicken und lächeln.

»Mach’s gut, hübsche Mutti.« Dominik gibt mir einen lockeren Kuss auf die Wange. Dann drückt er Neal. »Sorry, das musste sein.«

Lilly verdreht die Augen.

 

Als wir aus dem Haus gehen, stößt Neal einen Pfiff aus und wirft mir die Schlüssel zu. »Du musst fahren. Wir wollen ja nicht, dass die hübsche Mutti mich noch wegen Alkohol am Steuer verhaften muss.«

»Da hat ja jemand sehr gute Laune«, entgegne ich ihm und öffne das Auto, damit wir einsteigen können.

»Wir fahren zu mir, wenn es okay für dich ist?«

Ich nicke und Neal beschreibt mir den Weg. So muss ich ihn wenigstens nicht nachher rauswerfen und kann mich von Elizabeth oder Ben abholen lassen. Mein Herz rast wie wild und meine Hände sind ganz feucht. Schon alleine der Gedanke daran, was eben beim Pool passiert ist, lässt mich noch in einer anderen Gegend feucht werden. Gleichzeitig ist mir ganz mulmig zumute. Sex mit irgendeinem Mann zu haben ist okay. Flachgelegt zu werden, von jemanden, der mir gerade versucht, den Kopf zu verdrehen, und es vielleicht irgendwie hinbekommt, beunruhigt mich dagegen. Diese Gefühle kenne ich schon gar nicht mehr. Ich habe sie nur einmal sehr intensiv bei Jason erlebt. Es fühlt sich an, als hätte man die letzten Jahre übergroße Kleidung getragen, die einem nicht passen, trotzdem findet man sie toll und trägt sie. Plötzlich findet man etwas, das wie angegossen sitzt, und fragt sich, warum man nicht früher schon danach gegriffen hat.

Dennoch plagt mich mein schlechtes Gewissen. Wenn er schläft, werde ich gehen. Er wird später merken, dass ich die Falsche war. Ich dachte, es gäbe solche Männer nicht. Ich dachte, diese hoffnungslosen Romantiker gäbe es nur unter Frauen. Hätte Lilly mir nicht erzählt, dass er schon ewig keine Begleitung mitgebracht hatte, wäre es mir wirklich egal. Ich würde denken, die Komplimente und alles wären seine Masche. So beißt mich mein Gewissen.

Wir fahren in eine Tiefgarage. Irgendwie habe ich eine riesen Villa erwartet und kein Apartment. Bevor ich aussteige, fällt mir auf, dass die A-Klasse eine AMG Edition ist und jeglichen Schnickschnack bietet. Mein lieber Schwan. Wie viel verdient der gut aussehende Kerl neben mir?

Neal steigt aus dem Auto, reicht mir seine Hand und begleitet mich zum Lift. Im Fahrstuhl steht ein Mann, der uns zunickt, und Neal gibt ihm eine Karte. Es scheint der Schlüssel zu sein. Der Mann im adretten Anzug scannt diese ab und wir fahren ganz nach oben. Als wir aussteigen, stehen wir gleich in der Wohnung. Ich dachte, so etwas gibt es nur in Hollywood.

Neal zieht mich sofort auf das Sofa und verschwindet. Diese Gelegenheit nutze ich aus, um auf mein Handy zu schauen. Keine Nachrichten. Ich hege wirklich die Hoffnung, dass Alex oder Bill anrufen und mich aus dem aufgedrängten Urlaub befreien.

Neal kommt und reicht mir ein Glas mit Rotwein. »Du kannst ruhig trinken, du fährst sowieso heute nirgendwo mehr hin«, raunt er mir ins Ohr und ich bekomme eine Gänsehaut. Endlich komme ich zum Zug. Womit soll ich auch wegfahren? Er setzt sich auf das Sofa und schaut mich an.

»Wie alt bist du?« Mir fällt nichts Besseres ein.

Er schaut mich ganz verwirrt an. »Was?«

»Du wolltest mich doch kennenlernen, also fange ich an …«

»Und da fragst du mich nach meinem Alter? Oder werde ich gerade verhört?«, zieht er mich auf.

»Na ja, irgendwo muss ich anfangen.« Ich zucke mit den Schultern und er lacht. Dieses tiefe Lachen klingt wunderschön.

»Okay, ich bin 32, komme aus Hamburg und wohne hier.« Er macht sich eindeutig lustig über mich.

»Warum hattest du so lange keine Freundin?« Er ist viel zu gutaussehend und intelligent, um Single zu sein. Er hat bestimmt irgendeinen Knacks weg.

»Hat Lilly dir das erzählt?« Er guckt grimmig und seine Stimme klingt nicht mehr so fröhlich.

»Sie sagte, Dominik und sie sind seit vier Jahren zusammen, seitdem hast du keine Frau mit zu ihnen gebracht oder erwähnt.«

»Hm, die meisten Frauen kennen mich und ich möchte keine Nicole oder Nadine, die nur mein Geld ausgeben wollen. So jemanden hatte ich schon und ich möchte etwas Echtes, was auf wahren Gefühlen basiert und nicht auf meinem Kontostand.« Er hält inne. »Weißt du, die meisten Frauen hätten mich gestern in der Bäckerei nicht angebrüllt. Sie hätten sich das gar nicht getraut. Dann hast du mir gestern Abend angetrunken die Tür aufgemacht und hattest sogar für mich gekocht. Das war sehr niedlich. Ich könnte wahrscheinlich mit dem Finger schnipsen und hätte an jedem Finger eine Frau hängen. Ich bin ja nicht zum Mönch geworden in meinem Single-Dasein. Du hast etwas an dir, was mein Interesse geweckt hat. Ich denke, du bist keine, die hinter Geld her ist.«

Das, was er sagt, ist richtig. Ich wusste nicht, wer er ist, das weiß ich eigentlich immer noch nicht. Geld interessiert mich nicht, hat es auch nie, und ich brülle wann und wo ich will. Eigentlich. Heute Abend schaffte ich es irgendwie nicht. »Warum seid ihr mit Elias und Lukas befreundet, wenn die so arrogant sind? Dominik und du, ihr seid anders.« Ich verkneife mir jedes Schimpfwort, was mir gerade einfällt zu den beiden und ihren Freundinnen.

»Ich werde doch verhört, ich hab es geahnt.« Er lacht. »Unsere Eltern sind gut befreundet. Sie sind eigentlich ganz okay, sie sind halt anders aufgewachsen und Nicole und Nadine haben die Jungs verändert. Ich hoffe, sie werden das noch merken.« Er schaut auf die Uhr.

»Wie lange geht das noch, Officer?«

»Bis mir keine Fragen mehr einfallen.«

Er stellt sein Glas ab und beugt sich über mich. »Dann werden wir dafür sorgen, dass dir keine Fragen mehr einfallen«, sagt er und beginnt, meinen Hals zu küssen.

Ein leises Stöhnen entweicht mir. Er zieht mich zu sich, sodass ich auf ihm sitze, und liebkost mich weiter. Seine Hände wandern unter meinen Pulli und halten mich fest. Darauf habe ich den ganzen Abend gewartet. Seine Zunge erforscht meinen Mund und unsere Atemzüge werden schwer. Er hebt mich hoch und trägt mich zu seinem Schlafzimmer, wo er mich auf das Bett fallenlässt. Genüsslich stellt er sich vor mich und zieht sich aus. Er ist schlank und leichte Muskelumrisse zeichnen seinen Körper. Sein nackter Oberkörper ist eine wahre Augenweide. Mein Blick wandert ein Stück tiefer und in seiner Hose ist eine Wölbung zu sehen.

»Was machst du nur mit mir, Amelia? Das ist ganz und gar nicht meine Art.«

Meine leider schon. Das merkst du, wenn ich weg bin.

Ungeduldig öffnet er meine Hose und zieht sie mir vom Leib. Der Fremde stützt sich ab und eine Hand sucht sich den Weg in meinen Slip. Stöhnend versuche ich, seine Hose zu öffnen. Doch seine Finger an mir berauschen mich so sehr, dass ich es nicht schaffe, und ich gebe mich seiner Fingerspielerei ganz hin.

»Lust, Frau Hasley?«

Ich schaffe es, mich kurz loszureißen und seine Hose zu öffnen. Er zieht mich hoch. Wir drehen uns und ich sitze rittlings auf ihm in seinem Bett. In meinem Kopf kreisen Erinnerungen. Amelia, dir geht’s gut, versuche ich mich zu beruhigen. Er schiebt meinen Pulli hoch und zieht ihn mir aus. Sein Blick streift über meinen Oberkörper und bleiben bei der unschönen Narbe an meiner Schulter hängen. Er fährt sie mit seinen Fingern nach und küsst mich weiter, ich gebe mich ihm komplett hin und berühre seinen Schwanz. Er stöhnt auf. Diese Macht, dieses Stöhnen.

»Amelia, ich liebe dich. Amelia, ich werde dich immer lieben, du bist mein, ich versuche, für dich der beste Mann der Welt zu sein«, höre ich Jasons Stimme und sehe ihn vor mir, neben mir. Er ist überall.

Mir wird plötzlich ganz komisch.

Erinnerungen kommen über mich. Warum in diesem Moment? Warum hier?

Das ist neu!

Ich merke, wie Tränen in meine Augen steigen. »Amelia, Amelia Hasley, ich liebe dich.« Mein Herz rast schneller. Oh Gott, mir wird schlecht. Ich reiße mich von Neal los, der mich durchweg küsst und meine empfindliche Stelle mit seinen Fingern umschmeichelt. Ich stehe auf und halte mich am Kopfteil fest. »Ich ... ich ... ich kann das nicht.«

Neal schaut mich verwirrt an. Er versucht, meine Hand zu greifen.

Doch ich zucke zurück, hole tief Luft und versuche, meine Tränen zu unterdrücken; es gelingt nicht. Er sieht sie. Sie schießen in meine Augen, über meine Wangen.

»Okay, es ist alles gut, komm her«, versucht er mich zu beruhigen.

Ich bin dagegen immun. Das funktioniert hier einfach nicht. Ich merke, wie mein Blut gefriert und ich zur Eiskönigin werde. Mich überkommt ein Schauer und auf meiner Mauer stehen Ritter, die bereit sind, ihr Leben zu verlieren, um alles vor den Eindringlingen zu schützen.

»Nein! Nein, ich kann nicht zu dir kommen. Es ist nichts gut. Es ist gar nichts gut!«, schreie ich ihn an. Meine Stimme klingt gefühllos und weinerlich. Ich will ihm nicht wehtun.

Er steht auf und sucht seine Kleidung zusammen, während ich wie angewurzelt vor seinem Bett stehe. Ich kann mich nicht bewegen, geschweige denn gleichmäßig atmen. Er geht aus meinem Sichtfeld und ich höre eine Tür, die geöffnet wird.

Ich habe ihn verletzt, wie kann ich ihm das verdenken. Mein ganzer Körper zittert. Mir ist kalt und ich bin müde. Meine Gedanken fliegen wild im Kopf umher. »Amelia, ich liebe dich. Amelia Malek, möchtest du meine Frau werden? Amelia, du machst mich zum glücklichsten Mann. Du bist mein, mein ganz alleine.«

Es wiederholt sich alles.

