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Emmi in Korea 2: Umzug mit Hindernissen

von Stephanie Auten (Autor:in)
115 Seiten
Reihe: Emmi in Korea, Band 2

Zusammenfassung

Zwischen Kimchi und K-Pop:
"Emmi in Korea" - Über das Leben einer deutschen Schülerin im fernen Asien

Die Zeit rast!

Nur drei Monate, nachdem die 13-jährige Emmi erfahren hat, dass sie mit ihrer Familie ins südkoreanische Seoul ziehen wird, ist es schon so weit: Der Umzug steht an. Viel schneller, als Emmi lieb ist! Zum Glück darf wenigstens ihre beste Freundin Sina für zwei Wochen mitkommen.
Doch kein Umzug verläuft ohne Hindernisse. Erst recht nicht, wenn das Ziel das andere Ende der Welt ist. Dabei hat Emmi doch schon ganz andere Sachen im Kopf: Wird sie sich in dieser riesigen Metropole zurechtfinden? Und wann wird sie ihren heimlichen Schwarm Jan wiedersehen?

Band 2 der etwas anderen Buchreihe über große Veränderungen, Eltern, Freundschaft und natürlich... Liebe!

Alle sechs Bände sind als E-Book erhältlich:

Band 1: Emmi in Korea - Urlaub mit Folgen
Band 2: Emmi in Korea - Umzug mit Hindernissen
Band 3: Emmi in Korea - Schulstart mit Herzklopfen
Band 4: Emmi in Korea - Herbstferien mit Nervenkitzel
Band 5: Emmi in Korea - Weihnachtszeit mit Pferdefuß
Band 6: Emmi in Korea - Neujahr auf Koreanisch

Leseprobe

Inhaltsverzeichnis


Impressum

© / Copyright: Berlin, 2018 - Stephanie Auten

Anschrift:

Stephanie Auten

c/o AutorenServices.de

Birkenallee 24

36037 Fulda

E-Mail: stephanieauten@posteo.net

Korrektorat: Gitte Riedel

Umschlaggestaltung und -Illustration: Katharina Netolitzky,

https://katharina-netolitzky.jimdo.com/

Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt.

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.


Kapitel 1 – Von Schweinen und Umzügen

„Hast du das Schneiddings schon eingepackt?“ Mama steckt ihren Kopf zwischen den Umzugskisten hervor.

Wie eines von diesen Erdmännchen im Zoo, denkt Emmi und grinst.

„Keine Ahnung, was ein Schneiddings sein soll.“

„Na das“, Mama wedelt mit der Hand in ihre Richtung, „Rolldings zum Schneiden.“ Ihre Stimme klingt dumpf, weil sie den Kopf tief in den Küchenschrank mit den alten Töpfen gesteckt hat.

„Aha“, sagt Emmi und verschränkt die Arme. „Komm Mama, noch ein Versuch.“

Scheinbar angestachelt zieht sie den Kopf, auf dem ihre Haare zu einem hohen Dutt gebunden sind, aus dem Schrank, schnippt mit den Fingern und kneift die Augen zusammen. „Pizzaschneider!“, ruft sie triumphierend und zeigt mit dem Finger in Emmis Richtung.

Emmi kann sich nicht erinnern, dass Mama in den letzten Jahren auch nur einmal in diesen Unterschrank links neben der Spüle geschaut hätte. Aber jetzt scheinen plötzlich alle uralten Töpfe und Pfannen, die Mama mit lautem Poltern aus dem Schrank zieht, für ihren Umzug nach Korea überlebenswichtig zu sein.

„Gibt es in Seoul keine Töpfe zu kaufen?“ Emmi kann sich diese Frage nicht verkneifen, obwohl Mamas Nerven schon seit ein paar Tagen blank liegen. Bereits übermorgen fährt der Umzugswagen vor und der Haushalt von Familie Mayer steht Kopf.

„Bestimmt keine so schönen wie diesen hier.“ Mama zieht ein scheußliches Teil mit orange-rotem Blumenmuster hervor. Der Topf sieht aus, als wäre er älter als Emmi. Deutlich älter. Uralt.

„Der ist doch mindestens so alt wie du, Mama“, sagt sie und nimmt den Topf mit dem sichtbar nach außen geschwungenen Rand in die Hand. Doch auch von Nahem sind die Farbe und das altmodische Blumenmuster nicht hübscher. Manchmal findet Emmi alte Sachen, die sich jahrelang in den Tiefen der Schränke und Schubladen verstecken, ja schön. Bei diesem Exemplar ist das definitiv nicht der Fall.

„Du hast recht“, sagt Mama, als sie Emmis Gesichtsausdruck sieht. „Opa braucht ja auch ein paar Töpfe zum Kochen, wenn er hier einzieht.“

Emmis Kichern wird vom Klingeln an der Haustür übertönt.

„Wenn man vom Teufel spricht.“ Mama steht mit einem Ächzen auf und stellt den scheußlichen Topf auf den Küchentisch.

„Wen meinst du jetzt? Opa oder Benno?“, ruft Emmi, während sie zur Haustür läuft.

Schon jetzt kann sie Bennos Quengeln hören, obwohl sie die Tür noch nicht mal aufgemacht hat. Ihr kleiner Bruder ist in letzter Zeit wirklich anstrengend.

„Na, hast du das Monster erfolgreich müde gemacht?“, fragt Emmi ihren Großvater, während Benno auf wackligen Beinen in den Hausflur tapst, kaum dass Emmi die Tür einen Spalt breit geöffnet hat.

„Ich musste ihm ein Eis versprechen, damit er sich nicht den Kühen zum Fraß vorwirft“, sagt Opa und lässt sich von Emmi einen Kuss auf seine stoppelige Opa-Wange drücken.

„Das Eis haben Mama und ich vorhin aufgegessen“, sagt Emmi und erntet für ihre unbedachte Äußerung prompt einen Aufschrei aus der Küche.

„Bist du wahnsinnig?“, ruft Mama. „Das böse Wort mit den drei Buchstaben kannst du die nächsten zehn Jahre nicht mehr in den Mund nehmen. Vor allem nicht, wenn es alle ist!“

Vergnügt hüpft Emmi hinter Opa in die Küche, wo Benno just in diesem Moment entdeckt, dass auf Töpfe schlagen ganz tolle Geräusche macht.

Schnell schnappt Mama die Topflappen, die glücklicherweise noch an Ort und Stelle hängen und drückt sie Benno in die Hand. Sie atmet tief ein und aus und gießt sich Wasser in ein Glas, nimmt einen Schluck und stellt das Glas direkt neben dem scheußlichen Topf auf dem Küchentisch ab. Sie sieht erschöpft aus.

„Was wollt ihr denn mit Omas Nachttopf?“, sagt Opa und deutet auf das orange-rot geblümte Ungetüm. „Gibt es in Seoul keine Toiletten?“

Als Reaktion auf Opas Frage spuckt Mama das Wasser aus ihrem Mund quer über den Küchentisch.

„Nachttopf?“, fragt sie entsetzt und schiebt den Topf angewidert ein Stück von sich. „Ich kann mich zwar nicht wirklich erinnern, aber ich habe in diesem Topf bestimmt mal was gekocht in den letzten Jahren. Und jetzt erzählst du mir so nebenbei, dass das ein Nachttopf ist?“

„Das hab ich dir bestimmt schon früher mal erzählt“, erwidert Opa gelassen.

„Und warum hätte ich ihn dann in die Küche zu den anderen Töpfen getan?“, gibt Mama gereizt zurück.

„Was ist ein Nachttopf überhaupt?“ geht Emmi dazwischen. Sie ahnt zwar anhand Mamas Reaktion, dass es nicht ums Kochen geht, aber trotzdem kann sie sich unter dem Begriff gar nichts vorstellen. Warum sollte man einen Topf nur nachts benutzen können?

„Du weißt nicht, was ein Nachttopf ist?“, fragt Opa erstaunt. „So jung bist du doch nun auch wieder nicht.“

„Opa, ich bin dreizehn. Nicht dreißig“, gibt Emmi zurück.

„Jetzt, wo du es sagst.“ Opa legt ihr die Hand auf die Schulter. „Also mit dreißig hatte ich ja schon graue Haare. Das lag aber mehr an deiner Mutter als an diesem hohen Alter.“

„Herzlichen Dank“, sagt Mama und taucht wieder in den Küchenschrank ein.

„Was ist denn jetzt ein Nachttopf?“, fragt Emmi ungeduldig.

