Lade Inhalt...

Broken Love: Verführende Liebe

von Ana L. Rain (Autor:in)
330 Seiten
Reihe: Broken Love, Band 2

Zusammenfassung

Sie geht durch ihre eigene Hölle – und er versucht sie zu befreien Ein rauer Wind von Schuldgefühlen wütet in Amelia, als sie vor dem Grab ihres Mannes steht. Ihre inneren Ritter haben es geschafft, eine neue Mauer zu errichten und sie will ihr altes Leben zurück - ohne diesen unerträglichen Schmerz. Genau in diesem Moment steht Neal vor ihr und fängt sie auf. Dieses Mal wird er sie nicht gehen lassen, denn er kann sich ein graues und farbloses Leben ohne Amelia und die kleine Mell nicht mehr vorstellen. Schnell wird Amelia klar, dass Neal und seine Familie nicht nur ein dunkles Geheimnis haben. Um eine gemeinsame Zukunft mit Neal haben zu können, muss Amelia über ihre eigenen Grenzen hinauswachsen. Sie steht vor Entscheidungen, die ihr ganzes Leben verändern werden. Kann ihre Liebe den vielen Veränderungen standhalten oder ist Neals Kampf hoffnungslos?

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Ana L. Rain

Broken Love

Verführende Liebe

Roman

Band 2

Für meine

beste Freundin,

Annika

Anmerkung

Liebe Leser und Leserinnen,

im zweiten Teil meiner Trilogie stand ich im Zwiespalt. Warum? Ganz einfach: Weil der Begriff Pätter bei mir in der Umgebung der typische Begriff für Patenonkel ist. Leider sind solche Begriffe in jedem Teil Deutschlands anders und ich muss gestehen, dass wenn Melanie ihren Patenonkel Bill mit Vornamen anspricht, ihn Onkel Bill nennt, es nichts Besonderes mehr ist. Bei mir in der Gegend, in der ich wohne und großgeworden bin, ist der Patenonkel etwas Besonderes und ich möchte es auch im Buch so handhaben.

Also wenn ihr über den Begriff Pätter stolpert, meint Melanie ihren Patenonkel Bill.

Pätter – Patenonkel

Ich wünsche euch viel Spaß mit dem zweiten Teil.

Ana

Wie alles begann …

Tag eins meines neuen Lebens beginnt. Amelia Malek ist Drogenfahnderin. Endlich. Lu hat gelacht. Sie hat darauf gewettet, dass ich zur Drogenfahndung gehe, weil ich schon früher ein Näschen dafür hatte. Wenn sie wüsste, dass ich im Bilde bin, dass sie manchmal eine Nase nimmt, wäre sie bestimmt sprachlos.

Ich stehe vor dem Spiegel und stecke meine Haare zu einem Dutt hoch. So aufgeregt war ich schon lange nicht mehr. Durch das Studium war ich zwar schon einmal in der Abteilung und habe die Kollegen kennengelernt, allerdings nur flüchtig und es war nicht mein jetziges Team. Ich gehe aus dem Bad, hole mein Essen aus dem Kühlschrank und hänge meine Tasche über meine Schulter. Dann geht es das Treppenhaus hinunter.

Eine Etage unter mir wohnt Harin, mein bester – und eigentlich auch mein einziger – Freund in Berlin. Er öffnet ruckartig die Tür, als ich an seiner Wohnung vorbeilaufe. Ich stoppe.

»Viel Spaß und viel Glück, Amelia.« Harin drückt mich und ich gebe ihm einen Kuss auf die Wange. Annamaria, seine Mutter, steht hinter ihm und nimmt mich ebenfalls in den Arm. Da soll mal jemand sagen, Berlin wäre unpersönlich.

»Danke Harin, danke Annamaria. Ich bin so aufgeregt«, rufe ich, während ich die Treppen im Schnellschritt herunterspringe. Ihr Lachen ertönt im ganzen Treppenhaus und ich höre es noch im Erdgeschoss.

Im Auto drehe ich die Musik auf, Limp Bizkit mit Rollin ertönt und ich rocke erst einmal ein bisschen dazu ab. Vor dem Präsidium rauche ich schnell eine Zigarette, bevor ich hineingehe. Drinnen stellt sich ein Typ neben mich und wartet mit mir auf den Aufzug. Er sieht nicht aus wie ein Bulle, eher wie ein Model. Sein blondes, kinnlanges Haar weht ihm jedes Mal ins Gesicht, wenn die Tür hinter uns aufgeht. In seiner Jeans und dem schwarzen Shirt sieht er wie der typische Checker aus. Vielleicht will er eine Anzeige aufgeben oder … Ich schaue ihn mir genauer an. Falsch, er trägt eine Waffe, also kein Model. Dieser Mann gehört hierher, so wie ich. Mit seiner linken Hand streift er eine Haarsträhne hinter sein Ohr. Dabei schweift sein Blick über meinen Körper und checkt mich ab, ehe er einer anderen Frau hinterherschaut. Meine Augenbraue bewegt sich ganz von selbst nach oben, als ich den Mann anschaue. Er hätte wirklich Model werden sollen und nicht Polizist, wenn er jede bei der Arbeit so anglotzt. Die Fahrstuhltür öffnet sich. Das Model und ich steigen ein und ich drücke die Drei auf den Knöpfen.

»Wohin?«, frage ich ihn freundlich, jedoch mit einem gewissen Unterton.

»Dorthin, wo du hinwillst«, antwortet er und grinst arrogant. Mir bleibt keine andere Wahl als die Augen zu verdrehen. Was für ein Arsch.

»Bist du neu?« Will er jetzt Smalltalk im Fahrstuhl führen?

»Ja, Drogenfahndung.«

»Freut mich, Bill Steinhauer.«

»Amelia Malek.«

Er öffnet leicht seinen Mund und leckt sich über die Lippen. Mit einem Ding geht die Tür auf- endlich.

Bevor der Typ mich weiter mit seinen Blicken auszieht, laufe ich schnell zu Herrn Kowalskis Büro. Ich klopfe und bevor er antworten kann, trete ich ein. Alexander Kowalski ist mein nächster Vorgesetzter. Er erklärt mir ein paar Dinge, weist mich ein und erzählt mir, dass ich einen Pensionär ersetze. Er hält große Stücke auf mich, weil ich von Frau Schönbaum empfohlen wurde und ich die Beste im Jahrgang war. Alexander ist nett, jedoch gleichzeitig ein bisschen einschüchternd. Mein Blick fällt auf den Schreibtisch und die vier Bilderrahmen, die dort stehen. Wer wohl darauf ist?

Wir gehen aus dem Büro. Alex begleitet mich durch die ganze Abteilung und stellt mich meinen Kollegen vor. Gabriel, der mit mir studiert hat, ist ebenfalls hier und wir treffen ihn während unserer Einweisung beim Rundgang. Am Ende ist das Team, mit dem ich arbeiten werde, dran. Das Beste kommt eben zum Schluss, wie man so schön sagt.

Wir laufen direkt auf den Fahrstuhltypen zu. Oh nein! Ernsthaft? Das Model lacht laut auf und unterhält sich leise mit zwei anderen, während er auf seinem Drehstuhl sitzt und sich mit Hilfe seiner Turnschuhe leicht hin und her dreht. Ihm gegenüber tippt gerade ein Rotschopf mit markanter, brauner Brille nachdenklich mit einem Kuli gegen sein Kinn. So habe ich mir immer einen Nerd vorgestellt. Mir fällt sofort Das Model und der Freak ein, als ich die beiden sehe.

Der dritte sticht mir ins Auge. Er lehnt sich gegen einen der vier Schreibtische und lacht. Dabei dreht er sich zu mir um. Diese Lache klingt wundervoll, so wohltuend, und sein strahlendes Lächeln ist nicht wegzudenken. Er ist wahrscheinlich der attraktivste Mann im Raum. Was denke ich da? Er ist der attraktivste Polizist, den ich je gesehen habe!

Er hat kurze Haare und will anscheinend seine Locken dadurch verstecken. Man sieht es sofort. Sein Körper ist durchtrainiert.

Alle drei schauen zu mir und lachen. Dieser Bill wird ihnen wahrscheinlich von unserer Bekanntschaft im Aufzug erzählt haben. Er wusste bestimmt, wer ich bin, und hat sich einen Spaß gemacht.

Der heiße Kerl lächelt noch einmal, als unsere Blicke sich treffen. Für einen kurzen Moment habe ich das Gefühl, ich bekomme keine Luft und die Welt bleibt stehen. Reflexartig schnappe ich nach Sauerstoff. Es fühlt sich an, als ob ich auf Watte laufen würde, weil er mich so bezaubernd anschaut.

»Jungs, ihr bekommt weibliche Unterstützung, seid nett zu ihr. Bill, nicht zu nett, ihr seid Kollegen, verstanden? Das ist Amelia Malek.«

Bill lacht und Alexander hebt den Zeigefinger, als ob er mit ihm schimpft.

»Wir hatten ja schon das Vergnügen. Nenn mich Bill.« Er nickt und grinst mich wie ein Breitmaulfrosch an.

Sein Gegenstück steht auf: »Freut mich, ich bin Christian Janzen. Chris reicht völlig aus.« Der Nerd hat honigbraune Augen und Sommersprossen. Als ich seine Hand halte, ist sie schwitzig und warm.

Jetzt ist der heiße Typ dran. Er bewegt sich lächelnd vom Schreibtisch weg. Mein Herz rast wild, als seine smaragdgrünen Augen mich durchdringen. Mir läuft ein eiskalter Schauer über den Rücken. Ich kann nicht anders und starre ihn regelrecht an. Dabei habe ich kein schlechtes Gewissen, denn er tut dasselbe. Keiner von uns kann den Blick abwenden. Ein komisches Gefühl schleicht sich dabei durch meinen Bauch.

»Sie brauchen vor Bill keine Angst haben. Er tut nichts«, bricht er unser Schweigen mit einer warmen Stimme. So warm wie seine Lache.

Ich ziehe meine Augenbraue hoch. Wo bin ich denn hier gelandet? Im Affenzirkus? »Er will nur spielen oder was?«, haue ich amüsiert heraus und bringe damit alle zum Lachen. Denen werde ich schon zeigen, wo es lang geht.

Er reicht mir seine Hand und ich schweife mit meinen Augen über seinen Körper zu seinem Gesicht. Die braune Lederjacke steht ihm verdammt gut. Sein Händedruck ist fest und seine Hände weich und warm.

»Jason Hasley. Wenn für Sie das Du in Ordnung ist, dann nur Jason.« Sein Lächeln geht direkt durch mich hindurch, genauso wie sein Blick. Mein Herz schlägt wieder schneller und ich bekomme Gänsehaut am ganzen Körper. Ich spüre, wie sich jedes einzelne Haar an meinen Armen aufstellt. Abrupt lasse ich seine Hand los.

»Ja, das Du ist vollkommen in Ordnung.«

Cool bleiben, Amelia, du kannst nicht mit einem deiner Kollegen ins Bett steigen. Vor allem, wenn er so auf dich wirkt. Während des Studiums war das noch okay, jetzt nicht mehr!

»Also dann, gutes Gelingen«, verabschiedet sich Alexander, den ich schon ganz vergessen hatte. Nun stehen die drei Männer vor mir. Es ist kurz ruhig und alle drei begutachten mich.

»Also, wir haben von einem Mädchen eine Spur bekommen. Sie hat die Vermutung, dass ihr Freund mit Drogen dealt«, erklärt mir Chris und hört als Erster auf, mich anzustarren. Er gibt mir alle zusammengetragenen Informationen. Es ist ziemlich wenig. Sie sind wohl noch am Anfang. Ich lese alles durch und sie starren mich an, als würden sie dafür bezahlt werden.

»Habt ihr noch nie eine Frau gesehen, die liest und Kommissarin ist? Oder habe ich auf der Stirn stehen, dass ihr mich bitte anstarren sollt?«, frage ich die drei und schaue dabei mehr Jason an, als die anderen. Bill dreht sich herum und setzt sich auf einen Stuhl. Chris tut es ihm gleich. Und Jason? Jason und ich blicken uns an. Ich schüttele meinen Kopf.

»Du hast nichts zu tun?«, frage ich ihn.

»Nein, eigentlich nicht«, sagt er belustigt.

Auf in den Kampf der Männerdomäne. Er lehnt sich an den Schreibtisch von Bill und sein Blick ruht auf mir. Warum macht er das? Es ist unangenehm und es zeugt von schlechtem Benehmen. Mein Handy surrt in der Jackentasche. Eine Nachricht von meiner Mama. Ich verdrehe die Augen und öffne die Nachricht. Sie wünscht mir viel Spaß und ich soll jederzeit schön auf mich aufpassen, vor allem soll ich sie bitte bald anrufen. Ich lächle. Sie hat ein Problem mit meinem Beruf.

»Sie hat einen Freund. Ihr könnt eure Eier wieder einpacken«, sagt Chris. Er kennt die Zwei schon länger und ist wohl selbst von diesen Spielchen gelangweilt. Ich will gar nicht wissen, was das zu bedeuten hat.

»Nein, habe ich nicht, trotzdem könnt ihr eure Eier einpacken.« Ich grinse Bill und Jason an. Jason entfernt sich endlich von seinem Stehplatz. Er pfeift kurz und setzt sich an seinen Schreibtisch. Von dort beobachtet er mich weiter. Es macht mich ganz nervös, ich kann kaum nachdenken.

Wie kann jemand nur so grüne Augen haben? Kontaktlinsen sind es nicht, das wäre mir aufgefallen. Konzentriere dich auf den Fall, ermahne ich mich selbst.

»Sind das alle Informationen?«, frage ich und versuche, mich abzulenken.

»Ja«, antwortet Jason.

»Und wir gehen der Sache nach? Das ist ja nichts. Gar nichts«, sage ich und werfe die Unterlagen auf meinen Tisch. Sie schauen mich fragend an. »Wir sollten uns diesen Malte vornehmen, wenn ihr tätig werden wollt«, füge ich mit voller Überzeugung dazu.

»Du bist sehr eifrig, manchmal ist Ruhe jedoch besser.« Jason versucht, mich zu stoppen. Ich stehe auf, schreibe mir die Adresse von diesem Malte auf und nehme meine Schlüssel in die Hand.

Jason rollt mit seinem Stuhl nach hinten und steht, als ich den Kopf hebe, unmittelbar vor meinem Schreibtisch. »Ich fahre.« Also gut, dann er und ich. Mir wäre zwar dieser Chris lieber gewesen, aber Jason ist immerhin erträglicher als Bill.

»Du fährst einen Camaro?« Überhaupt nicht auffällig. Ich muss darüber ein bisschen schmunzeln.

»Ja, hast du ein Problem damit? Was fährst du, einen Ford KA?« Er schaut mich abermals mit diesem Blick an, mit dem er mich den ganzen Morgen schon ansieht.

»Nein, einen alten 3er BMW. Als Polizist so einen Wagen zu haben, finde ich sehr auffällig.«

Jason steigt ins Auto ein und ich lasse mich auf den Beifahrersitz gleiten. Er dreht das Radio auf und fährt los. In meiner Familie sind alle BMW-begeistert. Mir ist es ziemlich egal, Hauptsache es fährt. Jason hat wahrscheinlich zu viel Transformers gesehen oder ist ein absoluter Autofanatiker – oder beides. Es könnte sogar mit hoher Wahrscheinlichkeit das Zweite sein. Sein Auto ist total steril. Auf den Sitzen ist kein einziger Krümel, noch nicht mal auf dem Boden ist ein Dreckklumpen zu finden. Autofanatiker … Definitiv!

Er dreht die Musik leiser. »Du warst die Beste?«

Das hat sich wohl herumgesprochen. Ich wusste, dass alle mich schon kannten - zumindest Informationen hatten.

»Ja, richtig.«

»Du siehst nicht aus, als wärst du eine Streberin.«

»Tja, vielleicht habe ich mit dem Ausbilder gevögelt«, scherze ich schlecht.

Er schaut mich merkwürdig an, aber lacht. »Das glaube ich nicht. Heiko ist glücklich verheiratet und er ist nicht dein Typ.«

Ich muss lachen. Er hat recht. Heiko ist alt und alles andere als attraktiv. »Woher willst du wissen, was mein Typ ist? Vielleicht stehe ich ja auf Ü-40?«, hake ich nach und hebe mein Kinn.

»Das bezweifle ich, du siehst nicht danach aus.«

Ich schweige und beobachte ihn beim Autofahren. Ich hatte schon ewig keinen Sex mehr. Die letzten Monate habe ich mit Lernen verbracht und wenn ich mit Harin unterwegs war und einen an der Angel hatte, hat Harin mir alles mit seinen Schlägereien vermiest. Er ist sehr schnell reizbar.

Doch Jason gehört zur Kategorie Arbeit und ich bin professionell. »Ich sehe auch nicht aus wie eine Streberin«, werfe ich ihm vor.

»Trotzdem eher wie eine Streberin als eine, die mit Heiko vögelt.« Seine Lache ist gehässig und gleichzeitig herzlich.

Ich schweige ihn an und schaue aus dem Fenster, bis wir bei diesem Malte sind und ihn befragen. Malte weiß von nichts. Seine Pupillen sind geweitet und er hat Gesichtsentgleisung. Wenn der nicht drauf ist, weiß ich es nicht. Manchen sieht man es sofort an, warum lügen sie trotzdem? Denken sie, wir wären blöd?

»Ich habe Hunger, lass uns noch etwas essen«, sagt Jason, als wir zurück zu seinem Auto laufen. Wie soll ich mit ihm jeden Tag zusammenarbeiten? Er ist so atemberaubend. Wie kann Gott so etwas erschaffen? Er zieht seinen linken Mundwinkel öfter zu einem kleinen Lächeln nach oben. Seine Lippen sind wohl geformt und sehen gepflegt aus. Er hat ein paar Bartstoppeln und ich denke daran, wie sie sich an meinem Oberschenkel anfühlen würden. Amelia, reiß dich zusammen, höre ich schon die Stimme meiner Mutter. Diesen Satz sagte sie so oft.

Jason läuft mit mir zu einem Imbisswagen. Carlos Curry CC steht oben drüber. Er bestellt Currywurst mit Pommes und eine Cola. Ich habe eigentlich gar keinen Hunger. Bei dem Anblick bekomme ich ganz anderen Appetit.

»Was möchtest du essen oder trinken?«, fragt mich mein heißer Kollege. Dich – und trinken ebenfalls. Oh fuck. Dieser Mann könnte alles mit mir anstellen.

»Ich hätte gerne eine Currywurst mit Brötchen und ein Wasser.« Ich versuche, mich mit richtigem Essen abzulenken.

»Carlo, du hast gehört, was die Frau möchte.« Er reicht uns unsere Getränke und Jason stellt sich an einen Stehtisch. »Also Amelia, erzähl mir von dir.«

»Habt ihr mich vorher nicht durchleuchtet oder so?«

Er zieht seinen Mundwinkel nach oben. »Klar, jedoch leben wir dann nicht so in der Stille.«

»Ich mag die Stille.«

»Siehst du, das steht nicht in deinen Unterlagen. Ich schweige auch gerne, trotzdem mag ich genauso gerne gute Gespräche.«

Ich nicke und hole uns unser Fastfood.

»Bill ist ein Frauenheld und Chris wohl das Gegenteil, dafür hat er eine Frau.« Beginne ich ein Gespräch und zeige auf meinen rechten Ringfinger. »Zu welcher Sorte Mann gehörst du?«, frage ich direkt.

»Du hast sie schon gut analysiert«, antwortet er und kommt daraufhin ganz nah zu mir. »Ich gehöre zu den Männern, die wissen, was sie wollen«, flüstert er mir mit einer rauen Stimme ins Ohr. Ich halte die Luft an, konzentriere mich auf mein Essen und stecke mir schnell ein Stück Wurst in meinen Mund. Das war zu viel des Guten, ich bin feucht und erregt. Von so ein bisschen Gerede. Das macht mir normalerweise nichts aus. Fuck, fuck, fuck!

Wir fahren zurück und von dort geht es anschließend mit meinem Auto nach Hause. Dort starte ich meine Musikanlage und lasse mir ein Bad ein. Es klopft an der Wohnungstür; ich öffne sie und Harin steht vor mir. Er folgt mir rein und ich schenke mir einen Whiskey ein.

Ich vermisse die Zeit zu Hause mit Lu. Abends haben wir uns oft vor der Tür noch einmal getroffen oder sind gemeinsam in eine Kneipe gegangen, haben geraucht und ein, zwei Whiskey getrunken. Wir haben uns über unsere Familien aufgeregt, welche alles so perfekt haben wollten. Sie ist meine beste und einzige Freundin. Man könnte uns Seelenverwandte nennen. In Berlin kam Harin als Kumpel dazu.

»Du solltest mit dem Vermieter reden. Irgendetwas stimmt mit deiner Klingel nicht. Unsere ist viel lauter.« Ich winke ab. Er spielt jedes Mal darauf an, weil er klopfen muss. Für mich umso besser, dann muss ich nicht jedem die Tür aufmachen.

Endlich liege ich mit einem Glas Whiskey an meiner Seite in der Badewanne voller Schaum und Harin sitzt auf dem Klodeckel mit einem Glas Wasser. Sein Auge ist noch leicht blau von der letzten Schlägerei. Er trinkt nicht und schlägt sich trotzdem. Irgendein Betrunkener hat ihn beleidigt. Harin hat keine hohe Toleranzgrenze, wenn es um Beleidigungen oder Frauen geht.

»Wie war’s?«, fragt er mich.

»Ich bin die einzige Frau in meinem Team. Drei Typen: ein Nerd, ein Beachboy und Frauenheld und ein …« Wie beschreibe ich Jason? Atemberaubender wunderschöner Mann? Heiß, sexy, Adonis? Verführerisch, männlich, anders?

»... und ein Arsch?«, erkundigt sich Harin.