Plötzlich merke ich etwas Warmes, Kuscheliges, das mich umhüllt. Neal wickelt mich in der Decke ein und hält mich fest. »Ganz ruhig, versuch zu atmen. Orientiere dich an meinem Atem.« Was macht er da? Ich dachte, er geht.

Ich fange an, mich zu entspannen, und die Erinnerungen verblassen langsam. Wir kennen uns nicht und doch sind seine Nähe und seine Berührungen so vertraut. Jason war meine große Liebe und plötzlich kommt Neal und macht mich verrückt, auf eine ganz eigene Art und Weise.

Ich breche zusammen. Neal fängt mich auf und legt mich in sein Bett. Er reicht mir ein Wasserglas. »Trink, das hilft.« Er sagt es im strengen Ton und seine Mimik lässt keinen Widerspruch zu. Ich richte mich im Bett auf und trinke ein paar Schlucke. Tatsächlich, das kalte Wasser beruhigt mich. Vielleicht ist es auch die Gewissheit, dass jemand da ist und ich nicht alleine bin. Sonst bin ich alleine, so, wie ich es immer wollte.

»Es tut mir leid.« Eigentlich mag ich keine Entschuldigungen, aber diesmal habe ich das Gefühl, ich sollte es tun, weil es mir wirklich leidtut. Weil ich das nicht von mir kenne, jedenfalls nicht bei dieser Sache. Normalerweise lenkt mich das ab. Gerade hat es mich direkt darauf zu gesteuert. Wie die Titanic auf den Eisberg.

»Ist doch nichts passiert.« Neal gibt mir einen Kuss auf meinen Kopf.

Ich atme tief ein und aus. Er hat recht, es ist wirklich nichts passiert und das ist es ja.

Er legt seinen Arm um mich und zieht mich zu sich. Ich schaue ihn fragend an.

»Was? Komm her und beruhige dich.« Der Fremde lächelt mich an und ich kuschle mich an ihn, auch wenn ich das Gefühl habe, ich habe das nicht verdient und sollte gehen. Er riecht so gut. Heute trägt Neal ein anderes Parfüm. Ich konzentriere mich auf meinen und seinen Atem. Meine Augen werden schwer und ich kann es nicht verhindern.

Fünftes Kapitel

 

Es klingelt, ich öffne die Tür. Bill und Chris stehen vor mir. Tränen laufen über mein Gesicht. Ich weiß ganz genau, was los ist. Ich sehe Blaulicht durch die Fenster leuchten und klappe zusammen. Mell weint so laut. Sie schreit und ich kann nicht zu ihr. Ich schaffe es einfach nicht. Ein Mann hält sie im Arm und entfernt sich von mir mit ihr.

»Nein, nein, nein.« Bill hält mich fest, ganz fest. Ich schreie aus tiefster Seele, doch keiner hört mich.

»Amelia, Amelia, wach auf, es ist nur ein Traum. Amelia, wach auf.« Ich werde aus dem Alptraum gerissen und öffne die Augen. Mein Atem geht schnell und ich bin schweißgebadet. Vor mir sitzt Neal. Seine Augen sind groß und weit aufgerissen. Er sieht verschreckt aus. Es ist mitten in der Nacht. Im Licht von der Nachttischlampe sieht Neal wie ein Engel aus. Was mache ich noch hier? »Es war ein Alptraum.« Er drückt mich an seine Brust.

Ich löse mich von ihm, so dass wir uns in die Augen schauen können. »Ich weiß«, antworte ich.

»Wann starb dein Mann?« Woher weiß er, dass ich von ihm geträumt habe?

»Vor drei Jahren. Mell war erst vier Monate alt. Ich war zu Hause mit ihr. Jason und ich haben bei der Drogenfahndung zusammen gearbeitet. Er war zu jener Zeit an einem schwierigen Fall dran.«

Neal runzelt die Stirn. »War er ein guter Mann?«

Ich nicke, denn nichts anderes bekomme ich bei dieser Frage hin. Er war der beste Mann für mich. Er war mein Leben und Mell und ich waren seins.

»Arbeitest du noch bei der Fahndung?« Er redet sehr ruhig. Ich sehe ihm an, dass er darüber nachdenkt.

»Ja, ich liebe den Job, auch wenn er gefährlich ist.«

»Wer passt auf deine Tochter auf? Deine Eltern?«

Ich muss lachen, das würde ihnen gefallen. Neal schaut mich mit verwundertem Ausdruck an.

»Nein, Harin und seine Mutter. Er ist einer meiner besten Freunde. Ohne die beiden wäre ich verloren. Ich kenne ihn schon seit neun oder zehn Jahre.«

»Also kennst du ihn nicht durch die Arbeit?« Er ist ziemlich neugierig.

»Nein, er hatte die Wohnung unter meiner, bis ich mit Jason zusammenzog und er mit seiner Mutter umgezogen ist. Wir sind in Kontakt geblieben, er war mein erster Freund in Berlin. Nach Jasons Tod richtete er für Mell ein Zimmer ein, sie wohnt sozusagen bei ihnen.« Ich atme tief ein, es nervt mich selbst. Es ist für Mell und mich so einfacher. Neal und ich sehen uns in die Augen. Wartet er, bis ich weiterrede? Eigentlich will ich nichts mehr sagen.

»Nach Jasons Tod konnte ich keine Gefühle zu lassen. Ich war nicht fähig, mich um Mell zukümmern, war zu sehr mit mir beschäftigt. Also sorgten sie für sie. Ich versuche, eine gute Mama zu sein, und ich liebe sie über alles. Doch ich kann meinen Beruf nicht einfach aufgeben. Das klingt egoistisch, das weiß ich selbst.« So habe ich das noch nie jemandem erzählt.

»Ich denke, du bist eine tolle Mama, du verteidigst dich und deine Tochter. Ich glaube, du versuchst sie zu schützen und hast die gute Entscheidung getroffen, sie zu jemandem in Obhut zu geben, als es dir nicht gut ging. Das tun die wenigsten«, flüstert er und streicht mir über die Haare.

 

Sonnenstrahlen wecken mich auf. Ich drehe und wende mich im Bett, um mich zu orientieren. Neal schläft noch. Es ist 9:00 Uhr, anscheinend habe ich einen neuen inneren Wecker.

Ich erinnere mich an die letzte Nacht. So eine Scheiße. So, wie ich es geplant hatte, verläuft es mit Neal ganz und gar nicht.

Ich stehe leise auf, ziehe mich an und suche die Toilette auf. Als ich aus dem Badezimmer komme und mich dem Flur nähere, höre ich Geschirr klirren. Wohnt hier etwa noch jemand?

Ich versuche, mich aus dem Apartment herauszuschleichen. Es ist besser so, für ihn und für mich. Ich habe viel mehr von mir preisgegeben, als ich wollte.

»Guten Morgen.«

Ich bin erwischt worden, ich beiße mir auf die Lippe und drehe mich langsam um, in der Hoffnung, dass nicht seine Mutter hinter mir steht.

»Herr Arndt ist noch nicht wach?«, fragt die Frau. Sie wirkt höflich und gut gelaunt. Ihre schwarzen grau melierten Haare sind zu einem Dutt gesteckt.

»Nein«, antworte ich und ziehe meine Jacke an. Dieses Erlebnis ist mir bekannt. Keine Ahnung, wie der Kerl damals hieß. Er wohnte noch bei Mutti. Als ich nach unserem Vergnügen nachts die Wohnung verließ, stand sie vor mir in Nachthemd und Bademantel gehüllt und stellte mich zur Rede. Während sie mir eine Predigt hielt, dass Frauen sich nicht so benehmen dürfen, bin ich einfach gegangen.

Ich drücke auf den Fahrstuhlknopf und warte, dass die Türen sich öffnen.

»Tut mir leid, aber Herr Arndt gab mir die Anweisung, sie nicht gehen zu lassen«, erklärt mir derselbe Mann im kantigen Anzug, der auch gestern Abend im Aufzug stand.

»Sowas nennt man Kidnapping«, entgegne ich ihm zornig.

»Amelia, wo willst du hin?« Mein Kopf bewegt sich ruckartig zu der Stimme. Neal kommt verschlafen und nur in Boxershort gekleidet auf mich zu. Der Fahrstuhl macht Bing. Der Mann darin nickt Neal noch schnell zu und die Türen schließen sich. Wann bitte schön konnte er dem Portier so eine Anweisung geben? Mein Blut kocht gerade und mein Körper spannt sich an. Das ist mir noch nie passiert. Das kommt davon, wenn man sich auf solch einen reichen Snob einlässt.

 »Wo willst du hin?«, wiederholt Neal, dieses Mal nicht so freundlich, sondern mit viel Nachdruck und wacher.

»Weg!«

Er kratzt sich am Kopf und kommt näher.

»Du wolltest abhauen?«

Ja, genau das wollte ich, gut erkannt, Watson. So läuft das mit mir. Immer.

»Ja, so kann man es nennen.«

»Warum?«, bohrt er nach. Er ist sauer. Neal hat wirklich keine Ahnung von meinem Leben. Ich ziehe den nicht vorhandenen Bauch ein, strecke die Brust heraus und straffe meine Schultern, um mich selbst besser zu fühlen.

»Weil ich das so mache.«

Er schaut ein wenig verdutzt. Ich kann es ihm nicht verübeln, es hört sich an, als wäre ich die letzte Schlampe.

Neal kommt ein Stück auf mich zu, greift meine Hand und zieht mich zu sich. Ich versuche, kalt und stark zu bleiben, und probiere mich zu wehren. Doch ein Blick in seine einzigartigen Augen und die Berührung seiner Lippen auf meinen lässt mich schwach werden.

»Heute läufst du nicht weg«, verkündet er, als ob er das große Los gezogen hätte und ich der Hauptgewinn wäre.

Er zieht mich hinter sich in die Küche. »Setz dich. Susi, passen Sie auf, dass Frau Hasley nicht von neuem weglaufen will.«

»Ich gehöre dir nicht. Das nennt man Kidnapping!«

Er dreht sich um und läuft rückwärts in Richtung Badezimmer. »Das ist richtig, gegen ein Frühstück spricht jedoch nichts, oder? Danach fahre ich dich nach Hause, wenn du das möchtest.« Ich gebe mich geschlagen, ich habe Hunger und frühstücken ist okay. Seine Haushälterin Susi lächelt mich an.

»Was wollen Sie frühstücken, Frau Hasley?« Damit bin ich überfordert. Seit meinen Flitterwochen wurde ich nicht mehr gefragt, was ich frühstücken will.

»Mir egal. Nennen Sie mich bitte Amelia«, biete ich ihr an.

»Ich bin Susi, aber das wissen Sie ja schon.«

Wir decken gemeinsam den Tisch.