„Ein Nachttopf“, Opa hat plötzlich seine Märchenonkelstimme aufgesetzt, „stand früher unter fast jedem Bett. Und wenn man nachts mal dringend musste, hat man einfach diesen Topf benutzt und wieder unters Bett geschoben.“

„Oh iieehhh!“ Emmi verzieht angeekelt das Gesicht. „Und warum ist man nicht einfach aufs Klo gegangen?“

Opa lacht herzlich und Emmi fragt sich, ob sie eine komische Frage gestellt hat.

„Habe ich dir mal von unseren Schweinen Frieda und Friedrich auf unserem allerersten Hof erzählt?“

„Ja“, sagt Emmi und runzelt gleichzeitig die Stirn, „aber was hat das mit dem Klo zu tun?“

„Nun ja“, beginnt Opa und streicht sich über die kratzige Wange, „Frieda und Friedrich haben sozusagen unser Klo bewacht.“

In Emmis Kopf postieren sich prompt zwei Schweine in Uniform vor eine Toilettentür. Das ist eine lustige Vorstellung, aber so wird Opa das wohl nicht gemeint haben.

„Aber die Schweine haben doch nicht bei euch im Haus gewohnt, sondern im Schweinestall?“

„Kluges Kind“, sagt Opa. „Und was schlussfolgern wir daraus?“

Solche Fragen- und Antwortspielchen kann Emmi ja überhaupt nicht leiden. Sie kommt sich dabei immer vor wie in einer Prüfung.

„Frieda und Friedrich haben euch zugekuckt beim…“

„Emmi!“, ruft Mama warnend. Sie poltert zwar gerade mit irgendwelchen Töpfen rum, aber wenn es drauf ankommt, hat Mama Ohren wie ein Luchs.

Opa hält sich den Bauch vor Lachen. Emmi mag sein Lachen total gern. Er erinnert sie dann immer an den Weihnachtsmann.

„Verstehst du jetzt?“, fragt Opa, als er sich wieder beruhigt hat.

„Ich glaube schon. Weil ihr nachts keine Lust hattet, in den Stall zu gehen, habt ihr den Nachttopf benutzt.“ Das kann Emmi durchaus verstehen. Sie hat ja nicht mal Lust, aus ihrem warmen Bett die paar Meter bis zum Bad zu trotten.

„Da fällt mir ein, so etwas Ähnliches habe ich gerade über Korea gelesen“, ruft Mama ihnen aus der Küche zu.

Emmi bekommt tennisballgroße Augen. „Wie jetzt? Müssen wir etwa auch nachts in den Stall? Oder auf den Nachttopf?“

Nun hört sie auch Mama aus der Küche lachen und klingt dabei fast genauso wie Opa. Obwohl sie sich sonst überhaupt nicht ähnlich sehen. Während Mama dichte, lange Locken hat, hat Opa kaum noch Haare auf dem Kopf. Die, die übriggeblieben sind, sind grau oder weiß und stehen ihm vor allem hinter den Ohren in lustigen, kurzen Büscheln ab. So sieht er immer ein wenig zerstreut aus.

„Wenn wir auf die koreanische Insel Jeju fliegen – dann vielleicht“, ruft Mama aus der Küche. „Dort soll es ein besonderes Schweinefleisch geben. Es heißt black pork und schmeckt angeblich deswegen so gut, weil das Schwein die Hinterlassenschaften der Menschen auffrisst.“

„Uäh, Mama!“, ruft Emmi aus und kneift die Augen zusammen. Natürlich hat sie sofort das passende Bild im Kopf.

„Das machen die nicht ernsthaft, oder?“

Ganz plötzlich hat sie große Zweifel an der Umzugsentscheidung ihrer Eltern.

„Früher war es zumindest so“, antwortet Mama auf ihre Frage, „aber ich kann dich beruhigen - heute wohl nicht mehr.“

Beruhigend findet Emmi das keineswegs. Wie kann man nur auf so eine Idee kommen? Dass Hausschweine früher bei ihnen mit Abfällen aus der Küche gefüttert wurden, hat sie schon mal gelesen. Aber dass die Schweine…

Emmi schüttelt sich. „Keinen Fuß setze ich auf diese Insel“, sagt sie bestimmt.

„Es soll aber sehr schön dort sein. Dein Vater und ich haben schon geplant, in den Herbstferien hin zu fahren“, erwidert Mama.

„Was? Auf keinen Fall. Ich komme nicht mit.“

„Aber du isst doch sowieso kein Fleisch mehr.“

Ach ja, stimmt. Emmi ist seit drei Wochen Vegetarierin, nachdem sie im Fernsehen zufällig einen Bericht über die Herstellung von Supermarktfleisch gesehen hat. Nur ist das nicht nur für ihre Eltern, sondern auch für sie noch so neu, dass sie es manchmal vergisst.

Emmi dreht sich zu Opa: „War das bei euch etwa auch so?“

„Was denn?“, fragt Opa gespielt ahnungslos. Als ob er nicht genau wüsste, worauf Emmi hinauswill.

„Na, dass ihr euren Schweinen…“

„Uäh, Emmi!“, äfft Opa sie nach. „Selbstverständlich nicht. Wir hatten ein ordentliches Plumpsklo.“

„Was ist denn jetzt schon wieder ein Plumpsklo?“

„Jetzt reicht es mir aber mit diesem Thema!“ Mamas Stimme klingt jetzt deutlich ungeduldiger als vorhin. „Emmi, ich glaube, du kannst dir lebhaft vorstellen, was da ins Klo plumpst.“ Sie wedelt mit den Armen in Richtung Küche. „Helft mir lieber beim Kisten packen!“

„Ich hab aber gar keine Lust“, sagt Opa prompt.

Emmi muss kichern. Sie würde von Mama sofort eine Ansage bekommen, aber Opa kassiert von ihr lediglich ein paar genervte Blicke und eine hochgezogene Augenbraue.

„Warum immer ich? Was ist mit deinem nichtsnutzigen Ehemann?“, fragt Opa und grinst.

„Emmis Vater“, sie zeigt mit dem Finger auf Emmi, als ob die etwas für ihren Vater könnte, „hat sich zur Arbeit verdrückt.“

„Und das an einem Samstag“, erwidert Emmi und verzieht ebenfalls den Mund. Nie würde sie auf die Idee kommen, am Wochenende freiwillig die Schule zu betreten. „Ich hoffe, in Korea muss Papa nicht so viel arbeiten.“

„Ich befürchte, Papa muss in Korea eher mehr arbeiten.“ Mama seufzt und lässt ein wenig die Schultern hängen. „Zumindest von dem, was ich bisher so gehört habe, arbeiten die Menschen in Ostasien deutlich länger als hier.“

„So wie die Schüler bis spätabends zur Nachhilfe gehen?“ Mit einem Grausen erinnert sich Emmi an die Mädchen in Schuluniform, die sie nach 22 Uhr abends aus einer Nachhilfeschule hat kommen sehen.

Unglaublich, dass ihr erster Besuch schon ein paar Monate her ist. Emmi war zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar, dass Seoul bald ihre neue Heimat werden wird. Wie schnell sich das Leben doch ändern kann.

„Warum genau zieht ihr nochmal dorthin“, fragt Opa, „wenn Peter sogar noch mehr arbeiten muss?“

„Weil es für Peter eine tolle Chance ist, sich zu beweisen“, sagt Mama prompt. Und für uns als Familie ist es eine spannende und einmalige Gelegenheit.“ Dieser Satz kommt so schnell aus Mamas Mund, als ob sie ihn sich vorher bereits zurechtgelegt hätte.

„Also, ich für meinen Teil freue mich drauf“, springt Emmi ihr beiseite und Mama scheint sich sichtlich darüber zu freuen.

„Am Anfang war die Vorstellung, so weit weg zu ziehen, schwierig für mich. Aber jetzt kann ich es kaum erwarten!“ Zu gut kann Emmi sich an die Hiobsbotschaft erinnern, als Papa und Mama ihr in diesem Hotel im Osterurlaub vor ein paar Monaten eröffnet hatten, dass Papa ein Jobangebot in Korea hat. Und an die Achterbahnfahrt der Gefühle, die Emmi in den Wochen darauf durchgemacht hatte: Die Bewunderung ihrer Mitschüler und sogar einiger Lehrer für so einen großen, mutigen Schritt einerseits. Andererseits das Drama mit ihrer besten Freundin Sina, der sich Emmi ewig nicht getraut hatte zu sagen, dass sie bald ganz weit wegziehen würde – nur damit Sina es dann durch einen dummen Zufall erfährt.

