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Am Aschermittwoch fängt alles an

46 Passionsnotizen und eine Osternotiz

von Martin Dubberke (Autor:in)
65 Seiten

Zusammenfassung

Mit Aschermittwoch beginnt die Fastenzeit, in der ich sieben Wochen auf etwas verzichte, was mir scheinbar wichtig ist, worauf ich nur schwer verzichten kann. So gesehen, handelt es sich bei der Fastenzeit eher um eine siebenwöchige Umkehr auf Probe. Der Zeitraum ist überschaubar und sieben Wochen sind eine Zeitspanne, die nicht zu kurz und auch nicht zu lang sind, um sich an das neue Leben und eigentlich auch die neue Freiheit zu gewöhnen, frei zu sein von dem, worauf man am Anfang glaubte, nicht verzichten zu können. Sind die sieben Wochen also nur ein psychologischer Trick? Nein. Die sieben Wochen sind ein vorsichtiges Warmwerden mit dem neuen Leben, das man sich sehnlich wünscht. Es ist im Grunde genommen auch eine Reinigung, das Loslassen von Altlasten und so zu Ostern eine fröhliche Erleichterung.

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Vorwort

 

Ich nehme mir ja jedes Jahr für die Passionszeit etwas vor. In diesem Jahr hatte ich die verrückte Idee, jeden Tag eine Passionsnotiz zu schreiben und um den Druck auf mich zu erhöhen, nahm ich mir vor, sie täglich auf meiner Internetseite zu publizieren und dann auf allen Socialmedia-Portalen, auf denen ich aktiv bin, zu posten.

 

Meine anfängliche Angst, nicht für jeden Tag eine neue Idee zu haben, wich nach den ersten Tagen der Gewissheit, dass mich schon ein Gedanke finden wird. Aus dem täglichen Schreiben wurde eine geistliche Übung, die mir gut tut und mich nicht mehr losgelassen hat. Die 46 Passionsnotizen und die eine Osternotiz haben einiges in meinem Leben verändert.

 

Gleichzeitig bekam ich über die einzelnen Socialmedia-Kanäle immer mehr positives Feedback. Viele fingen an, meine täglichen Passionsnotizen regelmäßig zu lesen und mir nette Mitteilungen zu schicken. Die Zugriffe auf meine Website explodierten in dieser Zeit geradezu, so dass ich am Ende auf die Idee kam, mein erstes Selfpublishing-Projekt zu wagen und die Notizen auch als Buch zu veröffentlichen.

 

Weihnachten 2017

 

Am Aschermittwoch fängt alles an

 

Ja, ja, ich weiß. Eigentlich heißt das alte Karnevalslied, das am Ende der fünften Jahreszeit immer beim Finale des Blauen Bocks gesungen wurde, ganz anders. Ja, ich gebe zu, dass ich mich noch an den Blauen Bock erinnern kann. Und ich gebe sogar zu, dass ich ihn als Kind immer gerne zusammen mit meinen Großeltern oder auch mal alleine gesehen habe. Mit den meisten Karnevalsliedern konnte ich nicht so viel anfangen, aber

 

„Am Aschermittwoch ist alles vorbei,
von all Deinen Küssen
darf ich dann nichts mehr wissen.
Wie schön es auch sei,
dann ist alles vorbei…“

 

hat sich tief in meine Erinnerung, mein Ohr und Herz eingebrannt. Das Lied und sein Sänger mit der komischen Karnevalskappe, dem schwarzen Oberlippenbart, der auch dann noch schwarz war, als er steinalt war, rührte eine Saite in mir an. Auch wenn ich damals nicht verstanden habe, warum es dann mit dem Küssen vorbei sein soll, habe ich intuitiv erfasst, dass mit dem Aschermittwoch etwas zu Ende geht und etwas Anderes, das weniger Spaß macht, beginnt.

 

Damals wusste ich noch nicht, dass ich mal Pfarrer werden würde und die Zeit ab Aschermittwoch für mich eine besondere Bedeutung haben würde. Ebenso kannte ich auch noch nicht die Formel „Sieben Wochen ohne.“ Das ist heute alles anders.

 

Also, ist am Aschermittwoch wirklich alles vorbei? – Nein! Am Aschermittwoch fängt alles erst an, nämlich die Passionszeit. Sieben Wochen sind es dann noch bis Ostern. In dieser Zeit erinnern wir uns an den Weg, den Jesus bis ans Kreuz gegangen ist, sein Leiden und die Frage, warum Jesus sterben musste. Dabei nähern wir uns dem Leiden Jesu symbolisch an, indem wir uns sieben Wochen etwas auferlegen, das uns nicht leichtfällt und unser Bewusstsein schärft.

 

Die Themen der Aktion „Sieben Wochen ohne“ machen das eindrucksvoll deutlich:

 

  • 7 Wochen ohne Vorsicht
  • 7 Wochen ohne falsche Gewissheiten
  • 7 Wochen ohne Runtermachen
  • 7 Wochen ohne Enge
  • 7 Wochen ohne Sofort
  • Zeig dich! 7 Wochen ohne Kneifen

 

Sieben Wochen etwas anders als sonst zu machen, Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen, ist eine große Herausforderung, die uns an die eigenen Grenzen führen kann und soll, lustvoll wie leidvoll. Wir machen Erfahrungen, die wir sonst nicht machen, stellen fest, was wir alles können und zuweilen, was wir alles eigentlich nicht brauchen.

 

Mit Aschermittwoch fängt die Zeit an, sein Leben bewusster wahrzunehmen, mit Gott mehr als sonst ins Gespräch zu kommen, vieles über sich selbst zu erfahren und so sein Leben und seine Beziehung zu Gott auch bewusster zu gestalten, selbst wenn man mit seinem Fastenvorhaben scheitert, schwach wird und früher aufgibt. Auch das Scheitern gehört zu den Erfahrungen, die uns uns selbst und Gott näherbringen können.

 

Ich z.B. habe mir neben etwas Anderem vorgenommen, jeden Tag eine kleine Passionszeit-Notiz zu schreiben… Mal sehen, ob ich es durchhalte… Ich werde darüber berichten.

 

Der Versucher wird kommen

 

Na, wie war der erste Tag? War am Aschermittwoch wirklich alles vorbei? Fiel es schwer, etwas Neues anzufangen? Naja, am ersten Tag, ist man ja immer gut motiviert. Das ging mir auch so. Alles, was ich mir für diese Zeit vorgenommen habe, ist mir leichtgefallen und ich habe mir die Frage gestellt: Martin, wenn es Dir so leichtfällt, warum machst Du es dann nicht immer so?

 

Na, weil es den inneren Schweinehund gibt, den Versucher, den Einflüsterer, der Dich mit süßen und schmeichelnden Worten davon zu überzeugen sucht, das zu tun, wonach es Dich gerade versucht, nämlich doch noch im Bett zu bleiben, statt eine Stunde früher aufzustehen und ins Sportstudio zu gehen. Und natürlich schafft er es, Dich die Schokolade oder Lakritze essen zu lassen, die Du eigentlich nicht essen wolltest. Und natürlich gelingt es ihm auch, Dich Deine guten Vorsätze fahren zu lassen, was bei Dir ein schlechtes Gewissen auslöst, Dich leiden lässt. Doch irgendwann vergisst Du das schlechte Gefühl, wenn Du Dich im Bett noch einmal auf die andere Seite legst und im nächsten Schritt, den Wecker wieder anders programmierst. Tja, und dann war's das wohl mit dem neuen Leben.

 

Mit ein wenig Glück stellst Du Dir dann die Frage, ob Dich Gott dann immer noch liebt. Sei gewiss, er tut es auch dann noch. Aber die Frage, die sich dann stellt, ist, ob Du Dich selbst liebst, wenn Du Dir Dinge antust, die Dir nicht wirklich guttun.

 

Jesus war in der Wüste auch vierzig Tage dem Versucher ausgesetzt. Er versuchte ihn, aus Stein Brot zu machen oder die Macht der Welt an sich zu nehmen oder von einer Zinne des Tempels zu springen und dann von den Engeln getragen zu werden. Doch Jesus widerstand ihm, weil er seine Stärke aus dem Wort Gottes zog, was wir in allen drei Antworten auf den Versucher deutlich lesen können:

 

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.
Du sollst den Herrn, deinen Gott, anbeten
und ihm allein dienen.
Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht versuchen.

Matthäus 4, 4.7.10

 

Mit diesen drei standhaften Antworten widerstand er dem Versucher, so dass dieser aufgab.

 

Die Passionszeit ist eine gute Gelegenheit, um sich mit seinen eigenen Schwächen auseinanderzusetzen, sie zu erfahren und im Gebet Wege zu finden, ihnen zu begegnen oder auch als Stärke zu erkennen.