Neal kommt in die Küche. »Susi, Sie können gehen, den Rest schaffe ich selber.«

Die ältere Frau verabschiedet sich und Neal setzt sich zu mir an den gedeckten Tisch. So läuft das wahrscheinlich täglich bei ihm. Neal redet wenig während des Frühstücks. Er ist eher mit seinem Handy beschäftigt. Hoffentlich fährt er mich nach dem Frühstück zur Villa.

Ich lehne mich zurück und verschränke meine Arme. Es ist amüsant, ihn zu beobachten, vor allem, wenn er die Stirn runzelt. Eine Falte bildet sich längs über seiner Stirn und erzeugt ein V zwischen seinen Augen. Das ist mir gestern schon aufgefallen. Endlich legt er sein Handy weg und unsere Blicke treffen sich und verweilen einen Augenblick.

»Und was machen wir heute?« Er reißt mich komplett aus meinen Gedanken und trinkt seinen Kaffee. »Amelia, schau mich bitte nicht so an.«

Ich rappel mich vom Stuhl etwas auf und setze mich gerade hin.

»Ähm, ich dachte ehrlich gesagt, du möchtest mich nicht mehr sehen, nach der letzten Nacht und eben.«

Er schaut mich empört an.

»Sei nicht albern, Amelia. Das denkst du von mir? Ich dachte, ich habe dir gestern und gerade eben verständlich gemacht, dass du anders bist und ich dich kennenlernen will. Das Leben bringt nicht nur rosige Zeiten, das weiß auch jemand wie ich. Außerdem, würde ich dich nicht mehr sehen wollen, hätte ich dich eben gehen lassen.« 

Warum schaut er mir eigentlich ständig so intensiv in die Augen? Ich fühle mich nackt. Als könnte er in meine Seele sehen.

»Wie lange bist du denn noch in Hamburg?«, erkundigt er sich weiter.

»Spätestens am Mittwoch fahre ich zurück, allerspätestens«, betone ich.

»Wie lang hast du noch Urlaub?« Nicht diese Frage. Ich versuche, meinen Unmut vor ihm zu verstecken. »Was schaust du so?«

»Wie schaue ich denn?«

»Unzufrieden.«

»Willst du eine ehrliche Antwort?«

»Ich bitte darum.«

»Ich bin ausgerastet bei der letzten Befragung und mein Chef dachte sich, nach drei Jahren am Stück arbeiten, würde mir mein diesjähriger Jahresurlaub definitiv an einem Stück guttun. Also habe ich jetzt noch vier Wochen«, antworte ich und rolle meine Augen. »Ich denke, ich werde früher anfangen. Nur zu Hause rumzusitzen und die Ich-mache-den-Haushalt-Nummer ist einfach nichts für mich.« Ich verziehe das Gesicht. Wenn ich in Berlin bin, muss ich Alex anrufen und ihn nett bitten.

»Hm … Vielleicht würden dir die fünf Wochen Auszeit wirklich guttun. Ich könnte, wenn du möchtest, mit nach Berlin kommen, wir wollen dort eine Wohnung kaufen, für uns und unsere Mitarbeiter, da wir öfter in Berlin tätig sind.«

Mit nach Berlin? Ich muss mich zu Hause sammeln und ich habe meiner Mama versprochen, sie zu besuchen. Die Maklerin hat sich noch nicht gemeldet. Ich muss das alleine machen, ohne Anhängsel. Das ist bestimmt sein Knacks, er ist total besitzergreifend. Themenwechsel.

»Also, was machen wir heute? Hast du was vor? Ich würde gerne zunächst zu mir: Duschen, frische Kleidung anziehen und so weiter.«

»Du möchtest nicht, dass ich mit nach Berlin komme?«

»Nein, du kannst mich gerne besuchen, aber ich muss erst in Berlin alles regeln und ich habe meiner Mutter versprochen, sie mit Melanie zu besuchen; nach dem Aufenthalt in Hamburg.« Er kann mich gerne besuchen? Amelia, was ist denn bitte plötzlich bei dir kaputt?

»Deinen Urlaub regeln?« Dieses freche Grinsen.

»Nein, ich habe andere Dinge zu erledigen.«

»Zum Beispiel?« Er lässt einfach nicht locker.

»Du wärst ein ziemlich guter Cop, so viele Fragen, wie du stellst.«

»Auf Fragen nicht zu antworten ist unhöflich, Amelia Hasley.«

»Auf Fragen nicht zu antworten ist unhöflich«, äffe ich ihn nach. Wer ist er? Mein Vater?

Er räuspert sich und bleibt weiterhin freundlich. Nicht mal sein Lächeln ist gespielt. »Also?«

»Also was?«

»Also, was musst du erledigen?«

»Ich muss mir eine Wohnung suchen. Momentan wohne ich bei Harin.« Eher gesagt, gewohnt auf der Arbeit, geschlafen bei Harin … bis vor, na ja, lassen wir das.

»Du wohnst auch dort? Ich könnte dir helfen, ich kenne mich ziemlich gut aus in Sachen Immobilien.« Sein Blick wirkt finster, um nicht zu sagen wütend oder eifersüchtig.

»Ich möchte es alleine regeln, so, wie ich es die letzten Jahre getan habe, Neal Arndt. Ich möchte es nicht. Trotzdem, danke für dein Angebot«, sage ich überfreundlich.

»Wie lange gedenkst du, bei deinem Freund zu wohnen?« Er betont ›deinem Freund‹ auffallend.

»Alles klar, nun verstehe ich, wo der Hase lang läuft. Wenn du mich kennenlernen willst, solltest du wissen, ich lasse nicht über mich bestimmen und entscheide selbst. Und Eifersucht mag ich überhaupt nicht. Okay? Außerdem kennen wir uns gar nicht. Du kannst nicht einfach in mein Leben kommen und denken, dass ich dir hörig bin.«

»Okay, klare Ansage. Genau deshalb möchte ich dich kennenlernen. Du musst mir nur eine Chance geben.«

Es herrscht eine kurze Funkstille. Ich hole tief Luft und überlege, ob es das wert ist, ihm eine Chance zu geben.

Ich würde gerne noch eine Kleinigkeit mit ihm unternehmen. Wo kommen nur bloß diese Gedanken her?

»Wie wäre es, wenn du mit zu mir kommst? Wir könnten faulenzen?« Der Vorschlag ist nicht besonders einfallsreich, dennoch, manchmal ist Faulenzen das Beste, um sich kennenzulernen, und mir fällt nichts Besseres ein. Jason und ich haben anfangs viel gefaulenzt und geredet. Er ist nicht Jason.

»Klingt gut.« Sein freundliches Gesicht kommt zurück. Ich versuche, ihm eine Chance zu geben und nicht wegzulaufen, auch wenn es schwerfällt.

Nach dem Frühstück will Neal ein paar Sachen packen.

Ich blättere in der Zeitung und lege sie enttäuscht zurück. Nur Negatives aus der Welt steht drin. Deshalb lese ich keine Zeitungen.

»Ich bin soweit.« Er hat sich umgezogen. Für einen faulen Samstag sieht Neal ziemlich schnieke aus, in seinem schwarzen Pullover mit V-Ausschnitt. Darunter sieht man ein weißes T-Shirt hervorblitzen. Er trägt die Tasche in seiner Hand, welche er bei unserem Zusammenstoß umhängen hatte.

»Ich muss meinen Laptop und ein paar Unterlagen mitnehmen. Ganz ohne geht es leider nicht.«

Ich nicke, da ich weiß, wie es ist, am Wochenende zu arbeiten. Er reicht mir seine Hand und ich nehme sie, somit zieht er mich zu sich und schenkt mir einen flüchtigen Kuss. Der Portier steht lächelnd im Aufzug.

»Herr Arndt, Frau Hasley«, begrüßt er uns.

Ich nicke. »Nennen Sie mich bitte Amelia«, biete ich ihm an.

»Ich bin Robert«, stellt er sich vor.

Neal schaut zerknirscht. Vielleicht mag er diese persönliche Ebene nicht.

 

 

 

 

Sechstes Kapitel

 

»Amelia? Da bist du ja, wir haben uns schon gewundert. Du schläfst sonst nie auswärts.« Elizabeth öffnet mir die Tür, bevor ich überhaupt den Schlüssel ins Schloss stecken kann.

»Oh, du hast jemanden mitgebracht«, entgegnen sie und Ben nacheinander. Ben klingt, im Gegensatz zu Elizabeth, besorgt. Ich schäme mich, dass ich ihnen keine Nachricht zukommen ließ, dass ich diese Nacht nicht nach Hause kommen würde.

Die zwei machen sich ständig Sorgen. Auf der anderen Seite hatte ich überhaupt keine Zeit gehabt, um mich zu melden, und außerdem war der Plan, nach dem Sex zur Villa zu fahren.

»Elizabeth, Ben, das ist Neal Arndt.«

Neal streckt seine Hand aus und mir fällt auf, dass sie viel weicher und ebenmäßiger als die Arbeiterhände von Elizabeth oder Ben wirken, die sie ergreifen. Elizabeths Augen glänzen und Ben scannt Neal von oben bis unten ab. Das ist typisch für ihn, allerdings würde ich es selbst ebenso machen.

Ich nehme Neal die Tasche ab und trage sie hoch ins Schlafzimmer. Im Blickwinkel sehe ich noch, dass Elizabeth und Ben ihn in die Küche schleifen. Meine Dusche ruft nach mir, er wollte mit mir den Tag verbringen, also muss er die zwei, vor allem Elizabeth, ertragen. Während das Wasser auf mich plätschert, denke ich über gestern und heute Nacht nach.

Neal wollte mit mir nach Berlin … Die letzten zwölf Stunden waren wirklich nervenaufreibend. Schlimmer als arbeiten, was ich gut verkraften kann, weil es mein Job ist und nichts mit mir persönlich zu tun hat. Das ist was anderes. Außerdem arbeite ich gerne, bloß geht es mir nur manchmal an die Substanz.

Neal ist wirklich an mir interessiert, jeder andere wäre schreiend weggelaufen. Ich kann es kaum glauben, doch dass er plötzlich so eifersüchtig wurde, schreckt mich ab. Wie soll ich ihm mein Leben erklären, wenn ihn Harin bereits stört? Wir kennen uns seit zwei Tagen und er ist so besitzergreifend, sowas ist mir nur von Harin vertraut und noch nicht … Nein! Er würde genauso eifersüchtig sein, hätte er eine Frau, die ihn wirklich interessiert.

Vielleicht ist Neal deswegen so lange Single und das, was er mir gestern aufgetischt hat, ist nur die halbe Wahrheit gewesen.

Hat Neal wirklich so viel Interesse an mir?

Bei dem Gedanken wird mir mulmig. Ich erkenne mich selbst kaum noch. Ein Teil sagt mir, ich solle schnell weglaufen. Der andere meint, ich solle auf ihn zugehen. Der Letzte ist stärker. Da liegt mein Problem, sonst war der Nimm-deine-Füße-in-die-Hand-und-verschwinde-Teil der Stärkere; wie Teufel und Engel, die je auf einer Schulter sitzen. Und ich mache gerade einen Pakt mit dem Engel, obwohl ich sonst stets zum Teufel halte.