Und zwar nicht von Emmi.

Sondern von ihrem Klassenlehrer.

Mitten im Unterricht.

Klar, dass Sina supersauer war. Das ging sogar soweit, dass Sina Emmi sogar im Handy blockiert und ihr eine Kiste mit ihren ausgeliehenen Klamotten und Geschenken von früher vor die Haustür gestellt hatte.

Doch letztendlich hat sich Sina wieder eingekriegt.

Dank Timo.

Ach, was wird Emmi nur ohne die beiden machen – Sina, die trotz aller Zickereien der lustigste, aufgeschlossenste und selbstbewussteste Mensch ist, den Emmi jemals getroffen hat, und die somit ganz das Gegenteil zu Emmis eher zurückhaltender, unsicherer Art ist. Und Timo, ihr kluger und witziger bester Freund Timo.

Wobei – bei Timo ist wohl eher die Frage – was wird er nur ohne Emmi machen? Denn dass Timo heimlich in Sina verliebt ist, das weiß nach wie vor nur Emmi.

Wenn Timo wüsste, wie schwer es Emmi fällt, die Klappe vor Sina zu halten. Jeden einzelnen Tag! Und das nur, weil dieser blöde Brief, den Timo Sina geschrieben hat, nie bei ihr angekommen ist. Und Timo sich nicht traut einen neuen Anlauf zu wagen.

Nein, Timo hält es für Schicksal, dass Sina seinen Brief nicht erhalten hat, und für ein – Zitat Timo – weiteres grausames Puzzlestück in seinem verunglückten Leben, in dem er als trauriges Genie ein einsames Leben fristen muss. Und ja, Emmi kann sich ganz genau erinnern, dass er tatsächlich das Wort Genie benutzt hat.

Nun ist Emmi nur noch wenige Wochen in Deutschland und es kribbelt ihr in allen Fingern, Sina gegenüber ein paar Andeutungen zu machen. Nur ein paar klitzekleine. Schließlich ist sie bald weg und Timo muss man eindeutig zu seinem Glück zwingen. Und Sina auch, denn die steht so ganz und gar nicht auf Jungs wie Timo – den netten, aber irgendwie uncoolen Jungen von nebenan. Für Sina muss es der tollste Junge der Schule sein. Obwohl – nachdem Jonas aus der 8. Klasse sie so fies hintergangen hat, hat Sina vielleicht erstmal die Nase voll von den umschwärmten Jungs… Und Timo somit eine Chance?

Hach, was wäre das für ein Happy End! Emmi seufzt so hingerissen über diese Vorstellung, dass sie sowohl von Mama als auch von Opa einen ulkigen Blick kassiert. Sofort ist sie wieder auf dem Küchenboden der Realität.

„Äh, ich soll dir doch helfen“, sagt Emmi schnell um komischen Fragen vorzubeugen, „also, welches Küchendings soll ich jetzt für dich finden?“

****

„Hast du schon gepackt?“

„Soll ich einen Bikini mitnehmen?“

„Machen wir Ausflüge oder sind wir die ganze Zeit in Seoul? Sonst brauche ich noch ein Outfit!“

„Soll ich nicht vielleicht doch noch die weißen Turnschuhe einpacken? Ich weiß, ich nehme schon vier Paar andere Schuhe mit, aber sicher ist sicher.“

Genervt schaltet Emmi das Handy auf lautlos und legt es weg. Jetzt hat sie den ganzen Nachmittag lang mit Mama und Opa Kisten gepackt und wollte endlich ein wenig entspannen. Vielleicht ein Buch lesen, von den wenigen, die nicht schon in einer Kiste verschwunden sind, oder Musik hören. Vielleicht macht sie aber auch einfach nur für ein paar Minuten die Augen zu. Einfach nichts tun.

Mööööp!

Der Vibrationsalarm ist so laut auf Emmis Nachttisch, dass sie zusammenschrickt. Dabei war sie gerade ansatzweise entspannt. Wütend grapscht sie dem Telefon.

„Hast du vielleicht noch Platz im Koffer, Em?“

Wenn Sina so weitermacht, treibt sie Emmi schon ganz bald in den Wahnsinn, wahrscheinlich noch bevor sie das Flugzeug betreten haben. So sehr sich Emmi darüber freut, dass ihre Eltern und Sinas Mutter ihrer besten Freundin den Flug nach Seoul zu ihrem Geburtstag geschenkt haben, um ihnen die Trennung nicht allzu schwer zu machen – Emmi hätte von Anfang an klar sein müssen, worauf sie sich einlässt. In den letzten Tagen hatte Emmi oft den Eindruck, dass Sina aufgeregter ist als sie selbst. Viel aufgeregter! Und das, obwohl dieser Flug nach Seoul für Sina nur eine Reise ist, für Emmi aber ein Neustart in ein völlig neues Leben bedeutet! Und doch kann Emmi Sina verstehen – es ist nicht nur Sinas erste Reise Richtung Asien, es ist ihr erster Flug überhaupt. Klar, dass Sina nicht weiß, was auf sie zukommt. Und dann muss sie auch noch allein zurückfliegen!

Aber muss sie deswegen jetzt schon so durchdrehen?

„Sina, es sind noch SECHS Wochen Zeit bis zur Abreise“, schreibt Emmi. Als einzige Antwort auf alle fünf Nachrichten.

„Ja, aber ich dachte, du könntest schon mal ein paar Sachen im Umzugswagen mitschicken?“, kommt es prompt zurück.

Emmi prustet los, als sie diese Frage liest.

„Und dann? Bringe ich sie dir in zwei Jahren wieder mit, oder wie? Und außerdem, hast du schon mal daran gedacht, dass du dir vielleicht was aus Korea mitbringen willst?“

„Mist, daran habe ich ja noch überhaupt nicht gedacht. Emmi, ich brauche einen leeren Koffer! Emmi du MUSST ein paar Sachen von mir in den Umzugswagen tun.“

Emmi hat die Wahl: Sich weiter von Sina mit Nachrichten zuballern lassen oder ihre Ruhe haben. Das muss sich Emmi nicht zweimal überlegen.

„Okay, bring mir die Sachen vorbei.“

„Awesome!“, antwortet Sina und schickt fünf Emojis hinterher. Seit sie weiß, dass sie mit Emmis Familie nach Südkorea fliegt, passt sie im Englischunterricht besonders gut auf und schiebt an jeder möglichen und unmöglichen Stelle englische Wörter ein.

Kaum hat Emmi das Telefon noch nicht einmal beiseitegelegt, da vibriert es erneut in ihrer Hand.

Und dann nochmal.

„Ahhhhh!“, platzt es aus Emmi heraus. Zum Glück ist sie allein im Obergeschoß. Mama ist noch unten im Wohnzimmer beschäftigt und Papa noch gar nicht zuhause. Sonst hätte einer von beiden bestimmt sofort den Kopf durch die Tür gesteckt.

Widerwillig schaut Emmi auf das Display:

„Gibt es in eurer Wohnung einen Fön?

„Ich brauche unbedingt einen Fön! Ohne Fön sehen meine Haare aus wie der misslungene Filz-Topflappen für Tante Monika.“

Emmi schließt mit einem gequälten Seufzer die Augen und lässt sich rücklings aufs Bett fallen. Sechs Wochen Zeit bis zur Abreise, davon noch vier Wochen Schule – und Sina hat nichts Besseres zu tun, als sich darüber Gedanken zu machen, ob sie einen Fön in ihrer neuen Wohnung haben werden!

Dabei weiß Emmi selbst nicht, wo ihr gerade der Kopf steht. In der Schule stehen jede Menge Tests an, in Englisch muss sie nächste Woche einen zehnminütigen Vortrag halten, und ähnlich wie Mama in der Küche dreht sie seit Tagen jeden Gegenstand in ihrem Zimmer zweimal um und überlegt, ob er in die Umzugskisten soll oder nicht.

Fünf Umzugskisten. F-Ü-N-F! Mehr hat Mama ihr nicht zugestanden. Alles, was Emmi mitnehmen will, muss in diese Kisten passen. Und was nicht reinpasst, bleibt da. Basta. Dabei waren die ersten Kisten schon nach zwei Stunden voll – Emmis Winterklamotten, Schuhe, Schulsachen und zack – nur noch zwei Kisten übrig. Und dabei sind das nicht mal die Sachen, die ihr wichtig sind. Wohin mit all ihren Büchern, ihren Erinnerungen an ihre Freunde, ihre Fotos, ihre Urlaubsmitbringsel? Unmöglich, ihr Leben in fünf Kisten zu verpacken.