 

Also, welche Antworten gibst Du, gebe ich dem Versucher?

 

Du bist nicht allein

 

Gestern schrieb ich, dass die Passionszeit eine gute Gelegenheit wäre, sich mit seinen eigenen Schwächen auseinanderzusetzen und im Gebet Wege zu finden, ihnen zu begegnen oder sie als Stärke zu erkennen.

 

Das Gebet ist in der Passionszeit sehr wichtig, weil Du Dich oft mit dem Durchhalten Deines Vorhabens und den damit verbundenen Anfechtungen alleingelassen fühlen wirst. Das sind die Momente, wo Du gerne mit jemandem sprechen möchtest. Aber wer redet schon gerne mit anderen Menschen über die Gefahr des eigenen Scheiterns?

 

Mit Gott kannst Du über alles reden, weil er schon alles von Dir weiß. Aus dem Gespräch mit Gott gehst Du wieder gestärkt und ermutigt heraus, weil Du neue Gedanken und Einsichten gewonnen hast, aber auch die Gewissheit hast: Ich bin nicht alleine.

 

Das Wissen, nicht alleine zu sein, verleiht Dir Stärke. Auch Jesus wusste sich nicht alleine, als er dem Versucher in der Wüste widerstand. Ihm stärkte Gott den Rücken. Jesus wusste sich von seinem Vater gehalten. Und genauso kann es auch Dir ergehen. Du musst Gott nur vertrauen und Dich auf ihn einlassen.

 

Als mir heute Morgen die Frage durch den Kopf ging, worüber ich meine dritte Passionsnotiz schreiben könnte oder würde, hatte ich keine Idee. Ja, ich erstarrte sogar ein wenig vor der Aufgabe, weil ich mich fragte, ob es nicht ein wenig hochgegriffen war, jeden Tag so eine Notiz schreiben zu wollen. Was mache ich, wenn mir nichts einfallen sollte? – Dann würde ich wohl schreiben, dass mir nichts eingefallen ist. Mir ging dabei zweierlei durch den Kopf. Zum einen: Du hast es versprochen. Und zum anderen: Er wird dich schon auf eine Idee bringen.

 

Diese Gewissheit, nicht allein zu sein, gibt mir mehr Leichtigkeit und Sicherheit. Und all das erwächst aus der Kraft des Gebets, des Gesprächs mit Gott heraus.

 

Die Passionszeit ist also auch eine gute Gelegenheit auf andere Weise als sonst, mit Gott ins Gespräch zu kommen, weil wir in dieser Zeit offener für Gott und offener für uns selbst werden, weil das Fasten – was auch immer wir uns vorgenommen haben zu fasten – uns an unsere eigene Grenze führen wird.  Und über diese Grenze mit Gott ins Gespräch zu kommen, ist für jeden einzelnen von uns ein Gewinn.

 

Wenn Du weißt, wer Du bist

 

Dieser Tage hat eine Frau aus Helsinki meine Facebook Seite „gelikt“ – komisches Wort. Und neugierig wie ich bin, habe ich mir angeschaut, wer sie ist. Kaum hatte ich Ihre Facebook Seite geöffnet, blieb mein Blick auf ihrem Profilbild haften. Es war ein einfacher Screenshot mit einem Satz:

 

„You will never have a problem,
if you know who are you.“

 

Du wirst niemals ein Problem haben, wenn Du weißt, wer Du bist.

 

Das hat mich sofort angesprochen. Nicht nur, weil es logisch klingt, sondern auch, weil es stimmt. Wenn ich nicht weiß, wer ich bin oder sein will, was ich nicht bin, gibt es Probleme zuhauf. Ich gerate in Konflikte mit mir selbst und anderen Menschen.

 

Und oft sind es Konflikte, die einen dazu veranlassen, eine Psychotherapie zu beginnen. Und plötzlich stellt man in einem meist langwierigen und schmerzhaften Prozess fest, dass man gar nicht wusste, wer man wirklich ist. Man lernt sich endlich kennen und kann sich annehmen. Und sich selbst anzunehmen ist der erste große Schritt zur Liebe.

 

Und das war der eigentliche Grund, weshalb mich dieser Satz so anspricht, weil er eigentlich nichts anderes bedeutet als:

 

Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.

Matthäus 22, 39 (3. Mose 19, 18)

 

Grundvoraussetzung der Liebe ist es, auch sich selbst lieben zu können, sich selbst wichtig und ernst zu nehmen mit seinen eigenen Bedürfnissen, Wünschen und Träumen. Mal ganz bei sich sein zu können. Das nimmt mir die Angst vor dem anderen und öffnet mein Herz für meinen Nächsten. Dadurch wird Nächstenliebe möglich.

 

Auch das macht die Passionszeit möglich, mal Nächstenliebe zu wagen. Ich weiß, es ist immer so leicht daher gesagt: Ich liebe meinen Nächsten. Aber mal Hand aufs Herz, wenn Du Nichtraucher bist und sich in der S-Bahn Dir jemand gegenübersetzt, der gerade seine Zigarette ausgemacht hat und mit seinen ganzen Klamotten nach Rauch stinkt, löst das nicht gerade Nächstenliebe bei Dir aus. Den Gedanken könnte ich jetzt auch für andere Menschengruppen weiterentwickeln. Ich denke jedoch, dass du weißt, was ich meine.

 

Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst, wenn Dir das gelingt, ändert sich Deine Haltung, Dein Auftreten. Du wirst heiterer und entspannter. Du wirst dann nicht nur weniger Probleme haben, weil Du vieles plötzlich nicht mehr als Problem begreifen wirst, und es werden Dir die Herzen der anderen zufliegen.

 

Wenn er mich anruft, dann will ich ihn erhören

 

Heute ist Invokavit, der erste Sonntag der Passionszeit. Fünf Passionssonntage liegen bis Ostern noch vor uns. Noch genug Zeit, um in Versuchung zu geraten, schwach zu werden oder stark zu bleiben oder Stärke zu erfahren.

 

Der Predigttext für heute steht im 1. Buch Mose 3, 1-19 - die Geschichte vom Sündenfall. Die wohl bekannteste Geschichte einer Versuchung, die es gibt. Die bekannteste Geschichte vom Erliegen einer Versuchung. Die Geschichte von Adam und Eva, die einer listigen Schlange erlagen. Die Schlange als Sinnbild der Versuchung und Verführung. Wer kann sich nicht an Kaa, die Schlange aus dem Dschungelbuch erinnern, wie sie Mogli versucht zu verführen, zu hypnotisieren... Ein wunderbares Lied, dieses „Hör auf mich, glaube mir, Augen zu, vertraue mir...“

 

Die Schlange bei Adam und Eva war erfolgreich, weil sie zielgenau die größte Schwachstelle des Paares erkannt hat und in Angriff nahm. Zuerst sagt sie: "Ihr werdet keineswegs des Todes sterben..." Mit anderen Worten: „Was soll schon passieren? Wird schon nicht so schlimm werden. Wird schon nicht auffallen...“ Wir kennen das. Das sind die Selbstbeschwichtigungen, die wir zu uns selbst sagen, wenn wir kurz davorstehen, einer Versuchung zu erliegen. Eine Versuchung appelliert immer an unsere größte Schwachstelle, unsere größte Sehnsucht. Bei Adam und Eva war es der Wunsch, die Sehnsucht wie Gott zu sein.

 

Was ist Deine Schwachstelle? Wo kann Dich die Schlange kriegen? Welches Lied muss sie singen, damit Du ihr erliegst? Und vor allem: Was brauchst Du, um dieser Versuchung zu widerstehen?

 

Der Geschichte vom Sündenfall Adam und Evas steht als Evangelium am Sonntag Invokavit die Geschichte von der Versuchung Jesu in der Wüste gegenüber, einer Geschichte, die anders endet. Jesus widersteht der Versuchung durch den Teufel.

 

Zwei Versucher-Geschichten, zwei verschiedene Ausgänge. Da geht mir doch die Frage durch den Kopf, warum Adam und Eva der Versuchung nicht widerstehen konnten und Jesus, der doch auch Mensch war, widerstehen konnte.

 

Meine Antwort lautet: Adam und Eva wussten noch nicht, wer sie wirklich sind und waren deshalb verführbar. Jesus aber wusste, wer er ist und konnte deshalb der Versuchung widerstehen und den Versucher, den Teufel, der ebenso süß und verführerisch wie die Schlange war, in die Flucht schlagen. Und der Satz, der dem Teufel den Rest gab, lautete:

 

Du sollst anbeten den Herrn,
deinen Gott, und ihm allein dienen.