»Nein, kein Arsch, na, vielleicht doch ein Arsch. Alle Männer sind Arschlöcher, du auch, Harin. Nein, keine Ahnung. Ein Zwischending. Er vermittelt bestimmt oft zwischen dem Beachboy und dem Nerd.« Das kann ich mir gut vorstellen. Ich trinke einen Schluck und der Alkohol brennt in meinem Hals. Ein gutes Gefühl.

»Du stehst auf ihn?« Harin lacht, er kennt mich seit fast drei Jahren. Er weiß langsam, wie ich ticke, und er weiß, dass mich ein Kerl nicht einfach so sprachlos macht, wie Jason es tut. Ich hebe mein Glas, trinke den Rest auf ex weg und spritze Harin mit Wasser voll.

»Nein, tue ich nicht! Ich steh nicht auf Kerle, das weißt du. Nicht so, jedenfalls.« Mich hat noch nie ein Mann so in den Bann gezogen wie Jason. Noch nie. Diese Gefühle sind völlig neu für mich. Was mache ich nur?

Ich schaue in Harins dämlich grinsendes Gesicht. Er weiß, dass ich ihn anlüge. Ich bin total schlecht im Lügen, außerdem hasse ich Lügen. Sie zeigen Schwäche und es kommt sowieso immer die Wahrheit heraus. Jason ist offenbar meine Schwäche, wenn ich jetzt schon lüge.

»Dreh dich um und gib mir mein Handtuch, wenn du schon da sitzt.«

Harin reicht mir mein rotes Handtuch und dreht sich um, sodass ich aus der Wanne steigen kann.


Heute

Erstes Kapitel

Ich stehe vor Jasons Grab. Die letzten Tage, seit ich Neal verlassen habe, waren hart. Meine Brust schmerzt und ich habe zu viel getrunken. Ich bin einfach gegangen. Ich habe ihn angebrüllt und habe ihm den Rücken zugewandt. Meinen Lichtblick habe ich verloren. Melanie, Leni und ich waren Stunden unterwegs. Harin hat mich verblüfft angeschaut, als ich plötzlich vor seiner Tür stand, und hat versucht, etwas aus mir herauszubekommen. Nichts habe ich ihm gesagt. Ich konnte nicht. Er nahm mich einfach in den Arm und ich weinte. Als ich mich ein wenig beruhigt hatte, wollte er in die Schweiz fahren und Neal zur Rede stellen. Harin war wirklich aggressiv. Er rief Bill an und erklärte ihm, dass er doch Taxi spielen müsse, dass er sich auf das Schlimmste einstellen solle. Ich habe es gehört. Harin dachte wohl, ich würde schlafen, denn er flüsterte und irgendwann ging er aus dem Raum und wurde lauter. Dabei hatte ich bloß die Augen geschlossen, in der Hoffnung, dass wieder alles in Ordnung sei, wenn ich sie öffnete. Dass alles nur ein schlimmer Alptraum war.

Ich stehe vor Jasons Grabstein. Meine Hand streicht über den anthrazitfarbenen Marmor und fährt die weißen Buchstaben nach. Es fühlt sich einen kurzen Moment so an, als würde ich Jasons Brust berühren und die Linien seiner Tätowierung nachmalen. Mir laufen Tränen herunter wie die letzten Tage. Die Wunde auf meinem Wangenknochen kribbelt durch das Salz in meinen Tränen. Ich habe mich bei einem Straßenkampf geschlagen. Bill war stinksauer und hat mich gleich zu seinem Betthäschen von Ärztin gefahren. Sie stellte keine Fragen und versorgte mich. Der Grund, warum ich weine, ist unklar. Ob wegen Neal oder Jason oder beiden? Ich fühle so viel Schmerz und Trauer in mir.

Ich frage mich, wann die Gleichgültigkeit kommt, und hocke mich vor das Grab. »Hallo Jason, ich habe dir doch von Neal erzählt, dem gutaussehenden Mann aus Hamburg. Dem Snob. Tja, den gibt’s leider nicht mehr in meinem Leben.«

Mein Herz schmerzt und ich bin müde. Es fängt an zu regnen, die ersten Tropfen fallen auf mich, doch ich bleibe einfach sitzen. Durch den Regen werden die Blumen ganz locker. Schwiegermutti hat sie anscheinend erst vor kurzem gepflanzt. Sie pflegt sein Grab. Ich mache es anscheinend nicht richtig genug. Die Tropfen werden stärker, bis sie als Platzregen auf mich nieder prasseln.

»Jason, ich kann nicht mehr. Ich dachte, ich hätte die zweite große Liebe gefunden. Er war wie die Sonne, die plötzlich aufging nach vielen kalten und dunkeln Tagen im Krieg, den ich gegen mich selbst führte. Jetzt ist die Sonne für immer untergegangen.«

Ich schaue hoch zum Himmel, der Regen hört auf. Die Regenwolken verschwinden langsam. Typisch für einen Sommerschauer. Ich spüre etwas in mir, was ich nicht beschreiben kann, und beginne, die scheiß Blumen herauszuziehen. Kontinuierlich und schneller. Meine Haare sind nass und tropfen auf mein Gesicht.

»Der Krieg ist viel härter und gewalttätiger geworden als vorher. Du hast mich alleingelassen. Warum? Du hast dich nicht mal verabschiedet, du bist einfach gegangen! Ich hab dich geliebt und du hast mich im Stich gelassen. Warum hast du das gemacht? Ich liebe Neal und habe ihn deinetwegen verscheucht. Ich bin schuld, dass er diese Scheiße gemacht hat, und schließlich verlasse ich ihn. Ich bin deinetwegen einfach gegangen! Du hast mich dazu gemacht. Du bist schuld, dass ich immer gehe. Er war das Beste, was mir seit dir passiert ist. Du bist weg und hast mich mit unserer Tochter alleine gelassen. Ich schaffe das nicht ohne dich«, schreie ich aus meiner Seele und reiße die letzte Blume heraus. Meine Hände sind voller Erde und ich zittere am ganzen Körper.

»Jason, verdammt, das ist alles deine Schuld. Ich habe ihn deinetwegen verjagt. Weil du mir das angetan hast, weil du fort bist, weil du mich verlassen hast. Ich kann diesen Schmerz nicht noch einmal fühlen. Warum bist du nicht da? Warum kannst du mich nicht in den Arm nehmen und mir sagen, dass alles gut wird! Ich liebe Neal und er ist«, ich hole tief Luft, »er ist weg.« Ich flüstere nur noch. Ich habe meine ganze letzte Energie herausgebrüllt und bin erschöpft.

Plötzlich höre ich Gekeife, stehe auf, um über den Grabstein zu schauen, und sehe in etwa dreihundert Meter Entfernung einen alten Mann, der mit mir schimpft. Er schüttelt dauerhaft den Kopf.

»Dat Sie sich net schämen. Dat ist Grabschändung!«, zetert er und ich wische mir meine Tränen mit den Handflächen weg und schniefe.

»Sie verdammter Wichser, was ich mit dem Grab meines Mannes mache, geht Sie einen Scheiß an. Kümmern Sie sich um ihre Toten!«

»Sie sollten sich schämen, einfach nur zuzugucken und nichts zu unternehmen«, zetert er weiter.

Was redet er da? Er schaut nicht mich an, sondern an mir vorbei. Ich konzentriere mich und halte den Atem an. Ich höre Atemgeräusche und Schritte. Der oder diejenige bleibt stehen. Ich will mich nicht um drehen. Wenn es Edmund ist, wird er mich hassen, und wenn es Jasons Mutter ist - die mich erst recht. Sie hasste mich von Anfang an. Wenn einer von ihnen gehört und gesehen hat, was aus mir heraus kam, was ich gerade gemacht habe. Nein, das darf einfach nicht so sein! Sie sind es nicht, bestimmt nicht. Vielleicht ist es Bill, ich habe mich noch nicht bei ihm gemeldet.

Ich stehe auf, drehe mich langsam um und sehe den Mann vor mir, von dem ich dachte, ihn für alle Zeit verloren zu haben und nie wiederzusehen. Meine Augen schließen sich, um meine Tränen verschwinden zu lassen. Ist er es wirklich?

»Neal«, flüstere ich so leise, dass wahrscheinlich nur ich selbst es hören kann.

»Amelia.« Seine Augen sind rot unterlaufen, als ich ihn wieder anblicke. Er sieht mindestens genauso scheiße aus wie ich selbst. Verletzlich, gequält und schmerzgeplagt. Mein Herz rast und ich zittere noch mehr als vorher. Meine Beine werden weich und ich lasse mich auf das nasse Gras fallen. Neal macht einen großen Schritt und fängt mich auf, bevor ich am Boden ankomme. Er drückt mich an sich und hebt mich hoch.

»Ich bin da, Amelia, ich bin da«, wispert er. Neal hebt mich hoch und dreht sich um. Was macht er hier? Ich schaue ihn an und versuche zu erkennen, ob er wieder dieses abscheuliche Zeug genommen hat. Doch seine Augen sehen diesmal müde und leer aus. Schließlich blicke ich noch einmal zu dem verschandelten Grab, bevor er mit mir zu seinem Auto läuft und mich reinsetzt.

Wir fahren zu uns nach Hause. Es ist unser Zuhause. Er ist teilweise bei mir eingezogen und seine Sachen haben einen Platz bekommen. Mit zwei Kartons und zwei Taschen kam er bei mir an und überraschte mich zwei Wochen nach seinem Geburtstag. Mell freute sich tierisch.

Melanie. Sie denkt, ich musste kurzfristig arbeiten und dass wir deshalb so plötzlich gefahren sind.

Neal trägt mich in unsere Wohnung, bis ins Badezimmer, und zieht mir meine nasse Kleidung aus. Nicht auf erotische Art, sondern eher wie einem kleinen Kind. Ich bin total unbeholfen und verstehe noch nicht, was gerade passiert. Der Schnaps benebelt mich total.

Neal ist wieder da.

Er lässt Wasser in die Badewanne ein und hilft mir aus der Unterwäsche. Ich friere, trotz dass wir Sommer haben. Meine Beine schlottern und meine Zähne klappern. Ich versuche, mich mit verschränkten Armen selbst warmzuhalten. Er nimmt eine Hand von mir und hilft mir dabei, in die Wanne zu steigen. Neal zieht sich schnell aus und setzt sich zu mir ins Wasser. Der Mann, den ich dachte, verloren zu haben, nimmt den Badeschwamm und seift mich ein, massiert mich und hält mich fest. Der Lichtblick kommt nur wenig durch. Die Mauer ist schneller aufgebaut worden als vorher. Die Armee ist stärker und ich habe Angst. Angst, dass er noch einmal geht. Angst, ihn erneut zu verlieren.

Er lässt immer und immer wieder neues heißes Wasser ein. Jedes Mal, wenn ich beginne zu weinen und meine Lippen anfangen zu zittern, küsst er meine Schultern und macht ein beruhigendes Geräusch. »Sch … sch …«

Hat er alles gehört, was ich am Friedhof gebrüllt habe? Das wäre furchtbar!

Er wickelt mich in ein Handtuch ein und zieht mir meinen Bademantel an. Nach dem Baden fühle ich mich ein wenig besser. Wir lagen einfach nur im Wasser und schwiegen uns an, das war sehr heilend.

Als ich im Bademantel und dicken Wollsocken bei fünfundzwanzig Grad draußen in die Küche laufe, sehe ich, dass sie aufgeräumt ist. Neal kommt zu mir und umarmt mich von hinten.

»Warst du hier?«, frage ich ihn leise und meine Stimme bricht fast.

»Ich habe dich gesucht und du warst nicht da, also habe ich aufgeräumt«, erklärt er mir. »Amelia, es tut mir leid, ich hätte das Zeug nicht nehmen sollen. Ich war sauer, dass …«

Bevor er irgendwie weiterreden kann, halte ich ihm die Hand vor den Mund. »Ist mir egal. Ich will nur, dass es nicht wieder vorkommt und du bei mir bleibst.« Ich weiß selber, dass ich ihn verlassen habe, allerdings brauch ich ihn mehr, als ich dachte.

»Ich habe gesagt, du sollst nicht weglaufen, ich werde dich jederzeit zurückholen. Ich liebe dich. Ohne dich kann ich nicht sein, wer ich bin. Ich werde um dich kämpfen. Ich bin nicht nur dein Lichtblick. Du bist ebenso meiner.«

Ich küsse meinen Retter. Neal trägt mich auf mein Bett. Durch die letzten Tage bin ich total ausgelaugt und zittere weiterhin. Er hebt die Decke hoch, legt sie auf sich und stützt sich über mich. Er schaut mir tief in die Augen. Seine Augen sind noch leicht gerötet, er lächelt geheimnisvoll und beginnt, mich zu küssen.

»Wir sorgen erst mal dafür, dass dir warm wird.« Neal öffnet meinen und seinen Bademantel und legt sich zu mir. Er hält mich fest, während ich ab und zu weine. Doch Neal ist da und lässt mich nicht los. Durch seine Nähe und seine feste Umarmung wird mir warm.


Zweites Kapitel

Mein Handy klingelt, ich suche es mit geschlossenen Augen, finde es aber nicht. Die Sonne leuchtet regelrecht ins Schlafzimmer. Wie viel Uhr haben wir? Neal streckt sich.

»Es liegt bestimmt noch im Flur«, murmelt er und dreht sich um. Ich stehe auf und hole es. Zehn neue Nachrichten, drei verpasste Anrufe, zwei davon sind von Harin. Es klingelt abermals, ›Harin‹. Ich nehme ab.

»Harin, was ist los?«, murmle ich ins Telefon.

»Du hörst dich noch ziemlich gerädert an. Hat Mr. Snob dich gefunden?«

»Ja, hat er, rufst du nur deshalb an?« Ich bin viel zu müde und verkatert, dass ich mit ihm darüber eine Konversation führen kann. Langsam laufe ich ins Schlafzimmer zurück und lege mich ins warme, kuschlige Bett; lasse dennoch Abstand zwischen mir und Neal. Ich weiß noch nicht, wie ich damit umgehen soll und was das gestern war, dass ich gleich nachgab. Dieser Tag und der Alkohol haben mich weich gemacht.

»Da bin ich aber froh, wie geht es dir? Ist er bei dir?« Er ist froh, dass Neal mich gefunden hat? Wie soll ich das denn bitteschön verstehen?

»Mir geht’s besser, wenn du das wissen wolltest, und ja, er liegt neben mir.« Neal grinst, lehnt sich an meine Brust und fährt mit seinen Finger über meinen Bauch. Das war es nun mit Abstand halten.

»Gut, zieht euch an. Melanie ist im Kindergarten gestürzt, wir sitzen in der Notaufnahme im Franziskus Krankenhaus. Es ist alles gut, nichts Schlimmes. Sie ist tapfer.«

Neal hebt blitzschnell den Kopf hoch und steht auf.

»Es ist nichts Schlimmes, aber ihr seid in der Notaufnahme? Willst du mich verarschen? Nichts Schlimmes ist ein Splitter und Notaufnahme ist schlimm!« Schlagartig lege ich auf. Ich zieh mich an, putze mir die Zähne und binde mir einen Zopf. Danach sprinte ich im Schnellschritt runter in die Tiefgarage und steige in mein Auto. Neal folgt mir.

»Wenn Harin sagt, es sei nicht so schlimm, wird es nicht so schlimm sein.« Neal versucht, mich zu beruhigen, dennoch gebe ich Gas, ich muss zu meiner Tochter. »Amelia, fahr nicht so schnell.«

»Hast du Angst?«

Er antwortet nicht. Wir haben noch nicht viel miteinander gesprochen, doch wir müssen. Ich will das geklärt haben, aber das wird nach hinten vertagt. Ich kann gerade sowieso nicht klar denken.

Neal steigt auf den Fahrersitz, als ich aussteige, und sucht einen Parkplatz.

Ich renne in die Notaufnahme und halte Ausschau, leider sehe ich weder Harin noch Melanie. »Wo ist meine Tochter, Melanie Hasley?«, frage ich eine Schwester. Sie lächelt und schaut mich herablassend an.

»Kommen Sie mit, sie wird gerade genäht.« Genäht, wie bitte? Sie läuft mit mir in einen Raum, in dem ein Arzt gerade an meinem Löckchen herumdoktert. »Die Mutter ist da«, informiert sie den Arzt. Harin steht neben ihm und hält Mells Hand.

»Mama!« Mell lächelt kurz. Ihr Lächeln vergeht schnell und große Krokodilstränen steigen in ihre Augen. Sie kullern ihre Wange herunter.

»Ah schön, haben Sie zufällig den Impfausweis dabei?« Ich nicke, wühle in meiner Tasche herum und reiche ihn dem Arzt, doch die Schwester nimmt ihn mir ab. Der Arzt und die Schwester schauen mich streng an. Wahrscheinlich rieche ich noch ziemlich nach Alkohol. Mein Löckchen beobachtet alles ganz genau. Sie hat eine Platzwunde am Kinn. Ich tupfe ihr die Tränen weg.

»Also Schwimmbad ist leider für die nächste Zeit tabu und am besten nicht mehr mit dem Kinn bremsen, okay?«, erklärt uns der Arzt und Melanie nickt. Ich hebe sie hoch und gebe ihr einen Kuss.

»Mama, du hast auch ein Aua, so wie ich.« Sie zeigt auf meine Wange mit ihren kleinen Fingern. Mein Löckchen sucht sich noch ein Spielzeug aus dem Tapferkeitsglas aus und wir gehen aus dem Zimmer heraus. Ich atme kurz tief durch.

»Ach, da ist ja schon Mr. Snob. Wie geht’s deinem Gesicht?«, spottet Harin. Sein Gesicht? Was ist mit seinem Gesicht? Ich schaue mir Neal das erste Mal richtig an und sehe eine leichte Schwellung an Wange und Auge, es ist nichts blau oder rot. Neal schweigt dazu. Wie immer.

Mell klettert von meinem Arm auf seinen. »Mama hat auch ein Aua wie ich, guck.« Sie zeigt Neal ihre Wunde.

»Da warst du tapfer. Was hast du denn gemacht?«, fragt Neal mein Löckchen.

»Was ist passiert?«, frage ich Harin gleich hinterher.

»Sie ist hinter Kyle hergerannt«, erklärt Harin.

»Und dann hat es plumps gemacht. Genau da«, erzählt Mell weiter.

»Sie hat nicht geweint, bis ich kam.« Mein kleines, tapferes Löckchen. »Wir müssen es denen im Kindergarten sagen, dass wir hier waren. Sie müssen einen Unfallbericht schreiben oder sowas.«

Ich nicke. »Ich glaube, du darfst dir etwas wünschen, was willst du machen oder haben?«, frage ich meine wunderbare Tochter und denke kurz an Jason, als ihre Locken hin und her wackeln, und ringe mit mir. Sie sitzt noch bei Neal auf dem Arm.

»Ich will ein Eis«, ruft sie ganz laut.

»Na dann, lass es dir gut schmecken«, sagt eine Schwester und lächelt uns vier an.

»Zuhause oder in einer Eisdiele?«, fragt Harin.

»Zu Hause bei Oma«, bestimmt sie.

Mell bekommt eine große Portion Eis von Annamaria – mit Smarties. Sie erzählt Annamaria nochmal alles und als Gina von der Arbeit kommt noch einmal. Sie ist ganz aufgeregt, das wird das Adrenalin sein. Ich habe indes meinen Urlaub verlängert. Ich will sie morgen noch nicht in die Kita bringen. Sie bleibt zu Hause bei mir - bei mir und Neal. Mell krabbelt auf meinen Arm und schläft ein. Neal holt seine Kamera heraus und macht ein Foto. Dass er die überhaupt mit hat …

»Neal, ich sehe furchtbar aus.«

»Ach quatsch.« Er küsst mich und steht auf. Ich will gar nicht wissen, wie ich aussehe.

»Also, Amelia, ist bei euch alles geklärt?«

Ich schüttle meinen Kopf. »Nein, wir haben noch nicht miteinander gesprochen, aber wir werden es noch tun, keine Sorge«, sage ich bestärkt.

Harin nickt verständnisvoll. »Ihr braucht euch gegenseitig.«

»Amelia, was hast du eigentlich an deiner Wange gemacht?«, fragt Gina, als Neal zurückkommt.

Er streicht über meine Schultern und setzt sich.

»Sie hat sich geschlagen, Gina, was sonst an diesem Wochenende?«, antwortet Harin ihr, bevor ich es tun kann. Ich verdrehe die Augen und Neal schaut mich mit großen Augen an. Gina weiß davon wahrscheinlich nichts. Sie hat Jason nicht kennenlernen können. Harin und Gina hatten sich vorher getrennt.

»Wie, du hast dich geschlagen?«, fragt Neal erschrocken.

»Man, ihr solltet wirklich mehr miteinander reden und weniger vögeln.« Mein bester Freund grinst uns frech an und gibt Gina einen Kuss auf die Wange.

»Harin, sei ruhig«, maßregele ich ihn. »Ich habe geboxt. Ich habe mich nicht geschlagen.« Ich versuche, es runterzuspielen. Harin lacht spöttisch.

»Amelia, das ist die Untertreibung des Jahres.«

Neals Blick wandert hin und her. Ich stehe mit Mell auf. »Wir fahren«, bestimme ich und Neal folgt mir.

»Och Amelia, sei kein Spielverderber. Ich würde halt nur gerne die Reaktion sehen, wenn du es ihm sagst. Dein Selbstzerstörungstrieb war ja am Wochenende sehr groß seinetwegen.« Er grinst weiter. Harin ist und bleibt ein Arsch. Ein lieber, gutmütiger Kerl, aber ein Arsch.

»Wir sehen uns, Harin«, verabschiede ich mich, küsse ihn auf seine linke Wange, umarme Gina und danach Annamaria.

Wir fahren schweigend nach Hause. Als Mell im Bett liegt, setze ich mich zu Neal auf das Sofa. Er hat sich zurückgelehnt und sieht entspannt aus. »Also, wir sollten reden«, sage ich zu ihm und verschränke meine Beine zu einem Schneidersitz.

Er zieht eine Augenbraue hoch und schaut mich von der Seite an, dann räuspert er sich. »Sehe ich genauso. Ich frage, du antwortest und danach anders herum«, bestimmt er.