Wenigstens ihre Möbel dürfen mit. Sogar Opas Sessel. Ohne den wäre Emmi auch nicht mitgeflogen, auch wenn sie ihn ihren Eltern gegenüber heftig verteidigen musste. Flohschleuder hat Papa ihn genannt. Nur weil er alt ist. Dabei ist das genau der Sessel aus dem Opa ihr früher immer vorgelesen hat, als Emmi noch klein war und Opa auf sie aufgepasst hat. Papa hat einfach überhaupt keine Ahnung, wie wichtig Emmi dieser Sessel ist.

Nur der Kleiderschrank und ihr altes Kinderbett bleiben in Deutschland – Emmis Eltern haben ihr versprochen, dass sie endlich ein neues Bett bekommt. Sie ist sowieso schon längst zu groß dafür. Viel zu groß! Ihre Füße hängen jede Nacht über dem Bettrand. Kein Wunder – sie ist in den letzten Monaten noch weiter gewachsen. 1,63 Meter misst sie jetzt mit ihren dreizehn Jahren und knapp drei Monaten. Und kein Ende ist in Sicht. Mama hat sie schon fast eingeholt, nur noch wenige Zentimeter fehlen ihr.

Manchmal hat Emmi Angst, dass es immer so weiter geht: Monat für Monat, Jahr für Jahr immer weiter wachsen – auch wenn sie weiß, dass das Quatsch ist und vielleicht einfach nur früh in der Pubertät und sie irgendwann nicht mehr größer werden kann. Auf der anderen Seite gibt es doch so Menschen, die wirklich riesig sind – Frauen, die über zwei Meter groß werden und Männer sogar noch größer. Vielleicht ist Emmi eine von ihnen.

Das Handy vibriert laut auf ihrer Kommode. Emmi erschrickt sich zum zweiten Mal heute, aber diesmal ist sie regelrecht dankbar dafür. Emmi schüttelt heftig mit dem Kopf, in der Hoffnung, dass sie damit auch ihre Gedanken abschütteln kann.

„Was ist jetzt mit dem Fön?“

Widerwillig muss Emmi lächeln.

„Ich bin mir sicher, dass Mama einen Fön in die Badumzugskiste gepackt hat.“


Kapitel 2 – Das Umzugsmonster

„Oh. Mein. Gott!“, sagt Mama schockiert.

„Was denn? Ist der Umzugswagen da?“ Emmi kommt neugierig ans Fenster geflitzt.

„Wagen ist gut“, sagt Papa, der ebenfalls schon am Fenster steht. „Es ist eher eine riesige Umzugsschlange. Oder ein Lindwurm.“ Er dreht sich zu Emmi. „Weißt du, was ein Lindwurm ist?“

„Sowas wie Nessie?“, antwortet Emmi, obwohl sie keine Ahnung hat, was Papas Frage mit dem LKW zu tun hat, der da draußen ihre kleine Seitenstraße komplett blockiert und versucht, sich einen Weg in Richtung ihres Reihenhauses zu bahnen. Als wäre der LKW nicht schon groß genug, befindet sich hinter dem Fahrerhaus kein Lastwagen, sondern ein merkwürdiges Gebilde aus zwei extrem langen, dicken Schienen wie bei einer Eisenbahn, auf die zwei überdimensionale geschlossene Boxen aus Metall geschoben sind.

„Das ist unser Umzugswagen?“, fragt Emmi verblüfft, während sie, fasziniert von dem Gefährt, aus dem Fenster starrt. „Den hatte ich mir irgendwie anders vorgestellt.“

„Peter, hast du gewusst, dass die gleich mit Schiffscontainern kommen?“, fragt Mama an Papa gerichtet.

„Wie jetzt, Schiffscontainer? Unsere Sachen kommen auf ein Schiff?“, ruft Emmi erstaunt dazwischen, während sie gebannt beobachtet, wie das Monstrum versucht, inmitten der Parkbuchten und der kleinen Bäumchen, die erst vor ein paar Jahren gepflanzt wurden, hin- und herzurangieren.

Bisher hatte Emmi sich nur dafür interessiert, ob all ihre Sachen in die Kisten passen. Aber wie diese Kisten im Anschluss ans andere Ende der Welt kommen – darüber hatte sie sich überhaupt keine Gedanken gemacht. Bis jetzt.

„Hast du gedacht, jede Kiste sitzt auf einem Platz im Flugzeug und schnallt sich an?“, antwortet ihr Vater ironisch. „Das wäre aber ganz schön teuer geworden.“

Emmi wirft ihm einen bösen Blick zu.

Er bemerkt es und will ihren Kopf tätscheln.

„Lass das!“ Emmi zieht den Kopf zurück. Wie ein Baby kann er Benno behandeln, aber nicht sie.

„Ich geh mal raus. Das kann man ja nicht mit ansehen.“ Papa dreht sich auf der Stelle um und läuft mit zügigem Schritt aus dem Haus. Wahrscheinlich hat er Angst, dass das Monster gleich den Zaun einreißt.

„Papa ist wohl ein bisschen nervös“, sagt Emmi und kichert leise.

„Dabei habe ich den Umzug organisiert und nicht er“, sagt Mama verschmitzt. „Es kann also gar nichts schiefgehen.“ Sie zwinkert Emmi zu und Emmi grinst zurück.

„Also wie ist das jetzt mit dem Meer?“, setzt sie noch einmal an.

„Die Schiffscontainer meinst du? Soweit ich weiß“, beginnt Mama und legt einen Finger an die Nase, „werden die Kisten und Möbel von hier nach Bremerhaven ganz im Norden von Deutschland gebracht. Dort gibt es einen Hafen, von dem aus unser Container mit anderen Containern zusammen auf einem riesigen Schiff an Holland, Spanien und Portugal vorbei Richtung Afrika fahren.

„Wie auf einem Kreuzfahrtschiff?“, wirft Emmi mit gerunzelter Stirn ein.

„So ähnlich“, Mama lächelt. „Nur dass auf diesem Schiff keine Passagiere sind, sondern hunderte von solchen Containern. Dann umrunden sie ganz Afrika und fahren weiter Richtung Indien, Südostasien und dann wieder hoch an China vorbei bis nach Südkorea.“

Emmi ist sprachlos. Sie versucht sich diese Route, die ihren Möbeln und Kisten jetzt bevorsteht, im Kopf vorzustellen. Doch nach der Umrundung von Afrika ist Schluss in Emmis Kopf – sie muss sich eingestehen, dass ihr geografisches Wissen nicht ausreicht, um Mamas Beschreibung vor ihrem geistigen Auge nachzuvollziehen. Sie nimmt sich fest vor, die Route später auf der Weltkarte nachzuschauen.

„Wahnsinn, oder?“, sagt Mama.

„Wahnsinn“, wiederholt Emmi und starrt aus dem Fenster. Papa winkt wie wild dem Fahrer des Umzugstransportes zu. Wahrscheinlich hilft er ihm damit überhaupt nicht weiter. Der Anblick ist zu lustig.

„Und wie lange soll das dauern?“, fragt sie vorsichtig und sieht sich in Gedanken ihre Kisten irgendwann nächstes Jahr in Empfang nehmen. Sie kann sich dunkel an die Geschichte eines Seefahrers erinnern, dessen Namen sie vergessen hat, aber der für so eine Schiffsreise mehrere Jahre gebraucht hat. Gut, das ist aber auch schon eine Weile her. So ein paar hundert Jahre.

„Sechs Wochen laut Umzugsfirma“, beantwortet Mama ihre Frage. „Wenn alles gutgeht.“

Erstaunt blickt Emmi sie von der Seite an. „Was soll denn schiefgehen?“

Mama zuckt mit den Schultern. Auch sie schaut mit einer Mischung aus Faszination und Belustigung auf Papas Tänzchen draußen im Vorgarten mit dem Umzugsmonster. „Die Container können vertauscht werden und in einem anderen Land landen, so wie Koffer im Flugzeug. Oder das Schiff kentert in einem Sturm und die Ladung fliegt von Bord.“

Emmi wird flau im Magen bei dieser Vorstellung. All ihre Sachen plötzlich futsch?