Matthäus 4, 10

 

Und genau das war's, was Adam und Eva entglitten war. Sie wollten mehr sein als nur Adam und Eva und damit etwas, was sie nicht waren. Daher empfanden sie die Verführung auch nicht als Versuchung, sondern als Einladung, die sie gerne annahmen. Sie kamen erst in die Not, als sie von der Frucht gegessen hatten und dann von Gott mit den Folgen ihres Handelns konfrontiert wurden. Erst jetzt wussten sie, wer und was sie sind, so dass letztendlich das Überschreiten der von Gott gesetzten Grenze, Adam und Eva als Menschen definierte.

 

Ich weiß, dass ich als Mensch fehlbar bin, auch wenn ich gerne perfekt wäre und zu Perfektionismus neige. Doch ich bin es nicht. Es gibt immer wieder Situationen, wo ich an meine Grenzen gerate und damit auch in Not. Und genau an der Stelle kommt die Zusage Gottes ins Spiel, an die uns der Leitvers Psalm 91, 15, der dem Sonntag Invokavit seinen Namen gegeben hat, erinnern soll:

 

Er ruft mich an, darum will ich ihn erhören;
ich bin bei ihm in der Not...

 

Invokavit - Er ruft mich an. Ich rufe ihn an, wenn ich an meine Grenze komme.

 

Den Sinn des Fastens findest Du nicht auf der Waage

 

Ich gebe es zu, eine andere meiner selbstgewählten Fastenaufgaben ist es, mich von der Sündenlast zu befreien, die ich durch allzu viele Kalorien auf mich geladen habe. Und natürlich wollte ich mich am Aschermittwoch morgens auf die Waage stellen, um Ostern den glücklichen Erfolg auch in Kilogramm zu messen. Doch die Waage streikte. Nicht etwa, weil ich zu schwer für sie bin, sondern, weil die Batterie leer war. Und schon seit Tagen will ich nun die alte Batterie gegen eine neue austauschen. Aber jeden Abend, wenn ich oben in meinem Schlafzimmer angekommen bin, stelle ich fest, dass ich mal wieder vergessen habe, die neue Batterie mit nach oben zu nehmen.

 

Und als ich heute Morgen auf meiner Bettkante saß und Richtung Waage schaute, stellte ich mir die Frage, ob das nicht etwas zu bedeuten hat.

 

So ist das in der Passions- oder Fastenzeit. Es kommen einem ganz andere Fragen in den Sinn als sonst. Ich stelle fest, dass sich meine Perspektive in den vergangenen Tagen angefangen hat zu ändern und ich die Dinge in dieser Welt anfange, anders wahrzunehmen. Also, es steckt eine Botschaft dahinter, dass ich immer wieder die neue Batterie vergesse. Vorher hätte ich mir da überhaupt keine Gedanken gemacht, sondern mich nur mal wieder darüber geärgert, dass ich’s wieder vergessen habe und nun am Ende der Erfolg gefühlt geringer ausfallen würde.

 

Aber wie lautet nun diese Botschaft oder vielmehr Erkenntnis?

 

Ich sehe es so: Das Ziel ist nicht das Gewicht, sondern die Erfahrung der Umkehr. Passionszeit ist auch eine Zeit der Buße. Und Buße bedeutet die Umkehr, also die Abkehr vom falschen Weg. Es geht um die dauerhafte Umkehr, und da ist am Ende die Waage dann nicht mehr als ein einfacher Kompass, mit dem du prüfen kannst, ob du noch auf dem richtigen Weg bist. Und niemand hat gesagt, dass das neue Leben einfach wäre. Es ist jeden Tag eine neue Herausforderung und hier dürfen wir uns jeden Tag neu an das Invokavit-Versprechen Gottes erinnern:

 

Er ruft mich an, darum will ich ihn erhören;
ich bin bei ihm in der Not.

Psalm 91, 15

 

Zeit

 

Heute begegnet mir ein ganz besonderer Versucher: Die Zeit. Mein Tag ist gut gefüllt und am Abend erwartet mich in der Gemeinde noch eine Gemeindekirchenratssitzung. Ich werde also kaum vor Mitternacht zu Hause sein.

 

Werde ich Zeit finden für Gott? Für meine nächste Passionsnotiz? Wo ist die Lücke, in die ich das noch reinquetschen kann?

 

Die Zeit ist die größte Versucherin, die raffinierteste Verhinderin unserer Vorhaben. Dem Druck der Zeit nachzugeben, hat überdies den Charme, die beste Ausrede aller Zeiten zu haben, die fast jeder Mensch problemlos akzeptiert – zumindest eine Zeit lang.

 

Darüber hinaus macht uns zu wenig Zeit wichtig, weil jeder glaubt, wir seien es. Dabei ist es in vielen Fällen nicht mehr als schlechtes Zeitmanagement, das uns die falschen Prioritäten setzen lässt.

 

Zeit ist Leben und Leben ist Lebenszeit. Unser Umgang mit der Zeit erzählt uns viel darüber, wer wir sind und wo unsere Schwächen liegen, weil unser Umgang mit der Zeit auch ein geschicktes Verhinderungsmanagement sein kann für Sachen, vor denen wir uns drücken wollen, die uns keinen Spaß machen, die wir gerne anderen überlassen, weil sie uns nicht so wichtig oder im schlimmsten Fall sogar egal sind. Wir fänden dafür auch dann keine Zeit, wenn unser Tag 48 Stunden hätte.

 

Ja, natürlich gibt es auch Momente, wo alles über einen hereinbricht und unseren Zeitplan Makulatur werden lässt, aber genau dann ist es wichtig, die Zeit für Gott zu finden, um nicht unterzugehen.

 

Zeitdruck macht uns nicht nur zum Helden, sondern lässt uns auch leiden. So ist es immer, früher oder später, wenn wir von dem Weg abkommen, den uns Gott angeboten hat.

 

Ich habe es schon geschrieben: Passionszeit ist auch Bußzeit und damit Zeit der Umkehr. Eine Zeit, in der man dem Leben eine neue Perspektive abgewinnen kann. Was wäre denn, wenn ich die Versuchung als Herausforderung – oder Neudeutsch Challenge – verstehen würde, der ich mich stelle, nicht um zu widerstehen, sondern um eine Lösung zu finden.

 

Beim Prediger Salomo heißt es:

 

Ein jedes Ding hat seine Zeit
und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde.

Prediger 3, 1

 

Auch Gott hat seine Zeit in meinem Leben. Ich muss sie nur sehen, erkennen oder reservieren und vor allem nutzen…

 

Diese Passionsnotiz entstand zum Beispiel am Morgen auf dem Weg zur Arbeit in der S-Bahn. Nebenbei gesagt, immer wieder eine gute Gelegenheit, um mit Gott ins Gespräch zu kommen…

 

Die Sache mit der Umkehr

 

Die erste Woche nach Aschermittwoch ist geschafft. Und? Wie fühlt es sich an? Wie ist es Dir bislang ergangen?

 

Ich bin überrascht. Bislang fiel es mir leicht, auf all das, was ich mir vorgenommen habe, zu verzichten. Eigentlich hätte ich gedacht, dass es mir schwerer fallen würde, dass ich um die Süßwarenregale tigern würde oder verzweifelt vor dem Kühlschrank stünde.

 

Nein, ich bin kein Held und auch kein Heiliger – weit davon entfernt. Gestern war der Tag sehr dicht gedrängt und ich war ein wenig aus meinem neuen Rhythmus gebracht. Da stand ich dann schon am sehr späten Abend vor dem geöffneten Kühlschrank und dachte, wie schön es doch wäre, jetzt einfach ein Würstchen zu essen. Es wurde dann ein einfaches Butterbrot, das sehr lecker war.

 

Die Freude am Anderen zu gewinnen ist auch ein Aspekt der Passionszeit, die gewohnten Handlungsmuster zu verlassen und vom Alltäglichen abzuweichen, das Ungewohnte zu wagen und daran Gefallen zu finden.

 

Und mir stellt sich die Frage, ob sieben Wochen ohne, nicht vielleicht etwas Halbherziges sind. Komm, Hand aufs Herz! Wenn Ostern das neue Leben beginnt und ich dann nach sieben Wochen ohne wieder in mein altes Leben zurückfalle, habe ich doch etwas falsch gemacht.

 

Dieser Gedanke begleitete mich heute eine ganze Weile. Wenn ich sieben Wochen auf etwas verzichte, dann ist es doch in der Regel immer etwas, worauf ich auch sonst verzichten könnte. Ich suche mir doch immer etwas aus, was mir lieb und teuer ist, mir aber unterm Schlussstrich nicht guttut. Damit ist doch der siebenwöchige Verzicht darauf, die erste Erkenntnis, etwas in meinem Leben falsch zu machen. So gesehen, handelt es sich also eher um eine siebenwöchige Umkehr auf Probe. Der Zeitraum ist überschaubar und sieben Wochen sind eine Zeitspanne, die nicht zu kurz und auch nicht zu lang sind, um sich an das neue Leben und eigentlich auch die neue Freiheit zu gewöhnen, frei zu sein von dem, worauf man am Anfang glaubte, nicht verzichten zu können.