Neal hat dem Fahrstuhlmann befohlen, mich festzuhalten, falls ich gehen möchte. Gruselig, als hätte er gewusst, dass ich abhauen will. Okay … Das mit dem Kidnapping war etwas übertrieben, aber für einen kurzen Moment fühlte ich mich meiner Freiheit beraubt.

Ich schlüpfe in meine Lieblingsleggins, denn sie sind klasse, bequem und man sieht trotzdem gut aus. In einem weißen Shirt und einer blauen, langen Strickjacke laufe ich nach unten.

»Sie haben wirklich einen guten Geschmack, Neal. Sie ist eine tolle Frau, ich kann Ihnen gerne ein paar Geschichten über Amelia erzählen«, höre ich aus der Küche. Oh nein, bitte nicht! Ich höre Neal lachen und Ben schimpft mit ihr. Neal hat wirklich ein befreiendes und erhellendes Lachen.

»Elizabeth, Neal sollte Amelia selbst kennenlernen, außerdem würde sie das nicht gutheißen.«

»Ein paar Geschichten wären bestimmt interessant.«

Bevor es dazu kommt, laufe ich in die Küche.

»Wir haben gerade über dich geredet, Darling«, beichtet mir Elizabeth mit einem verlegenen Lächeln.

Ich streiche Neal über den Rücken und setze mich dazu.

Ben lacht. »Eigentlich wollte Elizabeth Neal Geschichten über dich erzählen.«

Neal schaut mich an und streichelt sanft meine Hand.

Ich zucke mit den Schultern. Elizabeth ist halt, wie sie ist.

»Ich koche heute Abend, ist das euch beiden recht oder habt ihr jetzt Hunger? Bleiben Sie denn bis heute Abend?«

»Ist okay«, antworte ich und schaue weiter Neal an. Ben räuspert sich.

»Neal erzählte uns, ihr wollt faulenzen? Geht ins Wohnzimmer«, sagt er, als wären wir kleine Kinder.

»Ich würde gerne vorher noch etwas arbeiten. Wo hast du meinen Laptop hingestellt?«

»Oben ins Schlafzimmer. Ich hole ihn.« Oben ins Schlafzimmer? Wie kam ich auf die Idee, ihn dort hinzustellen? Anscheinend ist mein ganzer Körper seinetwegen out of control.

Wir sitzen wirklich den ganzen Tag auf dem Sofa und es ist ein Bild für die Götter, Neal beim Arbeiten zuzuschauen. Vor allem fühlt es sich sehr gut an. Ich habe mir ein Buch zum Lesen von Elizabeth ausgeliehen und schiele ab und zu zu dem gutaussehenden Mann neben mir. Wenn er es bemerkt, zieht er jedes Mal an meinen Füßen und grinst. Dabei verzieren kleine Grübchen seine Mundwinkel.

Manchmal schaut er auch zu mir rüber und ich muss anfangen zu lachen.

Der Kamin knistert derweil vor sich hin, ansonsten ist es ganz still im Wohnzimmer. Außer wenn Neal leise flucht oder stöhnt, dann bricht die Stille und seine warme Stimme erfüllt den Raum.

Ich weiß nicht, was er da überhaupt macht. Dennoch ist es unheimlich interessant, ihn dabei zu beobachten. Seine Mimik und Gestik zu betrachten, wenn er etwas hinbekommt oder es nicht funktioniert, wie er es will.

Er streicht sich regelmäßig über seinen fast rasierten Kopf. Mir ist es schon öfter aufgefallen, es sind Angewohnheiten, welche man schlecht ablegen kann. Er macht es, wenn er unbeholfen ist, nicht weiter weiß oder sich zusammenreißen muss.

Langsam wird es dunkel und ich schlage das Buch zu, sodass ein kleiner Knall ertönt. Neal schaut mich erschrocken an. Ich nehme ihm den Laptop weg und stelle ihn auf den Couchtisch. Anschließend rutsche ich auf seinen Schoß. Dieser Mann ist einfach scharf. Seine Grübchen und seine verschiedenen Augenfarben machen ihn für mich zum Blickfang.

Er beißt sich auf die Lippe und lächelt verschmitzt. Ich starre regelrecht auf seinen Mund, bevor ich beginne, ihn zu küssen. Seine Hände schmiegen sich um meinen Körper und bauen einen gewissen Druck auf, dabei komme ich ihm noch näher. Langsam schiebt er seine Zunge in meinen Mund und erforscht ihn. Meine Hände legen sich um seinen Nacken und ich streiche ihm, als ich aufhöre, ihn zu küssen, über seine Haarstoppel.

»Du kennst wohl den Begriff ›faulenzen‹ nicht? Es ist schon Abend und du bist noch am arbeiten, obwohl du mich kennenlernen wolltest.« Ich ziehe ein beleidigtes Gesicht. Ich bin ja selbst so und weiß nur zu gut, wie es ist, nicht aufzuhören. Dennoch stört es mich, wahrscheinlich, weil ich selbst nicht arbeite.

»Okay, du hast recht. Ich höre auf.« Er hält mich fest, drückt mich wieder dicht an sich und küsst meinen Hals. Seine Zunge gleitet über meine Haut und meine Lust steigt bei jeder weiteren Berührung von seinen feuchten Lippen an meiner erhitzen Haut. »Du machst mich wahnsinnig, Amelia«, haucht er mir ins Ohr.

Die Lust lässt meine Mitte pulsieren und ich bewege mich einen Hauch auf seinem Schoß. Er reagiert sofort auf mich und wird hart.

Mir fällt die letzte Nacht ein und es zieht sich alles in mir zusammen. Meine Hände lasse ich auf seine Schultern fallen und schaue in seine glühenden Augen. Er hebt meinen Kopf mit zwei Fingern hoch und fasst an meine Taille, um mich noch näher bei sich zu haben. Meine Sorge um letzte Nacht verschwindet, als ich seine weichen Hände auf meiner erhitzten Haut spüre und das Pulsieren in meiner Hose kehrt zurück. Neal küsst mich weiter und zieht mir meine Strickjacke aus. Wir atmen beide schwer und ich kreise meine Hüften. Er stöhnt und berührt meine Brust. Dadurch, dass ich Leggings trage, spüre ich ihn stärker an meiner empfindlichen Stelle. Seine Männlichkeit drückt sich durch seine Jeans direkt an meine Mitte und ich reibe mich an ihm.

Es klopft an der offenen Tür. »In fünf Minuten gibt es Essen, ihr zwei. Ich hoffe, ihr habt Hunger.« Elizabeth guckt schnell weg, als sie uns sieht.

 »Oh ja und wie!«, sagt Neal laut und deutlich und seine Hand findet den Weg in meine Leggings. Ich stöhne auf, Elizabeth ist weg und Neal küsst mich ungeniert weiter. Anscheinend ist es ihm egal, dass sie uns so sieht.  

»Ich will dich, aber wir sollen essen gehen«, flüstere ich.

»Wirklich?«, fragt er und spielt weiter an mir herum. Ich greife nach seiner Hand, die in meiner Leggings verschwunden ist, und stoppe seine Spielereien.

»Ja, aber wir sollen wirklich essen gehen.«

»Du hast recht. Ich könnte dich aber auch auffressen.« Er nähert sich meinem Hals und beißt vorsichtig herein. Ich kann mir ein Kichern nicht verkneifen.

»Nein, das wäre Kannibalismus und ich schmecke überhaupt nicht.« Als ich seine Hand aus meiner Leggings ziehe, lässt er mich gehen, und fasst sich kurz in den Schritt.

Gemeinsam gehen wir in die Küche und setzen uns. Elizabeth hat Kartoffelsuppe gekocht und sie schmeckt großartig.

»Wir wollen später Karten spielen, habt ihr Lust mitzuspielen?«, fragt Ben.

Ich beobachte Neal und warte auf seine Antwort.

»Gerne, ich habe schon ewig keine Karten mehr gespielt.« Neal freut sich über die Einladung.

Elizabeth lacht. »Wirklich? Wir spielen ganz oft.«

Ich lache mit und füge hinzu: »Ja, und trinken Schnaps oder Grog und so.« Eigentlich trinken sie mehr, als dass sie spielen.

»In einem gewissen Alter darf man mehr Alkohol trinken«, weist mich Elizabeth zurecht.

Neal fängt an zu lachen. »Worauf habe ich mich hier eingelassen?«

»Auf die alten Leute«, scherze ich und ziehe die Augenbraue hoch. Dabei schaut mir Neal direkt in die Augen.

Nach dem Essen sitzen wir alle am Tisch und spielen Rommé und Mau-Mau. Neal muss aussetzen, weil ich eine Acht auf den Stapel gelegt habe. Er sieht mich beleidigt an, denn er hat nur noch eine Karte auf der Hand.

Mit einem breiten gehässigen Grinsen frage ich: »Habe ich dir jetzt deinen Sieg versaut?« Neal schielt wieder zu mir herüber und antwortet gar nicht, was mich jetzt erfreut, weil ich recht habe.

»Wissen Sie, Neal, man denkt, Amelia ist Polizistin, sie muss sehr ordentlich und genau sein, aber der Schein trügt«, plaudert Elizabeth nun aus dem Nähkästchen und brummt mir eine Sieben auf. Ich stöhne und ziehe meine zwei Karten.

»Das kann ich mir kaum vorstellen«, antwortet Neal. Er legt nun doch seine letzte Karte auf den Stapel. »Mau-Mau«, erklingt es aus seinem Mund und er grinst mich an, als wolle er sagen: »Ich habe gewonnen.«

Ben legt die nächste Karte drauf und dann Elizabeth.

»Das habe ich mir gedacht. Wissen Sie, manchmal stolpert Amelia über etwas, was sie selbst in den Weg gelegt hat. Einmal hat sie ihre Handtasche in den Flur gestellt, damit sie sie nicht vergisst.«

Ich werfe lässig meine letzte Karte auf den Stapel.

»Mau-Mau!«, sage ich laut und unterbreche kurz die Erzählung von meiner alten Freundin.

»Sie ging aus dem Haus, fuhr los und kehrte schnell wieder zurück«, erzählt sie weiter und Neal beginnt laut zu lachen.

»Lassen Sie mich raten. Sie hat die Handtasche vergessen?«

»Richtig«, antwortet sie und schaut mich durch ihre Brille mit einem mütterlichen Blick an. Neal muss sich ein paar weitere Erlebnisse anhören, über mich und meine vergessliche, chaotische Art, während wir trinken und spielen. Es ist manchmal furchtbar mit mir, alle lachen und finden es witzig, außer mir. Neal gibt mir ab und zu einen liebevollen Kuss. Es ist so seltsam vertraut, als würden wir uns schon lange kennen. Er hat absolut keine Scheu, mich zärtlich zu berühren. Es ist ein schöner Abend und ich genieße ihn richtig. Doch es fehlt jemand - mein Löckchen. Sie hat heute gar nicht angerufen. Ich nehme mein Handy und tippe eine Nachricht. Harin schreibt sofort zurück und ich bin beruhigt. Melanie ist auf dem Sofa eingeschlafen.