»Nein, Neal, ich fange an zu fragen.« Er ist damit einverstanden und reckt den Daumen nach oben.

»Schieß los.«

»Warum hast du das genommen?«

»Du redest nicht drumherum?«

»Antworte, Neal«, erinnere ich ihn. Er sagt das auch ständig, wenn ich Gegenfragen stelle.

»Ich war sauer auf dich, auf mich, auf die ganze Welt. Ich saß bei Norman im Zimmer und er hat sich eine Line gezogen. Bevor ich mich versah, zog ich selbst eine.«

»Das ist deine Antwort, du warst sauer? Hättest du dich nicht betrinken können, bevor du dich versahst?«, fragen ich sauer.

»Ja, das ist meine Antwort, ich betrinke mich nicht gerne. Bei Alkohol verliere ich den klaren Gedanken. Er benebelt mich, ich habe mich nicht mehr unter Kontrolle. Ich glaube, das habe ich dir mal erzählt. Manchmal macht man Dinge, ohne darüber nachzudenken. Das kennst du sicherlich?« Ich erinnere mich an unsere Gespräche.

»Wie oft machst du das?«

»Was, koksen?« Er sagt es, als wäre es nichts Schlimmes.

»Neal, ich bin Polizistin.«

Er lacht glücklich und ich bemerke selbst, wie bescheuert es sich anhört. Neal nimmt meine Hand und küsst sie.

»Was willst du mir damit sagen? Ich weiß das und es gefällt mir nicht. Und eigentlich nahm ich das Zeug immer nur, wenn ich bei Norman war. Seit wir uns kennen, habe ich es nicht mehr gemacht, außer letztes Wochenende.«

»Also hat Norman einen schlechten Einfluss auf dich? Was ist mit Dominik oder Lukas, machen die das ebenfalls? Hast du deshalb ein Problem mit meinem Job?«

Er grinst weiterhin glücklich und zufrieden. Als ob ihn das überhaupt nicht stört. »So viele Fragen. Er hat keinen schlechten Einfluss und ja und nein. Dominik und Lukas machen das jedes Schaltjahr. Ich habe ein Problem mit deinem Job, weil ich Angst um dich habe. Wenn dir was passieren würde, daran kann ich nicht denken, mir hat das im Dezember schon gereicht. Jetzt bin ich dran.«

Ich hebe die Hand. »Eine letzte Frage.«

Er nickt.

»Du stehst Norman sehr nahe, oder? Ihr habt euch lange umarmt zur Begrüßung. Trotzdem hast du mich an der Hüfte festgehalten und hast dein Revier markiert. Du hast nie viel von ihm erzählt, hast mich damals sehr kurz gehalten. Bei deinen Eltern steht ein Familienfoto, auf dem er mit abgebildet ist.«

Sein grinsen wird breiter, es ist schon fast eine Grimasse. »Gut erkannt, Detective. Er ist wie mein Bruder, nur sehen wir uns nicht so oft. Ich weiß nicht, was ich dir von ihm hätte erzählen sollen. Er vögelt gerne. Er ist keiner, der seinem Kumpel die Freundin ausspannt, nichtsdestotrotz ist es wie ein Hahnenkampf. Er versucht es trotzdem und würde es dennoch nie machen. Daher hat er seine Hand weiter an deinem Rücken fallenlassen. Er fand es übrigens sehr interessant, dass du ihn weggestoßen hast und meine Hand nahmst. Warum er auf dem Familienfoto abgebildet ist, ist eine andere und sehr lange Geschichte. Fertig?«

»Du willst darüber nicht reden?«

Er schnaubt und sein Lächeln vergeht. »Nein, es ist nicht meine Geschichte.« Es ist nicht seine Geschichte?

»Was meinst du mit, es ist nicht deine Geschichte? Warum willst du mir über Norman nichts erzählen?«

»Amelia, weil …« Sein Stoppen verwirrt mich. Irgendwas muss mit diesem Norman nicht stimmen. »Norman hat eine Geschichte wie du und ich. Es ist nicht mein Leben, also werde ich es dir nicht erzählen«, sagt er bestimmt und ich atme tief ein.

»So, wie du deiner Familie und deinen Freunden nichts über meine Vergangenheit erzählt und sie alle ins Fettnäpfchen treten lassen hast?«, hake ich nach.

»Genau. Also entweder machst du mit deiner Befragung weiter oder aber ich beginne.«

Ich beschließe, es nach hinten zu vertagen. »Du darfst.«

»Also, Frau Hasley.« Ich muss lachen, weil er alles ins Lächerliche zieht und es eigentlich nicht lustig ist. »Hören Sie auf zu lachen, das ist ernst«, tadelt er mich und wir lachen gemeinsam. Ich liebe Neal, wenn er so unbeschwert und lustig ist. Nein, ich liebe ihn immer.

»Also, was hat es mit deiner Wange auf sich? Ich möchte die Wahrheit und keine Untertreibungen.«

»Habe ich doch eben gesagt, ich habe geboxt.« Er schaut mich skeptisch an und ich fühle mich sofort angegriffen. Beruhig dich, Amelia. Ohne weitere Fragen von ihm, entscheide ich mich, es zu erklären. »Na ja, es gibt ab und zu in Berlin so Straßenkämpfe. Ich war ziemlich betrunken und habe dort mitgemacht. Ich habe gegen einen ziemlichen Schrank gewonnen.« Ich bin darauf ein klein wenig stolz. Er war zwar groß, aber total unbeweglich.

»Wie oft machst du das?« Seine Stimme ist leise und sein Lachen ist weg. Er macht sich erneut Sorgen, das sehe ich sofort. Seine Stirn ist gerunzelt.

»Nicht oft, früher habe ich das häufiger gemacht. Mach dir keine Sorgen, es gibt bloß Falten.« Ich tippe auf seine Stirn.

»Das ist ebenfalls illegal.«

Als ob ich mich mit unseren Gesetzen nicht auskennen würde. »Ich weiß. Bist du schon fertig mit deinen Fragen?«, sage ich, verdrehe die Augen und lehne mich zurück.

»Nein. Warum brauchst du diese drei Tage so extrem?« Seine Stimme wird ruhiger und sensibel.

»Ich brauche sie eben - für mich und Jason«, sage ich reserviert.

Neal ist kurz ruhig. Er verzieht keine Miene. Was er wohl denkt? »Meintest du das ernst, dass ich ihn aus deiner Erinnerung wegdrücke?«

Ich habe dazu keine Antwort, der Alkohol hat aus mir gesprochen. Ich will ihn nicht verletzen. Er fasst mir auf den Oberschenkel und vergräbt seine Finger darin. Seine Augen werden ganz klar.

»Sei ehrlich.«

»Ja, keine Ahnung … Ich versuche, mich oft an ihn zu erinnern, und schaffe es einfach nicht, da ich an dich denken muss. Das schmerzt, weil ich Angst habe, ihn zu vergessen.« Ich bin laut geworden, was ich nicht wollte.

Sein Gesicht ist traurig. Deshalb wollte ich erst die Fragen stellen. Ich wusste, dass Neal solche Fragen stellen wird und ich mich unentwegt aufs Neue zügeln muss.

»Und dass du nicht weißt, ob du ihn mehr liebst als mich?«

»Du willst es heute Abend echt wissen, oder?« Was hab ich ihm am Donnerstag alles vor den Kopf geworfen? Ich war nicht bei Sinnen. Das nervt mich gerade genauso wie seine Fragerei.

»Es sind viele Sachen bei unserem Streit gefallen, ich muss wissen, was du nur so gesagt hast und was du ernst meinst.« Er hat recht, wir lassen vieles oft unausgesprochen.

»Ich liebe dich und ich kann dich nicht verlieren. Das weiß ich.« Es ist das erste Mal, dass ich es laut ausspreche und ihn nicht anbrülle wie in der Schweiz. Neal schaut mich an und genießt die drei kleinen Wörter, welche so bedeutend sind. Ich sehe es ihm an. Er musste lange auf diese Worte warten.

»Wäre es besser gewesen, wenn du von dem Koks nichts erfahren hättest?« Sein Kopf geht in Schieflage.

»Ja – und ich sage nie irgendetwas dahin.«

Schließlich müsste ich mich ja entschuldigen. Hätte ich es nicht gewusst, hätten wir uns nicht so gestritten. Nicht an dem Wochenende.

Er atmet tief ein und aus. »Okay, ich habe dich auf dem Friedhof brüllen gehört. Ich habe dir zugeguckt, wie du die Blumen rausgerissen hast. Was du über ihn gesagt hast, über mich. Du bist nicht schuld, dass es passiert ist, dass ich es getan habe. Ich hätte wissen müssen, dass du es herausfindest. Ich bin schuld. Ich werde es nicht mehr machen. Dafür will ich, dass du keine Straßenkämpfe mehr mitmachst.«

Ob er sich daran hält? »Das kann ich dir nicht versprechen und du kannst es auch nicht. Das sehe ich dir an. Wir würden uns etwas zusagen, was wir vielleicht gar nicht halten können. Das gibt nur wieder Streit. Wir können versuchen, uns daran zu halten.«

»Würdest du dich trennen, wenn ich noch einmal etwas nehme?«

»Eine Gegenfrage: Wäre es ein Trennungsgrund, wenn ich nochmal kämpfe?«

Er schnaubt und lächelt gleichzeitig. Ich lehne mich an ihn und damit belassen wir es bei diesem Thema. Ich habe darauf nämlich keine Antwort und er wahrscheinlich genauso wenig. Natürlich ist das für mich ein absolutes No Go, andererseits bin ich Neal total ausgeliefert. Ich habe mich von ihm abhängig gemacht. Keine Ahnung wie. Auf emotionaler Ebene bin ich von Neal Arndt abhängig.

»Ich hätte ihn gerne kennengelernt. Jason, meine ich.« Neal zieht mich noch dichter zu sich und küsst mich. Ich löse mich, stehe auf und schiebe eine SD-Karte in den Fernseher, welche ich in einer Porzellandose versteckt hatte. Es ist so weit, ich sollte es ihm zeigen. Wenigstens ein bisschen.

»Wir sind selten zusammen zu sehen, außer auf unserer Hochzeit. Ich weiß nicht, ob die Hochzeit auf dieser Karte drauf ist. Es gibt viele SD-Karten. Jason war ein Film- und Fotofanatiker. Ähnlich wie du mit deinen ollen Fotos.«

Neal lächelt. Er kann ihn zwar nicht kennenlernen, jedoch kann er sehen, wie er war; zu mir, zu Mell, zu allen. Mein Zeigefinger zittert und drückt auf Play. Ich gebe Neal einen Kuss und gehe aus dem Zimmer, weil ich es mir nicht mitanschauen kann. Bevor ich richtig aus dem Wohnzimmer bin, höre ich Jasons Stimme und erinnere mich an sein Lachen. Ich bleibe im Flur stehen und lausche. Er war meine Liebe, mein Leben. Seit vier Jahren ist er schon fort. Mir laufen Tränen bis zum Hals herunter. Ich kann sie nicht aufhalten. Neal räuspert sich und hustet. Ich linse kurz hinein und erkenne, dass er gerade mitansehen muss, wie Jason mich auf den Tisch setzt und küsst. Er hat seine Kamera mit einer Hand festgehalten und küsste mich am ganzen Körper. Wie ich schon alleine von seinen Küssen aufstöhne. Neal ist es bestimmt unangenehm, das zu sehen.

»Wir könnten das mal filmen?«

»Jason, hör auf, mach die Kamera aus, stell dir vor, meine Mama oder Edmund schauen sich das irgendwann an.« Jasons Lachen klingt so schön. Danach hat er die Kamera ausgemacht und hat mich auf dem Tisch gevögelt. Auf demselben Tisch, auf dem Neal mich schon rangenommen hat. Mit meinem Shirt wische ich mir die Tränen weg und schniefe.

»Beobachtest du mich, wie ich euch anschaue?«, ruft Neal aus dem Wohnzimmer heraus und steht plötzlich vor mir.

»Ich wollte eigentlich ins Schlafzimmer.«

»Aber du stehst hier und beobachtest mich und schaust dir das an. Komm mit, wir schauen uns das zusammen an.« Ich schüttele den Kopf und schaue nach unten. Er nimmt meine Hand. »Du schaffst das. Ich bin da. Eins muss ich sagen, es wäre vielleicht an der Zeit, einen neuen Tisch zu kaufen.« Durch die Tränen in meinen Augen sehe ich Neal verschwommen und habe das Gefühl, ich erröte.

Wir gehen zurück zum Sofa und er hält mich die ganze Zeit fest. Ich beobachte ihn. Manchmal schaut er zu mir und küsst meine Tränen weg. Diese Videos habe ich mir damals, als Jason starb, täglich gemeinsam mit meinem besten Freund Jack Daniels angeschaut. Eine Karte nach der anderen schob ich vor vier Jahren in den Computer. Seit meiner düsteren Zeit habe ich es gemieden. Manchmal lacht Neal und ich muss grinsen, weil er sieht, wie verplant ich war. Wie Jason mit meinen Eltern umging, wie wir stritten. Wie alle über sein Filmen meckerten. Die letzten drei Monate sind auf dieser Karte. Danach ist der Fernseher schwarz. Komisch, normalerweise bringt er danach das Menü. Neal küsst mich. »Geht’s dir gut?«

»Frag bitte nicht dauernd, ob es mir gut geht, mir geht es immer dementsprechend, wenn ich über Jason reden oder an ihn denken muss«, wispere ich und schaue Neal in seine zweifarbigen Augen.

»So, Amelia, wenn du das siehst, war unsere ganze Arbeit nicht umsonst, denn du hast dir die Videos mit Jason angeschaut. Vor anderthalb Jahren starb dein Mann. Bevor du ausschaltest, möchte ich, oder besser gesagt wir, dass du dir anschaust, wie du warst. Ich, beziehungsweise wir, Bill steht hinter der Kamera, möchten, dass es dich abschreckt, dass es dir nie wieder so geht, und dass du so etwas nie mehr machst. Falls Melanie sich das anschaut, schalte bitte aus, das ist nur für deine Mama.« Meine Hände krallen sich ins Kissen.

»Das kenn ich nicht, wann … Was haben die gemacht?«, flüstere ich. Wann hätte ich mir schenken können, das haben sie gesagt … Ich will aufstehen und es stoppen. Wie können sie es wagen und die SD-Karte mit so etwas beschmutzen? Es ist beschmutzt, weil ich damals furchtbar war. Ich konnte mich selbst nicht leiden.

»Bleib sitzen und schaue es dir an, wie sie es gesagt haben«, sagt Neal streng.

»Neal, das kann böse werden, ich … ich weiß, wie ich war.«

»Ich nicht. Ich würde es gerne sehen.«

Ich schüttele meinen Kopf. Er hält mich fest und verhindert, dass ich aufstehen kann. Er wird mich hassen …

Die Filmsequenzen zeigen mich von einer richtig üblen Seite. Neals Gesichtsausdruck ist gespenstisch. Er sagt nichts. Seine Mimik wechselt von angeekelt über gequält zu schockiert. Meine besten Freunde haben mich gefilmt, wie ich voll bin, zugedröhnt von Medikamenten und Antidepressiva, die mir damals Edmund verschrieben hat. Sie haben mich sogar bei so einem Straßenkampf gefilmt. Es bricht mir das Herz, wie ich mit Mell umging. Ich war eine Rabenmutter. Die schlimmste, die es je gab. Wenn sie das wüsste, würde sie mich hassen und ich hätte es verdient. Ich hatte ziemliches Glück, dass ich nicht starb, wobei ich mir das zu dieser Zeit manchmal gewünscht habe. Dass Harin und Annamaria auf Melanie aufgepasst haben, war meine Rettung. Die beiden filmten sogar, wie ich mich von einem Kerl abschleppen ließ und für ihn im Auto die Beine breit machte.

Ein Jahr kann ganz schön lange sein. Ich habe nicht mal gemerkt, dass sie mich ständig gefilmt haben. Das Vorführen meines alten Ich dauert dreißig Minuten und das ist lange. Zu lange nach meinem Erachten. Neal sitzt wie versteinert auf dem Sofa. In den letzten Sequenzen sieht man Bill und Harins Gesicht. Beide haben Tränen in den Augen. Ihre Mimik ist ähnlich wie Neals gerade. Ich stehe auf und lasse Neal alleine.

Bill und Harin bekommen eine bitterböse Nachricht von mir geschrieben, daraufhin gehe ich ins Bett. Keine Ahnung, was ich jetzt bei Neal soll. Er muss selbst entscheiden, wie er diese Informationen handhabt. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich war so … Natürlich schäme ich mich dafür, nur war ich zu dieser Zeit so. Das, was ich als Einziges bereue, ist das mit Mell. Ich wusste, ich war schlimm. Es vor Augen geführt zu bekommen, hat selbst mich erschreckt. Ich kann nicht schlafen, ich habe weder von Harin noch von Bill eine Nachricht zurückbekommen.

Irgendwann kommt Neal ins Bett. Er zieht mich zu sich und gibt mir einen Kuss. »Er war ein toller Mann«, flüstert er mir ins Ohr und ich halte mich an ihm fest.

»Das bist du auch.«

Er küsst mich am Nacken und haucht mir ins Ohr. »Du bist eine tolle Frau, Amelia. Das war nur die Vergangenheit. Dadurch wird mir bewusst, wie sehr du ihn geliebt hast, und ich möchte ihn nicht ersetzen. Weder bei dir, noch bei Melanie. Ich will ein eigenes Stück von dir bekommen.«

Ich drehe mich zu ihm, schaue ihm in seine Augen, die im Dunkeln zu leuchten scheinen, und mein Herz schlägt mir bis zum Hals, obwohl mir zum Weinen zu Mute ist.

Drittes Kapitel

Neal ist schon weg, als ich aufwache. In der Wohnung ist es totenstill. Ich laufe in Melanies Zimmer. Das Bett ist leer und ordentlich gemacht. Außer mir ist keiner da. Wo die zwei wohl sind? Es ist halb elf, warum hat Neal mich nicht geweckt? Er ließ mich einfach schlafen. Es ist für mich noch ungewohnt, so lange zu schlummern. Seit ich mit Neal zusammen bin und er neben mir schläft, sind meine Nächte länger und besser.

Ich mache mich frisch und ziehe Jeans und Top an. Der Küchentisch ist für mich gedeckt und ein Zettel liegt auf meinem Teller. Ein Grinsen überfällt sofort mein Gesicht, weil Neal in Melanies Worten schrieb:

Liebe Mama, ich und Neal sind einkaufen,

in unserem Kühlschrank ist der Hund begraben, sagt Neal.

Aber ich habe keinen Hund gesehen.

Ich hab dich lieb (Mell)

&

Ich liebe dich (Neal)

Ich setze mich hin und frühstücke Toast. So schlimm steht es mit dem Kühlschrank nicht. Wir essen außerdem die meiste Zeit bei Annamaria. Außerdem habe ich Toast stetig da, genauso wie Marmelade, Wurst und Käse. Außerdem sollte das anders ablaufen. Ich wollte gestern einkaufen, während Melanie in der Kita gewesen wäre. Warum soll ich den Kühlschrank füllen, wenn ich nicht zu Hause bin? Damit es zum Leben erwacht? Für Melanie habe ich Essen da.

Meine Augen inspizieren den Kühlschrank noch einmal, als ich Marmelade und Butter zurück räume. Ich finde es gar nicht schlimm.

Ich tippe auf mein Handy und mir fällt ein, dass ich auf die zehn SMS von Bill und Lilly nicht geantwortet habe. Bill habe ich stattdessen eine bitterböse Nachricht wegen des Videos geschrieben. Auf die er nicht zurückgeschrieben hat. Er wird nicht zurückschreiben, weil er sauer ist.

Lilly fragte in einer Nachricht, wie es mir ginge und was passiert sei. Das war sogar schon Sonntag. Ich hatte mein Telefon stumm geschaltet und wollte meine Ruhe. Lilly schreibe ich, dass alles in Ordnung ist und es egal sei, was war. Sie weiß, dass ich ungern über so etwas rede.

Die zig Nachrichten von Bill … Wie mein Wohlbefinden ist, wo ich bin und ob er mich holen muss - das war am Sonntag. Er schrieb jede Frage zu einer anderen Uhrzeit. Sonntag habe ich bei Chris geschlafen, ich war in der Nähe und dachte mir, er könnte mich zur Abwechslung auch heimbringen. Er bot mir das Gästezimmer an. Montag fragte Bill, ob ich noch lebe, warum ich ihn nicht anrufe. Er hätte mich auch bei Chris abgeholt. Abends noch die Frage, wie ich zum Friedhof und zurückgekommen bin. Nachts noch einmal, wie es mir geht, und Dienstagmorgen:

Habe gehört, der Stecher ist wieder da. Melde Dich!!!

Bill sorgt sich an diesem Wochenende grenzenlos viel um mich. Sonst verschwendet er keine so großen Gedanken an mich. Nur zu dieser Zeit. Er sagte einmal, er würde mich am liebsten einsperren und erst am einundzwanzigsten herauslassen.

Ich rufe ihn an, er müsste auf der Arbeit sein.

»Na?« Er ist sauer, das höre ich an seinem Klang.

»Guten Morgen«, flüstere ich und beiße mir auf die Lippe.

»Guten Morgen? Hast du auf die Uhr geguckt?«

»Bill, tut mir leid, ich war voll und Chris hat übrigens ein bequemes Gästebett«, scherze ich.

»Du hättest dich trotzdem melden können. Ich musste mich erst bei Harin melden, um wenigstens ein paar Infos zu bekommen. Wie immer ...« Von sauer zu eingeschnappt, das ist eine Wandlung, selbst für Bill.

»Bist du noch sauer?« Mit der Frage bekomme ich Bill seit jeher weich. Wenn er vor mir stehen würde, würde ich noch mit meinen Wimpern klimpern.

»Na ja, ein bisschen vielleicht. Was ist mit dir und Neal, bist du noch sauer?« Er spielt auf das Video an.