 

Sind die sieben Wochen also nur ein psychologischer Trick?

 

Nein. Die sieben Wochen sind ein vorsichtiges Warmwerden mit dem neuen Leben, das man sich sehnlich wünscht. Es ist im Grunde genommen auch eine Reinigung, das Loslassen von Altlasten und so zu Ostern eine fröhliche Erleichterung.

 

Eigentlich lautet die Devise:

 

Nicht nur für sieben Wochen umkehren, sondern für immer.

 

Auf dem Weg Richtung Ostern gilt es, sich auf das neue Leben vorzubereiten, es einzuüben und in fröhlicher Erwartung darauf zuzugehen.

 

Das scheinbar Selbstverständliche

 

Als ich heute kurz nach halb sechs das Haus verlasse, ist es noch dunkel. Die Luft ist frisch, riecht nach Grunewald und tut einfach gut. Ich habe das Gefühl, pure Energie einzuatmen. Die Vögel zwitschern. Es ist himmlisch. Noch ein wenig Nacht, alles schläft und doch das volle Leben der Natur. Über die Schulter gehängt meine Aktentasche und in der Hand meine Sporttasche, bin ich auf dem Weg zur Erfüllung einer meiner Fastenaufgaben – dem Sportstudio.

 

Auch als ich in Charlottenburg ankomme, die kleine Seitenstraße vom Kurfürstendamm meinem Ziel entgegengehe, höre ich noch die Vögel, wenn auch nicht mehr so zahlreich und so laut wie eben noch zu Hause. Die Luft war frisch, aber sie roch nun nicht mehr nach Wald und als ich an der Taxiwelt vorbeikomme, einer früheren Tankstelle, muss ich plötzlich an jemanden denken, dessen Kind vor vielen Jahren gestorben ist. Und im gleichen Moment wird mir wieder bewusst, dass nichts im Leben selbstverständlich ist.

 

Der HERR ist ein Schild allen,
die ihm vertrauen.

Psalm 18,31

 

Keinen Atemzug später erfüllt mich Dankbarkeit für das scheinbar Selbstverständliche. Alles, was ich habe, was ich bin, meine Frau, meine Kinder, meine Familie, meine Freunde und auch meine Arbeit, alles was mir selbstverständlich erscheint, ist es in Wirklichkeit nicht. Alles, was ich habe, ist ein großes Geschenk oder treffender ein Segen. Und ich erlebe mich, wie ich den leeren Kurfürstendamm überquere und dabei „Danke!“ zu Gott sage.

 

Alles nur geliehen

 

Als ich heute Morgen zur Arbeit fuhr, spürte ich einen Unterschied zu gestern. Zum einen sangen die Vögel nicht mehr so schön laut und zum anderen war es schon hell. Aber das ist nicht der eigentliche Unterschied.

 

Den eigentlichen Unterschied bemerkte ich in der S-Bahn: Ich fuhr direkt zur Arbeit. Der Tag fing also unmittelbar mit der Arbeit an. Gut, ich mache meine Arbeit gerne, sie macht mir Spaß und verschafft mir große Befriedigung, auch weil ich ein tolles Team habe, mit dem ich gerne zusammenarbeite. Aber der Tag fing heute mit der Arbeit an. Und dann nahm ich auch noch aus irgendeinem Grund das iPad aus der Tasche und fing an, Dienstliches zu lesen, während ich gleichzeitig mit den Stöpseln im Ohr die Matthäuspassion hörte. Das ging nun gar nicht.

 

Normalerweise höre ich morgens im Zug immer die Bachkantate des jeweiligen Sonntags, schließe dabei die Augen, höre die Musik, achte auf die Texte. Es ist wie eine kleine musikalische Andacht am Morgen, ein Ruhepunkt, bevor der wilde Alltag von mir Besitz ergreift. Eben musica praedicat.

 

Gestern war das anders. Ich ging vor der Arbeit zum Sport. Alles war noch ruhig, keine Hektik. Der Tag begann nicht mit der Arbeit, sondern mit einem Stück Freizeit. Obwohl, kaum, dass ich ‚Freizeit‘ schreibe, merke ich, dass das nicht der richtige Begriff ist. Komisch, ich muss gerade an eine Stelle aus dem 1. Brief an die Korinther denken:

 

Oder wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch ist und den ihr von Gott habt, und dass ihr nicht euch selbst gehört?

1. Korinther 6, 19

 

Wenn mein Leib ein Tempel ist, dann habe ich den in letzter Zeit ziemlich vollgestellt und zugerümpelt. Mit anderen Worten, wenn ich morgens ins Sportstudio gehe, dann räume ich Stück für Stück den Tempel auf. Damit nehme ich wieder mehr Verantwortung für meinen Körper wahr. Habe ich gerade gesagt: „Für meinen Körper?“ – Falsch, ganz falsch. Paulus sagt, dass ich mir nicht selbst gehöre, sondern Gott.

 

Das ist doch ein ganz spannender Gedanke. Eben dachte ich noch, wenn ich morgens ins Sportstudio gehe, tue ich zuerst etwas Gutes für mich, bevor ich wieder für andere etwas Gutes tue. Aber in Wirklichkeit übe ich mit jeder Minute auf dem Cardiotrainer oder jeder Übung am Rückenstrecker den verantwortlichen Umgang mit dem ein, was mir Gott geliehen hat, dem, was ich meinen Körper nenne, und was aus der Sicht von Paulus ein Tempel Gottes ist.

 

In diesem Moment wird mir bewusst, dass es bei der Pflege meiner Gesundheit, der körperlichen wie der seelischen, nicht nur darum geht, fit zu sein, um besser und länger zu leben und für meine Familie da zu sein oder fitter für den Job zu sein, sondern dass es noch einmal um eine ganz andere Dimension geht. Zu spüren, dass ich ein Geschöpf Gottes bin und Gott mit der entsprechenden Verantwortung dafür antworten muss.

 

In meiner Verantwortung

 

Der Gedanke, Gott in Verantwortung darauf zu antworten, lässt mich nicht los.

 

Die Sorge um den Körper, der mir nicht gehört, erhält dadurch noch einmal eine ganz andere Dimension. Gehört mein Leib Gott, dann ist die Pflege meines Körpers auch ein Gottesdienst. Meine Verantwortung definiert oder gestaltet sich vor diesem Hintergrund ganz anders und damit auch die Motivation. Wer hätte das gedacht? – Natürlich ist die gute Pflege des Körpers keine Garantie für ewige Jugend und Gesundheit. Ich kann noch so verantwortungsvoll mit dem mir anvertrauten Körper umgehen, so ist er nicht vor höherer Gewalt oder Krankheit gefeit. Auch ein Tempel aus Stein kann einem Erdbeben oder Anschlag zum Opfer fallen.

 

Ich kann aber Gott darum bitten, mich zu begleiten, zu bewahren, mir in den Momenten Kraft und Zuversicht zu geben, in denen ich das Gefühl habe, es nicht zu schaffen, zu schwach zu sein. Und leben wir nicht in der Invokavit-Woche, in der „Er-hört-mich-Woche“, die uns alle dazu einlädt, mehr Gebet zu wagen?

 

Er ruft mich an, darum will ich ihn erhören;
ich bin bei ihm in der Not.

Psalm 91, 15

 

Tue ich mehr für mich, tue ich mehr für Gott. Das heißt aber nicht, dass ich am Ende egoistisch bin, sondern, dass ich die Verantwortung für mich selbst wahrnehme, indem ich die Verantwortung für das mir von Gott Geliehene ernst nehme. Das heißt am Ende auch, dass ich mich selbst ernst- und annehmen kann und mich nicht selbstvergessen hintenanstelle. Auch der Leib meines Nächsten ist nicht sein Leib, sondern gehört Gott. Das nötigt mir Respekt vor dem anderen ab. Das bedeutet aber auch, dem anderen gegenüber mit dem gleichen Ernst und mit der gleichen Annahme zu begegnen, wie mir selbst. Vor diesem Hintergrund entsteht noch einmal eine neue Perspektive auf das Doppelgebot der Liebe:

 

Jesus aber sprach zu ihm: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt« Dies ist das höchste und erste Gebot. Das andere aber ist dem gleich: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« In diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.

Matthäus 22, 37-40

 

Wenn ich weiß, dass mein Leib nicht mein Leib ist, sondern Gott gehört, kann ich gar nicht anders als Gott von ganzem Herzen und ganzem Gemüt zu lieben. Und weil ich ihn liebe, kann ich auch mich selbst lieben und annehmen und so meinen Nächsten lieben, weil sein Leib den gleichen Besitzer hat. Und weil Gott mein Leib gehört, bin ich schon angenommen… Ich kann es drehen und wenden, wie ich will, das Doppelgebot ist der Garant für Friede, Freiheit und den Erhalt von Gottes Schöpfung. Es gibt keine andere Möglichkeit.