Ben holt UNO-Karten aus der Schublade und wirft mir einen bösen Blick zu. »Amelia, wirst du dich heute benehmen?«

Ich lache. Ich bin ein Arsch, wenn wir UNO spielen. Ich kann nicht anders und habe dabei Glück.

»Immer Ben, immer. Dafür sind wir heute Abend zu viert und du sitzt nicht neben mir.« Ich deute auf Neal und Elizabeth.

Ben grinst. »Amelia, du bist wirklich gemein. Du sollst Neal nicht verjagen.«

Mein Gast schaut skeptisch zu mir rüber.

»Ach, das muss er vertragen können«, antworte ich und zwinkere Neal zu. Wir spielen ein paar Runden. Neal nimmt es mit Humor, dass er meinetwegen so viele Karten ziehen muss und am heutigen Abend das erste Mal verliert. Es ist schön, zu sehen, dass er kein Spielverderber ist.

»So, wir gehen ins Bett.« Die grauen Herrschaften stehen auf, als wir gerade mit dem letzten Spiel fertig sind. Ben räumt die Karten weg und die zwei gehen aus der Küche.

»Ich schätze, du fährst heute nicht mehr nach Hause?«, sage ich leise und lege meinen Kopf zur Seite. Dabei richte ich den Blick auf das Glas mit Alkohol.

»Ich denke nicht.« Neal zieht mich auf seinen Schoß und wir machen dort weiter, wo wir im Wohnzimmer aufgehört haben. Ich lehne mich zurück, um mich richtig auf seinem Schoß zu platzieren. In dem Moment ertönt nur ein dumpfes Geräusch und spüre, wie mein Rücken nass wird. Ein klirrendes Geräusch folgt und währenddessen hebt mich Neal schnell hoch.

»Fuck!« Ich drehe meinen Kopf auf den Boden. Die Rotweinflasche liegt in Einzelteilen auf den Marmorfliesen. Ausgerechnet mir passiert es. Neals Hose ist durchnässt und mein Rücken ebenso. Typisch. Neal fängt an zu lachen und lässt mich von seinen Armen herunter. »Anscheinend passieren uns solche Missgeschicke öfter.«

»Ach, Scheiße, wer stellt denn die Flasche da hin!«, fluche ich und schaue ihn grimmig an. Ich weiß genau, dass ich es war, und das ärgert mich am meisten. »Zieh die Hose gleich aus, wir waschen sie morgen früh und lassen sie über Nacht im kalten Wasser einweichen. Ich glaube, das soll helfen.«

Er lacht unaufhörlich, zieht sich bis zur Boxershort aus und ich wische die Sauerei weg. Wie kann man nur so ungeschickt sein?

»Vielleicht warst du am Donnerstag mit Schuld«, zieht er mich echt auf.

»Werd nicht frech, junger Mann.« Tapfer versuche ich, mich zu wehren. Ich ziehe meine nasse Kleidung aus und schmeiße alles in eine Wanne mit kaltem Wasser. Elizabeth wird morgen früh wissen, was zu tun ist. Sie bekommt immer alles sauber. Sie kennt alle Tipps und Tricks.

Neal gibt mir einen Klaps auf meinen Po. Ich schreie auf, weil ich nicht damit gerechnet habe.

Er packt mich und fragt mit heißer Stimme: »Und, was machen wir jetzt? Halb nackt?«

»Folge mir«, hauche ich ihm zu. Ich schaffe das dieses Mal. Es werden mir keine Erinnerungen kommen. Alles wird gut.

Wir schaffen es bis zur Hälfte der Treppe Richtung Schlafzimmer. Neal drückt mich gegen die Wand und küsst mich.

»Wenn ich deinen Po vor mir hin und her wackeln sehe, macht mich das ganz verrückt, Amelia.« Er küsst mich am ganzen Körper und fasst in meinen Slip.

Heilige Mutter Gottes, was macht dieser Kerl nur mit mir? Ich stöhne auf und werde schwach. Sein steifer Schwanz streift durch den dünnen Stoff seiner Shorts meine Schenkel. Ich ziehe seine Hand aus meinem Slip und schleife ihn regelrecht hinter mir her. Als wir im Schlafzimmer angekommen sind, halten seine Hände mein Gesicht fest und er schaut mir in die Augen.

»Wir probieren heute etwas anderes. Ich möchte nicht, dass du wieder Panik bekommst und mich wegstößt. Ich weiß nämlich, eigentlich willst du dasselbe wie ich.«

»Und was will ich?«, frage ich und lege mich ins Bett. Er kommt auf mich zu. Meine empfindliche Stelle am Nacken kennt er schon, denn er kommt ihr ganz nah.

»Mich«, haucht Neal mir sanft ins Ohr und knabbert daran. Mein Atem stockt. Er öffnet meinen BH und lässt die Träger langsam von meinen Armen heruntergleiten. Neal küsst mich vom Hals an abwärts. Seine Lippen glühen auf meiner Haut und meine Brüste sind in seinem Besitz. Mir entrinnt ein leises Stöhnen. Seine Finger ziehen an meinen Brustwarzen, bevor er die linke in den Mund nimmt und an ihr knabbert. Sofort werden beide hart, dabei zieht sich eine Gänsehaut über meinen Körper. Seine Liebkosungen sind so sinnlich, dass das Gefühl von purer Leidenschaft in mir erwacht. Ich winde mich unter ihm und er genießt es, denn sein Grinsen und seine Augen sagen mehr, als Worte könnten. Über meinen Bauch streift seine Erektion, die durch die Lusttropfen Spuren hinterlässt. Auf meiner erhitzten Haut fühlen sie sich kalt an und prickeln. Er beißt sich auf die Unterlippe, während er sich vor mich kniet, dann zieht er meinen Slip aus und küsst mich ganz sanft auf meine Mitte.  

Mir wird heiß und ich fühle mich wie im Rausch. Ich bin kurz vorm Höhepunkt. Seine Finger kreisen im gleichen Rhythmus, in der seine Zunge sich bewegt. Mein Körper zittert. Ich lass mich gehen, stöhne innerlich auf und genieße den besten Orgasmus der letzten Jahre. Es ist wie ein Feuerwerk, das gerade explodiert und eine lange Zündschnur hatte.

Neal hält kurz Abstand und beobachtet mich. Er beugt sich zu mir und schenkt mir einen langen Kuss.

Mit meinen Fingern umschlinge ich seine Männlichkeit, denn ich will mich revanchieren.

Er schnappt nach Luft. Ich schaue, um mich zu vergewissern, dass es ihm gefällt, noch einmal hoch zu ihm, ehe ich sein Glied mit meinen Lippen umschließe.

Seine tiefe Stimme erklingt. »Oh Amelia ...«

Nun weiß ich, dass ich gerade alles richtig mache. Seinen Lusttropfen nehme ich in mir auf und spiele mit meiner Zunge an der Kuppe. Er legt seinen Kopf entspannt in den Nacken, während ich meine Lippen gegen seinen Schwanz presse und immer schneller an ihm auf und ab gleite.

»Amelia, scheiße!« Er packt meine Haare und zieht an ihnen. Ich lass mich davon nicht ablenken und kralle mich in seinen Oberschenkel, bis er sich in meinem Mund ergießt.

Wenigstens klappt das … Als ich vor ihm sitze, schaue ich mir Neal genau an. Er ist wirklich schön. Nicht so perfekt. Sondern schön. Ein Auge ist grün und das andere hat einen Braunstich. Über eins seiner Muttermale fährt eine Schweißperle entlang. Ich schlucke sein Sperma und Neal zieht mich zu sich. Sein Atem ist noch schwer.

»Was machst du bloß mit mir?«, flüstere ich ihm zu, als ich meinen Kopf auf seine Brust lege.

Er grinst. »Ich würde sagen, das beruht auf Gegenseitigkeit. Geht es dir gut?«

Normalerweise ist das die Zeit abzuhauen, doch da wir in meinem Haus sind, ist das schwierig. Und rauswerfen kann und will ich ihn nicht. Bevor ich überhaupt antworten und weiter über die Strategie nachdenken kann, fallen mir meine Augen zu.

 

Ich taste nach meinem Handy, es ist 3:00 Uhr nachts. Das sollte hier nicht so laufen. Neal liegt neben mir. Mein Herz wird schneller. Mir wird ganz anders. Ich versuche, mich von Neal zu lösen, um aufzustehen. Ich habe in diesem Haus genug Betten. Ich muss woanders schlafen.

Gerade als ich aufstehen will, hält er mich fest. »Wo willst du hin?«, murmelt er. Fuck, er ist wach geworden. »Du wohnst hier, du kannst nicht weglaufen. Komm wieder her.« Er zieht mich an meiner Taille und ich lege mich hin. »Siehst du, es ist gar nicht so schwer, oder?«, brabbelt er total verschlafen. Er wirkt glücklich. Wenn er wüsste …

Ich achte auf seinen ruhigen Atem und konzentriere mich auf seinen Rhythmus, um keine Panik zu bekommen, und schlafe erneut ein.

 

Siebtes Kapitel

 

Es summt ein Handy. Ich öffne langsam meine Augen und schließe sie gleich wieder. Es ist nicht meins.

»Mum, du wirst sie noch kennenlernen, nicht heute und nicht gleich morgen. Ich hätte es dir schon noch erzählt.« Mit diesem Satz werde ich wach. Ich strecke mich und begutachte meinen Übernachtungsgast. Er verdreht die Augen und zuckt mit seinen Schultern, dabei läuft er im Schlafzimmer auf und ab. »Mum, ich lege auf, wir sehen uns morgen in der Firma.« Schließlich kriecht Neal zu mir ins Bett. »Guten Morgen.« Er gibt mir einen Kuss und starrt regelrecht auf meine Narbe an der Schulter. »Was ist da passiert?«

»Ich wurde angeschossen. Nichts Schlimmes. Ein Streifschuss.« Ich versuche, es herunterzuspielen. »Die Situation damals war heftig, der Schuss selbst ist nur die Spitze gewesen. Im Nachhinein jedenfalls. Bill und ich haben nicht aufgepasst und es gab eine Schießerei«, erzähle ich weiter. »Jason ist damals stinksauer gewesen und hat Bill ein blaues Auge verpasst. Das hat Jason im Nachhinein ziemlich leidgetan. Bill hat es auf die leichte Schulter genommen, so wie er halt ist«, erkläre ich und zucke mit den Schultern. Neal reißt die Augen auf, als ob ich ihm gerade erzählt hätte, dass die Welt untergehen wird. Es sieht etwas witzig aus.

»Ich glaube, du solltest nicht früher anfangen zu arbeiten.«

Wie kommt er denn plötzlich darauf? Ich schaue ihn fragend an und ziehe meine Braue hoch.

»Na ja, ich hätte ein kleinwenig länger Zeit, mich daran zu gewöhnen.«

Ich schmunzele. Er ist auf der einen Seite so klar und dominant und auf der anderen Seite so verletzlich. Sein Blick wird etwas düster und dabei bilden sich zwei kleine Falten auf seiner Stirn. Er ist beleidigt.