Mama gibt Emmi einen sanften Stoß in die Rippen. „Was schaust du denn so? Unsere Sachen werden schon nicht an irgendeiner einsamen Insel angespült. Und wenn doch…“

„Dann ziehen sich die Affen unsere Schlüpfer über den Kopf“, beendet Emmi den Satz.

Mama prustet los und lacht ein lautes, befreites Lachen.

„Komm, Emmchen“, sie zieht Emmi in Richtung Tür, „lass uns die Umzugsleute vor deinem Vater retten!“

****

„Sag mal, Em…“

Eigentlich hatte Emmi jetzt erwartet, dass Sina sie zum hundertsten Mal fragt, ob es in der neuen Wohnung in Korea einen Fön geben wird, denn ohne Fön sehe sie aus wie ein ungeschorenes Alpaka. Aber von Sina kommt nichts mehr.

Es sind immer noch drei Tage bis zu ihrem großen Tag - ihrer Abreise nach Seoul. Die Schule ist schon seit anderthalb Wochen vorbei, der Container mit ihren Sachen seit Wochen unterwegs. Emmi hat sich erstaunlich gut daran gewöhnt, ein halbleeres Zimmer zu betreten. Eigentlich findet sie es sogar ganz gut, nicht mehr so viel Kram zu haben. Ihr Zimmer wirkt jetzt irgendwie freundlicher, einladender. Außer Opas Sessel, der fehlt ihr sehr.

„Ja, es wird einen Fön geben in der neuen Wohnung, wenn der Umzugscontainer ankommt und nein, ich habe keinen Platz mehr in meinem Koffer für ein siebtes Paar Schuhe“, antwortet Emmi automatisch ohne aufzusehen und blättert eine Seite in Mamas Frauenzeitschrift um, die sie von zuhause mit an den See genommen hat.

Es wird der letzte Tag in diesen Sommerferien sein, den sie zusammen an diesem See verbringen werden. Morgen und übermorgen stehen für Emmi, Benno und ihre Eltern die letzten Besuche an. Opa hat darauf bestanden, ihnen ein letztes Mal seine Kartoffelsuppe nach Omas Rezept zu kochen. Timo will noch einmal mit Emmi Videospiele zocken. Tante Barbara will Emmi und Benno zu ihrem Leidwesen unbedingt noch einmal in die Wange kneifen.

Alles passiert zum letzten Mal. Als ob sie nie wiederkehren würden.

Emmi versucht, diese Gedanken so gut es geht aus ihrem Kopf zu verdrängen. Aber je näher die Abreise rückt, desto dramatischer verhält sich Emmis Umfeld. In der Schule hat sie sogar ein kleines Abschiedsbuch mit grünem Einband von ihren Mitschülern bekommen, in der alle aus der Klasse eine Seite persönlich für sie gestaltet und ein paar Worte geschrieben haben. Emmi war richtig beeindruckt. Sogar Leon, der bisher für Emmi nie mehr als einen dummen Spruch übrig hatte, hat sich zu ein paar hingekrakelten Worten herabgelassen – nämlich sinngemäß, dass sie ja eigentlich ganz in Ordnung ist.

Herzlichen Dank, Leon.

Auch die meisten ihrer Lehrer haben sich die Mühe gemacht, ein paar Worte zu schreiben. Allen voran ihr Klassenlehrer, Herr Althaus, der es immer noch nicht geschafft hat, sich ein paar neue Hosen zuzulegen und deswegen wohl den Spitznamen Herr Althos auch noch haben wird, wenn Emmi in ein paar Jahren aus Korea wieder zurückkommt.

„Mit deiner ruhigen, zurückhaltenden Art warst du ein wichtiger, ausgleichender Bestandteil der Klassengemeinschaft, hat Herr Althos ihr ins Buch geschrieben.“

Aha.

Genau das, was man mit 13 hören möchte.

Und genau das, was in einer neuen Klasse bestimmt super Eindruck macht.

„Das ist es nicht“, sagt Sina plötzlich und holt Emmi aus ihren Gedanken an ihre ausgleichende Wirkung zurück in die Realität.

„Was?“, fragt Emmi verwirrt. Von der Sonne geblendet, blinzelt sie mit fragendem Gesicht zu Sina hinüber, die sich gerade vom Bauch auf den Rücken dreht. Die Sonnenstrahlen tauchen Sinas beneidenswert braunen Bauch in ein goldenes Licht. Emmi bleibt leider konstant käseweiß, obwohl sie es jedes Jahr aufs Neue versucht mit der Bräune. Kann ja sein, dass ihr Körper den Kampf gegen das Sonnenlicht irgendwann aufgibt.

Emmi dreht sich ebenfalls auf den Rücken und stützt ihre Arme auf. Tapfer versucht sie, den Anblick ihrer viel zu dünnen Beine zu ignorieren, die deutlich länger herausstaken als Sinas wohlgeformte und zudem noch braungebrannten Beine. Wie zwei unfrittierte Pommes, denkt Emmi. Und zwar die dünnen.

Schnell legt sie ihre Beine flach auf die Decke und lenkt ihren Blick auf die vielen Leute im Wasser. Es ist ein heißer Julitag, die Luft scheint zu brennen. Selbst hier am Wasser ist kaum ein Windhauch zu spüren. Ob sich die Leute auch solche Gedanken über ihr Aussehen machen?

„Na, der Fön“, sagt Sina. Dann ist sie wieder still und starrt aufs Wasser.

Emmi braucht ein paar Momente um zu begreifen, was Sina meint: Sie fragt also nicht schon wieder nach dem Fön. So weit, so gut. Emmi wartet ein paar Sekunden ab, aber von Sina kommt nichts mehr.

„Wenn du in diesem Tempo weitersprichst“, sagt Emmi trocken, „dann hab ich den Witz längst vergessen, bevor du die Pointe erzählt hast.“

Sina schaut Emmi verwirrt an. „Kein Witz“, sagt sie ernst. Sie scheint wirklich mit ihren Gedanken ganz woanders. Ob es mit Emmis Umzug zu tun hat?

„Also, was ist los?“ Emmi setzt sich auf und schaut Sina auffordernd an.

Sina atmet tief aus.

„Okay,“ sagt Emmi abgeklärt, „in welchen Typ aus der Schule hast du dich jetzt schon wieder verkuckt? Doch nicht etwa wieder in Jonas? Sag mir, dass es nicht schon wieder Jonas ist! Er hat dir mehr als genug wehgetan.“

Sina schaut sie erstaunt an. „Woher weißt du, dass es darum geht? Vielleicht geht es auch um was ganz Anderes?“

„Sina, ich kenne dich, seit ich geradeaus laufen kann. Wenn du so ausseufzt, geht es immer darum.“

„Was soll das denn heißen?“, fragt Sina eingeschnappt. „Ich denke nicht immer nur an Jungs“, sagt sie betont und schiebt dann kleinlaut hinterher: „Und nein, Jonas ist es nicht.“

„Da bin ich aber erleichtert“, sagt Emmi und meint es auch so. Sie angelt nach ihrer Tasche und holt die Sonnencreme heraus.

Sina war mehrere Wochen überhaupt nicht zu gebrauchen gewesen, nachdem herauskam, dass Jonas aus der achten Klasse neben ihr noch eine weitere Freundin hatte - und mit beiden vor seinen Kumpels kräftig angab.

Und Emmi hatte sich wieder einmal vorgenommen, niemals auf solche Typen reinzufallen. Ob Jan…

„Es ist Timo.“

Platsch!

Emmi hat vor Überraschung die Tube so fest zugedrückt, dass sich nun ein riesiger See aus Sonnencreme auf ihrem Bauch befindet. Selbst bei ihrer Körperlänge würde der wohl für drei Emmis reichen.

„Bitte was?“, fragt Emmi, während sie entgeistert auf den See schaut – den weißen, auf ihrem Bauch.

Sina kichert. „Du hast schon richtig gehört.“ Sie schaut auf Emmis Bauch, auf dem die Sonnencreme sich langsam an den Seiten ausbreitet. „Und wenn du das nicht sofort verschmierst, siehst du gleich aus wie eine geschmolzene Buttercremetorte.“

Sina tatscht mit beiden Händen nacheinander in Emmis Bauchsee und verteilt die helle Creme, die nun dick an ihren Händen klebt, großflächig auf ihren Beinen. Emmi tut es Sina gleich, und obwohl ihre Beine nun noch weißer aussehen als vorher, hat Emmi immer noch einen kleinen See auf dem Bauch.

„Willst du gar nicht wissen, wie ich das meine?“, fragt Sina gespielt beiläufig, tatscht erneut auf Emmis Bauch und reibt nun ihre Schultern ein.