 

Ist doch spannend, was passiert, auf welche Gedanken man kommen kann, wenn man morgens vor der Arbeit ins Sportstudio geht und der Tag eben nicht mit der Arbeit beginnt, sondern, z. B. mit Sport, also einer Verabredung mit mir selbst. Und Zeit, die ich für mich habe, die habe ich am Ende auch mit und für Gott.

 

Und am Ende fühle ich mich besser. Ist der Tempel im Reinen, bin ich im Reinen mit Gott und dann auch mit mir selbst. Es geht mir dann nicht nur besser, weil ich Sport mache oder mich gut ernähre, vielleicht auch weniger auf die Waage bringe und beweglicher werde, sondern weil ich Gott auch in diesem Bereich meines Lebens ernster nehme und es nicht für mich mache, sondern in der Verantwortung, in die mich Gott hineingestellt hat, indem er mir das anvertraut hat, was ich meinen Leib nenne.

 

Erinnerst du dich?

 

Heute ist Sonntag Reminiscere, der zweite Sonntag der Passionszeit. Vier Passionssonntage liegen noch vor uns. Psalm 25, 6 hat diesem Sonntag seinen Namen gegeben:

 

Gedenke, Herr, an deine Barmherzigkeit und an deine Güte, die von Ewigkeit her gewesen sind.

 

Ich musste ein wenig schmunzeln, als mein Blick auf die Versangabe fiel. Es ist mein Geburtstag. Für einen Moment bin ich versucht, darüber nachzudenken, ob das was zu bedeuten hat.

 

Was mich betrifft, kann ich sagen, dass ich in meinem Leben Gottes Barmherzigkeit immer wieder erfahren durfte.

 

Aber eigentlich fällt mir noch etwas ganz Anderes an dem Vers auf. Der Psalmbeter fordert Gott auf, sich seiner Barmherzigkeit zu erinnern. „Gedenke, Deiner Barmherzigkeit!“

 

Das klingt im ersten Moment ein wenig dreist. Ihm muss doch klar sein, dass Gott nicht vergisst.

 

Reminiscere – Gedenke… ich muss an das schöne Wort Reminiszenz denken. Eine kleine Reminiszenz ist ein Blick zurück, meist gepaart mit ein wenig Sehnsucht. Eine Erinnerung. „Erinnerst Du Dich noch?“ Reminiszenz ist der Anklang an etwas Früheres, das in der Regel immer mit etwas Schönem oder Gutem verbunden war.

 

Und wenn ich mir jetzt mal den Psalm näher anschaue, dann habe ich hier einen Menschen, ein Volk, dem es nicht gut geht. Es verlangt nach Gott, nach Gottes Hilfe und Unterstützung. Der Psalmbeter hat Angst um sein Leben, seine Existenz und genau das erzählt er Gott. Und in diesem Zusammenhang hält er Rückschau auf seine bisherigen Erfahrungen mit Gott, wenn er sich in Not fühlte, und hofft nun, dass es ihm in dieser Situation wieder so ergeht.

 

Daher bittet der Psalmbeter Gott, sich daran zu erinnern, dass er barmherzig war und ist und, dass das eine seiner Eigenschaften ist, die er schon von Ewigkeit an hat. In diesem Fall klingt es aber weniger nach einer Reminiszenz, sondern mehr nach einem verzweifelten: „Bitte erinnere Dich daran, dass Du mir, dass du uns gegenüber schon einmal barmherzig gewesen bist. Bitte sei es wieder, weil Du doch von je her barmherzig bist. Bitte mache auch dieses Mal keine Ausnahme davon.“ Es ist also eine erinnernde Bitte.

 

Gleichzeitig bittet er ihn auch darum, sich nicht der Sünden seiner Jugend zu erinnern. Auch das deutet darauf hin, dass er schon eine entsprechende Erfahrung mit Gott in seinem Leben gemacht hat und Barmherzigkeit erfahren hat und weiß, wie sich das anfühlt.

 

Das schließt direkt an Invokavit an:

 

Er ruft mich an, darum will ich ihn erhören;
ich bin bei ihm in der Not.

Psalm 91, 15

 

Invokavit – Er ruft mich an. Ich rufe ihn an, wenn ich an meine Grenze komme.

 

Mir geht aber noch ein anderer Gedanke durch den Kopf. Barmherzigkeit ist für mich keine Einbahnstraße, wenn ich von Gott Barmherzigkeit erfahren habe, dann hat er mir vorgemacht, wie es funktioniert. Dann weiß ich, wie wunderbar und befreiend sich Barmherzigkeit anfühlen kann. Das heißt: Auch ich darf die empfangene Barmherzigkeit selbst weiterreichen und leben. Seit Adam und Eva wissen wir, dass der Mensch nicht perfekt ist, sondern fehlbar.

 

Und wer bin ich, wenn ich mich in Härte einem anderen Menschen gegenüber erhebe, wenn Gott, der doch so viel größer und mächtiger ist als ich, mir gegenüber barmherzig ist?

 

Das „Gedenke“, das der Psalmbeter zu Gott sagt, ist zugleich auch die Aufforderung an mich selbst, daran zu denken, selbst barmherzig zu sein, die Barmherzigkeit, die ich von Gott erfahren habe, bei anderen Menschen, bei meinem Nächsten weiterwirken zu lassen, das Gute, das ich von Gott erfahren, weiterzugeben.

 

Reminiscere, dass Gedenke, dass Erinnere hat solcherweise eine doppelte Bedeutung. Zum einen erinnert es mich daran, von wem die Barmherzigkeit ausgeht, und zum anderen erinnert es mich daran, selbst Barmherzigkeit zu üben.

 

Herausforderung Erinnerung

 

Der Gedanke von Reminiscere lässt mich nicht los. Zwei große Herausforderungen sind damit verbunden: Sich erinnern und barmherzig sein.

 

Sich in der Passionszeit auf das Neue vorzubereiten, bedeutet auch, sich zu erinnern, das alte Revue passieren zu lassen, sich an Gutes aber auch an Schlechtes zu erinnern.

 

Na klar, fallen mir sofort jede Menge schlechte Dinge ein, die seit Ostern des vergangenen Jahres geschehen sind und auch in meine Predigten eingeflossen sind. Die Welt und auch Berlin hat im Moment vieles davon zu bieten. Es ist kein Zufall, dass ich zuerst daran denke, nicht nur weil es ganz oben aufliegt, sondern auch, weil es mich davon abhält über mein persönliches Schlechtes nachzudenken, ihm nachzuspüren.

 

Auch das gehört auf dem Weg Richtung Ostern dazu, über seine schlechten Seiten nachzudenken, sich ihrer zu erinnern und bewusst zu werden. Ich glaube, dass das in dieser Woche eine ganz besondere Aufgabe sein kann. Und damit auch verbunden die Dinge, die man anderen angetan hat, für die man sich nicht oder noch nicht entschuldigt hat, um Erbarmen gebeten hat.

 

Es geht um die Auseinandersetzung mit seiner eigenen dunklen Seite. Und dabei kann mir Gott eine große Hilfe sein, denn er weiß, um meine Schwächen, Schwachheiten, Sünden.

 

Im Psalm 25, aus dem der Leitvers für diese Woche stammt, bittet der Beter in Vers 6, sich seiner Barmherzigkeit zu erinnern und im nachfolgenden Vers bittet er Gott darum, sich seiner Sünden und Übertretungen nicht zu erinnern, wohl wissend, dass er sich ihrer erinnert. Und in Vers 8 sagt er schließlich:

 

Der Herr ist gut und gerecht;
darum weist er Sündern den Weg.

 

Der Beter weiß, dass er nur mit Gott den Weg da herausfinden wird. Also, ist das nicht eine verlockende Herausforderung für diese Woche? Sie wird hart und an keiner Stelle einfach, aber am Ende befreiend und Dir selbst und anderen guttun und das Herz zum Strahlen bringen.

 

Herausforderung Erinnerung die Zweite

 

Na, schon erste Erfahrungen mit der gestrigen Herausforderung gesammelt und tief in das Reich der eigenen Schlechtigkeiten vorgedrungen? Ich habe nicht gesagt, dass es leichtfallen würde. Ehrlicherweise habe ich heute in meiner Mittagspause ernsthaft vorgehabt, mich der Frage zu widmen, aber das Telefon klingelte… Der Klassiker eben.

 

Aber Spaß beiseite, ich gebe zu, dass es mir verdammt schwergefallen ist. Aber genau in dem Moment, als ich an etwas ganz Anderes dachte und etwas ganz Anderes machte, war es so, als würde einer mit einem Spot in eine meiner dunklen Ecken leuchten und ich erschrak.