Wie lange soll das mit uns gehen?

»Deine Mutter hat nach mir gefragt?« Ich versuche, ihn auf andere Gedanken zu bringen.

»Also im Themenwechsel bist du ziemlich gut. Ja. Sie erfuhr gestern Abend, dass mich eine hübsche Frau zu Dominik begleitet hat. Sie war ganz außer sich und neugierig. Ich habe ihr gesagt, dass ich dich ihr irgendwann vorstellen werde.«

Vorstellen? Ich weiß, ich habe das eben schon mitbekommen, trotzdem. Ich dachte, vielleicht hat er es einfach nur so gesagt. Gut, dass in drei Tagen die rosa-rote Welt ein Ende hat und ich zurück in Berlin bin.

»Okay«, antworte ich, keine Ahnung, was ich darauf sonst antworten soll.

»Was ist mit deinem Vater?«

»Den interessiert sowas weniger. Er freut sich, er ist allerdings nicht so aufgebracht wie Mum. Sie ist halt neugierig. Wie ältere Frauen nunmal sind.« Neal macht sich über seine eigene Mutter lustig.

»Bist du ihr einziges Kind?«, hake ich weiter nach, streiche über seine Haarstoppel am Kopf und kraule ihn im Nacken, während er die ganze Zeit mit seinem Zeigefinger über meinen Bauch fährt.

»Um Gottes Willen.« Er lacht. »Ich glaube, die alleinige Fürsorge meiner Mum hätte mich erdrückt. Ich habe noch eine jüngere Schwester, sie heißt Luzie. Und du?«

»Ich habe auch eine Schwester, Emma, sie ist älter als ich.«

»Also musstest du auch die Liebe deiner Eltern teilen. Wo wohnen deine Eltern eigentlich? Du willst sie doch bald besuchen.«

»Ich bin in einer kleinen Stadt in Baden Württemberg aufgewachsen. Dort leben sie immer noch.«

Neal fängt an, meinen Bauch zu küssen, und zieht meinen Slip über meinen Po. Ich muss lachen und ziehe Neal zu mir hoch. Wie kann er bei einem Gespräch über unsere Familie Lust bekommen? Meine Gedanken schweifen ab und ich versuche, mich auf ihn zu konzentrieren und an nichts anderes zu denken, so wie gestern Abend. Mein Gast küsst mich und stöhnt, als ich ihn an seiner empfindlichen Stelle berühre.

Wie gerne würde ich ihn in mir spüren. Jedoch zieht sich bei dem Gedanken daran, erneut Panik zu bekommen, alles in mir vor Angst zusammen. Wir sind schon so intim geworden und ich schaffe es nicht, Neal in mich eindringen zu lassen.

»Ist alles okay?«, fragt er mich, als ob er es mir ansehen würde.

»Ja, es ist alles gut. Ich würde nur gerne …« Bevor ich weiterreden kann, stoppt er mich mit einem Kuss.

»Ich habe sechs Jahre auf eine Frau wie dich gewartet, da kann ich auch auf den Sex warten. Ich schätze, das Warten lohnt sich, wenn du jetzt schon so tollwütig bist«, sagt er und redet weiter. »Du solltest nicht so viel nachdenken über dich. Du bist eine gestandene Frau, manchmal hast du richtige Selbstzweifel. Komm, wir stehen auf, ich habe Hunger.«

Tollwütig? Ich schüttle den Kopf. Dieser Mann ist mit sich im Reinen und weiß, was er will. Was heißt ›auf eine Frau wie mich gewartet‹? Ich muss ihn unbedingt fragen, was das hier zwischen uns ist, was er sich bei uns erhofft. Er kennt mich seit drei Tagen und plant schon ein Treffen mit seinen Eltern … Ich mache mir rund um die Uhr viele Gedanken und gehe viele verschiedene andere Möglichkeiten durch. ›Was wäre wenn‹ bekommt bei mir wirklich einen hohen Stellenwert und eine neue Bedeutung, aber ›Was wäre, wenn ich seine Eltern kennenlerne‹ kam mir noch nicht in den Sinn, genauso wie ’Was wäre, wenn Neal Melanie oder Harin kennenlernt‹.

»Ich habe gar nichts zum Anziehen, alles ist noch voller Wein«, sagt er laut und stört mich beim Denken. Ich erinnere mich an letzte Nacht. Die Kleidung ist bestimmt noch in der Waschmaschine und wenn nicht, ist sie noch nicht trocken. Ich stelle mir vor, wie er den ganzen Tag nur in Shorts rumlaufen würde.

Er schaut mich an. »Na, an was denkst du gerade?«

Ich merke, wie ich grinse. »An nichts«, lüge ich.

»Wie du willst.«

Ich gehe in den begehbaren Kleiderschrank und suche ein paar Anziehsachen heraus, drehe mich um und ziehe Männerkleidung aus dem Regal. Eine Hose, einen Pullover und Unterwäsche. Ich drücke sie ihm in die Hand mit den Worten: »Das könnte dir passen. Jason hatte ungefähr die gleiche Größe wie du. Ich habe es nie geschafft, die Sachen wegzuwerfen. Elizabeth wäscht sie sogar manchmal.«

Er zieht sich nach dem Duschen an und verliert kein Wort darüber. Die Sachen passen ihm wie angegossen und er trägt sie mit einem ganz anderen Stil, als Jason es getan hat. Jason war eher der sportliche, coole Kerl. Neal trägt es mit Eleganz und Klasse.

Als wir unten in der Küche sind, ist für uns bereits gedeckt.

Elizabeth kommt herein. »Guten Morgen ihr zwei. Eure Kleidung ist noch in der Maschine, ich hoffe, die Rotweinflecken gehen raus. Neal, wie lange bleiben Sie? Falls Sie länger bleiben, würde ich sie noch in den Trockner stecken.« Sie schaut ihn über ihre Brille an und erkennt, dass er Jasons Sachen trägt. Ihr Blick wandert von ihm zu mir, hin und her, und dann bleibt ihr Blick bei mir stehen.

»Ich weiß nicht, wie lange ich bleiben darf«, antwortet er und schaut mich fragend an.

Ich bin hier und habe nichts vor. Es wird nur langsam seltsam. Ich habe schon zwei Nächte neben ihm geschlafen. Nie, niemals schlafe ich neben jemandem, außer neben meiner wundervollen Tochter.

»Amelia, du bist immer in Gedanken und hörst nicht zu«, ermahnt mich Elizabeth.

»Ich höre zu, ich denke nur nach«, quittiere ich. »Neal, du kannst gerne bleiben, solange du möchtest.« Sie hat mich beim Denken gestört und ich sage so etwas. Klar würde ich mich freuen, wenn wir noch einen Tag zusammen verbringen könnten, allerdings ist und bleibt es seltsam. Und wenn ich ehrlich bin, war die Reise hierher gar nicht so verkehrt, wie ich anfangs gedacht habe. Ich war schon lange nicht mehr so unbeschwert. Vielleicht hat Neal recht und ich sollte die vier Wochen wirklich beanspruchen. Andererseits vermisse ich die Arbeit.

Wir entscheiden uns, an den Hafen zu fahren und dort den Tag zu verbringen. Er erzählt mir, dass sein Vater Bauunternehmer ist wie sein Großvater. Er konnte damit wenig anfangen, also studierte Neal Architektur und zusätzlich BWL als Nebenfach, um später das Unternehmen weiterführen zu können. Sie haben oft große Aufträge, auch im Ausland. Seine Schwester Luzie ist Sozialarbeiterin und arbeitet in einem Frauenhaus. Seitdem engagiert er sich viel gegen Gewalt an Frauen und Kindern. Außerdem zeigt er soziales Engagement bei dem Thema psychische, seelische und geistige Gesundheit. Er kennt ein paar Menschen, die sich das Leben nahmen oder es versucht haben, weil sie Depressionen hatten und keiner es erkannte oder sie keine Hilfe suchten. Er erklärt mir, dass es wichtig ist, mit sich selbst im Reinen zu sein, dass es einem gutgehen muss, und wenn man dafür um halb drei ein Nickerchen machen muss oder einfach Barfuß auf einer Wiese läuft. Das hilft manchmal schon.

»Du kannst eine Millionen auf dem Konto haben, wenn es dir seelisch schlecht geht, bist du nicht reich.« Er macht daher abends ungern die Straßen unsicher. Er geht lieber gut Essen und unterhält sich.

Eine Weile schweigen wir einfach und schauen den Hafen entlang. »Jetzt sind wir einmal hin und zurück gelaufen und die meiste Zeit habe ich geredet. Erzähl mir etwas von dir, Amelia.«

»Geht es dir jeden Tag gut?«

Neal amüsiert sich. »Ich wollte etwas von dir erfahren, Amelia. Aber nein, mir geht es auch nicht immer gut, jeder hat irgendwann einen schlechten Tag oder eine schlechte Zeit. Ich bin jedoch darauf bedacht, dass es mir gutgeht und ich einmal täglich lächle.« Na ja, er ist wirklich frohen Mutes. Zumindest die letzten Tage, seit ich ihn kenne. Mir fällt niemand ein, der so positiv zum Leben steht wie Neal. Ob seine ganze Familie so ist?

»Also Amelia, du bist dran.«

»Was willst du denn wissen? Du weißt eigentlich schon viel über mich.«

»Ehrlich? Sind arbeiten und deine Tochter dein einziger Lebensinhalt? Ich will alles wissen. Was machst du gerne? Oder erzähl mir von deiner Tochter. Was meintest du gestern damit, dass du immer wegläufst?«

So viele Fragen … Ich rede einfach nicht gerne über mich.

»Ich …«

»Amelia, Neal!« Wir drehen uns synchron um. Lilly und Dominik laufen auf uns zu. Sie sehen glücklich aus und schlendern Hand in Hand zu uns. Als sie vor uns stehen, leuchten ihre Augen.

»Hey, was macht ihr denn hier?«, fragt Lilly und drückt mich, während ich steif wie ein Zementklotz bin. Das geht mir zu schnell. Ich mag sie, aber für eine Umarmung, als wären wir gute Freunde, reicht es nicht. Dominik nickt mir zu, er hat bestimmt mein Unbehagen erkannt, wenn Lilly mich umarmt. Seine Mimik ist zwar ernst, aber wohlwollend.

Neal übernimmt das Wort. »Wahrscheinlich das, was ihr macht.«

»Dominik und ich waren bei meinen Eltern und haben uns überlegt, einfach nochmal am Hafen lang zu laufen. Heute ist schönes Wetter. Nur ziemlich kalt.« Sie reibt sich über die Ärmel ihres schwarzen Mantels. Würde ich nur eine Strumpfhose und Overknees statt meiner Jeans tragen, würde ich sicherlich auch frieren. »Wir könnten heute Abend noch etwas trinken gehen. Wenn ihr nichts anderes vor habt? Wir haben einen Tisch reserviert in der Bar«, bietet Lilly an.