»Ja, ein bisschen schon, zwischen Neal und mir ist alles gut«, flunkere ich ein bisschen. Ist es auch irgendwie, aber Angst, Neal zu verlieren, habe ich noch.

Wie schmerzhaft es war … Wie viel Kraft mich all das gekostet hat … Alles, unser Kennenlernen bis heute. Meine Gefühle sind das letzte dreiviertel Jahr eine große Achterbahn gefahren und zum Schluss wurde ihnen kotzübel.

»Du warst so fertig und jetzt ist alles wieder gut?«, hakt er nach.

»Es war halt ein ziemlich blöder Zeitpunkt zum Streiten, da war ich aufgebracht.«

»Aufgebracht? Du warst am Boden zerstört, warum hast du dir eigentlich nochmal Urlaub genommen? Bitte nicht seinetwegen? Bist du krank? Warum habt ihr euch gestritten?«

»Nein, Löckchen ist in der Kita gestürzt und wurde genäht. Ich wollte sie die nächsten Tage nicht in die Kita geben oder bei Annamaria lassen, ich muss mich selbst ein bisschen mehr um sie kümmern, mütterlicher werden.« Wie oft ich mir das schon vorgenommen habe …

»Was ist passiert?«

»Sie hat mit dem Kinn gebremst.«

Er lacht. »Oh, okay. Also sehen wir uns wann?«

»Montag erst«, antworte ich.

»Also bis Montag, Baby, erholt euch und knutsch Mell. Oder vielleicht komme ich nachher vorbei und bringe meinem Patenkind ein Geschenk zur Genesung mit«, sagt er und wir verabschieden uns. Ich sinke in einen Stuhl. Jemand steht an der Tür und klappert mit dem Schlüssel. Mell spricht mit Neal. Sie flüstert, oder versucht es zumindest. Als die Tür aufschwingt, tadelt sie gerade: »Neal, psst, du bist laut, Mami schläft noch.«

»Meinst du wirklich? Wir waren ziemlich lange weg, schau mal ins Schlafzimmer.«

Ich höre ihre kleinen Kinderschritte und beobachte sie von der Küchentür aus. Neal hat mich schon gesehen und lächelt. Mell dreht sich zu ihm und hebt die Hände.

»Mami ist nicht im Bett.« Ich muss anfangen zu lachen, weil sie einfach zum Anbeißen aussieht. Wie sie da steht, als würde sie die Welt nicht verstehen. Sie dreht sich zu mir um und schaut mich an.

»Och Mami«, schimpft mein Löckchen und stapft mit einem Fuß auf den Boden.

»Na ja, hör mal, so lange schlafe ich nicht.«

»Aber wir haben keinen Hund gekauft.« Sie sieht traurig aus. »Neal sagt, das sagt man so, wenn nichts los ist und in unserem Kühlschrank ist nichts los, sagt er.« Ich nehme ihm eine Einkaufstüte von dreien ab.

»Was habt ihr denn alles geholt? Habt ihr den Laden leer gekauft?«, frage ich neugierig.

Mell lacht. »Nein, das geht doch gar nicht.« Sie ist völlig überzeugt.

»Und was habt ihr gekauft?«

»Alles!«

»Alles? Also doch den Laden leer?«

»Ach Mami, guck.« Wir packen die Tüten aus und tatsächlich haben sie alles gekauft - außer Ungesundes. Gemüse, Obst, Wurst, Käse, nochmal Brot … Ich zeige Neal das Tiefkühlfach mit Brot. Er zuckt ganz unschuldig mit den Schultern und versucht mir zu erklären, dass er ja nichts dafür könne, wenn ich das Brot einfriere. Sie kauften Mehl, Nudeln, ach sie kauften einfach alles, wie Mell so schön sagte.

»Neal kocht heute«, sagt Mell plötzlich und ich bekomme Angst.

»In meiner Küche wird nicht gekocht, außer vor Wut«, argumentiere ich. Er fängt an zu lachen. »Dann sollten wir das ändern, außerdem wurde hier bestimmt schon gekocht.«

»Ja, manchmal - selten. Wir essen meistens bei Annamaria. Was willst du denn kochen?«

»Das ist eine Überraschung, du musst raus aus der Küche, Mama.« Mein Löckchen schiebt mich heraus und ich laufe zur anderen Tür wieder herein.

»Darf ich auf das Sofa?«

»Darf sie aufs Sofa?«, flüstert Melanie Neal zu und er nickt.

»Gut, du darfst auf das Sofa, aber nicht umdrehen.«

Ich lache. »Okay, alles klar.« Die Küche ist zum Wohnzimmer hin offen, schöne Sache eigentlich, wenn man keine Geheimnisse hat. Ich höre Neal reden. Er erklärt Melanie, wie sie was machen soll. Die zwei kochen Spaghetti Bolognese.

Dafür, dass ich dachte, dass Neal nicht kochen kann, ist das Essen zum Schluss ziemlich gut geworden. Es sind Möhren in der Soße verarbeitet, lecker. Dazu hat er einen passenden Rotwein gekauft.

»Wir haben einen neuen Tisch gekauft«, informiert mich meine Tochter während des Essens.

Ich blicke zu Neal und erinnere mich an gestern. Es wäre vielleicht an der Zeit, einen neuen Tisch zu kaufen. Er setzt stets das um, was er sagt.

»Der ist schön, Neal hat ein Foto gemacht.«

»Na dann zeigt her.« Ich ringe mir ein Lächeln ab und werfe Neal gleichzeitig einen bösen Blick zu. Er grinst triumphierend.

»Der Tisch ist aus Akazie Massivholz«, informiert mich Neal. Auf dem Bild sieht es aus, als hätte der Rand noch diese Baumkanten und wäre nicht gerade. Die Füße sind aus Metall und schwarz gefärbt.

»Wie groß ist der denn?«, frage ich.

»Ein Meter achtzig.«

»Und was hat das gute Stück gekostet?«

Neal zuckt mit den Schultern. »Das ist egal.«

Ich räuspere mich und esse alles auf.

»Schmeckt es dir?«, fragt mich Neal.

»Ja, es ist sehr lecker. Ich wusste gar nicht, dass du kochen kannst.«

Melanie sieht lustig aus, überall hängt die Tomatensoße in ihrem Gesicht.

»Amelia, du weißt so vieles von mir nicht. Nur weil ich eine Köchin habe, heißt das nicht, dass ich nicht kochen kann«, antwortet er mir.

Nach dem Essen räumen wir den Tisch ab, dann wasche ich Mell und lasse sie in ihrem Bett spielen. Der Balkon lächelt mich an. Ich laufe raus und setze mich. Ich genieße die Ruhe und schmolle vor mich hin. Er soll ruhig merken, dass mich das mies stimmt.

»Bist du sauer?« Neal kommt zu mir.

»Nein, bin ich nicht.« Mein sarkastischer Tonfall ist deutlich.

Er beobachtet mich und lehnt sich am Balkongeländer an.

Umso länger ich über seinen ungefragten Kauf nachdenke, desto mieser wird meine Stimmung. Ich stehe auf und hole drinnen meine Zigaretten. Er kann nicht einfach einen Tisch kaufen, ohne mich zu fragen. Es ist in den letzten Tagen zu viel passiert, dass er tun und lassen kann, was er will.

»Rauchst du jetzt?«, fragt er mich mit tiefer, dunkler Stimme.

»Nein, Neal, tue ich nicht«, sage ich und zünde mir eine Kippe an.

»Ich dachte, wir wären auf einem guten Weg?«

»Sind wir doch.« Ich grinse ihn frech an.

»Ehrlich? Das fühlt sich im Augenblick nicht so an.«

»Neal, du bist ein Rätsel, entweder bist du hart oder weich. Mittelhart oder so gibt es nicht.«

»Was?« Er schüttelt unglaubwürdig seinen Kopf.

»Na ja, erst bist du der knallharte Geschäftsmann und dann wiederum bist du empfindlich und verletzlich.« Ich schaue ihn an und ziehe an der Zigarette.

»Keine Ahnung, ich weiß nicht, warum du sauer bist, wir haben doch über den Tisch geredet.« Er versteht mein Problem nicht.

»Erstens hast du es einfach gesagt und ich habe nicht geantwortet, danach kaufst du einen, ohne nach meiner Meinung zu fragen, obwohl wir uns gestern erst ausgesprochen haben, weil du Scheiße gebaut hast. Mell findet das vielleicht ganz toll, doch man kann nicht einfach irgendwo hingehen und etwas Teureres kaufen«, erkläre ich ihm und hebe die Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Und schließlich darf ich nicht einmal erfahren, wie viel er kostet.« Ich drücke die Zigarette aus.

»Also warum bist du sauer? Weil ich einen Tisch gekauft habe, ohne dich zu fragen, oder weil ich den Tisch gekauft habe und dir den Preis nicht sage? Oder weil ich gekokst habe? Ich dachte, wir hätten das gestern geklärt.« Verwirrt sieht er mich an.

Denkt er wirklich, dass ich das ganze so schnell vergesse und unter den Tisch kehren kann?

Ich stehe auf und gehe rein. »Ach, vergiss es.«

Mein Blick gleitet, als ich in die Wohnung gehe, über den Tisch. Er war ein absolutes Schnäppchen. Vorher hatte er fast tausend Euro gekostet und als Jason und ich uns gerade von diesem Tisch entfernten, kam ein Verkäufer, der ein Schild anklebte, dass den Tisch nun fünfzig Prozent weniger kosten ließ. Wir haben uns über dieses Schnäppchen so gefreut und waren danach noch chinesisch Essen. Der Glückskeksspruch blieb mir in Erinnerung: Liebe ist, wenn man zuerst den anderen liebt und dann sich selbst.

Neal läuft hinter mir her. »Amelia, bitte erkläre es mir, tut mir leid, ich hatte noch keine Frau, die mein Geld so sehr ablehnte. Außerdem wohne ich zum Teil in dieser Wohnung, also kann ich ebenfalls etwas kaufen, muss ich dich da fragen?«

Wenn ich mit Ja antworte, hört sich das so an, als wäre Neal weiterhin nur mein Gast, was ich eigentlich nicht möchte, allerdings muss man solche Entscheidungen zusammen treffen, nicht alleine. Wobei ich nie um Erlaubnis gefragt habe. Jason hat mir dieses Beziehungszeug beigebracht. Ich habe ja vorher nur herum gevögelt. Ich atme tief durch. Es ist das erste Mal, dass ich nicht schweige und nicht abhauen will. Dieses Abhauen finde ich wirklich anstrengend, anstrengender als richtig rumzuschreien.

»Puh, also man muss wohl solche Entscheidungen zusammen treffen, das habe ich von Jason gelernt. Dass man Rücksicht auf den anderen nehmen muss. Kompromisse nannte er es. Also ja, du musst mich bei solchen Käufen fragen. Ich möchte nicht, dass Melanie so aufwächst und denkt, man kann alles kaufen und haben. Das geht nicht. Sie soll ein gesundes Verhältnis zu Geld bekommen. Du konntest dir zu jeder Zeit alles leisten, ich nicht. Und ich möchte, dass Mell weiß, dass man nicht dauernd alles haben kann.«

»Aber ich kann mir halt alles leisten und ich bekomme auch alles, was ich will. Ich habe trotzdem gelernt, wie man mit Geld umgeht, weil meine Eltern mir das vermittelten. Das hat dir Jason beigebracht? Wir können unsere eigenen Beziehungsregeln machen, wie zum Beispiel: Ich kaufe, und du akzeptierst es.« Er grinst und ich haue ihn gegen die Brust. Daraufhin lacht er. »Komm her und küss mich.« Er versteht einfach nicht, was ich meine.

»Nein, weil du nicht immer alles bekommst, was du willst – und wenn es bloß ein Kuss ist.« Ich weigere mich und er lacht erneut.

Neal zieht mich zu sich, beißt sich auf die Unterlippe und lässt seine Augen glühen. »Das Problem ist, wenn ich etwas nicht bekomme, nehme ich es mir einfach«, raunt er und presst seine Lippen auf meine. Sofort werde ich weich. Plötzlich klingelt es und Neal schaut auf die Uhr. »Sie sind pünktlich, sehr schön. Das ist der Tisch.«

»Vielleicht ist es Bill, er wollte sein krankes Patenkind besuchen.«

Neal winkt ab. Als würde er gerade noch sagen, er hätte ebenfalls kontinuierlich recht. Unfassbar, es ist die Möbelfirma und die Monteure nehmen den alten Tisch gleich mit. Was für ein Service … Meine Hände streichen über den neuen Tisch. Die Maserung des Holzes ist sehr schön.

Den Preis weiß ich trotzdem nicht.

Als Melanie wach wird - sie ist tatsächlich während des Spielens auf ihrem Teppich eingeschlafen – ist sie begeistert und stolz auf den Kauf. Noch mehr strahlt sie, als sie ihren Paten an dem neuen Tisch sitzen sieht, der ein Geschenk für sie hat. Es ist eine Barbiepuppe mit einem Einhorn.

Stolz zeigt sie ihm ihre Wunde am Kinn, dann kommt der supertolle Spruch, den jeder gerne hört. »Bis du heiratest, ist alles weg.«

Wir trinken zusammen Tee und essen Kuchen, welchen Neal gekauft hat. Bio-Kuchen, was auch immer das heißen mag …

Neal bleibt die ganze Woche bei uns und arbeitet von Berlin aus. Er fährt erst Sonntag zurück, um nach seinen Baustellen zu schauen.

Viertes Kapitel

Der Alltag holt uns schnell ein. Wir haben mittlerweile Mitte September. Melanie geht in die Kita, ich gehe arbeiten - es zehrt an mir und Neal. Er ist entweder in Berlin oder Hamburg. Manchmal irgendwo dazwischen. Anfang September war er in Frankreich. Er freut sich, wenn er in Berlin ist, dennoch weiß ich selber, dass das keine Zukunft für uns hat. Es stresst mich selber, wenn ich ihn so sehe. Er hat manchmal sogar richtig schlechte Laune, weil er plötzlich wegmuss, obwohl er gerade erst einen Tag da ist, oder einfach, weil er müde und ausgelaugt ist. Oder wie zu dieser Zeit: Wir sollen zu ihm kommen und ich kann nicht. Wir sind einem großen Dealer auf der Spur. Die Kollegen vom Morddezernat sind mit dabei. Wir müssen zusammenarbeiten.

»Kommt Neal hierher?«, fragt mich Chris und reißt mich aus den Überlegungen über den Fall heraus.

»Nein, er bleibt in Hamburg, ich habe sowieso keine Zeit für ihn.« Ich stehe vor der Wand mit all den Fakten und versuche, sie zusammenzusetzen. Da fragt mich Chris so etwas.

Neben mir steht Isabell. Trotz ihres Alters ist sie hübsch. Sie hat eine gewisse Strenge in ihrer Mimik und Körperhaltung und sie trägt oft Schuhe mit Absätzen. Ihr Team und sie sind vom Morddezernat.

Ich tippe auf ein Foto. »Der Kerl, ich glaube - nein, ich weiß es - der gehört dazu. Er will uns verarschen.«

Isabell stimmt mir zu.

»Er gehört zur polnischen Polizei«, höre ich Alex aus seinem Büro rufen. Als ich mich umdrehe, steht er an seiner Tür.

»Das weiß ich, dennoch glaube ich, er spielt ein falsches Spiel. Wir sollten ihn herholen.«

»Amelia, das geht nicht, er ist Polizist.« Versucht er, mich davon abzubringen?

»Alex, er ist in die Sache verwickelt und ein korrupter Bulle.« Sieht er denn nicht das, was wir sehen?

»Ich weiß, ich bin deiner Meinung, allerdings gibt es Regeln und an manche musst auch du dich halten. Ihr alle.« Er zeigt mit seinem Zeigefinger auf Chris, Bill und mich und schaut uns grimmig an. »Fahrt nach Hause, ihr braucht Abstand und frische Luft. Ich rufe euch an, wenn es neue Infos gibt. Die anderen bekommen das ohne euch hin.« Alex schaut griesgrämig. »Das ist keine Bitte, sondern ein Befehl von mir als Chef«, sagt er laut und deutlich, als wären wir taub. Vielleicht sind wir das auch auf diesem Ohr.

Wir drei beobachten uns gegenseitig, greifen nach unseren Sachen und gehen. Bill steckt sich eine Kippe an und holt sein Handy heraus.

»Wir sollten uns ausruhen und uns nicht noch mehr verausgaben«, erinnert Chris Bill.

»Bla, bla, bla, Vögeln ist für mich entspannend. Du bist ja nur eifersüchtig.« Ich muss lachen und streichle Chris über den Rücken.

»Lass ihn, er ist alt genug. Ich leg mich mit einem Glas Wein in die Wanne. Das ist Entspannen«, betone ich, steige in mein Auto und lasse die beiden stehen. Während der Fahrt rufe ich Harin an:

»Na, fertig? Mell ist ganz traurig, dass ihr nicht nach Hamburg fahrt.«

»Alex hat uns heimgeschickt, ich will kurz baden und den Kopf freibekommen, anschließend fahre ich wieder hin. Wie geht es ihr sonst?«

»Gut, warte, ich gebe sie dir.«

»Mami, warum fahren wir nicht zu Neal?«, fragt mein Löckchen.

»Weil ich arbeiten muss.« Wenn sie älter ist, wird ihr dieser Satz bestimmt aus den Ohren kommen. Vielleicht tut er das jetzt schon.

»Musst du wieder böse Menschen schnappen?«

»Ja, mein Löckchen. Tut mir leid. Vielleicht fahren wir nächstes Wochenende?«

»Hm ... Ich hab dich lieb, Mami.« Sie klingt traurig und bedrückt.

»Ich hab dich auch lieb, Löckchen.«

Ich schaue kurz auf meinem Handy nach, ob Neal sich gemeldet hat. Nichts. Er ist wahrscheinlich selbst in seine Arbeit vertieft. Als ich die Tür öffne, merke ich, dass nicht abgeschlossen ist. Ich will nach meiner Waffe greifen. Habe ich es vielleicht gestern vergessen? Oh Mann ... Ich war zu lange wach. Mir kommt in den Sinn, dass Neal da sein könnte. An das Gefühl werde ich mich wahrscheinlich nie gewöhnen, obwohl er schon lange den Schlüssel hat.

Als ich in die Wohnung trete, tritt mir ein sagenhafter Geruch in die Nase. Es riecht nach meinem Ragout, nur dass ich nicht gekocht habe. Ich öffne die Küchentür und sehe Neal am Herd stehen. Er trägt ein graues Shirt und eine schwarze Jogginghose. Das ist gar nicht sein Stil. Die Abzugshaube ist an und er hört laute, klassische Musik. Er hört mich nicht. Gefährlich. Ich laufe auf ihn zu und fasse ihn vorsichtig an, um ihn nicht zu erschrecken. Von hinten umarme ich ihn und er atmet lange aus.

»Hallo Liebling, du solltest doch nicht kommen.« Er hat schon so genug Stress.

Neal dreht sich um und ich umarme seine Taille. »Ich weiß, aber ich wollte. Wir haben uns schon die letzten Wochen kaum gesehen.« Es ist anstrengend für uns beide. »Ich habe gekocht.« Neal redet mir gerade zu viel, ich presse einfach meine Lippen auf seine, um ihn zum Schweigen zu bringen. Er lächelt während des Kusses. Seine Hand umfasst mein Gesicht und er drückt mich kurz weg, um mich anzuschauen. Seine Augen strahlen. Der Herd wird mit einer schnellen Handbewegung von Neal abgeschaltet und er wendet sich komplett mir zu. Zwischen dem platzierten Geschirr setzt mich Neal auf unseren neuen Esstisch.

»Den haben wir immer noch nicht eingeweiht«, haucht er mir ins Ohr, als er mich hinlegt und auszieht.

Für einen kurzen Augenblick genieße ich seine Aufmerksamkeit, doch dann fällt mir die Arbeit ein. »Stimmt, doch jetzt muss ich mich frisch machen«, sage ich und rapple mich hoch.

»Na gut, dann eben woanders.« Er hebt mich nackt hoch und läuft mit mir geradewegs in die Dusche. Sofort macht Neal das Wasser an und schenkt mir erneut seine volle Zuneigung. Hier und jetzt gebe ich mich ihm völlig hin. Er drückt mich gegen die Wand und dringt langsam in mich ein, immer und immer wieder. Meine Gedanken werden bei jedem Stoß blasser und mein Körper fühlt sich leicht und schwerelos an. Das heiße Wasser plätschert auf uns und gibt all dem noch einen gewissen Kick. Es ist eine Wohltat bei so viel Stress, wenn der Kopf einfach leer ist und der Stress abfällt. Das ist das Einzige, was hilft. Das Wasser fließt über meinen Körper. Jeden einzelnen Wassertropfen spüre ich auf meinem pulsierenden Körper. Ich genieße dieses Gefühl. Als würden die Tropfen meine Gedanken wegspülen.

Neal küsst mich und seine Bewegungen werden intensiver. Meine Mitte saugt sich an Neals Erregung fest und mein Körper wird mit jeder Bewegung schwächer. Neal dreht mich um und stößt in mich hinein. Mein Gesicht ist gegen die Duschwand gepresst. Der Druck auf meinem Vorderkörper und die Hitze in dieser Dusche berauschen mich. Sternchen baumeln vor meinen Augen, also schließe ich sie. Neals Küsse brennen auf meiner Haut. Es fühlt sich an, als würde er unsere ganze Belastung mit seinen Küssen aufsaugen. Ich schreie auf und merke, wie Neal uns im Badspiegel beobachtet, während ich zum Höhepunkt komme.

»Du Sau«, stöhne ich ihm zu. Noch einmal stößt er kräftiger in mich, bis er sich in mir ergießt und ich voller Leidenschaft und Erschöpfung aufschreie. Meine Kraft schwindet und Neal hält mich fest, als ich mich fallenlasse. Seine weichen Hände massieren mich, als wir gemeinsam auf dem Boden der Dusche sinken. Neal ist sehr sinnlich und ein guter Liebhaber. Langsam stehen wir auf und seifen uns gegenseitig ein. Unser Augenmerk liegt endlich seit langem wieder bei uns.