„Das mit Timo?“, fragt Emmi, um Zeit zu gewinnen. Denn eigentlich kann Emmi sich ja bereits denken, worauf Sina hinauswill. Auf Timos Brief.

Emmi weiß es, Timo weiß es, nur Sina wusste es nicht.

Bis jetzt.

„Du willst mir doch jetzt nicht etwa beichten, dass du in Timo verliebt bist, oder?“, fragt Emmi gedehnt und überlegt im gleichen Moment, ob das nicht viel überraschter hätte rüberkommen müssen.

„Ach Quatsch. Pfff“, antwortet Sina sofort.

Emmi ist erleichtert, dass Sina ihre verhaltene Reaktion anscheinend nicht aufgefallen ist. Noch mehr unfreiwillig gelüftete Geheimnisse kann ihre Freundschaft nach den letzten Monaten gerade wirklich nicht vertragen.

„Pfff?“, hakt Emmi nach und grinst Sina breit an. „Was soll denn pfff heißen?“

„Pfff heißt, doch nicht in Timo. Ich doch nicht“, antwortet Sina und schaut demonstrativ von Emmi weg. „Timo ist schließlich…“

„Timo?“, beantwortet Emmi ihren Satz.

„Genau.“

Eine Weile starren beide auf den See. Ein kleines, fast unmerkliches Lüftchen versetzt die Bäume um das Wasser in leichte Schwingung. Der Himmel hat ein nahezu unnatürliches Blau, das durch das Weiß der kleinen Schäfchenwölkchen noch verstärkt wird. Schreien und Quieken von Kindern im Wasser drängt an Emmis Ohr. Emmi zieht die Knie an ihren Oberkörper. Der Duft der Sonnencreme zieht zu ihrer Nase hoch.

Es ist perfekt.

Emmi seufzt ebenso tief, wie Sina gerade geseufzt hat.

„Also, jetzt mal Klartext“, sagt sie schnell, bevor sie Gefahr läuft, plötzlich loszuheulen. „Was ist mit unserem Timo?“

„Er hat mir einen Brief geschrieben.“

Na endlich!, schießt es Emmi in den Kopf und sie muss sich zusammenreißen, das nicht auch laut auszusprechen.

Es war kurz nach den Osterferien. Emmi war gerade mit ihrer Familie aus Korea zurückgekehrt, als Timo ihr urplötzlich gestanden hatte, dass er in Sina verliebt sei. Und ihr sogar einen Brief geschrieben hätte. Jedoch habe sie nie reagiert. Timo war der felsenfesten Überzeugung gewesen, dass sie ihn nicht wolle, weil er eben… nur Timo war.

Emmi hingegen war der Meinung gewesen, dass Sina den Brief gar nicht erhalten hatte. Schließlich hätte Sina es nie im Leben geschafft, Emmi nichts davon zu erzählen.

Und sie hat Recht gehabt! Emmi kann es kaum erwarten, Timo diese Neuigkeiten aufs Brot zu schmieren.

„Ein Brief?“ Emmi zieht ihre Stimme betont nach oben. „Warum schreibt Timo dir einen Brief? Ist sein Handy kaputt?“ Emmi kommt sich selbst ein bisschen doof vor, aber ihr fällt in diesem Moment nichts Besseres ein.

Sina wirft ihr einen komischen Blick zu. „Nein“, sagt sie langsam, „Timo ist halt von der romantischen Sorte.“

„Wie jetzt, romantisch?“ Wieder zieht Emmi die letzte Silbe nach oben in der Hoffnung, damit komplette Ahnungslosigkeit vortäuschen zu können. Dabei hat sie das Gefühl gleich zu platzen.

„Jetzt stell dich doch nicht so doof an“, sagt Sina prompt. „Timo hat mir einen Brief geschrieben, in dem er mir gestanden hat, dass er in mich verliebt ist!“

„Nein!“, ruft Emmi theatralisch aus und muss sich beherrschen, nicht loszulachen. „Ich hatte ja keine Ahnung! Timo? Verliebt? In dich?“

Wieder erntet sie von Sina einen schrägen Blick?

„Hast du irgendwas gemerkt?“, schiebt Emmi schnell hinterher. „Ich meine vorher, in den letzten Wochen oder so.“

„Nein“, Sina schüttelt ihre Locken und nagt an ihrem Daumennagel. „Du etwa?“

Soll das jetzt eine Fangfrage sein?

„Nein“, sagt Emmi schnell.

„Das Schlimmste ist“, fährt Sina fort, „dass er mir den Brief vielleicht schon vor Wochen geschrieben hat und ich wusste nichts davon.“

Jetzt wird es langsam interessant, denkt Emmi und schaut Sina mit einem gespielt ahnungslosen Gesicht an. „Wie kommst du darauf? Also, dass der Brief schon älter ist?“

„Ich habe den Umschlag beim Packen wiedergefunden, als ich mein Zimmer auf den Kopf gestellt habe, um zu schauen, was ich alles für die Reise brauche.“

Emmi zieht eine Augenbraue nach oben – den Anblick von Sinas Zimmer kann sie sich lebhaft vorstellen.

„Meine Mum hatte ihn mir gegeben und gesagt, es sei bestimmt die Einladung zum Geburtstag meiner kleinen Cousine.“

Sina steckt einen Finger in den dünn aufgeschütteten Sand und beginnt, kleine Kreise zu malen, während sie weiterspricht: „Es stand nur Für Sina drauf und die Schrift sah laut Mum aus wie die Schrift meiner Tante.“

Emmi denkt nach. Sie kennt Sinas Familie ebenso gut wie umgekehrt. „Hat deine kleine Cousine nicht erst im September Geburtstag?“

„Meine Tante schickt die Einladungen immer so früh, damit sich keiner eine Ausrede einfallen lassen kann.“

„Ah“, macht Emmi und grinst.

„Zumindest war das vor vielen Wochen und so lang hat der Brief wohl in meinem Zimmer rumgelegen.“

Monaten, denkt Emmi, Monaten.

„Und jetzt hast du ihn also wiedergefunden und festgestellt, dass er gar nicht von deiner Tante ist, sondern von Timo“, fasst Emmi zusammen.

Sina nickt.

Emmi wird einiges klar. Deswegen hatte Sina Emmi gegenüber nie ein Wort über den Brief verloren. Sie hatte wirklich keine Ahnung.

Was Timo wohl dazu sagen wird?

„Und jetzt?“, fragt Emmi und schaut Sina aufmerksam ins Gesicht. „Wie wirst du reagieren?“

„Keine Ahnung.“ Sina zuckt mit den Schultern. „Ich will Timo nicht vor den Kopf stoßen. Und die Vorstellung, ihm zu begegnen, finde ich komisch. Ich bin froh, dass Ferien sind. Dann kann ich ihm aus dem Weg gehen.“

„Aber du kannst doch nicht nicht reagieren. Das wäre gemein ihm gegenüber.“

„Aber ich kann zumindest noch ein paar Tage so tun, als hätte ich den Brief nicht gefunden, oder? Zumindest, bis ich aus Korea zurückkomme.“ Sina schaut Emmi direkt in die Augen. „Du verrätst mich doch nicht, oder?“

Emmi zögert.

Das heißt, sie darf Timo doch nichts erzählen? Zwei Geheimnisse auf einmal?

„Emmi?“, fragt Sina und schaut sie mit warnendem Blick an.

„Nein…“, sagt Emmi widerwillig. „Natürlich verrate ich dich nicht. Aber du hast da was vergessen.“

„Was denn?“ Sina runzelt die Stirn.

„Timo wird auf jeden Fall am Flughafen sein, wenn wir abfliegen.“

****

„Warst du heute mit Sina am See?“, fragt Timo, während er sich weit nach rechts lehnt. Als ob das dem Rennauto auf dem Bildschirm helfen würde, die Kurve besser zu kriegen.

„Ja, das letzte Mal vorm Abflug.“ Sofort nachdem sie diese Worte gesagt hat, muss Emmi schlucken. Zum Glück ist ihr Auto gerade dabei, frontal gegen eine Mauer zu fahren, so dass sie sich darauf konzentrieren muss, ihr Fahrzeug wieder in die richtige Richtung zu navigieren. Ob sie in Seoul auch jemanden finden wird, mit dem sie zocken kann? Vielleicht Jan?