»Solange ihr meine Mutter nicht mitbringt.«

Lilly beißt sich auf die Lippen und schaut betreten von Neal zum Boden. Ertappt. Lilly hat es erzählt.

»Neal, es tut mir leid, ich habe mich nur für dich gefreut und vielleicht ist es mir da bei Dominiks Mama rausgerutscht.« Worüber hat sie sich gefreut? Was denken denn alle, was das hier wird?

Dominik grinst, als ob ihn das gar nicht interessieren würde, und ich stecke meine Hände in die Manteltaschen und strecke sie aus, sodass der Mantel sich nach unten zieht. Mein Kiefer presst sich zusammen und bewegt sich hin und her. Ich atme tief ein und aus, um mich etwas runter zu fahren.

»Also, heute Abend 18:30 Uhr in der Bar?«, hakt Dominik nach.

»Okay, bis später.«

»Seid pünktlich!«, ruft Dominik noch hinterher. Neal winkt ab.

»Wo ist die Bar?«, frage ich Neal.

»Die Bar gehört Lillys Vater in der Altona Altstadt. Die Bar heißt ›Die Bar‹. Einfach aber ziemlich wirksam.« Lilly ist demzufolge ein Kneipenkind.

»Also, du wolltest gerade von dir erzählen, bevor die beiden uns unterbrochen haben.« Er ist wirklich sehr aufmerksam.

»Ich boxe gerne«, haue ich raus.

Neal schaut mich perplex an. Damit hat er wohl nicht gerechnet. Eben wollte ich mich offenbaren, warum ich immer gehe, dann hat Lilly mich in die Realität zurück verfrachtet und ich entschied mich um und improvisiere. »Ich mache das schon seit über zehn Jahren. Mit zwölf fing ich an. Es hat mich interessiert und ich war halt nie dieses typische Mädchen, das Reiterin oder Ballerina werden wollte. Meine Mutter hat anfangs kein gutes Gefühl gehabt, sie fand, es sei zu brutal. Mein Vater war begeistert. Eine Tochter, die boxt. Ich wurde noch nie richtig schlimm verletzt. Nur selten ein blaues Auge oder eine aufgeplatzte Lippe. Die Nase ist noch original.« Ich tippe mit der Fingerspitze auf sie und recke sie in die Luft. Darauf bin ich irgendwie stolz. Die meisten haben schon eine gebrochene Nase gehabt – und wenn sie nur doof gefallen sind.

»Solange du mich nicht boxt«, scherzt Neal. »Ich find es ganz gut. Selbstverteidigung ist wichtig heutzutage, besonders für eine Frau. Und du siehst nicht wie eine Preisboxerin aus«, witzelt er weiter. Mit dieser Reaktion habe ich nicht gerechnet und er greift nach meiner Hand.

Wir laufen zurück zum Auto und fahren erst zu Neal, danach soll es zu mir gehen, damit wir uns für heute Abend fertigmachen können. Im Auto schweigen wir und hören der Musik zu. Neal steht anscheinend auf Klassik. Entweder es ertönt in seinem Auto oder er hat das Radio aus. Vorsichtig drehe ich den Knopf am Radio und mache die Musik lauter.

Ich schaue aus dem Fenster und bewundere Hamburg. Es ist wirklich eine schöne Stadt. Ganz anders als Berlin. Berlin ist auch schön, anders schön.

»Ballade pour Adeline von Richard Clayderman«, informiert er mich.

»Es ist ein tolles Lied, so einfühlsam. Du hörst gerne die Art von Musik?«

»Ja, es beruhigt mich. Meine Eltern nahmen uns schon früh mit in irgendwelche Konzerte oder ins Ballett«, erklärt er und ich genieße die Melodie aus dem Lautsprecher.

 

Als wir in meinem Schlafzimmer sind, rufe ich aus dem Kleiderschrank heraus: »Wie schick ist diese Bar?«

»Na ja.« Ich drehe mich um und sehe Neal in einer schwarzen Jeans, weißem Hemd und Sakko. Alles klar, die Frage wurde mir gerade beantwortet. Warum geht man sonntagabends in so eine Bar? Ich würde eher in eine Kneipe gehen und das Wochenende ausklingen lassen.

»Du musst gar nichts sagen. Die Frage hat sich erledigt.« Ich hebe meine Hand und winke ab.

»Amelia, du wirst schon etwas haben. Du siehst immer toll aus«, ruft er mir hinterher.

»Charmant wie eh und je«, rufe ich zurück und höre seine tiefe, schöne Lache.

Ich entscheide mich für ein älteres Kleid. Jason hat es mir gekauft, als wir hier in Hamburg waren. Mir war es zu teuer. Als ich schon in einem anderen Laden nach Schuhen schaute, ging er in die Boutique und kaufte es heimlich. Es ist ein olivgrünes, seidenes Kleid, welches mir bis zu den Knien geht. Ganz schlicht mit Rundkragen. Ich trete aus dem begehbaren Kleiderschrank und stelle mich vor Neal. Ich bin mit mir selbst zufrieden. Dass ich mich das letzte Mal so schick gekleidet habe, ist schon lange her. Ich glaube, das war die goldene Hochzeit meiner Großeltern, und heute Abend mache ich das nur für eine Bar. Heidewitzka.

Neal sagt nichts, er lächelt und hat den Mund ein Stück geöffnet.

»Ich fasse das als Kompliment auf«, sage ich und tippe ihn an die Schulter.

Langsam steigt mein Selbstbewusstsein wieder. Die letzten Tage hatte ich das Gefühl, als hätte es sich hinter meiner errichteten Mauer versteckt, obwohl es eigentlich der General ist.

»Amelia, du siehst atemberaubend aus.«

»Danke«, sage ich und drehe mich verlegen auf den Fußballen.

»Wo schlafen wir denn heute?«, fragt Neal.

»Neal«, ich hole tief Luft, »was ist das zwischen uns? Oder was wird das zwischen uns? Ich dachte, wir schlafen getrennt, da du morgen arbeiten musst.« Ich stemme meine Hände in die Hüften und stehe etwa vier Meter von ihm entfernt. Ich bin verwirrt. Ich weiß selber nicht, wie das werden soll, wenn ich zu Hause in Berlin bin. Einerseits möchte ich ihn wiedersehen, andererseits nicht. Ich bin froh, wenn das alles vorbei ist. Alle haben Erwartungen und erhoffen sich etwas.

Er zögert. Ich merke, er will etwas sagen, tut es jedoch nicht und überlegt.

Also füge ich hinzu: »Neal, es ist nicht meine Art, neben einem Mann einzuschlafen und aufzuwachen. Du bist der Erste, seit Jason tot ist.« Somit beantworte ich seine Frage von heute Nachmittag am Hafen. Er sieht genauso verwirrt aus, wie ich mich fühle. Vielleicht nur durch das alles. Er verzieht keine Miene und seine Arme hängen gerade neben seinem Körper herunter.

 »Amelia, keine Ahnung, was das ist oder was da entsteht.« Er deutet mit den Händen auf uns. »Ich weiß nur eins: Ich habe dich sehr gerne und ich fühle mich in deiner Nähe wohl. Du fährst bald zurück nach Berlin und ich weiß nicht, was danach sein wird. Ich hoffe, wir werden uns trotzdem sehen können. Wenn es nicht deine Art ist, neben einem Mann zu schlafen, tust du das trotzdem bei mir.«

Wir stehen wie angewurzelt gegenüber und keiner sagt mehr ein Wort. Ich weiß gar nichts mehr. Ich habe mit ihm schon mehr geredet, als ich es sonst mit einem Mann tue.

»Wir sollten zur Bar fahren, um nicht zu spät zu kommen. Wenn du bereit bist?«, schlägt er vor und ich widerspreche nicht. Wir haben entschieden, dass ich mit meinem roten Flitzer fahre, und Neal noch eine Nacht bei mir schläft, einfach, weil es kürzer zu seiner Arbeit ist. Neal erklärt mir den Weg. Es ist gar nicht so weit, innerhalb von zwanzig Minuten sind wir dort.

Dominik und Lilly sitzen bereits in einer abgeschotteten Ecke auf zwei Ledersessel. »Hallo ihr beiden.« Dominik begrüßt mich mit Handschlag, Lilly umarmt mich, während ich wieder einmal steif bleibe.

»Amelia, wo wohnst du eigentlich? In der Nähe?«, fragt Dominik interessiert und stellt sein Getränk auf den rustikalen Tisch in der Mitte.

»Ich habe ein Haus in Hamburg geerbt. Eigentlich wohne ich in Berlin. Ich mache hier nur Urlaub.«

»Berlin ist bestimmt nicht so schön wie Hamburg, oder?«, fragt Lilly, doch es klingt wie eine Aussage. »Hast du mal überlegt, nach Hamburg zu ziehen?«

Neal schaut mich gespannt an und wartet auf meine Antwort.

»Hamburg ist anders. Es ist eine schöne Stadt, dennoch schlägt mein Herz für Berlin. Ehrlich gesagt habe ich nie darüber nach gedacht, umzuziehen.«

Lilly lächelt mich an. »Dann solltest du das tun. Jetzt, wo du Neal und uns kennst.« Sie setzt sich aufrecht hin und präsentiert sich. Dominik schiebt ihr einen bösen Blick zu. »Lilly, du kannst doch Amelia nicht vorschlagen, hierher zu ziehen. Sie hat dort ihr Leben. Misch dich nicht bei sowas ein.«

Allerdings. Und ich will im Moment niemanden vor den Kopf stoßen. Sie sind alle sehr nett zu mir.

»Und du, Dominik, solltest meinen Vorschlag nicht gleich mies machen. Es ist ja nur eine Überlegung.«

Neals Augen funkeln und es entstehen kleine Fältchen um seine Augen durch das Lachen, welches mich ansteckt.

Sie sind süß zusammen, selbst wenn sie diskutieren. Ob sie manchmal richtig streiten, mit anschreien und Gegenstände durch die Gegend werfen, bis einer die Wohnung oder den Raum verlässt, um hinterher zu fragen, ob man hereinkommen darf, sich küsst und den besten Sex ever hat?

»Ist schon okay, ich bin sowieso auf Wohnungssuche«, sage ich einfach daher, um beide zu beruhigen. Neals Augen leuchten, als ich das sage.

»Ich hoffe jedenfalls, dass du nun öfter nach Hamburg kommst. Mit den zwei Jungen wird es langsam langweilig. Ich brauche ein Mädchen in meiner reichen Welt.« Lilly zeigt auf Neal und Dominik und lacht laut auf. Beide runzeln die Stirn und schauen sie strafend an.

»Was ist mit euch, wie habt ihr euch kennengelernt?«, frage ich neugierig, um dieses Thema endlich zu beenden. Es interessiert mich wirklich, weil sie einfach so perfekt aussehen und andauernd am Strahlen sind. Auch bei dieser Frage leuchten die Augen der beiden und sie schauen sich innig und lange an. Dominik nimmt Lillys Hand. Es ist total schnulzig.