Meine Finger sind schon ganz schrumpelig, als wir aus der Dusche gehen. Sofort schmiege ich mich in meinen Bademantel und hole mein Essen aus der Küche. Als ich mich nicht hinsetze, schaut Neal mich skeptisch an.

»Ich brauche mein Sofa«, erkläre ich ihm und schenke mir ein Glas Wasser ein, dann folgt er mir ins Wohnzimmer und wir schauen Fernsehen. Das mit uns läuft schon zehn Monate oder so, trotzdem haben wir es noch nicht einmal geschafft, gemeinsam vor dem Fernseher zu sitzen und etwas anderes als einen Kinderfilm zu schauen. Ständig war irgendetwas. Ich belächele diese Situation nur.

»Was ist?«, fragt er.

»Wir haben noch nie ferngeschaut. Noch nie so jedenfalls«, antworte ich.

»Stimmt. Was schaust du denn normalerweise?«

»Keine Ahnung, kommt ja nur Mist, wenn dann Filme. Für Serien habe ich zu wenig Zeit. Oder halt auf Prime irgendetwas.«

»Was für Filme?«

»Aktion, Thriller, Drama – manchmal Komödien, aber die müssen gut sein. Und du?«

»Komödien und Aktion«, sagt er trocken.

Ich zappe durch die Kanäle, viel kommt nicht. Ich bleibe bei ZDF hängen, dort läuft ein Krimi. Mord und Totschlag eben. Ich gebe meinen Senf dazu. Neal lacht und stöhnt. Den Mörder habe ich schon nach der Hälfte des Films enttarnt.

»Was ist mit deinem Fall, zehrt er an dir?«

»Ja«, antworte ich leise. Er ist ziemlich übel. Ein Mädchen hat sich einen goldenen Schuss gesetzt. Ich sehe immer noch ihren leblosen Körper vor meinen Augen. Das junge Mädchen sollte für die Bande Drogen schmuggeln.

Ihr Freund war selbst ein Junkie, ist aber bereit, mit uns zu kooperieren, weil er der festen Überzeugung ist, dass sie sich niemals umgebracht hätte. Sie hätte niemals Heroin genommen. Sie rauchen nur oder ziehen sich irgendetwas rein. Von Spritzen haben sie wohl die Finger gelassen. Er war richtig gesprächig. Durch ihn hatten wir plötzlich die Informationen, die unsere Puzzleteile zusammengesetzt haben. Leider haben wir das Puzzle noch nicht fertig. Wir sind schon eine Weile hinter dieser Gruppe her. Sie verkaufen jeglichen Scheiß. Irgendwann sind sie auf unserer Bildfläche aufgetaucht und wenn wir jemanden hochgehen lassen haben, wurde uns dieser Bandenname gesagt. Angeblich handeln sie nicht nur mit Drogen. Sie haben diesem Mädchen viel Geld versprochen, wenn sie für sie schmuggelt. Und dann ist da noch dieser korrupte Scheißbulle. Da bekomme ich echt einen zu viel.

»Worum geht es?«

»Neal, ich darf dir das nicht sagen.«

Er zieht eine Augenbraue hoch. »Die Kurzfassung?«

Ich tue es ihm gleich und hebe meine Braue. »Drogen und Mord.« Ich muss lachen und er wirft mir einen missbilligten Blick zu. »Du erzählst mir auch nie von deiner Arbeit.«

Er reckt die Hand mit seinem ausgestreckten Zeigefinger hoch, als würde er sich melden.

»Ja bitte? Es schmeckt übrigens sehr gut«, lobe ich meinen Freund.

»Ich habe versucht, es dir zu erklären.« Neal stößt einen leisen Seufzer aus. »Danke, ich habe es in einem deiner verstaubten Kochbücher gefunden.«

Ich verdrehe die Augen und schaue weiter den Sofamagneten an, ehe ich auf mein Handy sehe. Bill fragt, ob Alex sich gemeldet hat.

Neal und ich legen uns nach dem Film ins Bett. Wir sind beide Müde. Eigentlich wollte ich zurück ins Präsidium, doch Alex sagte, er rufe an, wenn etwas sei. Also kann ich kurz die Augen schließen und noch ein bisschen die Zuneigung meines Freundes genießen. Neal hat ein neues Projekt begonnen. Sie bauen in Stuttgart einen Bürokomplex. Auch in Frankreich haben sie für September einen Auftrag angenommen.

»Dein Fall ist heftig, oder? Wenn du sagst, es geht um Mord und Drogen?« Er will es wissen.

»Neal, es ist eben, wie es ist. Manchmal weniger schlimm, manchmal schlimmer. Erst waren es nur Drogen und danach kam der Mord dazu. Mord wegen Drogen, durch Drogen. Ein junges Mädchen sollte Drogen schmuggeln. Der Drogenjunkie-Freund ist sich sicher, sie hätte keinen Selbstmord begangen. Wir sind schon eine Weile hinter den Verdächtigen her. Irgendwann schließt sich der Kreis. Einer meiner Ausbilder sagte einmal, die Vernehmung kann nur so gut sein wie die eigentliche Ermittlung. Bei jeder Vernehmung muss man auf jegliche Körpersprache achten. Sogar ob die Pupillen sich verändern. Ja-Nein-Fragen sind wichtig«, erkläre ich ihm.

»Aber Drogen verändern doch alles?« Er spricht aus Erfahrung.

»Das stimmt, trotzdem erkennt man es, wenn man gut ist.«

»Und du bist gut?«

Was ist das denn für eine Frage? »Ich denke schon. Ich war damals die Beste.«

»Wenn das Mädchen tot ist, wie verarbeitest du das?«

»Neal, man kann nicht ungeschehen machen, was man sieht. Man muss damit nur zurechtkommen. Einen Weg finden, es zu verarbeiten ... Und wenn man nach Hause geht, kann man es manchmal nicht abschütteln. Natürlich ist es besser, wenn man es schafft, aber es geht nicht immer. Manche machen Yoga, Bill hat seine Betthäschen, ich boxe, trinke und habe Melanie und nun dich um mich.« Er ist mein Lichtblick, selbst in diesen belastenden Tagen. Meine Hände streichen über seinen nackten Oberkörper und er atmet beruhigend aus. Ich liebe dieses Geräusch. Ich beginne ihn zu küssen und lege mich auf ihn. Völlig erschöpft bleibe ich einfach auf ihm. Seine großen weichen Hände streichen dauernd über meinen Rücken. Diese Streicheleinheiten habe ich vermisst und genieße sie in vollen Zügen.

Fünftes Kapitel

Schlagartig werde ich wach, als der Klingelton meines Handys ertönt, und setze mich auf. Bevor ich einen klaren Gedanken fassen kann, nehme ich den Anruf an. Es ist Alex.

»Du kannst kommen, wir sind auf eine weitere Spur gestoßen, es soll wohl gleich eine Übergabe geben.« Im Katzensprung stehe ich auf und mach mich kurz frisch. Als ich meine Sachen aus dem Schlafzimmer holen will, sitzt Neal im Bett.

»Musst du los?« Er ist total neben der Spur.

»Ja.« Ich ziehe mich an und Neal schaut mich seltsam an - besorgt …

Ich setze mich kurz zu ihm und gebe ihm einen Kuss.

»Schlaf weiter, es ist erst fünf Uhr.«

»Ich liebe dich, sei vorsichtig.« Er hält meine Hand fest. Er sagt es so, als hätte er gerade erst realisiert, als was ich eigentlich arbeite. Neal hat Angst um mich. Mehr als vorher.

»Immer«, flüstere ich und lächele. Zum Abschied küsse ich ihn, dann fahre ich los.

Bill sitzt neben mir im Bus und wackelt mit seinem linken Bein. Momentan unterhält sich der korrupte Polizist mit einem Mann.

»Wieso müssen die sich zu so einer unchristlichen Zeit treffen?«, fragt ein junger Kollege.

»Weil sie denken, wir bekommen es so weniger mit«, erklärt ihm Bill.

»Hätten wir auch nicht, hätten wir unseren Zeugen nicht gehabt«, flüstere ich und starre regelrecht auf die beiden Täter. Mein Herz schlägt so stark, dass ich das Gefühl habe, ich höre es durch ein Stethoskop.

Plötzlichen lachen die beiden und der korrupte Bulle schlägt seinem Gegenüber kumpelhaft auf die Schulter, während er ihm mit der anderen Hand eine Tasche überreicht.

Meine Finger streifen den Türgriff und sie sind bereit, die Bustür zu öffnen.

»Amelia, warte«, sagt Alex hinter mir und ich schaue zu Bill, der genauso bereit ist, die Tür zu öffnen, wie ich. Sein Bein bewegt sich so schnell, als würde es gleich abfallen. Das ist eine furchtbare Angewohnheit.

»Seht ihr das?«, fragt Chris und zeigt auf den Wärme-bildschirm, auf dem ganz klar noch weitere Personen zu sehen sind.

»Da sind noch mehr«, bestätigt Alex und wir schauen aus dem Fenster. Tatsächlich! Zwei Männer laufen zu den anderen beiden und einer trägt eine Reisetasche.

»Das ist doch offensichtlich! Können wir nicht jetzt rausgehen?«, fragt der Kollege und ich schüttele den Kopf.

»Noch nicht. Erst wenn sie die Tasche öffnen und der Deal abgeschlossen ist«, antworte ich und starre auf unsere Zielpersonen. In dem Moment öffnet der korrupte Polizist seine Tasche, schließt sie und schüttelt nacheinander seinen Geschäftspartnern die Hand.

»Jetzt!«, befiehlt Alex.

Mit der Kavallerie stürmen wir gemeinsam aus den Bussen.

»Polizei«, rufen Alex, Bill und ich gleichzeitig. Bill rennt hinter dem Korrupten her und ich wende mich zu dem Bus.

»Amelia, in dem Auto ist noch eine Person«, sagt Chris durch das Funkgerät. Sofort gebe ich einem Kollegen Handzeichen, dass er mitkommen soll. Mit meinen Fingern zähle ich von drei herunter, damit mein Kollege weiß, wann ich die Tür öffne.

Null.

Ruckartig öffne ich die Tür und vor mir sitzt eine verängstigte und sicherlich zugedröhnte junge Frau.

Fuck!

Als ich endlich im Bürostuhl sitze und von den Jungs beobachtet werde, strecke ich mich und gähne.

»Also ich bin nicht so müde und habe mich nicht nur ausgeruht.«

Ich verdrehe die Augen und stehe auf. »Bill, ich auch nicht.«

Bill wackelt mit den Augenbrauen. »Ich dachte, er wollte nicht kommen?«

»Sollte er nicht. Er ist anscheinend genauso stur und sexbesessen wie du.« Bill und Chris fangen beide gleichzeitig an zu lachen. Was habe ich denn gesagt, dass sie sich darüber so belustigen?

»Einen schönen freien Tag wünsche ich euch«, sage ich, während ich mit meiner freien Hand winke und zum Aufzug laufe.

Als ich zu Hause ankomme, sehe ich Neal am Laptop sitzen. Irgendwie habe ich das Gefühl, er arbeitet mehr als vorher. Müde und träge laufe ich zu ihm und gebe ihm einen Kuss.

»Ich gehe baden«, kündige ich an und ihn lässt es kalt. Also lasse ich meine Kleidung langsam vor ihm fallen und er lächelt. Okay, vielleicht ist er nur ein Dickkopf und ich gierig nach Sex. Kann es sein, dass die beiden Jungs deshalb gelacht haben?

»Liebling, ich muss das machen. Eventuell komme ich später nach.« Na gut, mich kann nichts mehr am Baden hindern. Meine Badewanne gehört mir. Immerhin hatte ich das gestern schon vor. Bevor ich in die Wanne steige, verbinde ich mein Handy mit der Bose-Box und Musik ertönt. Meine Augen schließen sich und ich genieße die Ruhe. Die Ruhe bevor Melanie kommt. Mein kleiner Wirbelwind. Ich liebe sie über alles. Bald hat meine Mama Geburtstag und ich muss mit Mell für ihre Oma ein Geschenk besorgen. Dieses Jahr kann ich nicht absagen. Letztes Jahr war sie über mein Fehlen ziemlich enttäuscht. Damals hatten wir auch einen schwierigen Fall. Es war genau der, weswegen ich Urlaub nehmen musste und Neal kennengelernt habe. In ein paar Wochen haben Neal und ich Jahrestag. Wie schnell doch die Zeit vergeht … Abwesend schwelge ich in Erinnerungen.

»Genießt du das Bad?« Schlagartig öffne ich meine Augen, weil meine Ruhe gestört wird. Neal steht nackt vor mir und ich beiße mir auf die Unterlippe. Ja, es ist nicht unbedingt von Vorteil, die Musik so laut zu haben, dass man alles andere ausblendet.

Vorsichtig steigt mein Mann in die Wanne und lehnt sich an mich. Ich spritze ihn mit Wasser voll und seine Fingerspitzen bohren sich in meine Oberschenkel, sodass es im heißen Wasser brennt. Ihn zu necken macht so viel Spaß. Als ich mich von meinem Lachen beruhige, küsse ich ihn vorsichtig am Nacken.

»Habt ihr die bösen Menschen?« Er klingt wie Mell.

»Ja.«

»Darfst du mir jetzt mehr darüber erzählen?«

»Im Moment will ich nicht über die Arbeit reden. Ich möchte schweigen und genießen«, wispere ich in sein Ohr und drücke ihn an mich. Er hebt meine Hand hoch und küsst sie.

»Hm … Seife«, sagt er und ich fange an zu kichern. Meine Hände taucht er mit seinen unter Wasser und lehnt sich weiter an mich. Sein Summen zur Musik klingt entspannt. Wir schweigen uns an und genießen nun zu zweit die Ruhe vor dem Wirbelwind. Manchmal tippt er mit seinen Fingern auf meinen Schenkel, als würde er Klavier spielen. Plötzlich erklingt nur noch die Musik. Neal hat aufgehört zu summen.

»Amelia, ich liebe dich, aber wir müssen uns etwas überlegen. Du hattest damals recht, als du sagtest, das Pendeln laugt uns aus. Diese Odyssee macht mich nicht glücklich. Es erschöpft mich. Wir sollten abwägen, was uns guttut.«

Sofort bekomme ich keine Luft. Neal wird mir plötzlich zu schwer. Angst überrollt mich, weil ich nicht weiß, worauf er hinauswill. Ein Strick bindet sich eng um meinen Hals. Wenn er schon so beginnt ... Ich habe mich gerade erst wieder komplett auf ihn eingelassen. Ich drücke ihn weg und stehe auf. Meine Hand bewegt den Wasserhahn und ich lasse kurz klares Wasser auf mich rieseln, gehe aus der Badewanne und wickle mir ein Handtuch um. Neal schaut mich fragend an. Warum schaut er mich jetzt so an, als würde ich über-reagieren?

»Amelia, willst du aufs Neue weglaufen?« Er spritzt sich ebenfalls mit Wasser ab und stellt sich klatschnass vor mich. Jedoch laufe ich an ihm vorbei und schnell kommt er hinter mir her. Er tropft alles nass.

»Redest du bitte mit mir?« Um seine Hüften wickelt er sich ein Handtuch, das er aus dem Badezimmer mitgenommen hat.

»Wenn ich nicht mit dir rede, kann es nicht kaputtgehen«, antworte ich und versuche, ruhig zu bleiben.

»Was soll denn kaputtgehen? Denkst du, ich will Schluss machen?«

Ja, genau davor habe ich Angst. Dass Neal Schluss macht, wenn wir keinen gemeinsamen Nenner finden ... Er will nicht komplett nach Berlin ziehen und ich will nicht, nein, ich kann nicht nach Hamburg. Das wird ständig zwischen uns stehen. Ich sehe mich schon weinend vor ihm und er hat seine Sachen in einer Tasche und geht aus der Wohnung. Für immer. Genau davor habe ich Angst. Melanie liebt ihn und ich ebenso.

Er kommt näher und schlingt seine Arme um mich.

»Hey, weine nicht. Ich bin da und ich bleibe bei dir. Wir müssen uns nur zusammensetzen und einen Plan machen.« Neal streicht mir meine Tränen mit seiner Hand weg.

»Es fühlt sich an, als würdest du gehen wollen.« Meine Stimme klingt weinerlich.

Er schüttelt seinen Kopf und lächelt mich an. Sein Blick durchbohrt mich wie früher. So hat er mich schon lange nicht mehr angeschaut. Als wir uns kennengelernt haben, hat er mich ständig genau mit diesem Blick angeguckt. Umso mehr er pendeln und arbeiten musste, desto mehr hat er diesen Blick verloren. »Nein, ich gehe nicht. Warum hast du nur so Angst davor?«

»Keine Ahnung, ich habe achtzehn Jahre gebraucht, mich an meine verquirlte Familie zu gewöhnen, und schließlich kam der Schlag in die Fresse. Ich bin adoptiert. Ich war mit mir alleine. Alleine und verlassen.«

Er streicht mir über mein Gesicht.

»Dann hatte ich Jason und er verließ mich. Ich wollte ihn zuerst nicht, doch er hat mich mit all seinen Mitteln verführt. Ich habe ihn in mein Leben gelassen und er verließ mich. Er hat mich alleine mit Mell zurückgelassen. Und du. Dich wollte ich genauso wenig und es stellt sich für mich als sehr schwer mit dir heraus. Uns liegen von Anfang an Steine im Weg. Erst …« Er stoppt mich mit Küssen.

»Sch … Ich werde dich nicht alleine lassen. Irgendwann, wenn ich alt bin. Nicht jetzt, nicht die nächsten Jahre. Ich will dich nicht verlassen. Du bist nicht alleine. Du hast mich, Mell, Harin – und deine Eltern lieben dich ebenso. Elizabeth und Ben lieben dich. Ich glaube sogar, meine Eltern lieben dich.« Er grinst und küsst mich weiter. »Wir müssen nur darüber reden.«

»Okay«, sage ich leise.

»Okay«, erwidert er und küsst mich forsch. Neal dringt mit seiner Zunge in meinen Mund ein. Er hebt mich hoch und setzt mich auf den Esstisch. Mit zwei Handbewegungen von ihm löst sich mein Handtuch und fällt auf den Tisch.

»Erst weihen wir den Tisch ein, danach reden wir«, bestimmt er. Meine Brüste werden von ihm liebkost und in mir blitzt die Lust auf. Es zuckt an jeder Körperstelle, die er berührt. Neal wandert zu meinen Bauch und bedeckt mich dort weiter mit Küssen. Ich atme tief ein und bekomme durch die Streicheleinheiten von seinen warmen Händen, die über meinen Körper wandern, Gänsehaut. Jedes einzelne Haar stellt sich auf. Ich stöhne auf und der Vulkan brodelt in mir. Meine Beine öffnen sich für ihn und er lacht leise. Ihm gefällt es, wenn ich so auf ihn reagiere. Er spielt mit seiner Zunge an meinem Körper, bis er an meiner Klitoris angekommen ist. Fuck … Mir wird heiß, als würde Lava über meinen Körper laufen. Ich spüre seine Finger in meiner empfindlichen Stelle und stöhne noch einmal auf. Meine Mitte verkrampft sich um seine Finger und verlangt nach mehr. Ich verlange mehr.

Plötzlich höre ich Stimmen. Stimmen aus dem Flur …

»Melanie geh in dein Zimmer, ich suche deine Mama und Neal.« Er spricht so laut, dass ich meinen Kopf hochreiße und auf die Uhr schaue. Harin ist zu früh. Er wollte erst um halb drei kommen.

»Gina kann ja mit dir gehen.« Er weiß, was wir machen.

»Neal, hörst du sie?«

Er kommt von meinen Oberschenkeln hervor und beißt sich auf die Unterlippe. »Ja, aber er hat Melanie in ihr Zimmer geschickt.« Neal stößt in mich und verschlingt mein Stöhnen mit einem Kuss.

»Neal, ich ...«

»Psst, genieße unser kurzes Vergnügen.« Er drückt mich runter und ich versuche auszublenden, dass Harin uns wahrscheinlich hört. Neal entpuppt sich als ein … Mir fehlen die Worte. Er wird schneller und härter. Die Lava in meinen Venen ist so heiß, dass ich wie gelähmt von meiner Leidenschaft und Liebe zu Neal bin. Unserer Liebe … Er holt mich dichter zu sich und zieht meine Beine weiter auseinander. Neal ist in Ekstase und schiebt seinen Schwanz immer wieder in mich hinein. Ich verliere mich im Höhepunkt. Bevor ich aufschreien kann, zieht er mich hoch und verschlingt meinen Schrei auf ein Neues, ehe er nochmal tief in mich hinein stößt. Seine Bewegungen werden langsamer und er ergießt sich in mir. Mein Atem ist schnell und ich höre, wie es klopft und Harin hereinkommt.

Er schaut uns beide an und grinst. Harin hat genauso wenig Schamgefühl wie ich. »Sie spielt, ihr solltet euch vielleicht anziehen.« Er wirft uns unsere Kleidung aus dem Bad zu. Er kann sich das Grinsen nicht verkneifen.

»Könntest du bitte gehen? Sie ist nackt«, schimpft Neal mit Harin.

Er winkt ab und dreht sich rum. »Ich habe sie schon öfter nackt gesehen, Neal. Ich …« Er stoppt und hört auf zu reden. Harin weiß, dass er gerade Öl ins Feuer gießt. Er will Neal ärgern, weil er ihn nicht mag, trotzdem will er nicht alles kaputtmachen. Also hält er die Klappe.

Wir ziehen uns an und ich klopfe Harin auf die Schulter. »Danke, dass du uns nicht gestört hast«, flüstere ich ihm zu.

»Er hat anscheinend alles gegeben, so wie es sich angehört hat. Da wollte ich nicht stören.« Ich verdrehe die Augen, während Neal Harin weiterhin böse anschaut. Wenn Blicke töten könnten ...