Zack. Da ist sie doch gegen die Wand gefahren. Sie muss diesen Jan unbedingt aus ihrem Kopf bekommen. Sonst nimmt es kein gutes Ende mit ihr – nicht nur in diesem Computerspiel.

„Warum habt ihr mich nicht mitgenommen?“, fragt Timo plötzlich.

Erstaunt schaut Emmi ihn von der Seite an. Wenn Timo konzentriert ist, kneift er immer die Augen zusammen, die dann durch seine Brille noch kleiner wirken. Das hat Emmi schon oft in Klassenarbeiten beobachtet, als sie noch neben ihm saß und von ihm abgucken wollte. Es ist ihr vorher noch nie aufgefallen, aber jetzt findet sie es irgendwie… niedlich.

„An den See?“, fragt sie verwirrt. „Du bist doch noch nie mit an den See gekommen? Du hast immer gesagt, du bevorzugst… wie waren deine Worte nochmal?“, Emmi muss sich kurz konzentrieren, um sich an Timos Worte zu erinnern und schließt die Augen, „die Zurschaustellung der eigenen Intelligenz anstatt der Zurschaustellung des eigenen Körpers.“ Sie öffnet die Augen wieder und blickt Timo triumphierend an, stolz darauf, sich richtig an seine Worte erinnert zu haben.

Timo nickt anerkennend und grinst. „Was soll man auch sagen, wenn man eine Hühnerbrust und einen Rundrücken hat.“

Darüber muss Emmi so laut lachen, dass ihr die Tränen in die Augen schießen. Es braucht ein paar Momente, bis sie sich beruhigt hat. Die Vorstellung ist auch einfach zum Schreien.

Timo steht von der Couch auf.

„Nicht, dass du denkst…“, sagt sie schnell und schnappt nach Luft, „dass ich über dich lache. Im Gegenteil, ich…“

„Schon klar“, sagt Timo trocken und reicht ihr ein Taschentuch. „Du lachst mit mir.“

Sein Gesichtsausdruck verrät ihr, dass Timo nicht böse auf sie ist. Erleichtert atmet Emmi ein paar Mal ein und aus, ihr Lachflash klingt ab.

„Aber ich trainiere jetzt.“ Timo stellt sich übertrieben aufrecht hin und reißt die Arme nach oben.

Emmi unterdrückt ein Grinsen. „Echt, du machst Sport? Das hast du doch gar nicht nötig!“

Hoffentlich ist Timo gleich nicht wirklich beleidigt. Aber die Vorstellung, dass jemand wie Timo, dessen Bauchmuskeln weicher sind als Pudding, die Hanteln schwingt, ist ungefähr so schräg, wie wenn Emmis Lieblingsfarbe auf einmal Pink wäre.

„Und warum machst du jetzt Sport?“, fragt sie neugierig nach.

„Um den girlies zu gefallen.“

Emmi verzieht das Gesicht. „Dann solltest du sie zuallererst nicht girlies nennen. Gehst du etwa ins Fitnessstudio?“

Timo lässt die Schultern hängen und sieht wieder aus wie der gute alte Timo.

„Um ehrlich zu sein, hat mich meine Mutter zur Krankengymnastik geschickt.“

Emmi prustet erneut los, aber Timo lässt sich auch diesmal nicht irritieren.

„Dort mache ich jetzt zweimal in der Woche Übungen“, fährt er fort und grinst. „Gegen meinen Rundrücken. Das klingt aber nicht so sexy wie trainieren. Deswegen sage ich, ich gehe trainieren.“

„Aha“, macht Emmi und wischt sich schon wieder ein Lachträne aus dem Augenwinkel.

„Und außerdem ist es echt anstrengend!“

„Wie oft warst du denn schon da?“

Timo verschränkt die Arme vor der Brust und setzt einen stolzen Blick auf: „Zweimal.“

„Wow!“, macht Emmi und schaut ihm amüsiert zu, wie er seine nichtvorhandenen Armmuskeln anspannt. Sie hält es für wahrscheinlicher, dass Timo zusammenbricht, wenn er eine 5-Kilo-Hantel anhebt.

„Die Physiotherapeutin hat mir versprochen“, fährt er mit leuchtenden Augen fort und scheint sich vor seinem geistigen Auge schon als Sieger eines Bodybuilding-Wettbewerbs zu sehen, „dass ich größer erscheine, wenn ich fleißig trainiere. Dann werde ich mindestens so groß sein wie Sina! Also das bin ich ja sowieso schon“, schiebt er schnell hinterher und wird rot. „Es… fällt nur nicht auf wegen…“, er zeigt auf seinen Rücken. Dann auf seine Schultern und auf seinen Bauch. Schließlich lässt er es sein und lässt grinsend die Arme sinken.

Auf das Stichwort Sina hat Emmi gewartet. Sie scheint als Einzige Timos Geheimnis zu kennen, nur bei ihr kann er offen über seine Gefühle zu Sina sprechen. Und Emmi hat ihm versprochen, dass er das auch weiterhin tun kann, wenn sie in Korea ist. Nur dann halt über das Handy.

„Wenn ich mindestens genauso groß bin und nicht mehr so ein Schlaffi, dann wird Sina gar nicht mehr anders können, als sich in mich zu verlieben, meinst du nicht auch?“ Timo verschränkt erneut die Arme vor seiner Brust und nickt kräftig, wie um sich selbst zu bestätigen.

Emmi schaut Timo mit einem liebevollen Blick an. Sie wird ihn vermissen, ihren witzigen und wortgewandten und klugen Timo. „Na, wenn das keine Motivation ist“, fährt sie fort und klopft Timo auf die schmale Schulter. „Und wenn du erstmal meine Größe erreicht hast…“

Emmi überragt Timo und Sina deutlich. Schon immer war das so. Und irgendwie kommt es Emmi so vor, als ob der Unterschied auch nicht kleiner wird, je älter sie werden.

„Dann wird Sina selbstverständlich nie wieder einen anderen anschauen“, beendet Timo Emmis Satz und setzt ein schiefes Lächeln auf. „Leider passiert das bei dem Tempo, in dem ich wachse, frühestens zu meinem 30. Geburtstag.“

„Ach Quark“, sagt Emmi aufmunternd, „denk nur mal an Luca aus der Klasse über uns. Der kam aus den Sommerferien zurück und war plötzlich zwei Köpfe größer als vorher.“

Timo sinkt wieder in sich zusammen. „Ich bin in diesen Sommerferien noch nicht mal zwei Fingernagelbreit gewachsen. Im Gegensatz zu allen anderen Jungs in unserer Klasse wahrscheinlich.“

„Die Sommerferien sind ja auch noch nicht mal zwei Wochen alt. Kopf hoch, da geht noch was!“ Emmi überlegt fieberhaft, wie sie Timo aufmuntern kann. Soll sie ihm erzählen, dass Sina seinen Brief doch noch gefunden hat? Aber dann will er bestimmt ganz genau wissen, was sie gesagt hat und wie sie es gesagt hat und was sie dabei getan hat und so weiter. Und dann muss sie zugeben, dass Sina lieber so tun will, als hätte sie den Brief nicht gefunden.

Emmi verwirft die Idee schnell wieder. Stattdessen kommt ihr etwas anderes in den Sinn und sie springt vom Sofa auf: „Komm, anstatt unseren letzten Nachmittag auf der Couch zu verbringen, zeig mir lieber deine Übungen!“ Herausfordernd stemmt sie die Arme in die Hüften. „Je schneller du dich vom Affen zum Menschen aufrichtest, desto besser, oder?“

Kapitel 3 – Kein Zurück

Papa räuspert sich. „Das war’s dann wohl“, sagt er mit belegter Stimme.

Täuscht sich Emmi oder versucht er gerade, ein paar Tränen wegzuschlucken?

Wer auf jeden Fall heult, ist Mama. Und Opa. Und Emmi.

Nur Benno nicht, obwohl der sonst zu jeder Gelegenheit heult. Aber wenn er wüsste, worum es geht, würde er bestimmt auch heulen. So schaut er nur mit großen Augen von einem zum anderen und scheint sich darüber zu wundern, warum er heute nicht der alleinige Mittelpunkt der Aufmerksamkeit ist wie sonst.

„Der Apfelbaum in eurem Garten hat vorhin schon laut aufgeatmet, als ihr endlich abgefahren seid“, sagt Opa mit wässrigen Augen. „Ich habe ihm versprochen, dass ihr so schnell nicht wiederkommt.“

Emmi wirft sich mit einem Ruck an Opa und klammert sich an ihm fest.