 

Ja, das mit der Aufmerksamkeit. Manchmal bin ich so durch eine Sache, Arbeit gebunden, dass ich mich nur schwer auf etwas Anderes konzentrieren kann, weil meine Gedanken immer um die eine Sache kreisen, so dass ich zwar im Raum bin, aber am Ende doch abwesend. Mehr verrate ich jetzt hier und an dieser Stelle nicht, denn ich glaube, dass es ein gutes und nachvollziehbares Beispiel dafür ist, dass wir uns viel zu oft in unserem Leben an den großen Sünden und Sündern orientieren und dann selbstberuhigend sagen: Dagegen bin ich ein Engel! – Falsch, auch eine kleine Sünde kann für den anderen als Todsünde wahrgenommen werden.

 

Vor diesem Hintergrund ist z. B. mangelnde Aufmerksamkeit sogar eine große Sünde, die mich zweimal trifft. Zum einen, weil ich einem anderen damit wehtue, da ich ihm das Gefühl gebe, nicht wertvoll oder wichtig genug für mich zu sein, und zum anderen, weil ich nicht in ausreichendem Maße auf mich selbst achte, also mir gegenüber ebenso wenig aufmerksam bin wie ihm.

 

Die Ursachen dafür können vielfach sein: Falsches Zeitmanagement, falsche Prioritätensetzung oder was auch immer. Das Ergebnis ist am Ende immer das gleiche: Ich habe mich selbst nicht genug geliebt und dadurch auch meinen Nächsten nicht. Wenn das keine Sünde ist…

 

Also, ruhig noch einmal in sich gehen und vielleicht bei einer großen Tasse Kaffee das Gespräch mit Gott suchen und gespannt darauf sein, was dabei ans Licht kommen wird.

 

Dafür verspreche ich, morgen über das Schöne nachzudenken. Versprochen!

 

Gedenke des Schönen

 

Ich habe versprochen, heute über das Schöne nachzudenken. Und weil es so schön ist, bleibe ich ruhig noch einen Moment beim Psalm 25, weil wir ja in der Reminiscere-Woche sind und uns mit dem Erinnern beschäftigen wollen.

 

Der Psalmbeter macht ja eine lange Aufzählung dessen, woran sich Gott erinnert oder erinnern möge:

 

Gedenke, Herr, an deine Barmherzigkeit und an deine Güte, die von Ewigkeit her gewesen sind. Gedenke nicht der Sünden meiner Jugend und meiner Übertretungen, gedenke aber meiner nach deiner Barmherzigkeit, Herr, um deiner Güte willen!

 

In Wirklichkeit aber erinnert der Psalmbeter sich an das, was ihm Gott Gutes getan hat. Und genau darüber möchte ich heute ein wenig nachdenken. In der Geschwindigkeit des Tages werden wir manchmal ein wenig blind für das, was Gott uns Gutes getan hat und tut. Wir gehen manchmal sogar einen Schritt weiter und glauben, dass wir es selbst waren und fragen dann, wenn es uns mal nicht so gut gehen sollte mit dem leichten Klang des Vorwurfs: „Warum, hast Du mir das angetan, Gott?“

 

Das können wir gut, aber wann haben wir das letzte Mal zu Gott gesagt: „Danke, Gott, dass Du mir so eine wunderbare Frau an meine Seite gestellt hast!“ Oder: „Danke, dass es mir so gut geht.“ Oder: „Danke, Gott, dass heute so schön die Sonne scheint, was meiner Seele richtig guttut.“

 

Irgendwie scheint der Mensch sich lieber auf das, was nicht gelingt zu konzentrieren, das, was schlecht ist und nicht auf das Gelingende, das Gute.

 

Für das Gute scheint es keinen Verantwortlichen zu geben, das hat selbstverständlich zu sein, aber für das Schlechte gibt es immer einen Verantwortlichen. Ich könnte mir vorstellen, dass sich das Gott einmal anders gedacht hat.

 

Aber das schauen wir uns dann morgen ein wenig genauer an.

 

Das wirklich Schöne

 

Heute bin ich ein wenig später dran als die vergangenen fünfzehn Tage, weil ich mir etwas sehr Schönes gönne, nämlich zwei Tage Urlaub.

 

Schönes und Passionszeit? Passt das zusammen? Natürlich passt das zusammen. In dieser Zeit soll man sich doch auch ein wenig besinnen. Kaum fließt mir das Wort „besinnen“ aus den Fingern über die Tastatur auf den Bildschirm, denke ich: Was für ein schönes Wort in dieser Zeit.

 

Besinnen – zum einen bedeutet das ja zur Ruhe kommen, über etwas Wichtiges nachzudenken, etwas in seinem Sinn also etwas mit seinem Verstand, seiner Vernunft zu reflektieren, darüber nachzudenken. Auf der anderen Seite – und deshalb musste ich gerade schmunzeln, als sich das Wort vor mir auf dem Monitor Buchstabe für Buchstabe bildete, dass es auch heißen könnte, einer Sache einen Sinn zu geben. Und genau das, passt wieder in die Passionszeit. Wir handeln im normalen Leben häufig mit großer Routine, weil wir bei den Dingen, die wir täglich machen, über eine große Erfahrung verfügen. Und so entscheiden wir vieles – ohne großartig darüber nachzudenken – aus unserer Erfahrung heraus, was auch in den allermeisten Fällen kein Problem ist, weil wir es ja können und uns kaum Fehler unterlaufen.

 

Aber zuweilen vergessen wir dabei nach der Sinnhaftigkeit unseres Handelns zu fragen. Die Sinnhaftigkeit ist aber das eigentliche Fundament unseres Handelns, die Frage zu stellen: Warum entscheide ich so oder so? Entscheide ich, weil ich es weiß, weil ich die Erfahrung habe? – Nein, nicht nur. Und genau das ist der Moment, des Besinnens, nämlich zur Ruhe zu kommen und Reminiscere zu machen, zu gedenken, sich zu erinnern, was mich in meinem Leben wirklich treibt, bewegt und im wahrsten Sinne des Wortes begeistert.

 

Und wenn ich dann zur Ruhe komme, um mich zu besinnen, tanke ich nicht nur neue Kraft und Gedanken, sondern erinnere mich auch an das Schöne, was mir Gott, der HERR, auf den Weg gegeben hat:

 

Die Wege des Herrn sind lauter Güte und Treue für alle, die seinen Bund und seine Zeugnisse halten.

Psalm 25,10

 

Und sich genau daran in der Passionszeit wieder zu erinnern, ist ein Teil der bewussten Umkehr und damit die beste Vorbereitung auf Ostern.

 

Die Sache mit der Weisung und dem in die Irre führen

 

In dieser Woche des Erinnerns war Psalm 25 ein guter Begleiter. Mit ihm haben wir uns daran erinnern können, wie viel Gutes Gott uns getan hat und tut. Wir konnten uns aber auch daran erinnern, wie wichtig es ist, auf den Wegen des Herrn zu wandeln, das eigene Leben an seinen Weisungen zu orientieren.

 

Ich weiß, das Wort Weisungen gehört nicht gerade in die Hitliste der Worte, die man heute gerne hört. Ich finde aber, dass es ein schönes Wort ist, das aus sich heraus für sich spricht. Natürlich kann ich eine Weisung auch wie einen Befehl empfinden. Und damit tun sich in der Tat die meisten Menschen schwer. Wer lässt sich schon gerne etwas sagen in einer Zeit, in der wir doch alle so frei, so unabhängig, so selbstbestimmt und selbstverantwortet sein wollen?

 

Aber Weisung heißt auch, den Weg weisen. Und den Weg kann nur jemand weisen, der den richtigen Weg auch kennt. Alles andere wäre ein in die Irre führen. Und wir lassen uns heute auf eine ganz eigene Weise immer wieder weisen… Ich denke da nur an das Navi im Auto oder Smartphone. Wie viele Geschichten habe ich schon gehört, dass jemand von seinem Navi in die Irre geführt wurde… Mal ganz abgesehen davon, dass sich heute immer noch viele Menschen von Verführern verführen lassen, weil es so bequem, so einfach erscheint.

 

Der liebe Gott hat nie gesagt, dass das Leben ein Ponyhof sei. Wir erinnern uns daran, was Gott zu Adam und Eva gesagt hat, als sie das Paradies verlassen mussten, weil sie sich nicht an seine Weisungen gehalten hatten. Naja, eigentlich war es nur eine einzige Weisung. Wie schwer es doch sein kann, sich nur an eine Weisung zu halten und wie leicht verführbar der Mensch ist, weil er sein will wie der EINE, erleben wir immer wieder. Dieses Gen trägt der Mensch auch heute noch in sich. Und auch dessen sollten wir uns erinnern.