»Nein im Ernst, ich weiß, dass ihr wenig Zeit zusammen habt. Mell wollte nur zu euch und ich konnte sie nicht länger hinhalten.«

Ich nicke und gebe ihm zum Dank für seine Worte einen Kuss auf die Wange. Anschließend laufe ich in Mells Kinderzimmer, wo sie mit Gina Barbie spielt. Gina kann sich voll auf das Spielen einlassen. Mir fehlt dafür die Kreativität und Fantasie. Ich küsse mein Löckchen auf die Stirn und ihre kleinen Arme schlingen sich um meinen Hals. Dabei lässt sie alles stehen und liegen.

»Warum ist Neal hier? Ich dachte, wir fahren nicht zu ihm und er kommt nicht?« Sie schaut mich fragend an.

»Ich wollte euch sehen. Deshalb bin ich hier.«

»Willst du uns nicht immer sehen?« Sie zieht ihre Nase hoch und macht eine Grimasse.

»Ich möchte euch eigentlich zu jeder Zeit sehen.«

»Warum bist du nie da?«, fragt sie weiter. Die Frage der Fragen.

»Melanie, das ist schwierig«, erklärt Neal meinem Löckchen. Sie springt von meinem Schoß in seine Arme und gibt ihm einen Kuss auf die Wange.

»Du kannst überall arbeiten. Also kannst du doch hierbleiben?«

Neal schnaubt und wuschelt in ihrer Lockenpracht umher. Sie wird eindeutig zu schlau für uns, wenn selbst Neal die Worte fehlen.

»Mal schauen, wenn du meine Kartons packst?« Sie nickt und springt von seinem Arm in die Küche. Ich schaue ihn fragend an und er zuckt mit den Schultern. Will er tatsächlich zu mir ziehen?

»Vielleicht ist es die bessere Lösung, wenn ich komplett in Berlin wohne, möglicherweise bin ich so nicht hin und her gerissen. Einen Versuch ist es wert.« Er gibt mir einen Kuss und besiegelt damit alles, ohne dass wir darüber richtig gesprochen haben. Wie ein frisch verliebter Teenager nehme ich seine Hand und streiche über sie. Wenn Neal hier einzieht, wird das ein großer Schritt für uns beide werden. Wir vier gehen aus Mells Zimmer und sie deckt bereits den Tisch.

»Moment, Löckchen, den müssen wir erst abwischen. Siehst du?« Harin geht mit dem Finger über den Tisch und versucht ihr zu zeigen, wie schmutzig er ist. Was er nicht ist, allerdings verstehe ich seine Anspielung. Mit ein wenig Spülmittel und einem feuchten Tuch wische ich den Tisch ab und Mell deckt ihn weiter ein. Anschließend isst sie ihr Stück Kuchen, glücklich und zufrieden. Immerhin hat sie gerade Neal überredet, zu uns zu ziehen. Gabel für Gabel verschwindet der Kuchen in ihrem Mund und sie schwingt ihre Beine hin und her, als würde sie schaukeln. Sie ist schon so groß. Die Zeit geht rasend schnell vorbei, wenn man sich Melanie anschaut. Gestern war sie noch in mir und heute ist sie vier Jahre und fünf Monate alt.

Sie holt ihre Stifte aus dem Wohnzimmerschrank und setzt sich zurück zu uns. Ihre Beine wackeln erneut unter dem Tisch hin und her. Wenn sie malt, ist sie konzentriert. Und plötzlich hebt sie ihren Kopf, zeigt ihr strahlendes Lächeln und schenkt einem von uns ein neu gemaltes Bild. Bis jeder von uns ein Werk von Melanie Hasley in den Händen hält. Ihr gefällt es, wenn wir alle zusammensitzen und alles harmoniert. Solche schönen Momente kommen viel zu selten vor und ich genieße sie ebenfalls. Meinen Kopf lege ich kurz auf Neals Schulter und ich lehne mich an ihn.

»Also, du willst zu ihr ziehen?«, fragt Harin noch einmal nach. Es geht ihn zwar nichts an, trotzdem interessiert es mich auch und ich hebe meinen Kopf hoch, um Neal anzuschauen. Er wollte mit mir vor unserem atemberaubenden Quickie noch darüber reden und jetzt hat er ohne mich beschlossen, hierher zu ziehen. Ohne zu fragen … Ich habe es ihm ja schon einmal angeboten.

»Ja, hast du etwa ein Problem damit?«

»Nein, ganz und gar nicht. Aber ich bin ihr Vater.«

Ich verdrehe die Augen. Neal hebt die Hände hoch und Melanie hat es natürlich mitbekommen. Sie schaut Harin an. Manchmal sollte er etwas mehr Feingefühl zeigen.

»Mell, mal weiter, es ist alles gut«, sage ich zu ihr. Während ich über ihren Kopf streiche, blicke ich Harin böse an.

»Das weiß ich, Harin, ich will niemandem irgendwen wegnehmen. Du bist mit dir sehr meinungsuneinig. Auf der einen Seite willst du, dass sie glücklich ist und auf der anderen Seite bist du total eifersüchtig, wenn es um sie geht.« Er spricht über mich und danach über Mell. Er kann wenigstens so reden, dass Mell es nicht gleich versteht. Mit seinen Händen wedelt Neal kurz herum, um sie schließlich ruhig auf den Tisch zu legen. Ich kann Neal nur recht geben und schenke ihm einen liebevollen Blick und er küsst mich.

»Das hast du gut erkannt, Mr. Snob.« Gina gibt Harin einen Stoß in die Rippen. »Was denn? Er ist halt nicht auf den Kopf gefallen«, sagt Harin.

»Wir wollen heute Abend weggehen. Wollt ihr mit? Annamaria könnte auf Melanie aufpassen«, bietet Gina an, aber ich brauche meine Zeit mit Mell und Neal.

»Geht ihr alleine, ich freue mich schon auf mein Sofa und mein Kuschelmäuschen und auf einen schönen Barbie-Film. Neal freut sich bestimmt schon darauf«, antworte ich. Neal verdreht die Augen und lacht einfach nur mit Harin.

»Okay, sagt nicht, wir hätten es euch nicht angeboten. Ihr wart schon lange nicht mehr aus«, kontert Gina. Da hat sie recht, trotzdem, heute nicht.

»Wir waren schon lange nicht mehr aus«, stellt Harin fest und meint sich und mich.

»Alles gut und du benimmst dich! Keine Schlägereien«, drohe ich Harin mit meinem linken Zeigefinger.

Er lacht. »Ich habe mich schon lange nicht mehr geprügelt. Stimmt‘s, Schatz?« Er streicht Gina über die Hand, als sie nickt, und lächelt. Er wurde tatsächlich ruhiger die letzten Jahre. Die letzte Prügelei ist schon lange her. Er gibt sich wirklich Mühe mit Gina und Mell.

»Der letzte, den ich geschlagen habe, sitzt neben dir – und das war am 21. August dieses Jahres. Da war ich nicht eifersüchtig, sondern nur richtig sauer«, informiert er mich.

Stimmt, da war etwas und ich habe nie nachgefragt. Wobei ich es mir zusammenreimen kann. Ich klatsche in die Hände. »Na dann wünsche ich euch viel Spaß.« Ich stehe auf und räume den Tisch ab.

Zugegeben, ich habe die Abende mit Barbie-Filmen nicht vermisst, allerdings habe ich es vermisst, mit Neal und Mell auf dem Sofa zu sitzen, zu kuscheln und Fernsehen zu schauen. Wenn wir Harin und Gina zugesagt hätten, hätte ich einen Abend weniger mit Mell verbracht. Ich glaube, ich war noch nie mit Neal in einer normalen Diskothek. Ich brauche das nicht mehr. Obwohl es interessant wäre.

Mell liegt zwischen uns und halb auf Neals Brust. Einen seiner Arme hat er irgendwie um mich geschlungen. Er ist ein kleiner Akrobat. Mell schläft langsam ein. Umso mehr ich sie am Bauch krabbele, desto schneller reist sie ins Land der Träume. Wir lassen sie so liegen und schauen diesen blöden Barbie-Film weiter. Man merkt, dass Mell keinen Mittagschlaf mehr macht. Sie ist abends früher müde. Irgendwann ist halt der Akku leer. Manchmal schläft sie im Auto ein oder beim Spielen in ihrem Zimmer. Wenn sie nicht schläft, haben wir abends länger Zeit für uns. Trotz dass wir abends müde sind und Neal selten da ist, andererseits ändert sich das ja bald. Hoffentlich. Herzlich willkommen im Familienglück oder so ähnlich. Ich sehe Neal an, wie er das Gesicht verzieht, und beobachte ihn. Sie sabbert auf seine Brust und er findet es gerade überhaupt nicht angenehm. Er ekelt sich immer noch davor. Ich nehme sie ihm ab und bringe sie ins Bett. Sie schläft so friedlich.

»Liegt es an Melanie oder liegt es an dem Sabbern allgemein, dass du dich davor ekelst?«, frage ich ihn, als ich mich zu ihm lege.

»Wie meinst du das?«, hakt er nach.

»Na ja, liegt es daran, dass Mell nicht dein Kind ist, oder magst du allgemein keine Spucke.«

»Ich weiß ja nicht, wie es ist, ein eigenes Kind zu haben und von ihm vollgesabbert zu werden, allerdings glaube ich, ich finde Sabbern allgemein sehr eklig.«

Ich nicke und er fasst an meinen Bauch und streichelt ihn. Schließlich gibt er mir einen sanften Kuss auf den Mund und kuschelt sich noch dichter an mich.

»Wir werden es wahrscheinlich nie herausfinden. Wir könnten es probieren. Ob es funktioniert ist ungewiss.« Er atmet schwer und schaut traurig und wütend zugleich. Das V auf seiner Stirn bildet sich zusammen mit den Grübchen an den Wangen. »Und alles nur wegen dieser verrückten Frau«, schimpft er.

Ich nehme seine Hand.

»Ich finde, du machst das sehr gut mit Melanie. Ich wollte darauf nicht anspielen.«

Er nickt und küsst mich. »Komm, lass uns ins Bett gehen und noch ein paar Erwachsenen-Spiele spielen.« Ich lache, plötzlich kommt mir ein komischer Gedanke in den Sinn. Ich schiebe ihn zur Seite und lasse mich auf seine Spielereien ein.


Sechstes Kapitel

Die Wohnungstür knarzt. Meine Augen öffnen sich schlagartig. Es ist überall dunkel. Neals Atem geht gleichmäßig, er schläft neben mir. Ich bin sofort wach und greife in den Bettrahmen, löse das Klebeband, welches den Schlüssel am Rahmen befestigt, und schließe den Schrank meines Beistelltisches auf, in dem mein Tresor steht. Aus ihm hole ich meine Waffe heraus.

»Was machst du?«, flüstert Neal. Er ist wach geworden.

»Irgendwer ist in der Wohnung. Hörst du die Schritte?« Wir sind beide leise, während die Schritte lauter werden. Unser Atem klingt viel zu laut. Melanie. Mein Herz rast. Ich will aufstehen, als unsere Zimmertür auf geht. Ich richte meine Waffe direkt auf die Person, die eintritt. Das Licht geht an. Meine linke Brust bebt und ich schnappe nach Luft. »Bill.« Ich lasse die Waffe sofort auf die Bettdecke fallen und muss mich kurz abstützen.

»Bill, ich hätte dich fast erschossen. Was soll die Scheiße, bist du betrunken?«, fluche ich.

»Dein Handy ist aus, wir haben einen Fall und du musst aufstehen, sofort. Er hat höchste Priorität«, erklärt er mir.

Neal schaut mich müde an und reibt sich die Augen.

»Ich dachte, ihr hättet einen Tag frei?« Das dachte ich auch. Wieso ruft er nicht auf dem Festnetz an? Irgendwie habe ich ein ungutes Gefühl.

»Tja, so schnell ändert es sich«, antwortet Bill auf Neals Frage.

Ich stehe auf und suche Kleidung aus dem Schrank zusammen. Neal beobachtet Bill und Bill beobachtet mich. Ich sehe Neal sofort an, dass er gerade rast, weil Bill mich nackt sieht. Er kann es nicht leiden. Ich kann es verstehen, ich würde wutentbrannt sein, wenn irgendwer Neal nackt sehen würde.

»Würdest du mir den Gefallen tun und raus gehen, oder dich wenigstens umdrehen, wenn Amelia sich anzieht«, sagt Neal. Für seinen Blick spricht er noch recht ruhig. Seinen Kiefer presst er zusammen, seine Augen sind eisig und seine Hände krallen sich in die Bettdecke. Dennoch sind seine Augen ganz klein. Er braucht immer eine Zeit, bis er richtig wach wird.

Bill grinst und dreht sich um. »Ich hab sie schon öfters nackt gesehen. Jason war in der Hinsicht genauso empfindlich.« Bill lacht und ich stöhne genervt.

»Es ist mir egal, wer sie alles schon nackt gesehen hat, ich möchte es nicht. Fertig.«

Ich stecke die Waffe in meinen Gürtel und klebe den Nachttischschlüssel zurück an den Bettrahmen und krabble von meiner Seite zu Neal.

»Ich liebe dich, wenn ich nachher noch nicht da bin, macht ihr euch einen schönen Tag. Geht in den Park oder macht das, worauf ihr Lust habt.« Zum Abschied küsse ich ihn lange und er zieht mich zu sich.

»Jetzt ist gut, wir haben es eilig. Los«, drängelt Bill und ich löse mich langsam von Neal. »Schlaf noch ein bisschen«, wispere ich.

»Ich liebe dich auch.«

Ich schalte das Licht aus und verschwinde mit Bill aus der Wohnung. Im Treppenhaus ziehe ich noch rasch meine Jacke drüber. Bill ist so schnell, dass ich kaum hinterherkomme. »Bill, mach doch bitte langsam. Ich bin nicht so flott«, meckere ich ihn an. Er bleibt nicht stehen. Er läuft vor mir her, schweigt und öffnet sein Auto.

»Ich fahre selber.«

Bill kommt zurück und schaut mir in die Augen. »Tut mir leid Amelia, das kann ich nicht zulassen. Du fährst mit mir. Steig ein.«

Mit verschränkten Armen tippe ich mit meinem Schuh auf den Teerboden. Es ist kühl und die Morgendämmerung bricht an. Bill tut so, als würde es um Leben und Tod gehen. »Was, warum? Bill, was ist los? Du tust so, als würde die Welt untergehen!« Er hält mich an beiden Schultern fest und schaut mir tief in die Augen. Irgendetwas stimmt nicht.

»Wenn du im Auto sitzt, erzähle ich dir alles, okay? Bitte, sei nicht stur. Bitte, Baby.« Mein Lieblingsarbeitskollege zwingt sich ein Lächeln ab. Seine Stirn schlägt falten und seine Augen sehen groß aus. Abgesehen davon klingt er noch verzweifelt.

»Bill, es ist früh um sechs.«

Er öffnet die Tür und ich steige ein. Ich will ihn nicht noch mehr reizen oder herausfordern. Ich will einfach nur wissen, was los ist. Bill läuft ums Auto, steigt ein und fährt los. Ich glaube, ich saß noch nie mit Bill im Auto und es lief keine Musik. Außer als wir gemeinsam zur Beerdigung von Jason fuhren. Da war es vergleichbar still. Bill hat nichts gesagt und man hat nur mein Schluchzen gehört. In diesem Moment hört er keine Musik. Das macht mir noch mehr Angst als sein verzerrter Gesichtsausdruck. In meinem Kopf höre ich die Beerdigungslieder von Jason. Nearer my God to thee und Eisener Steg von Philipp Poisel. Corinna und Edmund haben sie ausgesucht. Ich war nicht in der Lage dazu. Mir stellt sich die Frage, ob wir überhaupt einen neuen Fall haben und ich bekomme Panik.

»Bill, ist was passiert? Du machst mir Angst. Sag bitte etwas«, stottere ich.

Er fast an mein Knie und atmet hörbar laut auf. »Du musst mir versprechen, nicht aus dem Auto zu springen und nicht auszurasten. Ich kann dich nicht festhalten.«

Ich fange an zu zittern und bekomme Tränen in den Augen. Neal ist bei mir gewesen, Melanie schlief friedlich in ihrem Bett, als ich eben nach ihr geschaut habe. Also ist es Harin oder Annamaria. »Bill, sag mir, was los ist. Was ist passiert? Ist etwas mit Harin und Gina oder Annamaria? Sag es mir. Jetzt!«, schreie ich ihn im Auto an. Meine Tränen sind verschwunden.

»Harin …« Bill stoppt. »Harin ist verhaftet worden.«

»Was, Warum? Was ist passiert?«

»Wir fahren zur Arbeit, Alex hat mir nur wenig gesagt. ›hol Amelia, Harin ist verhaftet worden. Es gab eine Schlägerei.‹ mehr weiß ich leider nicht.«

Mir gehen hundert Szenarien durch den Kopf. Was hat er getan?

Ich hole mein Handy aus der Tasche und merke, dass der Akku leer ist. Fuck, Bill hat es eben schon erwähnt. Was ist mit Gina, weiß Annamaria davon? Was soll ich Melanie erzählen? Ich tipple mit den Füßen und schaue aus dem Fenster. Bill parkt und wir steigen aus und hetzen zu Alex.

Er schaut mich mit diesem einen Blick an. Es ist meine Schuld, Amelia, es tut mir so leid. Erinnere ich mich an seine Worte, als er vor mir stand und mitteilte, dass Jason tot ist. Jetzt hat er genau denselben Blick. Während ich ihn anschaue, gefriert in mir alles. Ich merke die Eiszeit und wie sich meine Haare am Rücken aufstellen. Wie ein Igel, der sich einrollt und seine Stacheln zeigt. Alles, was mir im Moment einfällt, würge ich hinunter. Die Sorgen, den Kummer, die Angst und die Verbitterung schlucke ich weg. Mein Kiefer ist zusammen-gepresst.

»Was ist passiert? Und sag mir nicht, es ist deine Schuld.« Meine Stimme ist abgebrüht.

»Du kannst zu ihm rein, rede mit ihm.« Alex’ Blick ist erschrocken. Er weiß, worauf ich angedeutet habe.

»Ich will es von dir wissen, warum sitzt er hier?«, brülle ich ihn an. »Sag es mir, Alexander.«

»Amelia, er war es nicht, er war es wirklich nicht.« Ich drehe mich um und Gina steht in Espadrilles weinend vor mir. Sie ist ungeschminkt. Die restliche Mascara ist unter ihren Augen verschmiert. Annamaria steht neben ihr, sie weint nicht. Sie ist wie ein Eisklotz. Ähnlich wie ich. Gina kommt auf mich zu und will, dass ich sie in den Arm nehme. Ich kann nicht. Es ist mir egal, was mit ihr ist. Ich will einfach nur wissen, was los ist. Warum Harin verhaftet wurde. Ich wende mich Alex zu und ziehe ihn in sein Büro.

»Sag mir, warum Harin hier ist.«

»Amelia …« Er stammelt umher und läuft, mit den Händen in der Hosentasche, von der einen zur anderen Ecke. Glaubt er selber nicht daran oder glaubt er Gina nicht? »Ihm wird schwere Körperverletzung vorgeworfen. Das Opfer liegt im Krankenhaus. Er wird operiert. Es gab Zeugen, die gesehen haben, wie Harin auf Herrn Janke losgegangen ist. Sie wurden daraufhin aus der Disco rausgeworfen. Beide. Herr Janke konnte bis dahin noch selber laufen. Laut der Zeugen muss er wohl sehr betrunken gewesen sein. Geh zu Harin, rede mit ihm. Wir helfen den Kollegen. Du darfst dich nicht einmischen. Du bist zu nah dran.«

Ich schüttele den Kopf. »Nein, das kannst du mir nicht antun. Wenn Harin es nicht war, müssen wir den richtigen Täter finden.« Ich schlage den Stuhl um und laufe aus dem Büro und ins Vernehmungszimmer zu Harin.

Harin stützt seinen Kopf mit seinen Händen, die in Handschellen liegen, ab. Seine Augen starren den Tisch an. Mein Herz schmerzt und ich weiß, was ich gleich tue, darf ich eigentlich nicht machen. Er ist der Vater meiner Tochter, vielleicht nicht biologisch, aber im Herzen. Ich öffne die Tür. Mir laufen Tränen die Wange herunter und ich schniefe kurz. Harin hebt den Kopf und sieht mich an. Seine Augen sehen gequält aus.

»Ich werde deine Kaution bezahlen, Harin«, sage ich, schließe seine Handschellen auf und setze mich zu ihm.

»Amelia, nein, du sparst das Geld für Melanies Zukunft, für eure Zukunft, falls irgendetwas sein sollte. Es ist Jasons Geld. Ich möchte das nicht. Ich vertraue dir und deinen Kollegen, dass sie den eigentlichen Täter finden.«

Ich schüttele meinen Kopf und halte seine Hände fest. Sie sind eiskalt und zittern. »Nein, Harin, wir besorgen dir einen Anwalt und ich bezahle deine Kaution und den Anwalt.« Er hat keine andere Wahl und nickt. Wenn er es bezahlen würde, wären seine ganzen Ersparnisse weg. Seine Augen sehen so unnatürlich kalt aus.

»Okay. Du willst nicht Corinna anrufen, oder?«, fragt er leise und ich nicke.

»Ich muss dir die Dinger wieder anziehen, tut mir leid, Harin.« Bei jedem Klicken schmerzt meine Brust. Warum kann nicht einmal alles richtig gut laufen? Muss mein Leben solche Komplikationen aufweisen? Muss ich so bestraft werden und wenn, für was? Ich gehe aus dem Raum und schließe die Tür hinter mir.

Bill kommt aus dem Nebenzimmer und ich gebe ihm sofort die Schlüssel der Handschellen. »Wir werden ihn finden, Baby. Es wird alles gut werden.« Er nimmt mich kurz in den Arm.