„Uff“, macht er und drückt Emmi ebenfalls an sich. „Wenn ich auf euer Haus aufpassen soll, dann musst du mich ganz lassen.“

„Kannst du nicht einfach mitkommen, Opa? Das Haus braucht keinen Aufpasser. Und du bist doch jetzt Rentner und hast nichts mehr zu tun.“

Opa schiebt Emmi von sich und sagt gespielt entrüstet: „Nichts mehr zu tun? Du machst Scherze! Jetzt, wo ich in Rente bin, kann ich endlich tun und lassen, was ich will. Und das ist eine ganze Menge.“

„Zum Beispiel?“, fragt Emmi, „dem Apfelbaum beim Wachsen zusehen?“

„Emmi, werd nicht frech!“, schaltet sich Mama ein.

„Bin ich doch gar nicht“, sagt Emmi trotzig und wirft Mama einen bösen Blick zu. „Ich will nur, dass Opa mit uns kommt. Mehr nicht.“

Opa streicht ihr über den Kopf und beugt sich zu ihr runter. „Ich schau mir erstmal an, wie es euch in der ersten Zeit da drüben so geht und ob ihr nicht in ein paar Monaten wieder auf der Matte steht, weil ihr ohne Pumpernickel und saure Gurken nicht leben könnt.“

Emmi verzieht das Gesicht, sagt aber nichts.

Opa zwinkert Emmi zu. „Und wenn ihr dann immer noch da seid, dann komme ich euch vielleicht besuchen.“

„Wirklich?“ Emmis Gesicht hellt sich auf. „In ein paar Monaten kommst du uns besuchen?“

„Wenn der Apfelbaum mich lässt“, sagt Opa und grinst, doch seine Augen sehen traurig aus.

Emmi bricht es das Herz.

Ein Alltag ohne Opa – Emmi kann sich noch gar nicht vorstellen, wie das werden soll. Schließlich geht er bei ihnen ein und aus, seit Emmi denken kann. So oft hat er auf sie aufgepasst, sie vom Kindergarten abgeholt, Nachmittage mit ihr verspielt.

Dicke Tränen fließen Emmi aus den Augen. Sie umarmt ihren Großvater erneut. „In ein paar Monaten, ja?“, flüstert sie ihm zu. Aber selbst ein paar Monate fühlen sich für sie gerade verdammt lang an.

Während sie ihr Gesicht in Opas Schulter vergräbt, versucht sie, die Tränen wegzublinzeln, und betrachtet die kleine Truppe von Besuchern um sie herum, die gekommen sind, um Sina und ihre Familie in das große Abenteuer zu verabschieden.

Papa steht bei seiner Schwester und Emmis Tante Kathrin und Emmis vier Jahre älterer Cousine Hanna, die extra zwei Stunden zum Flughafen gefahren sind um ihnen auf Wiedersehen zu sagen.

Auf Hanna hätte Emmi ja verzichten können, aber naja. Hanna war ein Jahr in Amerika als Austauschschülerin und hat Emmi vorhin schon ein Ohr abgekaut, worauf sie alles achten und was sie alles wissen muss. Stichwort Beliebtheit an der Schule und so. Dabei ist Südkorea nicht die USA und die kleine deutsche Schule keine High-School.

Aber wenigstens Papa scheint sich sehr zu freuen, dass Tante Kathrin da ist, denn er tätschelt unaufhörlich ihre Schulter.

Mama steht in einem kleinen Grüppchen und unterhält sich leise, aber angeregt mit Timos Eltern, die in den letzten Jahren gute Freunde von Mama und Papa geworden sind, und Sinas Mum, die mitgekommen ist, um Sina auf ihre erste große Reise zu verabschieden. Sie scheint ebenso nervös und überdreht zu sein wie Sina und redet gerade ununterbrochen auf Mama ein. Emmi kann ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Sie weiß nur zu gut, dass man bei Sinas Mutter so schnell nicht mehr zu Wort kommt, wenn sie einmal losgelegt hat. Dabei hat Mama bestimmt keinen Nerv, andere zu beruhigen. Heute Morgen bei ihrem letzten, provisorischen Frühstück in ihrer alten Küche mit je einem Becher Joghurt und dem letzten Rest Müsli hat Mama erzählt, dass sie die ganze Nacht vor Aufregung kein Auge zugetan hat. Emmi ging es nicht anders und Sina auch nicht.

Apropos – wo ist Sina überhaupt? Und Timo? Ihren riesigen Koffer hat Sina mit dem anderen Gepäck bereits abgegeben. 23,0 Kilogramm hat der Koffer gewogen und damit das maximal zugelassene Gewicht für einen Koffer auf einem Langstreckenflug auf das Gramm genau erreicht. Keine Ahnung, wie Sina das gemacht hat. Emmis Koffer hatte knapp 18 Kilo, und schon den hat sie kaum zubekommen.

Suchend blickt Emmi sich um und findet ihre beiden besten Freunde, wie sie mit ein paar Schritten Abstand zum Abschiedskomitee beieinander stehen. Emmi zieht erstaunt die Augenbrauen nach oben. So wie sich Sina und Timo gerade verhalten – ohne, dass Emmi verstehen kann, was die beiden zueinander sagen – so rein von ihrer Körpersprache, ihrer Mimik und Gestik könnte man meinen, dass sie sich gern mögen.

Sehr gern.

Mehr als Freunde gern.

Und zwar nicht nur von Timos Seite. Auch Sina verhält sich irgendwie… anders als sonst.

Fast schüchtern wirkt sie mit den überkreuzten Armen und Beinen. Sie lacht konstant über das, was Timo zu ihr sagt, aber es ist nicht das laute, überdrehte Sina-Lachen. Dann würde sie Timo nämlich jetzt auf den Rücken hauen und der müsste aufgrund seiner schmächtigen Statur wahrscheinlich anfangen zu husten.

Emmi überlegt, woran Sina sie gerade erinnert, mit ihrer ungewohnt scheuen, niedlichen Art.

Ein Reh.

Sina wirkt wie ein Reh.

Merkwürdige Art, Timo und sein Liebesgeständnis so gut es geht zu ignorieren. Oder ist das etwa ihre Art, ihm nicht wehtun zu wollen? Indem sie sanft und geradezu liebevoll mit ihm umgeht? Wenn ja, dann könnte er das ganz schnell in den falschen Hals bekommen.

Emmi nimmt sich vor, im Flugzeug mit Sina darüber zu reden und schaut zu Timo. Täuscht sie sich oder wirkt er tatsächlich schon ein bisschen größer, ein bisschen gerader als sonst? Haben die dreimal Sport etwa so einen durchschlagenden Erfolg gehabt? Oder gibt er sich schlicht und einfach mehr Mühe, das Kreuz durchzudrücken als sonst?

Was für ein Abschiedsgeschenk wäre es für Emmi, wenn sie wüsste, dass ihre beiden besten Freunde zusammenkommen würden! Ohne dass Emmi das dritte Rad am Wagen wäre.

Ohne Eifersucht.

Denn sie wäre ja gar nicht da.

Emmi spürt eine Hand auf der Schulter und schrickt aus ihren Gedanken hoch. Sie ist immer noch an Opa gelehnt und hat ihre Hände in seine Jacke gekrallt.

„Hast du dich schon von Timo verabschiedet?“, fragt Mama sanft. „Wir sollten langsam zum Sicherheitscheck.“

„Okay“, sagt Emmi leise, ohne Mama anzuschauen.

Wie in Zeitlupe löst sie sich von ihrem Großvater und schaut zu ihm hoch.

Details

Seiten
ISBN (ePUB)
9783739472355
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2019 (Oktober)
Schlagworte
Hallyu Mädchenbuch Umzug Freundschaft Seoul erste Liebe K-pop Kawaii Humor Südkorea Kinderbuch Jugendbuch

Autor

  • Stephanie Auten (Autor:in)

Ich wurde 1983 geboren und habe Anglistik und Mittelalterliche Geschichte studiert. Ich lebe in Berlin und Leipzig, von 2017-2019 aber auch in Seoul, Südkorea.
Natürlich hat Seoul mich zu meiner 6-teiligen Buchreihe "Emmi in Korea" über das Leben einer deutschen Schülerin im Ausland inspiriert.
Außerdem findet ihr das Deutschlern-E-Book "Nino liebt Jörg: Not just another German short story book for intermediate readers" unter dem Namen Stephanie Auten et al. auf dieser Website.

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Titel: Emmi in Korea 2: Umzug mit Hindernissen