»Wir haben uns hier kennengelernt. Lilly hilft ihrem Vater ab und zu aus. Sie bediente uns. Sie sah aus wie ein Engel. Die Haare zu einem lockeren Dutt gebunden und ein hellblaues Kleid mit weiten Ärmel hat sie wie von einem anderen Stern aussehen lassen.« Ich dachte, sie hätten sich an der Uni kennengelernt. Anscheinend ist Lilly von Hause aus nicht reich. Obwohl die Bar sehr danach aussieht. Wie sagt man so schön? Nicht alles ist Gold, was glänzt.

»Das weißt du noch?« Lilly ist überrascht.

»Natürlich weiß ich das noch«, bestätigt er.

Sie hebt sein Kinn hoch und küsst ihn liebevoll. »Na ja, nach dem Abend kam er jeden Abend in die Bar und wir haben geredet, nur geredet. Und irgendwann hat er mich um ein richtiges Date gebeten. Seitdem sind wir glücklich«, ergänzt Lilly die Geschichte.

Ich trinke einen Schluck Ginger Ale. »Hört sich an, wie in einem Film.« Sie grinsen beide.

Lilly richtet das Wort an mich. »Erzähl mir von deiner Tochter, wie alt ist sie und hast du Bilder von ihr? Wie heißt sie? Oh, ich liebe Kinder.« Sie klatscht in die Hände. Mir fällt auf, dass Neal seit unserer Unterhaltung im Schlafzimmer eher wenig bis gar nicht geredet hat. Er ist ziemlich still. Ich hole mein Handy aus meiner Tasche und zeige ihr Bilder. Auf einem Bild hat Mell ein Eis in der Hand und sitzt auf einer Bank. Sie trägt ein rotes Sommerkleid und einen Sonnenhut, der ihr bis in die Augen fällt. Da waren wir im Park spazieren. Das war ein wunderschöner Tag, nur sie und ich. Diese Tage gibt es viel zu selten.

»Sie ist drei Jahre alt«, ergänze ich zu dem Bild.

»Oh Gott, ist sie süß! Und wie heißt sie? Schaut nur, wie niedlich die Maus ist, Jungs.« Sie klopft Dominik auf die Schulter. Er nickt und Neal lächelt.

»Melanie.«

»Und, sie ist momentan bei ihrem Papa, damit du hier sein kannst ohne sie? Es ist bestimmt entspannend, mal für sich zu sein, aber man vermisst die Kleinen bestimmt unheimlich, nicht wahr?« Die Frage wirft mich aus der Bahn. In meinem Bekannten und Freundeskreis wissen alle, was mit Jason passiert ist, und erwähnen das Thema nicht. Wir schweigen es tot.

Mir kommen die Tränen. Ich drehe schnell meinen Kopf weg und schaue woanders hin. Ich beobachte ein älteres Pärchen. Sie trägt blonde lange Haare und hat einen tollen dunkelblauen Overall an. Er ist Afroamerikaner und trägt einen dunkelblauen Anzug mit weißem Hemd. Sie redet gerade und plötzlich lachen die zwei. Sie sind so verschieden und sehen trotzdem so toll zusammen aus.

»Lilly, das ist eine andere Geschichte, in Ordnung? Wir wollen doch den Abend genießen«, übernimmt Neal für mich das Wort. Ich drehe mich zu ihnen und beende meine Beobachtungen.

»Oh, ich wollte nicht … Tut mir leid, Amelia.« Sie wirkt ganz bedrückt.

Ich versuche, sie anzulächeln, und wische mir die Tränen weg. »Ist schon gut, du konntest es nicht wissen«, muntere ich sie auf. »Du arbeitest hier?«, hake ich nach.

»Nein, nicht mehr, beziehungsweise nur, wenn mein Papa Hilfe braucht. Ich bin Mediengestalterin und bin in der Werbung tätig.«

»Das hört sich gut an.« Sicherlich so etwas Ähnliches wie Harins Arbeit. Eben irgendetwas mit Medien.

Lilly winkt ab. »Ich bin halt kreativ und es macht Spaß. Ich habe einen tollen Chef.«

Wir reden viel über Nichtigkeiten und ich glaube, dass es an der unangenehmen Situation, die Lilly kurz herbeigeführt hat, liegt. Der Abend geht schnell rum. Es ist bereits 22:00 Uhr und die Bar leert sich.

»Wir sollten nach Hause fahren. Morgen ist Montag und ich muss um fünf Uhr aufstehen«, bemerkt Dominik und verdreht die Augen.

Neal lacht. »Schaffst du das überhaupt?«

Dominik schüttelt seinen Kopf und zeigt seine perfekten Zähne. »Keine Ahnung, ich hoffe es, ansonsten habe ich ein Problem. Wir haben morgen mit unserem Team aus Sydney eine Videokonferenz«, erzählt er Neal.

Als wir im Auto sitzen, ergreife ich das Wort. »Danke, dass du eben für mich geantwortet hast«, flüstere ich.

»Dafür musst du dich nicht bedanken«, heitert Neal mich auf.

»Du warst heute sehr still.« Irgendetwas ist los und ich möchte wissen, was es ist.

»Ich habe nachgedacht. Über das, was du heute gesagt hast. Was das zwischen uns ist. Dass es nicht dein Ding ist, neben Männern zu schlafen.« Es ist kurz still im Auto.

Will ich die Antwort wissen? Ich habe Angst vor seiner Antwort, egal, in welche Richtung sie geht. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Warum geht mir das alles so nahe?

»Und hast du eine Antwort?«

»Ich habe für mich eine Antwort, du musst für dich selbst entscheiden.«

»Wie meinst du das?«

»Amelia, hattest du jemals eine andere Beziehung als mit deinem Ehemann?«

»Beziehungen, die auf Sex aufbauten, ja. Jason war die einzige Beziehung, die aus Liebe bestand«, antworte ich ehrlich. Ich war nie darauf aus, in meiner Heimat mit einem von diesen Typen eine ernsthafte Beziehung zu beginnen. Ich weiß nicht, warum, sie haben mich nicht um den Verstand gebracht. Keiner von ihnen hat mich interessiert. Nur zum Ficken waren sie gut. Ich hatte dort ein bis zwei reine Sex-Beziehungen. Keine Verpflichtungen, keine Gefühle. Bis Jason kam. Er hat mir von Anfang an meinen Verstand geraubt.

Neal atmet aus. »Das merkt man. Du musst selbst entscheiden, was du willst. Soll das ein Urlaubsflirt für dich bleiben oder willst du mehr von mir?«

Wir parken im Hof und ich schaue ihn an.

»Wir sind da«, informiere ich ihn leise, obwohl er es selber weiß.

Im Schlafzimmer legen wir uns gleich ins Bett. Er küsst mich, kuschelt sich an mich und schläft ein. Ich kann nicht einfach so einschlafen und denke die ganze Zeit über das Gesagte von Neal nach.

Was will ich? Ich habe ihn wirklich gern, allerdings habe ich Melanie. Er hat zwar nicht direkt darauf geantwortet, dennoch kann man sich die Antwort schon denken. Ich schätze, er will mich. Für ihn bin ich nicht nur irgendeine, das hat er mir in den letzten Tagen oft zu verstehen gegeben. Wenn Melanie ihn stören würde, wäre er schon nicht mehr hier.

Über die Mütter in Mells Kita, die erzählen, sie lernen keinen Mann kennen, weil sie denken, dass ihr Kind den Neuen nicht leiden könne, rege ich mich oft auf. Man kann sowas doch erst entscheiden, wenn der neue Lebensgefährte das Kind kennengelernt hat. Sie haben Angst, sich neu zu verlieben und vor dem Schmerz. Mehr nicht.

Ich kann nicht schlafen. VERDAMMT! WAS WILL ICH?

Vorsichtig und leise stehe ich auf und entscheide mich, eine Etage höher zu gehen, um zu boxen. Das hilft mir, mich aufs Wesentliche zu konzentrieren. Ich stecke mir meine Kopfhörer in die Ohren und fange an.

Was will ich? Ist Neal es wert? Meine Arbeit findet er nicht gut. Aber welcher Mann würde es? Diese unzähligen Fragen.

Bill würde sagen: ›Amelia, wer nicht wagt, der nicht gewinnt.‹ Ich höre seine Stimme innerlich.

Harin wäre bestimmt nicht begeistert. Er ist ziemlich eifersüchtig, dabei geht er fremd in einer Beziehung und wenn er keine Beziehung hat, hat er ständige Affären. Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Einen Grund von vielen, warum das mit uns nicht klappte und es mir nicht viel bedeutet hat. Ich sah seine unzähligen Liebeleien kommen und gehen.

Neal scheint anders zu sein. Ich muss ehrlich zu mir sein. Ich habe ihn gern. Lasse ich ihn gehen, wird es für mich hart, weil ich ihn irgendwie gernhabe und ihn so schnell so nah an mich ließ. Ich wollte nur eine Sache von ihm. Sex. Er nicht, er war wahrscheinlich von Anfang an darauf aus, mich kennenzulernen. Das mit dem Kochen war echt eine blöde Idee. Hätte ich das bleiben gelassen, hätte ich zwar ebenso keinen Sex bekommen, den ich eigentlich immer noch nicht habe, wäre aber auch nicht so hin- und hergerissen. Bleibt er bei mir, wird es für mich genauso hart. Ich muss mich manchmal für meinen Lebensstil rechtfertigen und werde mit hoher Wahrscheinlichkeit über vieles mit ihm reden müssen. Das treibt nur wieder Erinnerungen in mir hoch. An Dinge, die ich bewusst verdränge.

Plötzlich merke ich ein Tippen auf meiner linken Schulter. »Amelia?«

Ruckartig drehe ich mich um, weil ich erschrecke. Durch das Boxen und durch den Schreck atme ich schwer. Neal steht vor mir, total verschlafen. Ich öffne mit meinem Mund die Handschuhe und ziehe mir die Kopfhörer aus den Ohren.

»Du hast mich ganz schön erschreckt«, pruste ich aus mir raus.

Er kratzt sich am Kopf. »Frag mich mal, als ich aufwachte und ich dich im ganzen Haus suchen musste. Was machst du hier?«

Mein Atem ist noch schnell. Ich versuche, ihn zu kontrollieren.

»Ich konnte nicht schlafen, ich wollte dich nicht erschrecken.« Ich wische mir den Schweiß mit einem Handtuch ab. Nicht unbedingt erotisch, egal.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752118117
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Oktober)
Schlagworte
Liebesroman Lovestory Drama Frauenbücher Aktuelle Zeitgeschichte

Autor

  • Ana L. Rain (Autor:in)

1991 erblickte Ana L. Rain im schönen Hessen die Welt. Wo sie heute liebt, liest, schreibt und lebt. Ana ist ein sehr emotionaler Mensch. Genau aus diesem Grund schreibt sie dramatische und zugleich traurige Liebesgeschichten. Sie hat eine Vorliebe zur Körperkunst, die unter die Haut geht und Katzen.
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Titel: Broken Love: Verhängnisvolle Nähe