 

Reminiscere heißt sich erinnern und erinnern heißt, aus der Erfahrung, der Geschichte zu lernen, die Gefahren zu erkennen, wenn man sich nicht an die Weisungen Gottes hält, die er für uns menschliche Trottel schon ganz kurz in einem Satz zusammengefasst hat, damit wir sie auch ja nicht vergessen und sie einfach und sich selbst erklärend ist. Paulus verknüpft das in seinem Brief an die Galater mit einer ganz klaren Konsequenz:

 

Denn das ganze Gesetz ist in dem einen Wort erfüllt: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!« Wenn ihr euch aber untereinander beißt und fresst, so seht zu, dass ihr nicht einer vom andern aufgefressen werdet.

Galater 5, 14-15

 

Wenn wir die Bibel aufschlagen, liegen vor uns mehrere tausend Jahre Schrift gewordene Erfahrungen mit Gott, der Freude, der Liebe, der Freiheit, aber auch dem Leid, das durch menschliche Fehlbarkeit, durch Gottvergessenheit, Egoismus entstanden ist. Für uns, die wir an Gott glauben, verbirgt sich hier ein enormer Reichtum, der uns bewahren kann in einer Zeit, wo Menschen nicht einmal mehr in der Lage sind, die vergangenen einhundert Jahre in unserer Geschichte zu überblicken, zu verstehen und dankbar dafür zu sein, was wir uns hart in den vergangenen zweiundsiebzig Jahren erarbeitet haben.

 

Ich hatte eigentlich nicht vor, eine politische Dimension in meinen Passionsnotizen zu eröffnen, aber auch das ist mir vor dem Hintergrund von Reminiscere noch einmal erschreckend deutlich geworden, dass das beim Erinnern im gleichen Maße dazu gehört, dass diese Perspektive nicht außer Acht gelassen werden darf, wenn es darum geht, umzukehren und sich auf seinem Weg Richtung Ostern auf das neue Leben vorzubereiten, weil das neue Leben auch ein aktives Zeichensetzen ist, das durch Gott aus uns heraus in die Welt wirken wird.

 

Gast

 

Irgendwie hatte ich gestern das Gefühl, dass ich die Reminiscere-Woche schon abgeschlossen hatte, aber der Blick in die Losungen belehrte mich dann eines Besseren.

 

Ich bin nur ein Gast auf Erden.

Psalm 119,19

 

Genau das ist es, was wir gerne vergessen bei aller Selbstverständlichkeit des alltäglichen Lebens. Ich bin nur ein Gast auf Erden. Ich komme und gehe. Und wie ein guter Gast, muss ich das Hotelzimmer wieder ordentlich verlassen. Gast zu sein, heißt verantwortlich mit dem Anvertrauten umzugehen. Gast zu sein, heißt aber auch immer ein Fremder zu sein. Gott hat uns auf dieser Erde das Gastrecht eingeräumt.

 

So wie unser Leib Gott gehört, so gehört auch die Erde mit allen Menschen, die darauf leben, Gott. Und so, wie die Einrichtung dem Besitzer des Hotels gehört, so gehören Wald, Tiere, eben alles Gott und er hat sie uns nur auf Zeit zur Verfügung gestellt, bis ein anderer Gast unseren Platz einnehmen wird.

 

Wenn wir uns daran erinnern, sollte uns klarwerden, dass wir nicht als die Herren oder Herrinnen dieser Welt aufzutreten haben, sondern mit der Bescheidenheit eines guten Gastes. Und so wie in einem Hotel Menschen aus aller Welt mit allerlei Sprachen zusammenkommen und unter einem Dach wohnen, so wohnen auch wir in dieser Welt, auf der wir nur Gast sind.

 

Und so wie es in einem Hotel auch eine Hausordnung gibt, die das Zusammenleben an diesem Ort regelt, hat Gott uns seine Gebote gegeben und seine Weisungen. Gerade gestern war davon noch die Rede. Wie sich doch alles zusammenfügt, wenn man sich nur daran erinnert.

 

Blick in den Spiegel

 

Es ist Sonntag Okuli, der dritte Sonntag der Passionszeit. Und auch diese Woche wird uns noch einmal der Psalm 25 begleiten, denn der Leitvers ist der 15. Vers:

 

Meine Augen sehen stets auf den Herrn.

 

Okuli, die Augen. Es wird in dieser Woche um unsere Augen gehen, um unseren Blick, mit dem wir die Welt wahrnehmen, wo wir hinschauen und wo wir wegschauen. Und natürlich auch um diese Fragestellungen:

 

Wenn wir hinschauen, warum wir hinschaue?

Wenn wir wegschauen, warum wir wegschauen?

 

Daraus wird sich von ganz alleine die Frage stellen: Was ändert sich an unserem Blick und damit auch unserem Handeln, wenn unsere Augen, wenn meine Augen, deine Augen stets auf den Herrn schauen?

 

Fesselt uns dieser Blick? Verleiht er uns Scheuklappen? Nein, er wird unseren Blick weiten, weil wir immer mehr Dinge wahrnehmen werden, die Gott nicht gefallen können.

 

Ja, ich höre gerade den Einwand. Nein, unser Blick darf auch hier nicht nur von uns weggehen, sondern muss sich auch auf uns selbst richten, weil Umkehr immer erst einmal bei mir selbst anfängt. Ich kann nicht andere vom Umkehren überzeugen, wenn ich nicht selbst umgekehrt bin. Mein Umkehren ist ein überzeugendes Zeugnis meines Glaubens.

 

Wir kennen doch die Sache mit dem Splitter im Auge unseres Bruders, ohne den Balken im eigenen Auge zu sehen.

 

Das bedeutet, dass ich in dieser Woche auch einen Blick in den Spiegel werfen muss und gleicherweise einen Blick in den Spiegel meiner Seele.

 

Wo habe ich selbst Gott aus den Augen verloren?

 

Blickkontakt halten

 

Gestern beendete ich meine Notiz ganz provokant mit der Frage: Wo habe ich selbst Gott aus den Augen verloren? Da kommt mir doch gleich die Floskel „Aus den Augen, aus dem Sinn“ in den Kopf, wo durchaus etwas dran ist, wenn ich mir Okuli genauer anschaue.

 

Meine Augen sehen stets auf den Herrn.

Psalm 25, 15

 

Tue ich das nicht, was passiert dann? Genau das, was die kleine Floskel sagt? Ich weiß nicht. Die Gefahr scheint mir aber groß.

 

Irgendwie scheinen doch alle Fragen immer wieder auf das Eine hinauszulaufen und alles Nachdenken über den Glauben sich am gleichen Thema zu entfachen: Der Gottesferne, der Gottvergessenheit, der nächstvergessenen Eigenliebe…

 

Kann es sein, dass ich mich ein wenig um die eigene Achse drehe und ich der Halbzeit der Passionszeit nahe ein wenig niedergeschlagen wirke?

 

Mir wird deutlich, wann immer ich die Zeitung auf meinem Tablet öffne, die Nachrichten sehe und, was weiß ich nicht alles rezipiere, mich an die Propheten des Alten Testaments erinnert fühle. Haben sie nicht alle gemahnt? Haben sie nicht alle vorausgesagt, was passieren wird, wenn man den Blick von Gott lässt?

 

Ist Gott, auf den ja so viele Politiker schwören, nicht mehr als nur noch eine rhetorische Formel? Ist der Druck, der auf jedem einzelnen heute lastet, nicht eine Folge, dass wir den Blick auf Gott verloren haben?

 

Ich weiß nicht, heute gehen mir mehr Fragen als sonst durch den Kopf. Mich bewegt, was in dieser Welt passiert, wo Menschen sich in aller Welt darauf berufen, dass sie das, was sie tun, tun, weil es Gott sagt, es versprochen hat. Nein, ich bin keinesfalls naiv oder frömmelnd realitätsfern, aber wohin ich auch schaue, verlieren wir Menschen trotz aller Globalität, die doch eigentlich genau das ist, was Gott uns geschenkt hat, das Verständnis dafür, dass alles so geschaffen ist, dass es zusammenhängt und wir alle eine gemeinsame Verantwortung tragen.

 

Da machen so viele Länder dieser Erde Verträge miteinander, wie sie zusammenarbeiten wollen oder das Klima schützen wollen. Dabei bräuchten wir doch gar keine Verträge und Abkommen dafür, wie das Klima, die Erde, die Schöpfung Gottes zu schützen und zu bewahren sind, weil es doch schon in der Bibel steht. Es ist uns alles nur geliehen.