Ich schließe mein Handy ans Ladekabel an und rufe die Frau an, die ich seit vier Jahren versuche zu meiden. Ach, sie versuche ich eigentlich schon immer zu meiden. Sie ist die beste Anwältin, die ich kenne, abgesehen von Julius. Mein Schwager wohnt jedoch zu weit weg. Privat ist sie dafür das komplette Gegenteil. Sie will das böse nicht sehen und nicht erkennen. Im Berufsleben ist sie anders, eher die Optimistin als Pessimistin. Man kann es ihr nicht verübeln, sie verliert selten – und wenn sie doch kurz davor steht, schlägt sie wenigstens einen guten Kompromiss heraus.

»Rufst du Corinna an?«, fragt Bill nach und ich bestätige seine Frage mit einem stillschweigenden Blick. Es tutet genau zweimal bevor »Hasley« ertönt.

»Corinna, ich bin es, Amelia.« Ich beiße mir auf die Lippe.

»Amelia, warum rufst du so früh an? Brauchst du Hilfe?«

»Ja, ich bezahle dich auch. Es geht um Harin. Kannst du zu meiner Arbeit kommen?«

»Ich fahre sofort los.« Sie legt auf.

Ich lasse mich in meinen Stuhl fallen und versuche, mich zu beruhigen. Dabei erinnere ich mich an unser Kennenlernen.

»Nun, ich denke eben, es ist ein gefährlicher Beruf, und als Mutter sollte man immer seine Kinder im Hinterkopf haben. Falls etwas passiert.«

Jason will gerade beginnen etwas zu sagen, doch bevor er ein Ton ausspuckt, grätsche ich ihm hinein.

»Auch wenn es Sie überhaupt nichts angeht, aber ich möchte keine Kinder und ich finde meine Berufswahl sehr gut. Es gibt viele Möglichkeiten für Frauen bei der Polizei.«

»Sie wollen keine Kinder?«, fragt sie unglaubwürdig und schaut Jason entsetzt an.

»Nein«, antworte ich und sie räuspert sich, während sie mich zwielichtig anschaut.

»Also so, wie mein Sohn sie gerade anschaut, haben Sie das noch nie zu ihm gesagt.« Ihre Hand hält immer noch die Serviette fest.

»Wir müssen auch noch nicht in so kurzer Zeit über Kinderwünsche sprechen«, versucht Jason mich zu verteidigen. Doch seine Mutter lacht.

»Jason, dir war es doch immer wichtig, eine Frau zu haben, die Kinder möchte, und jetzt ziehst du plötzlich bei deinem Vater aus. Du bist vorher nie ausgezogen, weil dir irgendetwas nicht gepasst hat an deinen Freundinnen. Und auf einmal wohnst du bei einer Frau, die gar keine Kinder möchte. Tut mir leid, das verstehe ich nicht.« Sie lächelt immer noch. Ich schaue zu Jason und ich habe dafür keine Worte mehr. Sie hat recht, wir kennen uns kaum.

Ich hasse es, sie zu sehen. Mir reicht Mells Geburtstag und der kurze Weihnachtsbesuch im Jahr. Da kann ich sie ja schlecht ausladen. Ihr einziges Enkelkind sieht sie nur zweimal im Jahr. Das muss ich mir jedes Jahr aufs Neue anhören. Ich höre ihre Stimme schon in meinem Kopf. Sie hebt sie immer, um etwas zu verdeutlichen.

»Wurden schon die Videoüberwachungen der S-Bahn-Station oder der U-Bahnen verlangt?«, frage ich meinen Chef, als er an mir vorbeiläuft.

»Ja, sie sind dran. Bis jetzt noch nichts.«

Ich nicke und starre Löcher in die Luft, während ich auf meine Schwiegermutter warte. Inzwischen haben wir acht Uhr und ich beschließe, aufzustehen und mir die Videos mit anzuschauen. Zwei Augen mehr sehen mehr. Gina und Annamaria habe ich nach Hause geschickt und ihnen gesagt, dass ich mich melde, wenn ich mehr weiß. Diese typischen Sätze, die beruhigend auf Menschen wirken sollen.

Gina meinte zum Abschied: »Er hat sich immer geprügelt und es ist nichts Schlimmes passiert. Jetzt schlägt er sich mal nicht, reißt sich zusammen und wird trotzdem verhaftet. Das ist Ironie.«

Ich konzentriere mich auf die Videos. Bemerkenswert, was für Leute nachts noch unterwegs sind und was sie treiben. Ein Betrunkener pinkelt einfach in den Mülleimer. Andere spielen wild an sich herum und können es nicht abwarten, in der Bahn zu sitzen. Man hat keine Worte für manches.

»Hier ist sie«, sagt eine Stimme und wir drehen uns alle um.

»Hallo Amelia.« Corinna steht vor mir. Geschniegelt und gebügelt in einem schicken, schwarzen Hosenanzug – und passend zu ihren Augen trägt sie eine grüne Bluse.

»Hallo Corinna«, begrüße ich meine Schwiegermutter mit einem Unterton, den sie mir beibrachte. Ich erkläre ihr, worum es geht, und bringe sie zu Harin.

»Erzähl uns, was passiert ist«, fordert sie ihn freundlich auf.

»Gina und ich standen an der Bar. Plötzlich hat uns dieser Kerl vollgelabert. Wir haben ihn kaum verstanden, weil er schon so gelallt hat. Irgendwann zog er an Ginas Hand, sagte irgendwas mit tanzen und geilem Arsch. Sie hielt mich fest und zerrte an ihm, dass er sie gehen lassen soll. Ich habe wirklich versucht, ruhig zu bleiben. Irgendwann zog er sie ganz nah an sich. Ein anderer Kerl kam dazu und hat mir geholfen, Gina loszureißen. Sie hat sich hinter mich gestellt und Schutz gesucht. Der andere hat nochmal gefragt, ob alles in Ordnung sei. Wir bejahten es und wollten nach Hause gehen. Da griff der Betrunkene nochmal nach ihr und ich schlug ihm eine rein. Der andere Kerl kam und hielt mich fest. Er zog mich sofort von dem Besoffenen weg. Die Security kam und wir sind alle rausgeworfen worden. Gina und ich zogen unsere Jacken an, liefen zum Auto und fuhren nach Hause. Da war es vielleicht ein Uhr. Um fünf Uhr heute Morgen klingelte die Polizei und ich dachte im ersten Moment, es wäre mit dir oder Melanie etwas passiert, aber sie wollten zu mir und nahmen mich fest. Die fackelten nicht lange. Gina versuchte, dich gleich anzurufen, dein Handy war aber aus.« Das ist eine Seltenheit, dass mein Akku leer ist und das Handy ausgeht. »Ich schwöre, ich war es nicht, ich habe nur einmal zugeschlagen und danach lief er aus der Disco heraus und lief draußen noch herum. Er hat noch andere Leute auf der Straße angepöbelt, keine Ahnung. Gina wollte einfach nur noch heim und dorthin fuhren wir dann auch. Wir haben uns nichts weiter gedacht.«

Ich halte seine Hand weiter fest. Sie wird langsam warm und er drückt meine fest zusammen. Es fühlt sich an, als würde er gerade seine ganz Wut in meine Hand quetschen.

Corinna macht sich Notizen und erklärt uns die Sachlage in ihrer Juristensprache, an die ich bereits gewöhnt bin.

Harin nickt und wir beschließen, doch keine Kaution zu bezahlen. Wenn sie nichts weiter finden, müssen sie ihn sowieso freilassen.

Corinna lacht und sagt: »Amelia, du hast dich nicht verändert und handelst weiterhin über deine Gefühle hinaus.« Das muss gerade sie sagen … Sie kennt mich überhaupt nicht - hat sie noch nie. Genauso wenig, wie ich sie richtig kenne. Wahrscheinlich kennt mich selbst Ester, Neals Mutter, besser als Corinna. Knallhart im Beruf und privat schließt sie das Böse aus ihrer Welt aus. Als sie erfuhr, dass Jason gestorben ist, hat sie sich in die Arbeit gestürzt. Wie wir alle. Irgendwann ist sie zusammengebrochen. Sie hat vorbildlich gleich Hilfe angenommen, hat es mir ebenfalls geraten. Ich habe dankend abgelehnt. Seitdem ist sie wieder die Alte. Ich weiß nicht, wie sie das macht. Ob sie alles runterschluckt oder auf Daueranti-depressiva ist. Oder sie ist einfach nur geheilt. Ich weiß es nicht. Für mich ist die Frau eben eine sehr suspekte Person. Sie lächelt ständig. Ich könnte sie dafür schütteln. Gerade ist gar nichts zu belächeln und wenn ich sie sehe …

Sie hat dieselben Korkenzieherlocken wie Mell und Jason. Sie sieht Jason sehr ähnlich, das wird mir jedes Mal wieder schmerzlich bewusst, wenn ich sie anschaue. Auch seinem Vater, Edmund, ähnelte er. Beide hatten die gleiche Statur und die gleichen männlichen Gesichtszüge. Die Haare und die smaragdgrünen Augen, die auch Mell geerbt hat, sind von Corinna.

»Du wirst rauskommen. Wenn Herr Janke wach ist, können wir ihn selber befragen. Er kann uns Antworten geben.« Corinna lächelt Harin an.

»Wenn er überhaupt noch Erinnerungen an die Nacht hat. So betrunken, wie er gewesen sein muss, hat er vielleicht Lücken, nicht zu vergessen die Schlägerei. Laut Alex hat er ziemlich viel abbekommen …«, erkläre ich realistisch.

Corinna schaut mich verbissen an. »Ich sag ja, du hast dich nicht verändert. Du bist nach wie vor eine Pessimistin.«

Leck mich am Arsch. Warum habe ich sie überhaupt angerufen? Ich hätte mir jemand anderes suchen sollen oder hätte Julius kontaktieren können, er hätte mir vielleicht jemanden empfohlen oder wäre selber hergekommen.

»Und du hast deinen Sohn verloren und läufst noch genauso blauäugig durch die Welt«, schimpfe ich und stehe auf.

»Amelia …«, ermahnt mich Harin und Corinna fällt alles aus dem Gesicht.

»Schick mir deine Rechnung, ich werde dich bezahlen. Ich will keine Extrabehandlung«, äußere ich mich weiter und verlasse den Raum.

Das Schwiegermonster läuft hinter mir her. »Bleib stehen, Amelia«, ruft sie. Das Geklacker ihrer Stiefeletten schallt durchs Büro, während sie schnell hinter mir her trabt.

Ich habe sie, seit Jason tot ist, gemieden. Am liebsten würde ich mich, wie Rumpelstilzchen, entzweien. Ein anderer Anwalt wäre vielleicht für mein Wohlbefinden besser gewesen. Unsere Gespräche verlaufen eh immer weitestgehend gleich. Wie geht’s dir, wie geht’s Melanie, ich habe das Grab neu bepflanzt, wie läuft es in der Kita, ich sehe sie so wenig und und und. Jedes Mal lächelt sie so dämlich.

»Amelia Hasley, geborene Malek, lauf nicht weg und rede mit mir.« Sofort bleibe ich stehen. So hat mich noch nie jemand genannt. ›Geborene Malek.‹ Das stimmt nicht mal. So viel zum Thema, sie kenne mich.

»Amelia, halt dich zurück«, wendet Bill streng ein und schaut mich böse an. Er sieht wahrscheinlich, dass ich vor Wut gleich an die Decke gehe.

Ich drehe mich zu Corinna um. »Was soll ich mit dir reden? Ich habe alles gesagt. Du bist Anwältin, du siehst tagtäglich, wie die Welt ist, und mein Mann, dein Sohn, ist gestorben. Trotzdem läufst du hier rum mit einem Lächeln im Gesicht und sagst, alles wird gut. Mich würde gerne interessieren, welche Drogen du dir einwirfst, dass du so mit dir leben kannst. Schmückst das Grab perfekt und hast mir geschrieben, als jemand deine tollen, neuen Blumen rausgerissen hat. Als ob das das größte Problem sei. Soll ich dir etwas sagen? Das war ich. Ich habe die Blume rausgerissen an seinem Todestag. Ich war so sauer und habe dieses scheiß Unkraut rausgerissen.« Meine Stimme bebt und mir steigen vor Wut und Trauer Tränen in die Augen. Alles in mir zittert. Nur meine zu Fäusten geballten Hände nicht. Ich könnte noch mehr sagen, aber ich lasse es so stehen.

Sie geht ein paar Schritte auf mich zu, holt aus und gibt mir eine Ohrfeige. Mein Kopf neigt sich zur Seite.

Meine Wange brennt. Ich spüre eine Hand auf meiner Schulter und rieche Bills Geruch. Parfüm mit Zigarettenrauch. »Du hast keine Ahnung, wie es ist, sein eigenes Kind zu verlieren. Ich werde mit dir hierüber nicht weiter reden. Harin werde ich vertreten und dir die Rechnung zusenden.« Sie glättet mit ihren Handflächen ihren Blazer und ihre Hose und zieht alles gerade. »Wir werden uns die nächsten Stunden und Tage noch sehen, doch danach möchte ich dich vor Weihnachten nicht mehr um mich haben.« Und zack, sie lächelt wie eh und je. Dieses Lächeln ist gespielt. Es kann nicht echt sein. Jedes Wort von mir hat sie getroffen.

Ich nicke und wende mich von ihr ab. Obwohl ich es nicht gerne zugebe, aber Harin ist bei ihr gut aufgehoben. Ich laufe zu den anderen und gehe weiter die Überwachungsaufnahmen durch; das ist nun meine Aufgabe. Alle schweigen, keiner meiner Kollegen traut sich, über diese Eskalation zu sprechen.

Hoffentlich wacht dieser Knilch bald auf und hat brauchbare Erinnerungen.

›Neal‹ leuchtet auf meinem Handy auf. Er hat heute schon viermal angerufen. Jetzt versucht er es zum fünften Mal. Ich weiß, Mell geht es gut. Sonst hätte er mir geschrieben. Neal kümmert sich gut um sie, ich habe da wenig Bedenken. Für mich steht Harin gerade an erster Stelle.

Das Opfer liegt im künstlichen Koma. Von ihm können wir also keine Antworten erwarten. Die anderen gehen die Besucherliste von der Diskothek durch. Vielleicht ist jemandem noch irgendetwas aufgefallen. Wir haben noch acht Stunden, dann müssen sie ihn sowieso auf freien Fuß setzen. Der Typ, der Harin geholfen und weggezogen hat, kam auch bereits und sagte aus. Jedoch kann er nur das erzählen, was drinnen ablief. Er hat weder Harin noch den anderen draußen gesehen.

»Amelia, fahr nach Hause, wir melden uns. Neal ist doch alleine mit Mell.«

»Nein, alles gut. Er weiß, wo ich bin.«

»Reagiere wenigstens auf einen seiner Anrufe. Ich würde mir Sorgen machen. Ich habe dich immerhin heute Morgen einfach aus dem Bett geschmissen. Nackt.« Bill zieht eine Grimasse, um mich zum Lachen zu bringen, bekommt es jedoch nicht hin. Ich rapple mich auf, schnorre mir eine Zigarette von ihm und laufe mit meinem Handy an die frische Luft. Neal geht gleich ran und ich zünde mir die Kippe an.

Ein »Hallo« kommt mir missgestimmt entgegen.

»Hey.« Meine Stimme ist kaum hörbar.

»Rauchst du?«, fragt er mich.

»Neal, ich will mich nicht streiten. War heute alles in Ordnung mit Mell?«

»Ja, alles gut.« Er klingt ziemlich sauer, was ich ihm nicht verübeln kann.

»Was habt ihr gemacht?« Ich bin eigentlich total ausgelaugt und habe nicht wirklich Lust auf dieses Gespräch, trotzdem rede ich leise und ruhig weiter.

»Wir waren spazieren und haben danach gebastelt. Du kannst es dir nachher anschauen, wenn du nach Hause kommst.«

»Ich weiß noch nicht, wann ich nach Hause komme, wartet bitte nicht.«

Er stöhnt und räuspert sich. »Was ist los? Ist das wieder so ein harter Fall?«

Ich schnappe nach Luft und ziehe lange an der Zigarette.

»Schlimmer.«

»Willst du darüber reden?«

»Nein. Was machst du gerade?« Irgendwie hört sich im Hintergrund alles so unruhig an.

»Ich räume auf. Mell hat mich heute ganz schön auf Trab gehalten. Ich habe mir kurz überlegt, zu Harin und Annamaria zu fahren. Aber dann dachte ich: Nein, Neal, du schaffst es alleine, du leitest ein ganzes Unternehmen, da wird dich eine Vierjährige nicht aus der Bahn bringen.« Er lacht.

Es tut gut, ihn so freudig zu hören, und ich muss mit einstimmen. Sein Lachen ist gerade wie Medizin für mich. Es ist fast so schön wie Löckchens engelsgleiches Kichern. Sie bewirkt Wunder.

»Und du hast es geschafft«, sage ich und ziehe am Glimmstängel. Gut, dass er nicht bei Annamaria war.

»Ja, das stimmt. Und jetzt will ich noch ein bisschen arbeiten und später gehe ich ins Bett, wenn ich nicht auf dich warten soll.«

»Ich liebe dich, Neal Erwin Arndt« flüstere ich und er räuspert sich.

»Stimmt, du kennst ja meinen Zweitnamen. Woher kennst du ihn eigentlich? Niemals hätte ich ihn dir verraten, denn ich hasse ihn.«

»Das ist mein Geheimnis«, sage ich und kichere kurz. »Ich muss auflegen.«

»Ich liebe dich auch, Amelia Hasley. Pass bitte auf dich auf.« Mit einem Kopfnicken versuche ich, ihn zu beruhigen. Sofort fällt mir ein, dass er mich gar nicht sehen kann, und muss über meine Blödheit selbst schmunzeln.

Zurück im Büro setze ich mich auf das Sofa, auf dem ich schon ganz oft geschlafen habe, und beobachte die anderen. Ich höre ihnen zu, wie sie diskutieren und analysieren. Zwei Kollegen haben einen Zeugen gefunden, der bezeugen kann, dass Gina und Harin weggefahren sind und Herr Janke noch andere angegriffen hat. Mehr weiß er nicht, da er anschließend selbst mit einem Freund zur nächsten S-Bahn gelaufen ist. Harin ist aus dem Schneider. Er durfte vor einer Stunde gehen.

Gina war so glücklich, als sie ihn abholen durfte, und hat ihn gar nicht mehr losgelassen. Sie hat wie ein Schlosshund geweint. Gefühlte tausend Mal hat sie sich bei mir bedankt, obwohl ich nicht viel gemacht habe. Trotzdem helfen wir, den Täter zu finden – mitgefangen, mitgehangen. So ist es eben.

»Baby, wach auf.«

Ich strecke mich und mein ganzer Nacken tut weh. Anscheinend bin ich während der kurzen Strecke in Bills Auto eingeschlafen.

»Amelia, komm, aussteigen. Baby, ich trag dich nicht hoch.« Bill ist halb über mich gebeugt. Er öffnet die Autotür und ich stolpere heraus. Es wird schon bald hell. Im Treppenhaus ist es total leise. Das ist selten. Oft hört man irgendwen schimpfen, streiten oder die Musik von den Nachbarn, wenn man hier hochläuft. In diesem Moment würde man sogar hören, wenn ein Reiskorn fällt. Sonntagmorgens ist von denen wahrscheinlich noch keiner wach.

Ich öffne leise die Kinderzimmertür, schaue Mell beim Schlafen zu und gebe ihr einen Kuss. Wenn Harin verhaftet worden wäre, wäre ich verloren gewesen. Gina hat recht; das war Ironie des Schicksals. Vielleicht war es ihm eine Lehre, dass er sich zukünftig zusammenreißen muss. Er saß schon öfter bei uns wegen seiner Schlägereien. Doch noch nie habe ich ihn so mitgenommen gesehen. Seit er auf Mell aufpasst, saß er nicht einmal mehr im Präsidium. Er wusste, was alles auf dem Spiel steht, obwohl er es nicht war. Mir ist ein riesiger Stein vom Herzen gefallen, als wir den eigentlichen Täter noch ausfindig machen konnten. Die restliche Arbeit machen dann die Kollegen.

Ich schließe leise die Tür und krabbele neben Neal ins Bett. Meinen tollen Kerl umschlinge ich feste und küsse ihn am Rücken.

»Da bist du ja endlich. Ich hab dich vermisst«, murmelt er ins Kissen. Ob er sich nachher noch daran erinnern kann? Ich schließe die Augen und schlafe vor Erschöpfung ein.

Siebtes Kapitel

Es ertönt meine Klingel und ich ertaste, ob Neal noch neben mir liegt. Er liegt nicht mehr neben mir. Also kann er die Tür aufmachen. Ich drehe mich im Bett auf die andere Seite und versuche, weiterzuschlafen.

»Wer sind Sie? Wo ist Amelia Hasley?«, höre ich eine Frauenstimme.

»Oma«, ruft die kleine zarte Person, die mein Leben erfüllt. Ich öffne schlagartig meine Augen. Corinna.

»Psst, deine Mama schläft noch«, schimpft Neal und ich verdrehe die Augen. Wach ist wach.

»Wer sind Sie?«

Ja, es ist Corinna. Diese überfreundliche Stimme erkenne ich sofort. Corinna kennt ihn eigentlich. Neal war doch an Mells Geburtstag da. Vielleicht hätte ich ihn im Januar mit zu ihr nehmen sollen. »Neal Arndt. Und Sie sind ihre Schwiegermutter?«

Oh, ich bin überrascht, dass Neal so schlagfertig ist, seinen Sarkasmus hört man deutlich heraus.

»Wo ist Amelia Hasley?«

Kann sie sich nicht denken, dass ich noch schlafe?

Amelia Hasley … geborene Malek … erinnere ich mich. Da wäre ich ja gestern fast explodiert wie Rumpelstilzchen. Nur dass ich nicht mich, sondern sie entzweit hätte.

»Amelia schläft. Sie musste lange arbeiten.« Das weiß sie natürlich. Neals Tonfall ist strenger geworden.