 

Da höre ich doch glatt am Wochenende in einer Fernsehsendung, wie eine grüne Politikerin, eine ehemalige Theologiestudentin, den Satz spricht: „Wir haben die Erde nur von unseren Kindern geliehen.“ – Das klingt gut! Das erreicht emotional die Menschen unter uns, die Eltern sind. Doch was ist mit den Singles, oder DINKS, den Double income no Kids? Lassen die sich davon überzeugen? Soweit ich mich erinnern kann, handelt es sich hierbei um eine indianische Weisheit. Wir haben die Welt nicht von unseren Kindern geliehen, sondern von Gott. Da wiegt die Verantwortung noch viel mehr und sie liegt vor allem auf jeder einzelnen Schulter, die es weltweit gibt. Man könnte das auch ganz leicht erkennen, wenn man den Blickkontakt mit Gott halten würde.

 

Wenn ich mir all das anschaue und anhöre, frage ich mich ehrlicherweise, warum die Menschheit uns nicht die Kirchen einrennt, weil Gott doch die Lösung parat hält. Ich glaube, eine Antwort darauf zu haben: Die Menschen wollen sich selbst nicht ändern, sondern wollen, dass andere es für sie ändern. Und das steht hier schon mal fest: Gott will, dass wir es ändern und das macht Gott vielleicht für viele Menschen unattraktiv, weil es deutlich macht, dass die Verantwortung und das Handeln bei einem selbst liegt und Gott dafür aber den Weg weist, den wir gehen sollten.

 

Wenn ich aber Blickkontakt mit Gott halte und mir im Getriebe des Tages die Zeit dafür gebe, nicht nehme, sondern gebe, denn die Zeit für Gott habe ich immer und sei es die berühmte Tasse Kaffee und meinetwegen auch, wenn es sich nicht vermeiden lässt, auf eine Zigarettenlänge, dann erkenne ich den Weg.

 

Wenn ich mir im Spiegel ernsthaft in die Augen schaue, werde ich feststellen, dass es auch immer ein Handeln bedeutet, wenn meine Augen den Herrn sehen, denn wenn ich mit Gott im Blickkontakt bin und er mir wiederum tief in meine Augen schaut, sagt er in der Regel nichts anderes als: „Komm, nun mach schon!“

 

Dem Blick standhalten

 

Es klingt mir noch in den Ohren das: „Komm, nun mach schon!“ – Hat er das wirklich gerade zu mir gesagt? Ich stehe vor dem Spiegel und bin mir nicht so ganz schlüssig, mache noch einmal einen Schritt auf den Spiegel zu und schaue mir ganz genau in die Augen. Komisch, gerade hatte ich noch das Gefühl, dass mir jemand ganz anderes aus dem Spiegel in die Augen geschaut hat.

 

Es gibt so manchmal Situationen und dann frage ich mich, wie das eigentlich so war, wenn Gott jemandem im Traum begegnet ist oder in einem Dornbusch oder wie auch immer. Wie muss ich mir das vorstellen?

 

Meine Augen sehen stets auf den Herrn?

Psalm 25, 15

 

Aber hat Gott nicht einmal zu Mose gesagt, dass man es gar nicht aushalten würde, ihn zu sehen?

 

Ich stelle fest, dass es einfacher ist, in der Bibel zu lesen, dass Gott dem und dem begegnet ist, weil sofort das Kino im Kopf beginnt. Aber mal Hand aufs Herz: Das, was in der Bibel so selbstverständlich erzählt wird, dass Gott zu Abraham, zu Mose oder zu Hiob sprach, nehmen wir ganz selbstverständlich hin. Wie oft haben wir selbst diese Geschichten gelesen, oder spannend im Kindergottesdienst oder den eigenen Kindern erzählt? Eben Geschichten. Aber was würde passieren, wenn ich heute Morgen zur Arbeit gehe und meine Kollegin mich so fragten würde, was es Neues gibt und ich antworten würde: „Gestern Abend hatte ich eine Begegnung mit Gott. Wir standen beide so gegenüber und guckten uns in die Augen und plötzlich sagt der doch zu mir: Komm, nun mach schon!“ – Das Gesicht würde ich doch gerne sehen. Ich vermute mal, sie würde denken, dass ich jetzt vollends spinne oder einfach überarbeitet bin oder doch während der Passionszeit etwas getrunken hätte.

 

Kein Mensch würde es mir glauben. Wobei, spannend wäre auch die Frage, wer es mir glauben würde. Oder fällt so eine Begegnung aus gutem Grund heutzutage unter die Schweigepflicht, weil es sich kein Mensch mehr wirklich vorstellen kann?

 

Nun gut, gehen wir noch einmal zurück auf Anfang. Ich weiß, heute bin ich ein wenig wirr, aber das stört mich nicht. Stellen wir uns ruhig mal vor, wir wären in dieser Situation, Gott säße uns gegenüber und unsere Augen würden auf den Herrn schauen und er würde zu dir sagen: „Komm, nun mach schon!“ – Einmal tief durchgeatmet und ruhig noch ein zweites Mal und dann nach der Tasse Kaffee gegriffen und einen Schluck getrunken, um ein wenig Zeit zu gewinnen. „Mein Gott“, denkst Du dann vielleicht bei Dir: „Jetzt hat er mich in die Verantwortung genommen.“ Du versuchst seinem Blick standzuhalten, denn der seine ist freundlich, kraftvoll, gewinnend und sehr bestimmt. Ich könnte mir vorstellen, dass sich da zuerst der Mose in dir regt und sagt: „Ich bin nicht würdig genug!“ – Wahrscheinlich würde Gott dir das gleiche antworten, wie Mose damals – nur ein wenig direkter: „Junge, Du weißt selbst genau, dass das eine faule Ausrede ist.“

 

„Das habe ich nun davon, dass meine Augen stets auf Dich, mein Gott, geschaut haben.“

 

„Was hast Du erwartet?“

 

„Ja, was habe ich erwartet? Auf jeden Fall nicht, dass Du plötzlich in meinem Wohnzimmer sitzt.“

 

„Damit hättest Du jeder Zeit rechnen müssen.“

 

„Nein, Du bist doch schon seit bald zweitausend Jahren keinem Menschen mehr erschienen.“

 

„Was macht Dich da so sicher. Ich sitze doch jetzt in Deinem Wohnzimmer? Wer sagt Dir, dass ich nicht gestern schon mal bei Deinem Nachbarn gewesen bin?“

 

„Na, der hätte das doch sicherlich erzählt. Der kann doch nichts für sich behalten.“

 

„So? Na, dann sage mir mal, was Du gedacht hättest, wenn der Dir erzählt hätte, wen er gestern Abend zu Besuch gehabt hat.“

 

Tja, in dem Moment musst Du schmunzeln, weil er Dich ertappt hat.

 

„Ok, Du hast mich überzeugt.“

 

„Hast Du eigentlich eine Ahnung, wie anstrengend das für mich geworden ist? Früher hatte ich Propheten, die das für mich gemacht haben. Mit denen habe ich regelmäßig einen Jour fixe gemacht und gesagt, was sie sagen sollen. Das waren noch Zeiten, mit Jesaja oder Jeremia oder Jona. Das war auch kein schlechter Mann. Aber heute gibt es auch bei den Propheten Fachkräftemangel, so dass ich das nun alles alleine machen muss. Jeden Tag Hausbesuche und das in der ganzen Welt.“

 

„Naja, zumindest bekommst Du keinen Jetlag, Dank Deiner Omnipräsenz.“

 

„Da hast Du recht!“ Und nun muss auch der liebe Gott schmunzeln. „Also, mein Sohn“, kommt er wieder zum Thema zurück und schaut Dir in die Augen: „Was ist, kann ich mich nun auf Dich verlassen?“

 

Und schon hat Gott Dir die Vertrauens- oder eher Bekenntnisfrage gestellt. Tja, und was wirst Du nun darauf antworten?

 

Wahrscheinlich wirst Du mit Psalm 25, 15 antworten: „Meine Augen sehen stets auf den Herrn.“

 

Darauf wird Dir Gott wohl antworten: „Dann weißt Du jetzt, was Du zu tun hast.“

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739406138
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2017 (Dezember)
Schlagworte
Umkehr Neuanfang Fastenzeit Buße Erbauungsliteratur Ostern Aschermittwoch Passionszeit Spiritualität

Autor

  • Martin Dubberke (Autor:in)

Martin Dubberke ist Evangelischer Pfarrer in Garmisch-Partenkirchen. Bevor er mit seiner Familie nach Bayern ging, war er Leiter der Stabsstelle Diakonie und Theologie beim Landesausschuss für Innere Mission in Potsdam und Geschäftsführer des Bonhoeffer-Hauses in Berlin. Von 1993 bis 2019 war er Prediger und Pfarrer an der Königin-Luise-Silas-Kirche in Berlin. 1964 in Berlin geboren, studierte er an der Kirchlichen Hochschule in Berlin, der Universität Basel und Humboldt-Universität zu Berlin.
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Titel: Am Aschermittwoch fängt alles an