»Das ist mir bekannt.« Ich nicke und grinse. »Sie sind anscheinend nicht im Bilde, warum sie so lange weg war. Dass sie einen Fremden beauftragt, auf meine Enkelin aufzupassen, ist für mich unbegreiflich.« Sie ist unmöglich. Neal lacht nur. Er ist kein Fremder. Sie ist die Fremde.

»Ich möchte etwas mit meiner Enkelin unternehmen, ich werde sie jetzt mitnehmen. Sagen Sie Amelia, dass ich sie heute Nachmittag zurückbringe.«

Neal lacht immer noch. »Ich werde Ihnen Melanie nicht einfach mitgeben.«

»Ich bin ihre Oma.«

Ich strecke mich und stoße Luft aus. Es ist so weit. Ich sollte aufstehen, bevor es eskaliert. Mein Blick wandert zum Wecker. Na immerhin konnte ich viereinhalb Stunden schlafen. Auf geht’s.

»Das ist mir egal. Sie können gerne bleiben, allerdings geht Mell nicht mit. Das ist mein letztes Wort«, herrscht Neal Corinna an. Jetzt spielt er wieder den dominanten Unternehmer.

Ich öffne die Tür und Corinna schaut zu mir. »Wer ist das?«

Mein Körper wird schwer. Ich bin noch nicht fit für solche Diskussionen und lehne mich am Türrahmen an. Melanie steht zwischen den beiden, als wäre sie hin- und hergerissen. Ich beschließe, nicht auf ihre Frage einzugehen.

»Hat einer von euch mal daran gedacht, Melanie zu fragen, was sie möchte?« Beide schauen sich verdutzt an. Wusste ich es doch.

»Melanie, möchtest du etwas mit deiner Oma unternehmen, zuhause bleiben oder soll Oma hierbleiben und mit dir spielen?«, frage ich mein Löckchen und merke, dass es wahrscheinlich zu viele Auswahlmöglichkeiten für sie gibt.

»Ich will ... Ich will ... Oma, was machen wir?«

»Ich weiß es nicht, mein Engelchen. Wir könnten in den Park oder ins Museum oder ein Eis essen«, bietet sie an. Sie hat nichts geplant. Sie wollte einfach herkommen und hat wahrscheinlich damit gerechnet, dass Melanie gar nicht da ist. Sie hätte mir wie eh und je irgendeinen Vortrag gehalten, dass sie ihre Enkelin sehen wollte und wir nicht da waren. Was ja ohne Neal der Fall gewesen wäre.

Melanie schaut zu mir. »Ich will in den Park und ein Eis«, fordert meine Tochter, dabei grinse ich Corinna an und sie nickt. Melanie kommt zu mir, gibt mir einen Kuss und verabschiedet sich. Sie zieht sich an und lässt sich dabei von Neal helfen. Mell winkt mir nochmal zu.

Sie ist schon dreist, kommt her und fordert, etwas mit Melanie zu unternehmen, und dann ist sie noch frech zu Neal. Das i- Tüpfelchen ist ihre überfreundliche Art.

Wer ist das? Ich weiß nicht, mein Engelchen.

Engelchen … Unmöglich. Ja, sie sieht Mell nicht oft und sie wohnt gleich um die Ecke. Sogar meine Eltern sehen sie öfter, und die wohnen über fünfhundert Kilometer weit weg, andererseits komme ich mit ihr einfach nicht zurecht. Sie könnte vorbeikommen oder sich als Babysitter anbieten, was sie jedoch nicht tut – hat sie noch nie getan. Sie ist so schwierig. Sie erwartet ständig irgendwas. Jason war in ihrer Gegenwart ganz anders. Sie hat viel von ihm erwartet: Höflichkeit, Selbstdisziplin, Dankbarkeit und vor allem Taktgefühl war ihr wichtig. All das, was ich nicht dauerhaft besitze. Ich bin auch schwierig, das weiß ich. Es ist nicht nur ihre Schuld.

Gähnend schließe ich die Tür hinter den beiden. »Gut, kann ich jetzt weiterschlafen?«, frage ich Neal und gehe ohne eine Antwort zurück ins Schlafzimmer.

Kaum liege ich im Bett, geht die Tür auf und Neal kommt herein. Die Decke raschelt und die Matratze bewegt sich. Er kommt ganz nah zu mir und zieht mich zu sich. Sein Atem streift meinen Nacken und seine Arme umschlingen mich. Neal tut mir gut und ich liebe ihn, denn er ist ein wunderbarer Mann. Gestern hat er auf Melanie aufgepasst und hat eben versucht, gegen Corinna anzukommen. Neal versucht, sich um Mell zu kümmern, sie zu beschützen und ihr ein gutes Vorbild zu sein.

Ich streichle seine Arme und spiele mit seinen Fingern herum. Küsse bedecken meinen Nacken und seine Hände gehen unter sein Hemd, das ich mir eben schnell anzog, weil es so gut nach ihm riecht. Seine linke Hand massiert meine Brüste und mit der anderen zieht er mich noch dichter an sich. Ich merke seine Wölbung an meinem Po, schmiege mich an ihn und bewege mich dabei. Neal stöhnt auf, dabei schenkt er mir weitere sanfte Küsse.

Langsam setzt er sich auf und beugt sich über mich. Mein Körper entspannt sich nach der Aufregung gerade. Jedes Körperglied kribbelt dadurch. Neal haucht an meinem Hals, küsst ihn sanft und streicht mit seiner Zunge über ihn. Unsere Lust ist zusammengefesselt und meine Mitte zuckt. Ich sehe nicht viel, jedoch erkenne ich ein paar Umrisse in der Dunkelheit. Er zieht sich komplett aus und ich rekle mich unter ihm. In mir lodert die pure Sehnsucht nach ihm. Mit seinem Mund zieht er mir meinen Slip herunter und mit seinen weichen, warmen Händen spreizt er meine Beine. Seine Finger gleiten in mich.

»Neal«, hauche ich. Er lacht auf. Vielleicht bin ich nicht ausgeschlafen, aber die Leidenschaft brodelt in mir und ich kann mich so kaum halten.

»Ja, Amelia?«

»Fick mich …« In dem Moment, wo ich es ausspreche, dringt er in mich ein.

Das Rollo geht langsam hoch und ich öffne die Augen. Neal trägt eine Jeans und ein grünes Shirt. Er schaut mich an und krabbelt zu mir ins Bett und gibt mir einen dicken, feuchten, verspielten Kuss. Ich glaube, ich habe ein Déjà-vu.

»Komm, aufstehen«, flüstert er mir ins Ohr. Quer über das Bett strecke und rekel ich mich. Schade … Es ist kein Déjà-vu. Mein hübscher Freund lächelt mich an, dreht mich auf den Bauch und klapst mir auf den Hintern. Ich ziehe einen Schmollmund.

»Hast du heute Morgen nicht genug bekommen?«, fragt er verspielt nach und ein Kichern entflieht mir. Die letzte Nacht war grandios und ich beiße mir, bei dem Gedanken daran, auf die Lippe. Es war atemberaubend.

An seiner Hand hole ich ihn zu mir. »Niemals bekomme ich genug von dir und es war verdammt gut.« Meine Augenbraue wandert hoch, denn ich weiß, das macht ihn irre.

»Na komm, steh auf, wer weiß, wann Melanie mit deiner Schwiegermutter kommt.« Bei den letzten Worten hebt er seine Stimme.

Wenn ich nur an Corinna denke, vergeht mir alles. Ich drücke meinen Kopf ins Kissen und stöhne laut herein. Daraufhin höre ich, wie er lacht, und beschließe, aufzustehen. Muss ich ja.

Als ich aus dem Badezimmer komme, sitzen Neal, Corinna und Melanie am Tisch und essen Kuchen. Auf meinem Teller liegt ein Brötchen.

»Mami, wir haben Kuchen gekauft und dir hab ich ein Brötchen mitgebracht und ein Schokohörnchen.« Mein Löckchen springt vom Stuhl in meine Arme. Ich gebe ihr einen Kuss und setze sie auf meinen Schoß. Während ich meine Brötchenseiten schmiere, isst sie ihr Stück Kuchen. Es ist ganz still. Weder Corinna noch Neal sagen etwas.

»Hast du einen Bösen geschnappt?«, fragt meine Tochter.

»Dieses Mal habe ich einen guten Menschen gerettet«, erkläre ich ihr und merke, wie sie über mein Gesagtes nachdenkt. Mir fällt ein, dass ich Harin schreiben sollte.

»Wollen wir heute Harin zum Essen einladen?«, frage ich Melanie. Corinna schaut mich nur an.

»Mit Gina«, sagt Mell. »Papa sagt immer, du kannst nicht kochen?« Sogar meine vierjährige Tochter weiß über meine Kochkünste Bescheid. Neal beginnt zu lachen und Corinna findet nichts davon witzig. Ich trete Neal vor das Bein und er hört schlagartig auf.

»Melanie, Engelchen, möchtest du mal in dein Zimmer gehen? Wir Erwachsenen müssen mal kurz alleine reden.«

Melanie wartet auf meine Reaktion. Sie hat ein ziemlich gutes Gefühl, auf wen sie hören muss und auf wen nicht. Und Corinna gehört zu denen, wo sie weiß, auf die muss sie nicht hören. Nicht unbedingt. Mit sanften Berührungen krabbele ich mein Löckchen am Rücken und zeige ihr, dass sie nicht gehen muss.

Corinnas Mundwinkel gehen nach oben, trotzdem wirkt sie sauer, bestimmt brodelt sie innerlich. »Nun gut. Ist Neal dein neuer Freund?«, fragt Corinna daraufhin.

»Ja, du kennst ihn. Er war auf Löckchens Geburtstag. Außerdem kannst du ihn selber fragen. Immerhin sitzt er mit am Tisch.«

»Tut mir leid, an ihn kann ich mich nicht mehr erinnern.«

»Anscheinend hat meine Ansage etwas bei dir bewirkt, deine Maske fällt.« Ich belächele sie. Sie ist zickig. Corinna ist zwar wieder überfreundlich, aber ihre Mimik ist seit gestern verändert. Sie war schon früher steif und aufgesetzt, gerade ist sie es noch mehr. Ihre Augen und ihr Ton passen nicht zusammen.

»Falls du dachtest, dass ich Medikamente nehme, das tue ich nicht. Ich versuche nur, meine Lebenslust nicht zu verlieren, weil ich sonst weinen müsste. So leben wie du kann ich nicht, Amelia. Du warst schon immer pessimistisch. Du hast nur das Schlechte im Menschen gesehen. Immer. Was mein Sohn an dir so toll fand, weiß ich bis heute nicht. Er war nicht so negativ und Neal scheint auch nicht so zu sein. Du bist wie Jasons Vater. Dass ihr euch versteht, ist kein Wunder.« Sie lacht spöttisch. Sie hat ihn auch geliebt und Edmund war schon früher so. Vielleicht war er damals nicht ganz so griesgrämig. So wie sie war er jedoch sicherlich nie.

»Ich will mit meinem Baby spielen«, unterbricht Melanie Corinna und geht in ihr Zimmer.

»Und mittlerweile lässt du es zu, dass sie Harin Papa nennt? Was wäre gewesen, wenn er ins Gefängnis gekommen wäre? Jason ist tot und Harin im Knast. Dann wärst du völlig verloren!«

Neal schaut mich fragend an. Er weiß nichts von der Sache mit Harin. Es gab noch keine Gelegenheit, es ihm in Ruhe zu erzählen.

»Kannst du bitte aufhören zu lächeln? Melanie hat ihn spontan so genannt und ich werde es ihr nicht verbieten. Harin ist wie ihr Papa. Er will Jason nicht ersetzen und Neal will es genauso wenig. Soll ich mein Leben lang alleine sein? Du hast ebenfalls einen neuen Mann nach Edmund gefunden.«

»Das ist etwas anderes. Edmund und ich haben uns getrennt. Wir haben uns nicht mehr geliebt.«

Neal will aufstehen. Doch ich halte ihn fest und zeige ihm, dass er sitzen bleiben soll. Für mich. Er sagt nichts.

»Richtig, das ist etwas anderes. Ihr hattet die Wahl und habt entschieden. Jason ist gegangen, ohne es zu entscheiden. Er wollte uns nicht verlassen. Wir haben uns geliebt. Er hat uns geliebt.«

Corinna laufen Tränen über ihr perfekt geschminktes Gesicht.

Jetzt steigen auch mir die Tränen auf. »Du solltest gehen«, sage ich weinend.

Sie bewegt sich kein Stück.

»Ich würde Melanie gerne öfters sehen.« Sie tupft sich ihre Tränen weg.

»Was heißt öfters? Möchtest du in der Woche einen festen Tag haben oder ist das ein Lust-Prinzip?«

»Amelia, ich habe deinen Mann großgezogen. Ich bin ihre Oma. Warum können wir uns nicht einigen, dass ich mich ab und zu melde und wir einen Termin ausmachen?«

»Nach vier Jahren denkst du darüber nach? Ich hätte dich gebraucht, als er starb. Als sie klein war, da musste ich Harin fragen, weil du der Meinung warst, ich soll mich um Mell kümmern, nicht arbeiten gehen und arbeitslos werden. Sie soll nicht verwirrt werden, wenn sie dich plötzlich öfter sieht als zweimal im Jahr«, sage ich bestimmend, stehe auf und räume das Geschirr in die Spülmaschine.

Corinna stöhnt. »Amelia, ich wollte dir nie Böses. Ich habe dich anfangs gehasst und du musst ehrlich sein, du mich auch – und wir haben bis heute noch kein gutes Verhältnis miteinander. Bitte, nimm mir meine Enkelin nicht weg. Sie ist das Einzige, was mir von ihm bleibt.« Sie steht auf und schaut sich das Foto von uns dreien an, welches am Kühlschrank hängt. Sie wischt sich ihre Tränen weg. Meine Schwiegermutter trägt wahrscheinlich genauso viel Schmerz in sich wie ich. Vielleicht sogar noch mehr. Für mich ist es unvorstellbar, wenn Melanie etwas passieren würde.

Ich nicke, jetzt laufen mir Tränen die Wange herunter. Aufhalten ist gerade unmöglich. »Ja, okay. Wir schreiben und dann kannst du sie öfter sehen«, gebe ich nach.

»Danke Amelia, ich schicke dir die Rechnung. Oder soll ich sie Harin schicken?«

»Nein, schick sie bitte mir oder bring sie vorbei.« Nachdem sie sich ihren Mantel anzog, umarmt sie mich, endlich verabschiedet sie sich von Melanie und geht.

Ich laufe ins Bad und stütze mich am Waschbecken ab.

21, 22, 23. Sie will sie tatsächlich sehen. Warum ich sie meide, weiß ich. Nicht, weil ich sie nicht mag. Das könnte ich ertragen. Sie erinnert mich zu sehr an Jason. Edmund und ich sehen uns nicht oft, weil wir gleich ticken. Keiner von uns kann den anderen ertragen, ohne den Schmerz zu fühlen, und sie? Sie läuft weiter lächelnd durch die Welt, obwohl sie den Schmerz selbst spürt. Mit einer Handbewegung drehe ich den Wasserhahn auf, spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht und atme tief durch.

Als ich aus dem Badezimmer komme, steht Neal vor mir. Er sieht aus wie ein Türsteher. Schritt für Schritt laufe ich ihm in die Arme und er hält mich fest. Ich weiß nicht, ob er was von mir wollte oder ob er mir damit zeigen will, dass er für mich da ist - dass er erkannt hat, dass ich seine Nähe gerade brauche.

»Sie ist weg, es ist alles gut«, wispert er.

Vorsichtig löse ich mich von ihm und schaue nach Melanie. Sie spielt so schön alleine. Ich könnte ihr stundenlang zuschauen. Es gibt ja Kinder, die können nicht mit sich selbst spielen. Mein Löckchen kann es. Sie imitiert Stimmen und manchmal denkt man, es ist irgendetwas passiert, weil sie schimpft. Mit dem Rücken rutsche ich an der Wand herunter und beobachte sie vom Flur aus. Neal setzt sich mir gegenüber und ohne dass er nachfragt, erzähle ich ihm, was gestern passiert war: Dass Harin verhaftet wurde und ich Corinna anrufen musste.

Er schweigt. Das Einzige, was er an Geräuschen von sich gibt, ist ein Räuspern oder ein hmm. Ich erkläre ihm, wie das Verhältnis zwischen mir und Corinna ist. Wobei er es wahrscheinlich von Anfang an bemerkt hat. »Sie ist eine der besten Anwältinnen, die ich kenne. Berechtigterweise ist ihr Stundenlohn sehr hoch.«

»Ich bezahle die Rechnung.«

»Nein, das geht nicht. Du hast damit nichts zu tun und keine Verpflichtungen Harin gegenüber.«

Neal akzeptiert es, ohne eine Diskussion darüber zu beginnen. Er war anfangs ziemlich sauer gewesen, dass ich ihn nicht anrief oder wenigstens an mein Handy ging. Er hat sich, wer hätte es gedacht, Sorgen gemacht.

Wenn ich mit ihm rede, weiß ich, er ist der Richtige für mich. Es fühlt sich an, als könnte er mir meinen Kummer und all diese Gefühle abnehmen. Als würden wir sie uns teilen.

Nach ein paar Minuten der Stille rufe ich Harin an und lade alle zum Essen ein. Nachdem meine Welt gestern fast unterging, freue ich mich auf diesen Abend.

Als Harin mit Gina zu uns kommt, lässt er Ginas Hand sofort gehen und umarmt Melanie ganz lange. Sie weiß gar nicht, warum ihr Papa das macht. Sie genießt jedoch sichtlich jede einzelne Sekunde, in der er sie festhält. Annamaria sieht man die durchzechte Nacht noch an. Gina erzählte mir, dass Annamaria erst vor Kummer weinte, und so, wie ich sie kenne, danach vor Glückseligkeit, dass ihr Sohn bei ihr ist. Farin, sein Bruder, klopft allen nur auf die Schulter und stellt sich Neal vor. Die beiden kennen sich noch nicht. Ich erzähle allen, dass Mell gefragt hat, ob ich koche. Da mussten natürlich alle lachen.

Neal kündigt an, dass er morgen nach Hamburg fährt. Er will alles mit seinen Eltern, der Firma und seiner Wohnung klären. Er meint es ernst. Er will hierher ziehen - komplett. Hoffentlich geht das gut. Jason hat damals auch halb bei mir gewohnt und das, obwohl wir noch nicht zusammen waren. Das war für mich eine anstrengende Zeit. Ich wollte ihn, allerdings konnte ich es nicht zulassen. Es war wie mit Neal. Er kämpfte so bitterlich um mich, bis ich aufgab. Das Verlangen nach ihm habe ich damals viel zu lange unterdrückt. Und bei Neal, ja, da standen mir die Erinnerungen im Weg. Bis heute habe ich noch manchmal Bedenken. Das Verlangen, wegzulaufen, ist weiterhin da. Er kämpft genauso um mich wie Jason damals und hält mich immer und immer wieder fest und drückt mich an sich. Im Innersten weiß ich, dass Neal der Richtige nach Jason ist, dass er meine zweite Chance ist. Wenn ich Neal sehe, er vor mir steht, habe ich ein Kribbeln im Bauch und meine Zweifel sind für einen Moment verschwunden.

»Hast du mit Bill geschlafen?«, fragt mich Neal, als ich mich, nachdem alle gegangen sind, mit meinem Kopf auf seine Brust lege. Die Frage erschüttert mich und am liebsten würde ich lachen. Wir liegen im Bett und eigentlich bin ich k.o..

»Wie kommst du denn darauf?« Ich unterdrücke mein Lachen.

»Na ja, Harin hat dich nackt gesehen, als wir auf dem Tisch gevögelt haben. Es hat weder dir noch ihm etwas ausgemacht. Ich weiß, dass ihr so eine Freundschaft-plus-Beziehung hattet. Bill hat uns gestern Morgen geweckt, da warst du ebenfalls splitterfasernackt und das hat euch auch nichts ausgemacht. Also stelle ich mir die Frage, ob du dich nicht auch von ihm hast vögeln lassen. Immerhin habt ihr denselben Lebensstil gehabt.« In der Dunkelheit sehe ich seine leuchtendenden Augen. Auf so ein Gespräch war ich heute Abend nicht eingestellt.

»Neal, hast du ein Problem damit, dass ich nur gevögelt habe und keine Beziehung mit jemanden hatte, außer mit dir und Jason?«, frage ich vorsichtig nach.

»Kannst du erst einmal meine Frage beantworten?« Neal klingt beklommen. Macht ihn das so zu schaffen?

»Nein, ich habe nie mit Bill geschlafen. Den Zahn zog ich ihm relativ schnell, nachdem wir uns kennengelernt haben. Er ist mir zu perfekt«, flüstere ich und grinse ihn an. Ich erinnere mich an diesen Moment zurück.

»Jetzt du«, fordere ich ihn auf und streiche über sein Gesicht.

»Warum macht es ihm dann nichts aus, dich so zu sehen? Beziehungsweise warum macht es dir nichts aus?«

»Das ist nicht die Antwort auf meine Frage. Und Bill hat mich schon öfter ohne Kleidung gesehen, weil er kontinuierlich für mich da war, besonders als Jason starb. Er hat sich um mich gekümmert. Manchmal war ich nicht mehr ich selbst.« Tränen steigen in meine Augen, denn ich erinnere mich an die schlimmste Zeit meines Lebens zurück. Ein kalter Schauer legt sich über meinen Körper. Ich atme tief durch und Neal zieht mich ein Stück näher zu sich.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783752119275
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2020 (Oktober)
Schlagworte
Drama Lovestory Frauenliteratur Moderne Belletristik für Frauen

Autor

  • Ana L. Rain (Autor:in)

1991 erblickte Ana L. Rain im schönen Hessen die Welt. Wo sie heute liebt, liest, schreibt und lebt. Ana ist ein sehr emotionaler Mensch. Genau aus diesem Grund schreibt sie dramatische und zugleich traurige Liebesgeschichten. Sie hat eine Vorliebe zur Körperkunst, die unter die Haut geht und Katzen.
Zurück

Titel: Broken Love: Verführende Liebe